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Bisher aus der Serie Die Farben des Blutes im Carlsen Verlag erschienen:

Die rote Königin (Band 1)

Gläsernes Schwert (Band 2)

Goldener Käfig (Band 3)

Wütender Sturm (Band 4)

Zerschlagene Krone (Begleitband)

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

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Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2015-2018

Originalcopyright © 2015-2018 by Victoria Aveyard

Published by arrangement with Victoria Aveyard

Originalverlag: HarperTeen, an imprint of HarperCollins Publishers, New York

Originaltitel: Red Queen / Glass Sword / King’s Cage / War Storm

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Umschlaggestaltung: formlabor

Umschlagabbildungen: shutterstock.com © Bart Sadowski / cosma / Smiltena / Francesco Ocello / Nataliia K

Karte Gläsernes Schwert © 2015 by Victoria Aveyard. Illustriert von Amanda Persky.

Karte Goldener Käfig / Wütender Sturm © 2017 by Victoria Aveyard. Illustriert von Amanda Persky.

Used with permission. All rights reserved.

Aus dem Englischen von Birgit Schmitz

Lektorat: Brigitte Kälble

Herstellung: Gunta Lauck

Lithografie: Margit Dittes, Hamburg

Satz und E-Book Umsetzung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 978-3-646-93586-8

 

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FÜR MOM, DAD UND MORGAN,
DIE WISSEN WOLLTEN, WIE ES WEITERGEHT,
SELBST ALS ICH ES NICHT WOLLTE.

1

Ich hasse Erste Freitage. Dann herrscht immer ein Riesengedränge im Dorf, und jetzt in der Hochsommerhitze ist das für niemanden angenehm. Auf meinem Platz im Schatten geht es eigentlich noch, aber der Schweißgestank von all denen, die in der Morgensonne arbeiten, könnte Milch gerinnen lassen. Die Luft flimmert vor Hitze und Feuchtigkeit. Selbst die Pfützen von dem Gewitter gestern sind heiß, und der Öl- und Schmierfilm darauf lässt sie in allen Regenbogenfarben schimmern.

Der Marktplatz leert sich zusehends, weil die Händler nach und nach ihre Stände dichtmachen für heute. Sie sind abgelenkt, unachtsam, deshalb kann ich ganz leicht mitgehen lassen, wonach mir der Sinn steht. Am Ende sind meine Taschen ausgebeult von all dem Kram, und einen Apfel für unterwegs habe ich auch noch ergattert. Kein schlechter Schnitt für wenige Minuten Arbeit. Der ganze Menschenpulk zieht in eine Richtung, also lasse ich mich mit dem Strom treiben. Meine Hände zucken pfeilschnell durch die Luft, berühren ihr Ziel nur sanft und ganz flüchtig, stibitzen hier ein paar Scheine aus der Tasche eines Mannes, dort ein Armband vom Handgelenk einer Frau – nichts Großes. Die Dorfbewohner sind zu sehr damit beschäftigt, vorwärtszudrängeln, als dass sie einen Taschendieb in ihrer Mitte bemerken würden.

Die Pfahlbauten, nach denen unser Dorf benannt ist (Stilts – das Stelzendorf, sehr originell), erheben sich rechts und links von uns drei Meter hoch über dem feuchten Grund. Im Frühjahr ist die Böschung des Flusses überflutet, aber jetzt im August wird das Dorf von Wassermangel und einer unmenschlichen Hitze heimgesucht. Fast alle hier freuen sich auf den Ersten Freitag im Monat, weil dann sowohl die Schule als auch die Arbeit früher enden als sonst. Aber ich freue mich nicht. Nein, ich würde lieber in der Schule sitzen und in einem überfüllten Klassenzimmer nichts lernen.

Für mich ist die Schule allerdings bald zu Ende. Mein achtzehnter Geburtstag steht vor der Tür und damit meine Einberufung. Ich habe keine Lehrstelle gefunden und keine Arbeit, und das bedeutet, dass ich in den Krieg geschickt werde wie alle anderen Nichtsnutze. Doch wen wundert es, dass es keine Arbeit mehr gibt, wenn alle Männer, Frauen und Kinder einen Weg suchen, der Armee zu entgehen?

Meine Brüder sind auch mit achtzehn eingezogen worden. Alle drei wurden in den Krieg gegen die Lakelander geschickt. Nur Shade kann einigermaßen schreiben und schickt Briefe, wenn es geht. Von Bree und Tramy, meinen anderen Brüdern, habe ich schon seit über einem Jahr nichts mehr gehört. Aber keine Nachrichten sind gute Nachrichten. Es kommt vor, dass Familien jahrelang nichts hören, und dann stehen ihre Söhne und Töchter plötzlich vor der Tür, weil sie Heimaturlaub bekommen haben oder das große Glück hatten, aus der Armee verabschiedet zu werden. Für gewöhnlich bekommt man jedoch einen Brief auf schwerem Papier mit dem Siegel der Krone unter einem kurzen Dank für das Leben seines Kindes. Und manchmal liegen sogar ein paar Uniformknöpfe bei.

Ich war dreizehn, als Bree uns verließ. Er küsste mich auf die Wange und schenkte mir ein Paar Ohrringe, das ich mir mit meiner kleinen Schwester Gisa teilen sollte: Glasperlen, blassrosa wie ein Sonnenuntergang. Noch in derselben Nacht haben wir uns Ohrlöcher gestochen. Tramy und Shade setzten diese Tradition fort, als sie gingen. Also tragen Gisa und ich jetzt beide drei winzige Perlen am Ohr, die uns an unsere irgendwo in der Ferne kämpfenden Brüder erinnern. Ich konnte damals gar nicht glauben, dass sie wirklich fortmussten, bis der Legionär in seiner glänzenden Rüstung erschien und sie mitnahm, einen nach dem anderen. Im Herbst kommt er dann mich holen. Ich habe schon angefangen zu sparen – und zu stehlen –, um Gisa einen Ohrring kaufen zu können, wenn es so weit ist.

Denk nicht darüber nach. Das sagt meine Mutter immer, bezogen auf die Armee, auf meine Brüder, überhaupt auf alles. Toller Rat, Ma.

Ein Stück die Straße runter, da wo die Mill Road und die Marcher Road sich kreuzen, schwillt die Menschenmenge weiter an, weil noch mehr Dorfbewohner dazustoßen. Eine Kinderbande – junge, ungeübte Diebe – lässt ihre klebrigen Finger suchend durchs Gewühl flattern. Sie sind noch zu klein, um geschickt zu sein, und der Wachdienst schreitet rasch ein. Normalerweise würden die Kinder am Pranger landen oder im Gefängnis, aber die Sicherheitsleute wollen auch zum Ersten Freitag. Sie begnügen sich damit, den Anführern der Bande ein paar heftige Schläge zu verpassen, bevor sie sie laufenlassen. Wenigstens das.

Eine zarte Berührung an meiner Hüfte lässt mich instinktiv herumfahren und die Hand desjenigen ergreifen, der dumm genug ist, mich bestehlen zu wollen. Ich halte sie gut fest, damit der kleine Teufel, dem sie gehört, nicht weglaufen kann. Doch statt in die erschrockene Miene eines dürren Kindes schaue ich in ein feixendes Gesicht.

Kilorn Warren. Fischerlehrling, Kriegswaise und wahrscheinlich mein einziger echter Freund. Als Kinder haben wir uns gern geprügelt, doch jetzt, wo wir älter sind – und er einen halben Meter größer ist als ich –, gehe ich Raufereien lieber aus dem Weg. Aber seine Größe hat auch Vorteile. Wenn man an hohe Regale herankommen will, zum Beispiel.

»Du wirst immer schneller«, sagt er grinsend und schüttelt meine Hand ab.

»Oder du langsamer.«

Er verdreht die Augen und nimmt mir den Apfel aus den Fingern.

»Wartest du auf Gisa?«, fragt er und beißt hinein.

»Sie ist heute freigestellt. Sie muss arbeiten.«

»Dann lass uns gehen. Ich möchte die Show nicht verpassen.«

»Das wäre auch wirklich tragisch.«

»Na, na, na, Mare«, neckt er mich und hebt drohend den Zeigefinger. »Sie findet doch zu unserem Vergnügen statt.«

»Sie findet statt, um uns einzuschüchtern, du Dummkopf.«

Aber er geht bereits mit großen Schritten voran und zwingt mich fast, im Laufschritt neben ihm herzutraben. Er hat einen leicht torkelnden Gang. Seemannsgang nennt er das, obwohl er noch nie auf hoher See war, denn die ist weit weg. Aber die vielen Stunden auf dem Fischerboot seines Meisters tun wohl auch ihre Wirkung, selbst wenn sie nur auf dem Fluss unterwegs sind.

Kilorns Vater wurde, wie meiner, in den Krieg geschickt, aber während meiner mit nur einem Bein und einem Lungenflügel zurückkehrte, kam Mr Warren in einem Schuhkarton nach Hause. Kilorns Mutter hat damals das Weite gesucht und ihren kleinen Sohn sich selbst überlassen. Er wäre fast verhungert, fand aber irgendwie immer einen Grund, sich mit mir zu raufen. Weil ich kein dürres Klappergestell verprügeln wollte, habe ich ihm Essen zugesteckt, und hier ist er nun, zehn Jahre später. Wenigstens hat er eine Lehrstelle; er muss also nicht in den Krieg.

Wir kommen zum Fuß des Hügels. Hier ist das Gewühl noch größer, von allen Seiten wird gerempelt und gedrängelt. Die Teilnahme am Ersten Freitag ist Pflicht, es sei denn, man zählt zu den »unverzichtbaren Arbeitskräften«, wie meine Schwester. Als ob Sticken unverzichtbar wäre. Aber die Silbernen lieben ihre Seide nun mal. Selbst die Wachleute, zumindest einige von ihnen, lassen sich mit Dingen bestechen, die meine Schwester genäht hat. Aber davon weiß ich natürlich nichts.

Die Schatten um uns herum werden dunkler, während wir die steinernen Stufen zum Scheitelpunkt des Hügels erklimmen. Kilorn nimmt immer zwei auf einmal und verliert mich fast in der Menge, aber dann bleibt er stehen und wartet. Er streicht sich eine hellblonde Strähne aus den grünen Augen und grinst auf mich herab.

»Manchmal vergesse ich, dass du Kinderbeine hast.«

»Immer noch besser als ein Kinderhirn«, kontere ich und gebe ihm im Vorbeigehen einen Klaps auf die Wange. Sein Lachen folgt mir die Stufen hinauf.

»Du bist ja noch übler gelaunt als sonst.«

»Ich hasse diese Veranstaltungen.«

»Ja, ich weiß«, murmelt er, ausnahmsweise einmal ernst.

Und dann sind wir in der Arena. Die Sonne steht gleißend hell über uns am Himmel. Zehn Jahre ist es her, dass die Arena errichtet wurde, und sie ist ohne Frage das größte Gebäude hier. Mit den riesigen Kolossen in den Städten kann sie nicht mithalten, aber die in den Himmel ragenden Stahlbogen und die Betonmassen reichen trotzdem aus, um einem Mädchen vom Dorf den Atem zu rauben.

Überall sind Wachleute; mit ihren schwarz-silbernen Uniformen stechen sie aus der Menge hervor. Heute ist Erster Freitag, und sie können es nicht erwarten, den Kampf zu sehen. Sie tragen Gewehre oder Pistolen, obwohl sie eigentlich gar keine Waffen brauchen. Denn Wachleute sind üblicherweise Silberne, und Silberne müssen uns Rote nicht fürchten. Das weiß jeder. Wir sind nicht ihresgleichen, auch wenn man es uns nicht ansieht. Das Einzige, was uns unterscheidet, zumindest rein äußerlich, ist die aufrechte Haltung der Silbernen. Unsere Rücken sind gebeugt von der Arbeit, von unerfüllten Hoffnungen und der unvermeidlichen Enttäuschung über unser Los.

In der Freilichtarena ist es genauso heiß wie draußen, und Kilorn, der wie immer alles im Blick hat, führt mich zu einem Platz im Schatten. Einzelsitze gibt es hier nicht, lediglich lange Betonbänke. Nur die wenigen Silber-Adligen hoch über uns haben kühle, bequeme Logen. Dort bekommen sie Drinks serviert und Essen und im Hochsommer sogar Eis; sie sitzen auf gepolsterten Sesseln und verfügen über elektrisches Licht und etliche weitere Annehmlichkeiten, in deren Genuss ich niemals kommen werde. Aber die Silbernen haben gar kein Auge für all das, sondern beklagen sich noch über die »jämmerlichen Zustände«. Ich gebe ihnen jämmerliche Zustände, wenn ich jemals die Gelegenheit dazu bekomme. Wir Roten müssen uns mit harten Bänken und einigen plärrenden Videoleinwänden begnügen, die beinahe unerträglich grell und laut sind.

»Ich verwette einen Tageslohn darauf, dass heute wieder ein Starkarm antritt«, sagt Kilorn und wirft das Apfelgehäuse Richtung Arena.

»Keine Wetten!«, erwidere ich streng. Viele Rote setzen ihre Einkünfte auf den Ausgang der Kämpfe, in der Hoffnung, mit dem Gewinn durch die nächste Woche zu kommen. Ich wette nicht; nicht einmal mit Kilorn. Es ist leichter, den Geldbeutel des Buchmachers zu stehlen, als den Inhalt zu gewinnen. »Du solltest dein Geld nicht so sinnlos verschleudern.«

»Wenn ich richtig tippe, ist es nicht sinnlos. Und es ist doch eigentlich immer ein Starkarm, der hier auf irgendeinen Gegner einprügelt.«

Starkarme stellen tatsächlich mindestens die Hälfte der Kämpfer, da sie sich mit ihrem Geschick und ihren Fähigkeiten besser für die Arena eignen als die meisten anderen Silbernen. Sie scheinen es fast zu genießen, ihre Gegner mit Hilfe ihrer übermenschlichen Kraft durch den Ring zu schleudern wie Stoffpuppen.

»Und was glaubst du, wer gegen ihn antritt?«, frage ich und gehe in Gedanken die Bandbreite von Silbernen durch, die in Frage kommen. Kopflenker, Huscher, Nymphen, Grünfinger, Versteinerer – sie alle sind gnadenlos und schrecklich.

»Weiß nicht. Hoffentlich einer, der cool ist. Ich könnte ein bisschen Spaß gut gebrauchen.«

Kilorn und ich sind uns sehr uneins, was die Beurteilung des Heldenwettstreits angeht. Mir bereitet es keinerlei Vergnügen, dabei zuzusehen, wie zwei Kämpfer sich gegenseitig in Stücke reißen. Kilorn hingegen liebt diese Veranstaltung. Sollen sie sich doch ruhig gegenseitig die Köpfe einschlagen, sagt er. Schließlich sind sie keine von uns.

Er versteht nicht, worum es bei einem Heldenwettstreit geht. Was hier geboten wird, ist keine anspruchslose Unterhaltung, um uns eine Pause von der strapaziösen Arbeit zu verschaffen. Diese Kämpfe dienen vielmehr einem ganz konkreten Zweck: der Demonstration von Macht. Nur Silberne dürfen gegeneinander antreten, weil nur Silberne in der Arena überleben können. Sie kämpfen, um uns ihre Stärke und Dominanz zu beweisen. Ihr habt uns nichts entgegenzusetzen. Wir sind euch in jeder Beziehung überlegen. Wir sind Götter. Diese Botschaft steckt in jedem ihrer mit übermenschlicher Kraft ausgeführten Schläge.

Und sie haben absolut recht. Letzten Monat ist ein Huscher gegen einen Kopflenker angetreten, und obwohl der Huscher so schnell war, dass man ihm mit bloßem Auge nicht folgen konnte, hat der Kopflenker ihn mühelos besiegt. Allein mit der Kraft seines Willens hat er den Gegner vom Boden hochgehoben. Und da der Huscher plötzlich nach Luft rang, nehme ich an, dass der Kopflenker ihn in einem unsichtbaren Würgegriff hatte. Als der Huscher schließlich blau anlief, wurde der Kampf für beendet erklärt. Und Kilorn hat gejubelt. Denn er hatte sein Geld auf den Kopflenker gesetzt.

»Meine Damen und Herren, verehrte Silberne, liebe Rote, willkommen beim Ersten Freitag, dem Heldenwettstreit des Monats August.« Die Stimme des Sprechers hallt durch die Arena und wird von den Wänden noch verstärkt. Er klingt gelangweilt, wie immer, und ich kann es ihm nicht verübeln.

Früher gab es am Ersten Freitag keine Zweikämpfe zwischen Silbernen, stattdessen fanden Exekutionen statt. Häftlinge und Staatsfeinde wurden in die Hauptstadt Archeon gebracht und dort vor den Augen eines ausschließlich silbernen Publikums hingerichtet. Offensichtlich kam das gut an, denn daraus entstanden Zweikämpfe, die nicht mehr dem Töten dienten, sondern der Unterhaltung. Dann entwickelten sich die Heldenwettstreite und verbreiteten sich über andere Städte, andere Arenen und andere Zuschauerschichten. Und schließlich durften auch Rote diese Veranstaltungen besuchen, aber natürlich nur auf den billigen Plätzen. Es dauerte nicht lange, bis die Silbernen überall Arenen errichteten, selbst in Dörfern wie Stilts; und der Besuch der Veranstaltungen, der früher einmal ein großzügiges Zugeständnis gewesen war, wurde zur leidigen Pflicht. Mein Bruder Shade hat mir erklärt, der Grund dafür sei der, dass in Städten, in denen es Arenen gab, die Kriminalitätsrate unter den Roten ebenso deutlich gesunken sei wie die Anzahl ihrer ohnehin seltenen Versuche des Aufbegehrens. Inzwischen brauchen die Silbernen weder öffentliche Exekutionen noch die Legionen oder den Wachdienst, um den Frieden aufrechtzuerhalten; zwei Wettkämpfer in der Arena schüchtern uns genauso effektiv ein.

Heute wird diese Aufgabe von den beiden Kämpfern erledigt, die nun Aufstellung nehmen. Der erste, der auf den weißen Sand hinaustritt, wird als Cantos Carros angekündigt. Er ist ein Silberner von der Harbor Bay im Osten. Die Videoleinwand zeigt ihn in Großaufnahme, und niemand braucht mir zu erklären, dass er ein Starkarm ist: Seine Arme sind so kräftig wie Baumstämme, und die Muskeln und Adern zeichnen sich deutlich unter seiner Haut ab. Als er lächelt, sehe ich, dass alle seine Zähne entweder ausgefallen oder abgebrochen sind. Vielleicht stand er als Kind auf Kriegsfuß mit seiner Zahnbürste.

Kilorn neben mir bricht in lauten Jubel aus, und die anderen Dorfbewohner grölen mit. Einer der Sicherheitsleute belohnt ihre Mühe, indem er den lautesten einen Brotlaib zuwirft. Links von mir steckt ein anderer Wachmann einem kreischenden Kind einen grellgelben Papierstreifen zu. Das sind Stromscheine, für zusätzliche Strom-Rationen. All das geschieht, um uns zum Jubeln und Kreischen zu animieren. Um uns zum Zuschauen zu zwingen, selbst wenn wir es gar nicht wollen.

»Gut so! Lasst ihn eure Begeisterung hören!«, legt der Sprecher nach und heuchelt dabei so viel Enthusiasmus, wie er nur kann. »Und hier kommt Cantos’ Widersacher, direkt aus der Hauptstadt: Samson Merandus.«

Neben dem Muskelberg in menschlicher Gestalt sieht dieser Kämpfer blass und schmächtig aus, aber seine edle stahlblaue Rüstung ist auf Hochglanz poliert. Wahrscheinlich ist er der Zweitgeborene eines Zweitgeborenen, der in der Arena zu Ansehen kommen will. Aber er wirkt merkwürdig gelassen, obwohl er allen Grund zur Sorge hätte.

Sein Nachname kommt mir bekannt vor, aber das muss nichts heißen. Viele Silberne gehören berühmten Familien – sogenannten Häusern – an, die weit verzweigt sind. Unsere Region, das Capital Valley, wird vom Haus Wells regiert, auch wenn ich Gouverneur Wells noch nie im Leben zu Gesicht bekommen habe. Er schaut allenfalls ein oder zwei Mal im Jahr in der Gegend vorbei, und selbst dann lässt er sich nie dazu herab, ein Dorf der Roten zu besuchen. Einmal habe ich sein Schiff auf dem Fluss gesehen, ein schlankes Gefährt mit grün-goldenen Flaggen. Da Gouverneur Wells ein Grünfinger ist, begannen die Bäume am Ufer zu blühen, als er vorbeifuhr, und Blumen reckten ihre Köpfe durch die Erde. Ich fand das schön, bis einer der älteren Jungs Steine nach dem Schiff warf. Das Ganze war harmlos, die Steine fielen nur ins Wasser. Aber der Junge wurde trotzdem an den Pranger gestellt.

»Der Starkarm gewinnt, ganz sicher«, sage ich.

Kilorn beäugt stirnrunzelnd den schmächtigen Kämpfer. »Woher willst du das wissen? Was für Fähigkeiten hat denn dieser Samson?«

»Wen interessiert das schon, er verliert auf jeden Fall«, erwidere ich spöttisch und richte mich auf einen kurzen Kampf ein.

Das übliche Signal schrillt durch die Arena. Viele Zuschauer erheben sich, aber ich bleibe in stummem Protest sitzen. So ruhig ich auch aussehen mag, in meinem Innern brodelt es. Wut und Neid nagen an mir. Wir sind Götter, hallt es in meinem Kopf wider.

»Macht euch bereit, Wettkämpfer!«

Sie tun, was der Sprecher sagt, und bohren ihre Fersen auf den entgegengesetzten Seiten der Arena in den Sand. Schusswaffen sind bei den Kämpfen nicht erlaubt, daher zieht Cantos ein kurzes, breites Schwert. Ich bezweifle, dass er es wirklich benötigen wird. Samson hat keine Waffe; seine leeren Hände hängen herab, nur die Finger zucken.

Dann kommt ein Part, den ich wirklich hasse: ein leises elektrisches Summen. Das Geräusch vibriert in meinen Zähnen und in meinen Knochen, pulsiert so heftig, dass ich jedes Mal glaube, gleich wird etwas zerspringen. Doch es endet abrupt mit einem hohen Klingeln. Der Kampf beginnt. Ich atme auf.

Alles deutet auf ein Blutbad hin. Cantos stürmt los wie ein Bulle und wirbelt dabei Sand auf. Samson versucht ihm auszuweichen, indem er sich mit der Schulter an ihm vorbeischiebt, doch der Starkarm ist schnell. Er bekommt Samsons Bein zu fassen und schleudert ihn quer durch die Arena, wie einen Sack Federn. Der Jubel, der sich daraufhin erhebt, übertönt Samsons Schreie, als er gegen die Betonwand knallt, aber man sieht ihm die Schmerzen an. Bevor er sich auch nur erheben kann, ist Cantos bereits bei ihm und wirbelt ihn erneut im hohen Bogen durch die Luft. Eigentlich müsste sich Samson bei seinem Aufprall sämtliche Knochen gebrochen haben, aber irgendwie findet er die Kraft, wieder aufzustehen.

»Das ist ja ein lebender Sandsack!«, ruft Kilorn lachend. »Los, gib’s ihm, Cantos!«

Kilorn ist nicht scharf auf ein Gratis-Brot oder ein paar Minuten zusätzlichen Strom; diese Dinge sind nicht der Grund, warum er jubelt. Er möchte wirklich Blut sehen; er möchte sehen, wie ein Silberner in der Arena sein Blut verströmt, silbernes Blut. Auch wenn dieses Blut alles darstellt, was wir nicht sind, nicht sein können, aber sein möchten, das ist ihm egal. Er braucht diesen Anblick, um glauben zu können, dass sie trotz allem menschlich sind, dass man sie verletzen und besiegen kann. Doch ich weiß es besser. Ihr Blut ist eine Drohung, eine Warnung, ein Versprechen. Wir sind nicht wie ihr und werden es auch nie sein.

Kilorn wird nicht enttäuscht. Selbst von den Logen aus muss man die metallische, schillernde Flüssigkeit sehen können, die aus Samsons Mund rinnt und über seinen Hals in die Rüstung läuft. Sie reflektiert die Sommersonne wie ein wässriger Spiegel.

Das ist die wahre Trennungslinie zwischen Silbernen und Roten: die Farbe ihres Blutes. Dieser simple Unterschied macht sie aus irgendeinem Grund stärker, schlauer, besser als uns.

Samson spuckt aus, und ein silbern glänzender Tropfenregen verteilt sich in der Arena. In knapp zehn Metern Entfernung umfasst Cantos entschlossen sein Schwert; er will seinen Gegner außer Gefecht setzen und die Sache damit zu Ende bringen.

»Armer Irrer«, murmele ich. Es sieht so aus, als hätte Kilorn Recht. Samson ist nichts weiter als ein lebender Sandsack.

Cantos stapft mit erhobenem Schwert und feurigem Blick durch den Sand. Dann erstarrt er plötzlich so unvermittelt, dass seine Rüstung leise klirrt. Sein blutender Widersacher steht jetzt in der Mitte der Arena und zeigt mit einem Blick, der Knochen brechen kann, auf ihn.

Dann schnipst Samson mit den Fingern, und zeitgleich setzt Cantos sich wieder in Bewegung, wie ferngesteuert. Sein Mund steht offen; er sieht aus, als wäre er plötzlich erlahmt oder verblödet. Als hätte er den Verstand verloren.

Ich traue meinen Augen nicht.

Totenstille senkt sich über die Arena, während wir alle verfolgen, was dort unten geschieht, ohne es zu verstehen. Selbst Kilorn hat es die Sprache verschlagen.

»Ein Flüsterer«, hauche ich.

Noch nie zuvor habe ich einen in der Arena kämpfen sehen, und ich bezweifle, dass ich die Einzige bin. Flüsterer sind selten, gefährlich und mächtig, sogar unter den Silbernen, sogar in der Hauptstadt. Es kursieren verschiedene Gerüchte über sie, aber alle basieren auf einer einfachen und schaurigen Wahrheit: Flüsterer können in den Kopf ihres Gegenübers eindringen, seine Gedanken lesen und sein Denken steuern. Und genau das tut Samson gerade. Mit einem Flüstern ist er an Cantos Rüstung und Muskeln vorbei in sein Gehirn vorgedrungen, wo ihm keinerlei Widerstand mehr begegnen kann.

Cantos hebt mit zitternden Händen sein Schwert. Man sieht ihm an, dass er sich gegen Samsons Stimme zu wehren versucht. Aber so stark Cantos auch ist, gegen den Feind in seinem Kopf ist er machtlos.

Eine leichte Drehung von Samsons Hand, und silbernes Blut ergießt sich über den Sand, als Cantos sich sein Schwert durch die Rüstung hindurch in den eigenen Bauch stößt. Sogar hier oben kann ich hören, wie sich Metall in Fleisch bohrt.

Überall schnappen Zuschauer nach Luft, während das Blut nur so sprudelt. So viel Blut haben wir hier noch nie gesehen.

Ein blaues Licht, das das Ende des Kampfes signalisiert, taucht die Arena in einen gespenstischen Schein. Silberne Heiler rennen zu dem gestürzten Cantos. Dass hier Silberne sterben, ist nicht vorgesehen. Silberne sollen mutig kämpfen, ihre Fähigkeiten demonstrieren, eine gute Vorstellung abliefern – aber sterben sollen sie nicht. Schließlich sind sie keine Roten.

Die Wachleute bewegen sich hektischer denn je. Einige von ihnen sind Huscher; sie eilen so schnell hin und her, dass wir sie nur verschwommen wahrnehmen, während sie uns aus der Arena treiben. Sie wollen nicht, dass wir noch hier sind, falls Cantos vielleicht doch stirbt. Samson schreitet unterdessen aus der Arena wie ein Titan. Ich erwarte, ein Zeichen von Bedauern in seinem Gesicht zu sehen, als er sich noch einmal kurz zu Cantos umdreht, aber seine Miene ist ausdruckslos, ohne jede Regung, eiskalt. Dieser Kampf hat ihm nichts bedeutet. Wir bedeuten ihm nichts.

In der Schule haben wir einiges über die Welt vor unserer Zeit gelernt, über die Engel und Götter, die im Himmel lebten und mit gütiger, liebender Hand über die Welt herrschten. Manche behaupten, das seien nur Geschichten, aber das glaube ich nicht.

Die Götter herrschen noch immer über uns. Sie sind von den Sternen herabgestiegen. Aber sie sind nicht mehr gütig.

2

Unser Haus ist klein, sogar für Stilts-Maßstäbe, aber wenigstens haben wir einen guten Blick. Bevor er verletzt wurde, hat Pa während eines Armeeurlaubs dieses Haus auf besonders hohen Pfählen errichtet, damit wir über den Fluss schauen können. Selbst durch den sommerlichen Dunstschleier hindurch kann man die gerodeten Landstriche erkennen, wo einst Wald stand. Die kahlen Stellen sehen aus wie eine Krankheit, doch die unberührten Hügel im Norden und Westen sind ein stilles Versprechen. Es gibt noch so viel mehr dort in der Ferne. Jenseits von uns, jenseits von den Silbernen, jenseits von allem, was ich kenne.

Über abgegriffene, vom täglichen Gebrauch verformte Holzsprossen erklimme ich die Leiter zum Haus. Aus dieser Höhe kann ich ein paar Schiffe sehen, die mit stolz geblähten, leuchtenden Segeln den Fluss hochfahren. Silberne. Nur sie sind so reich, dass sie sich private Transportmittel leisten können. Während sie über Gefährte aller Art, über Ausflugsboote und sogar über Jets verfügen, die durch die Lüfte jagen, haben wir nichts als unsere Füße oder mit etwas Glück vielleicht einen Roller.

Die Schiffe müssen unterwegs nach Summerton sein, der kleinen Stadt, die rings um die Sommerresidenz des Königs zum Leben erwacht. Gisa war heute dort, um der Näherin zu helfen, bei der sie in die Lehre geht. Wenn der König zu Besuch in Summerton ist, gehen sie oft dort auf den Markt, um ihre Waren den Händlern und Silber-Adligen zu verkaufen, die der Königsfamilie hinterherziehen wie Entenküken. Der Palast selbst wird das Sonnenschloss genannt und soll ein echtes Wunderwerk sein; ich habe ihn aber noch nie gesehen. Ich weiß ohnehin nicht, wozu die Angehörigen der Königsfamilie ein zweites Haus brauchen, vor allem, wo der Palast in der Hauptstadt schon so edel und prachtvoll ist. Aber wie alle Silbernen handeln sie nicht aus Notwendigkeit, sondern allein nach Lust und Laune. Und was immer sie wollen, bekommen sie auch.

Bevor ich die Tür aufstoße und in das übliche Chaos eintauche, berühre ich die Fahne, die auf dem Vordach flattert. Drei rote Sterne auf vergilbtem Stoff, für jeden Bruder einer, und es gibt darauf noch Platz für mehr. Für meinen Stern. Fast alle Häuser haben diese Flaggen, und auf einigen sind schwarze Streifen an Stelle von Sternen, zur Erinnerung an tote Kinder.

Drinnen schwitzt Ma am Herd; sie rührt in einem Eintopfgericht, während Pa sie von seinem Rollstuhl aus missmutig beäugt. Gisa sitzt am Tisch und stickt. Sie erschafft mal wieder etwas Wunderschönes und Erlesenes, wovon ich nicht das Geringste verstehe.

»Bin wieder da«, sage ich in den Raum hinein. Pa winkt mir kurz zu, Ma nickt und Gisa schaut gar nicht erst von ihrem seidenen Tuch hoch.

Ich lasse meinen Beutel mit Diebesgut neben ihr auf den Tisch fallen und klimpere dabei möglichst laut mit den Münzen. »Ich hab bestimmt genug zusammen, um Pa einen richtigen Geburtstagskuchen zu kaufen. Und noch mehr Batterien. Genug für den ganzen restlichen Monat.«

Gisa beäugt den Beutel und verzieht angewidert das Gesicht. Sie ist erst vierzehn, aber sehr pfiffig. »Eines Tages kommen Leute und nehmen alles mit, was du hast.«

»Eifersucht steht dir nicht, Gisa«, sage ich und tätschele ihr den Kopf. Sofort fliegen ihre Hände hoch zu ihren glänzenden roten Haaren und streichen sie zurück in den akkuraten Knoten.

Ich habe sie schon immer um diese Haare beneidet, aber ich würde es nie zugeben. Während ihre feuerrot leuchten, sind meine das, was wir flussbraun nennen: an den Haarwurzeln dunkel und zu den Enden hin immer ausgebleichter, weil das anstrengende Leben im Dorf uns die Farbe aus den Haaren saugt. Die meisten hier tragen ihre Haare kurz, damit man die grauen Spitzen nicht sieht, aber ich nicht. Mir gefällt es, dass sogar meine Haare wissen, dass man so eigentlich nicht leben sollte.

»Ich bin nicht eifersüchtig«, protestiert Gisa und wendet sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie stickt Blumen, die aussehen, als wären sie aus Feuer; jede einzelne ist eine hübsche, aus Fäden gewirkte Flamme auf glattseidenem schwarzem Untergrund.

»Das ist wunderschön, Gi.« Ich streiche über eine der Blumen und staune, wie schön seidig sie sich anfühlt. Gisa blickt auf und schenkt mir ein sanftes Lächeln, das ihre ebenmäßigen Zähne entblößt. Auch wenn wir uns häufig streiten, weiß sie, wie gern ich sie habe.

Und jeder hier weiß, dass ich die Eifersüchtige von uns beiden bin, Gisa. Ich kann nichts – außer diejenigen zu bestehlen, die etwas können.

Wenn Gisa fertig ist mit der Lehre, kann sie ihren eigenen Laden aufmachen. Von überall her kommen dann Silberne, um bei ihr Tücher, Flaggen und Kleider zu kaufen. Gisa wird schaffen, was nur wenigen Roten gelingt – sie wird ein gutes Leben führen. Sie wird für unsere Eltern sorgen und meine Brüder und mich einfache Arbeiten verrichten lassen, damit wir nicht in den Krieg müssen. Gisa wird uns eines Tages retten, mit nichts als Nadel und Faden.

»Wie Tag und Nacht, meine Mädchen«, murmelt Ma und fährt sich durchs graue Haar. Das ist nicht als Beleidigung gemeint, sondern die schmerzhafte Wahrheit. Gisa ist geschickt, hübsch und herzensgut. Ich bin ein bisschen gröber gestrickt, wie Ma es höflich ausdrückt. Das Dunkel zu Gisas Licht. Das Einzige, was wir gemeinsam haben, sind die Ohrringe und die Erinnerungen an unsere Brüder.

Pa keucht in seiner Ecke und schlägt sich mit der Faust vor die Brust. Das ist nichts Ungewöhnliches, weil er nur noch einen echten Lungenflügel hat. Ein geschickter roter Arzt hat ihn glücklicherweise retten können, indem er den kollabierten Flügel durch ein Gerät ersetzt hat, das für ihn atmet. Das Gerät war keine Erfindung der Silbernen; die brauchen so etwas gar nicht. Sie haben die Heiler. Aber Heiler verschwenden ihre Zeit nicht damit, Rote zu behandeln oder gar an der Front zu arbeiten, um Soldatenleben zu retten. Die meisten von ihnen bleiben in den Städten, wo sie das Leben betagter Silberner verlängern und Lebern heilen, die von Alkohol ruiniert sind, oder Ähnliches. Aus diesem Grund sind wir Roten dazu gezwungen, einen illegalen Handel mit Technologien und Erfindungen zu treiben, um uns selbst zu helfen. Einiges davon ist wertlos und das meiste funktioniert nicht mal – aber ein klickendes kleines Stück Metall hat meinem Vater das Leben gerettet. Ich höre es ständig in ihm ticken wie einen leisen Puls, der seine Atmung in Gang hält.

»Ich will keinen Kuchen.« Sein Blick wandert kurz zu seinem Bauch, er hat zugelegt.

»Dann sag mir, was du stattdessen haben möchtest. Vielleicht eine neue Uhr oder –?«

»Sachen, die du anderen Leuten vom Handgelenk gestohlen hast, betrachte ich nicht als neu, Mare.«

Ma zieht schnell den Eintopf vom Herd, bevor ein weiterer Krieg im Hause Barrow losbrechen kann. »Essen ist fertig!« Sie trägt den Topf zum Tisch, und der Geruch umhüllt mich.

»Riecht sehr gut, Ma«, lügt Gisa. Pa ist nicht so taktvoll und verzieht das Gesicht.

Um nicht dumm dazustehen, zwinge ich mich, von dem Eintopf zu essen. Erstaunt und erfreut stelle ich fest, dass er gar nicht so schlecht schmeckt wie sonst. »Hast du den Pfeffer verwendet, den ich dir mitgebracht habe?«

Statt zu nicken, zu lächeln und mir zu danken, weil ich es gemerkt habe, wird Ma rot und antwortet nicht. Ihr ist bewusst, dass ich den Pfeffer gestohlen habe, wie alle meine Gaben.

Gisa verdreht die Augen über ihrem Teller, weil sie weiß, was los ist.

Man sollte meinen, ich wäre an so etwas gewöhnt, aber dass meine Eltern nicht gutheißen, was ich tue, macht mir zu schaffen.

Ma seufzt und legt die Hände vors Gesicht. »Du kannst sicher sein, dass ich das zu schätzen weiß, Mare. Ich wünschte nur …«

»Dass ich mehr wie Gisa wäre«, beende ich ihren Satz.

Ma schüttelt den Kopf. Noch eine Lüge. »Nein, natürlich nicht. Das habe ich nicht gemeint.«

»Aha.« Die Verbitterung, die in diesem einen Wort mitschwingt, ist bestimmt noch auf der anderen Seite des Dorfes zu spüren. Nur mit Mühe unterdrücke ich das Zittern in meiner Stimme. »Das ist das Einzige, womit ich euch aushelfen kann, bevor … bevor ich weggehe.«

Wenn man auf den Krieg anspielt, kehrt in unserem Haus sofort Ruhe ein. Sogar Pas Keuchen hört auf. Ma wendet sich mit vor Zorn hochrotem Kopf ab. Gisa legt unter dem Tisch ihre Hand auf meine.

»Ich weiß, dass du tust, was du kannst, und dass du die besten Absichten hast«, flüstert Ma. Es kostet sie viel Überwindung, das zu sagen, aber es tröstet mich dennoch.

Also halte ich den Mund und zwinge mich zu nicken.

Plötzlich zuckt Gisa zusammen, als hätte sie einen Stoß bekommen. »Oh, das habe ich ja völlig vergessen! Ich bin auf dem Heimweg von Summerton auf der Post gewesen, und da lag ein Brief von Shade!«

Das schlägt ein wie eine Bombe. Ma und Pa reißen sich förmlich um den schmutzigen Umschlag, den Gisa aus der Tasche zieht. Ich sehe zu, wie er von Hand zu Hand geht und sie das Papier untersuchen. Meine Eltern können nicht lesen und befragen deshalb das Papier selbst nach neuen Informationen.

Pa schnüffelt an dem Brief und versucht, den Geruch einzuordnen. »Kiefernholz, nicht Rauch. Gut! Das heißt, er ist nicht mehr am Todesstreifen.«

Wir atmen erleichtert auf. Der Todesstreifen ist ein zerbombter Landstrich, der Norta mit den Lakelands verbindet. Dort findet ein Großteil der Gefechte statt. Und dort sind auch die meisten Soldaten – in Schützengräben, die jederzeit in die Luft gehen können, oder bei Vorstößen, die in Massakern enden. Der Rest der Landesgrenze besteht hauptsächlich aus den großen Seen, nur hoch oben im Norden gibt es eine Tundralandschaft, die zu kahl und zu kalt ist, als dass es sich lohnen würde, darum zu kämpfen. Pa wurde vor einigen Jahren am Todesstreifen verwundet, als seine Einheit von einer Bombe getroffen wurde. Inzwischen ist dieses Gebiet von jahrzehntelangen Gefechten so zerstört, dass der Rauch der Explosionen wie ein permanenter Nebel darüber liegt und nichts mehr dort wächst. Der ganze Landstrich ist tot und grau, wie die Zukunft des Krieges.

Schließlich reicht Pa mir den Brief und ich öffne ihn erwartungsvoll. Meine Neugier auf das, was Shade zu sagen hat, ist ebenso groß wie meine Angst davor.

»Liebe Familie, wie ihr seht, lebe ich noch.«

Pa und ich müssen kichern, und Gisa lächelt immerhin. Ma hingegen findet es überhaupt nicht komisch, obwohl Shade jeden Brief so anfängt.

»Wir sind von der Front abberufen worden. Pa, der alte Bluthund, hat das bestimmt schon gewittert. Es ist gut, wieder im Hauptlager zu sein. Hier oben sind alle rot wie die Morgendämmerung; Silber-Offiziere trifft man nur selten an. Und jetzt, ohne die rauchverhangene Luft am Todesstreifen, kann man erahnen, dass die Sonne sich jeden Tag ein wenig kraftvoller in den Himmel erheben wird. Aber wir bleiben nicht lange hier. Der Führungsstab plant, unsere Einheit bei einem Seegefecht einzusetzen, und wir sind einem der neuen Kriegsschiffe zugeteilt worden. Ich habe eine Ärztin getroffen, die von ihrer Einheit abkommandiert worden war; sie hat mir erzählt, dass sie Tramy kennt und dass es ihm gut geht. Beim Rückzug vom Todesstreifen ist er von einem Granatsplitter getroffen worden, aber er hat sich gut erholt. Keine Infektion, keine bleibenden Schäden.«

Ma seufzt laut und schüttelt den Kopf. »Keine bleibenden Schäden«, wiederholt sie dann verächtlich.

»Von Bree habe ich immer noch nichts gehört, aber um den mache ich mir auch keine Sorgen. Er ist der Beste von uns, und da er jetzt fünf Jahre dabei ist, tritt er bestimmt bald seinen wohlverdienten Urlaub an. Nicht mehr lange, und er kommt nach Hause, Ma, also hör auf, dir Sorgen zu machen. Sonst ist nichts weiter passiert, zumindest nichts, was ich in einem Brief schreiben könnte. Gisa, mach dich nicht so wichtig, auch wenn du es dir leisten kannst. Mare, sei nicht immer so frech und hör auf, den kleinen Warren zu verprügeln. Pa, ich bin stolz auf dich. Jeden Tag. Ich liebe euch alle.

Euer Lieblingssohn und -bruder Shade.«

Wie immer gehen uns Shades Worte sehr nahe. Noch habe ich seine Stimme im Ohr, aber die Erinnerung verblasst allmählich. Plötzlich flackert das Licht über unseren Köpfen.

»Hat denn keiner die Bezugsscheine eingereicht, die ich gestern mitgebracht habe?«, frage ich, bevor das Licht ganz ausgeht und wir mit einem Mal in der Dunkelheit sitzen. Als meine Augen sich daran gewöhnt haben, sehe ich, wie Ma den Kopf schüttelt.

Gisa stöhnt. »Nicht schon wieder!« Sie schiebt geräuschvoll den Stuhl zurück und steht auf. »Ich gehe ins Bett. Versucht, euch nicht anzuschreien.«

Aber wir schreien gar nicht. Das scheint neuerdings zur Gewohnheit zu werden – dass ich zu müde bin, um mich zu streiten. Ma und Pa ziehen sich in ihr Zimmer zurück und ich bleibe allein am Tisch sitzen. Normalerweise würde ich noch mal hinausschlüpfen, aber ich kann mich zu nichts anderem mehr aufraffen, als ebenfalls schlafen zu gehen.

Ich steige eine weitere Leiter hoch und gelange auf den offenen Dachboden, wo Gisa bereits schnarcht. Sie hat einen gesegneten Schlaf und ist immer sofort weg, sobald sie sich hinlegt, während ich manchmal noch stundenlang wach bleibe. Ich sinke auf meine Pritsche und bin zufrieden, einfach nur daliegen zu können und Shades Brief in der Hand zu halten. Wie Pa schon sagte, riecht er stark nach Kiefernholz.

Der Fluss macht heute Abend angenehme Geräusche, sein Plätschern und Rauschen lullt mich ein. Selbst der alte Kühlschrank, ein rostiges, batteriebetriebenes Gerät, das normalerweise so laut brummt, dass ich Kopfschmerzen davon bekomme, stört mich heute Abend nicht. Aber dann ertönt ein Vogelruf und reißt mich aus dem Halbschlaf. Kilorn.

Nein. Geh weg.

Noch ein Vogelruf, diesmal lauter. Gisa wälzt sich im Schlaf hin und her.

Leise grummelnd und Kilorn verfluchend rolle ich aus dem Bett und klettere über die Leiter nach unten. Jeder andere wäre wahrscheinlich über das Gerümpel gestolpert, das im Hauptraum herumliegt, aber das jahrelange Davonlaufen vor dem Wachdienst hat mir eine enorme Geschicklichkeit verliehen. Innerhalb weniger Sekunden bin ich auch die äußere Leiter hinabgerutscht und lande knöcheltief im Matsch. Kilorn tritt aus dem Schatten unterhalb des Hauses.

»Ich hoffe, du magst blaue Augen, denn ich verpasse dir gleich eins dafür, dass du –«

Sein Anblick lässt mich verstummen.

Er hat geweint. Aber Kilorn weint doch nicht. Außerdem sind seine Fingerknöchel blutig, und ich wette, irgendwo hier in der Nähe steht eine Mauer, die mindestens so viel abbekommen hat wie er. Trotz meiner schlechten Laune und der vorgerückten Stunde mache ich mir sofort Sorgen um ihn. Ja, ich bekomme sogar richtig Angst.

»Was ist los? Was ist passiert?« Ohne nachzudenken, nehme ich seine Hand und spüre sein Blut unter meinen Fingern. »Sag schon, was ist?«

Er braucht einen Moment, bis er antworten kann. Allmählich bekomme ich Panik.

»Mein Meister. Er ist gestürzt. Und jetzt ist er tot. Das heißt, ich bin kein Lehrling mehr.«

Ich schnappe erschrocken nach Luft, ich kann nicht anders. Er fährt fort, obwohl das gar nicht mehr nötig ist. Ich weiß schon, was jetzt kommt.

»Ich war noch nicht fertig mit der Ausbildung, und jetzt –« Seine Stimme überschlägt sich förmlich. »Ich bin achtzehn. Die anderen Fischer haben alle ihre Lehrlinge. Also komme ich nirgends unter. Und ich finde garantiert keine Arbeit.«

Die nächsten Worte stechen mir wie ein Messer mitten ins Herz. Kilorn atmet zitternd ein, und irgendwie wünschte ich, ich müsste nicht hören, was er sagt.

»Sie schicken mich in den Krieg.«