CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)
DAS BLAUE LICHT
- 13 SHADOWS, Band 52 -
Erzählungen
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
LETZTES RITUAL von P. Smith
WENN DER VOLLMOND AM HIMMEL STEHT von Walter Diehl
HINRICHTUNG von Yuri Albenova
DER VERSUCH von Doris Grünning
DÄMON DER FINSTERNIS von H. P. Lovecraft
DER GEISTERREITER AUS GRAUER VORZEIT von J. Wentworth Day
DER TOD FÄHRT IM TAXI von Frankie Cauyarz
EIN SEHR ATTRAKTIVER MANN von Michael Zuroy
DER LETZTE VERSUCH von Gardner Nashville
DAS ZWEITE GESICHT von Frank O. Bach
Er muss sich auf der Party eingeschlichen haben, denn als er ging, schien ihn niemand zu kennen. Sein Name war Joe und alles, was die Gäste von ihm wussten, erfuhren sie aus der Geschichte, die er uns erzählte.
Er mochte Mitte dreißig sein, war recht sympathisch und hatte nichts Ungewöhnliches, schon gar nichts Unheimliches an sich.
Eiswürfel schmolzen in halbgeleerten Gläsern, und das Geschnatter ringsum verstummte, als Joe, der Fremde, begann...
DAS BLAUE LICHT, herausgegeben von Christian Dörge, enthält u. a. Horror-Erzählungen von Michael Avallone, Doris Grünning und Gardner Nashville.
DAS BLAUE LICHT erscheint in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht.
Er muss sich auf der Party eingeschlichen haben, denn als er ging, schien ihn niemand zu kennen. Sein Name war Joe und alles, was die Gäste von ihm wussten, erfuhren sie aus der Geschichte, die er uns erzählte.
Er mochte Mitte dreißig sein, war recht sympathisch und hatte nichts Ungewöhnliches, schon gar nichts Unheimliches an sich.
Eiswürfel schmolzen in halbgeleerten Gläsern, und das Geschnatter ringsum verstummte, als Joe, der Fremde, begann.
Sie waren zu dritt gewesen. Dann zu zweit. Zuletzt blieb nur noch einer übrig – Joe, der Mann, den wir nicht kannten. Joe war der älteste, etwa acht Jahre älter als Robert und Carolyn. Die drei waren Freunde, Nachbarn und hatten sich im Laufe der Jahre eng aneinandergeschlossen.
Dann entdeckte Joe, dass er sich in Carolyn verliebte. Wir sollten ihn wegen dieser späten Entdeckung nicht für geschlechtslos halten – er war vorher einfach zu beschäftigt gewesen, um Zeit für Gefühle zu haben. Aber bis Joe darauf kam, waren Robert und Carolyn sich schon längst einig.
Aber das konnte ihrer tiefen Freundschaft nichts anhaben.
»Dann kamen wir mit Zauberei in Berührung«, fuhr Joe fort. »Wie Sie vielleicht wissen, besteht ein Zweig der Schwarzen Kunst und Wahrsagerei als Lehrfach an manchen Colleges. Es wird dabei auch der Einfluss dieser Dinge auf die Literatur, die Geschichte und die Religion untersucht.
So kamen auch wir drei dazu. Zuerst glaubten wir nicht daran, sondern interessierten uns mehr im Rahmen physikalischer Veränderungen dafür als für Rituale und Litaneien. Darüber wollte ich sogar einen Artikel schreiben.
Aber stattdessen packte es mich. Ich hörte Dinge, ich sah Dinge – ich kann es beschwören – und alles durch die Zauberkraft von Robert, denn er war der springende Punkt dabei. Er war unser Zauberer, unser Führer.«
Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können, so atemlos lauschten die Gäste.
»Wie sieht ein Zauberer aus?«, fragte Joe, als suche er immer, noch eine Antwort auf diese Frage. »Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass Robert aussah wie ein Zauberer in jenen Nächten, wenn er bei schwachem Mondlicht sein seltsames Zeremoniell abhielt.«
Einen langen Augenblick war Joe völlig in seine Erinnerungen versunken. »Dann sah ich die Katze«, fuhr er fort, »Roberts Katze. Ich schwöre, dass ich sie gesehen habe. Er hat sie auf seine Schulter gehext, und dort saß sie. Ihre Augen schossen blaue Blitze, während der Zauberer, die Anrufungsformeln rief und Carolyn, den kabbalistischen Kreis zog. Diese Katze habe ich mit meinen eigenen Händen getötet, dann war sie verschwunden – und mit ihr Carolyn. Aber das war erst später.«
Joe machte eine Pause, währenddessen Straßengeräusche zu uns hereindrangen. Unbegreiflicherweise gingen in diesem Augenblick da draußen normale Menschen ihre normalen Wege.
»Haben Sie jemals einen kabbalistischen Kreis gesehen?«, fragte Joe dann. »Passen Sie auf.« Er wurde ganz aufgeregt und kramte nervös in seinen Taschen nach seinem Notizbuch und einem Stift. »Hier«, und er zeichnete ohne zu zögern, als habe sich dieses Schema unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Er hob zum Schluss die Zeichnung hoch, um sie seinen Zuhörern zu zeigen. »Das«, erklärte er, »ist ein Liebesfünfeck mit seinen mystischen Symbolen. Um den äußeren Rand wird der lateinische Satz geschrieben Denn nun ist dies Gebein von meinem Gebein, Fleisch von meinem Fleisch, und sie werden ein Fleisch sein. Dazu wird die Übersetzung der französischen Legende vom Geiste der Venus geschrieben. Damit wird jede Frau zum unbedingten Gehorsam gezwungen.«
Es war unheimlich.
Jeder der Gäste fühlte die Macht des Diagramms. Entweder war dies Selbsthypnose, oder es ging eine teuflische Ausstrahlung von dieser einfachen Bleistiftzeichnung aus.
»Das ist der Kreis, den Robert von Carolyn in der letzten Nacht ziehen ließ. Ich meine die Nacht, in der wir ihn zum letzten Mal sahen. Er war sicher, dass er bald sterben würde. Das Studium hatte er hinter sich gelassen, um nach Vietnam zu gehen. Ich werde sterben, sagte er zu Carolyn.
Hör auf, wandte ich ein, sei nicht so fatalistisch.
Aber er sprach weiter zu Carolyn, und sie schien ihn zu verstehen und zu akzeptieren, was er sagte. Er gab ihr die Katze – eine siamesische Katze mit unergründlicher Maske und himmelblauen Augen.
Carolyn bekam in jener Nacht zwei Geschenke von Robert. Die Katze und ein Foto von ihm. Die Katze soll dich an mich erinnern, sagte er, und mit dem Foto sollst du zu mir kommen.
Damals dachte ich natürlich, dass die Katze eine Erinnerung an ihn sein und das Bild ihn ihr nahebringen sollte. Dann sagte er: Wir wollen unser letztes Ritual abhalten. Es ist Vollmond und die Nacht wie geschaffen dafür.
Wir gingen hinaus, wie wir es schon so oft getan hatten, auf eine Lichtung, die sich in ihrem ganzen Gepräge besonders gut eignete für magische Künste. In der heutigen Zeit ist es recht schwierig, einen versteckten Ort wie eine Grotte oder eine Höhle oder ein verlassenes Haus zu finden. Aber diese Lichtung, weit abgelegen von menschlichen Behausungen, war das Richtige für uns. Und hier ließ Robert den Kreis ziehen, der Carolyn an ihn binden sollte. Er stellte sich in die Mitte und las den Sanskrit-Text von Atharva Veda.
Joe war bei seinen letzten Worten aufgestanden und ging nachdenklich hin und her, als durchlebte er noch einmal jene Nacht. Dann zitierte er mit leisem Singsang in der Stimme die Worte, die damals gefallen waren.
»Mit dem allmächtigen Pfeil der Liebe durchbohre ich dein Herz, oh Frau! Liebe, Liebe, die dich mit Sorge erfüllt, wird dich überkommen; Liebe zu mir! Dieser Pfeil wird brennendes Verlangen in dir entfachen. Seine Spitze ist meine Liebe, sein Schaft mein Wille, dich zu besitzen! Ja, dein Herz ist durchbohrt. Der Pfeil hat sein Ziel erreicht.
»An dieser Stelle wollte ich damals unterbrechen, denn ich hatte plötzlich Angst. Das war kein Spiel mehr. Aber ich zögerte nur einen Augenblick, dann machte ich weiter. Ich frage mich oft, was geschehen wäre, wenn ich wirklich aufgehört hätte. Oder was dann nicht geschehen wäre.
Robert fuhr also fort: Du bist völlig in meiner Gewalt. Oh Mitra, oh Varuna, nimm die Macht ihres Willens, denn ich, ich allein will herrschen über Herz und Geist meiner Geliebten!
Dann war es zu Ende. Am nächsten Tag verabschiedete sich Robert. Einen Monat später wurde er als vermisst gemeldet.
Das war der Moment, als das Foto anfing, mit Carolyn zu sprechen. Er ist tot, sagte sie mir. Das kannst du nicht wissen, beruhigte ich sie, vermisst bedeutet nur, dass man ihn nicht finden kann, dass er verwundet ist oder lebend gefangengenommen.
Aber sie schüttelte den Kopf. Er ist tot. Er hat es mir gesagt.
Ich hielt sie ganz einfach für hysterisch, wenn auch auf stille, in sich gekehrte Art und Weise. Die endlose Warterei war zu viel für sie. Aber dieser Zustand würde vorübergehen, sagte ich mir, denn auch ich trauerte um meinen Freund. Aber ich hatte durchaus noch Hoffnung. Carolyn nicht.
Erst viel, viel später wurde sein Tod bestätigt.
Die Katze gedieh prächtig. Ihre Maske war schwarz wie die Nacht und ihre Augen tiefblau wie der Himmel. Sie hasste mich mit eiskaltem Hass, den sie mir durch hochgereckten Schwanz und gesträubtem Buckel zu verstehen gab.
Die Katze weiß, dass er tot ist, sagte Carolyn. Und sie schien wirklich zu wissen, wenn sie vor dem Foto hockte und von Zeit zu Zeit ihren Schnurrbart putzte. Aber sie putzte ihn nicht nach Katzenart, sondern so, als ob sie eine Antenne polierte, um eine Nachricht zu empfangen.
Er verlangt nach mir, sagte Carolyn.
Wer sagt das, wollte ich wissen.
Robert. Er sagt, komm zu mir.
Carolyn, schrie ich sie an. Hör auf damit! Aber sie hörte nicht auf mich, weil dem Bild lauschte. Auch die Katze horchte auf – die Katze, die ebenfalls mit ihren polierten Antennen vor dem Bild saß.
Daraufhin betrachtete ich mir dieses Bild genauer. Es war Robert, wie ich ihn kannte, nicht wie Robert auf einem Foto. Es war Robert auf einem Stück Papier aufgespießt. So lebensecht, dass ich beinahe seine Stimme hörte.
Hast du das gehört?, schrie Carolyn.
Was?, fragte ich erschüttert.
Robert hat gesprochen, und die Tasthaare der Katze, diese polierten Antennen, zitterten.
Im rechten unteren Rand des Fotos stand der Name des Fotographen. Der Name und die Stadt. Ich wollte den Mann sehen, der ein Bild aufgenommen hatte, das wirkliches Leben war. Zwar hatte ich selbst keine Ahnung, was ich mir davon versprach, aber ich fuhr hin.
Die Stadt lag nur zweihundert Kilometer entfernt, so dass ich an einem Wochenende bequem einen Ausflug dorthin machen konnte. Es war ein staubiges Örtchen mit einer Hauptstraße. Sonst hatte es nicht viel zu bieten. Es gab nur einen einzigen Fotographen, und ich kletterte die Treppen zu seinem Atelier hinauf. Ich fragte den Mann nach dem anderen Fotographen, dessen Name auf dem Bild gestanden hatte.
Er schüttelte den Kopf. Hier in dieser Stadt wohnt niemand mit diesem Namen, sagte er.
Sind Sie sicher?, fragte ich.
Sicher?, fragte er beleidigt zurück. Ich habe vierzig Jahre hier gelebt und gearbeitet, und ich bin der einzige Fotograph hier schon immer gewesen. Die Arbeit reicht ohnehin nicht einmal für einen.
Vielleicht ist er ein Amateur, vermutete ich.
Wie war der Name?
Cathari, sagte ich deutlich.
Klingt italienisch. Hier gibt es keinen Italiener.
Da fiel bei mir der Groschen. Indem ich den Namen laut aussprach, erinnerte ich mich an eine mittelalterliche Abhandlung Errores Haereticorum, in der viel über Cathari gestanden hatte. Und Cathari bedeutete Die Katze. Und Cathari, die Katze, war Satan selbst. So stand es da. Und ich wusste jetzt, wer der unbekannte Fotograph gewesen war, nämlich
Satan, die Katze, und das Foto war Robert selbst.
Ich machte auf dem Absatz kehrt und raste die Treppe wieder hinunter. Der Fotograph schrie mir noch nach, ob ich verrückt geworden sei, und das frage ich mich eigentlich heute noch.
Ich jagte den Wagen die zweihundert Kilometer zurück und kam an, als die Dämmerung gerade in Dunkelheit überging. Dann stürmte ich in Carolyns Haus. Ihr Zimmer war leer. Das Bild! Ich wirbelte herum. Es war weg.
Ich nahm gleich drei Stufen auf einmal, als ich die Treppe hinunterrannte, hinaus in die kühle Herbstnacht. Aus dem Handschuhfach meines Autos holte ich mir eine Taschenlampe. Dann jagte ich keuchend auf den Wald zu, auf die Lichtung.
Der Lichtkegel der Taschenlampe warf einen unsicheren Weg durch das Unterholz. Plötzlich blieb ich stehen, der Lichtkreis zielte genau auf das Gesicht der Katze, die auf mich wartete. Ihre Augen glühten wie das rote Licht einer Ampel. Ich ging einen Schritt weiter. Sie buckelte, und der schwarze Schwanz plusterte sich auf und stellte sich abwehrend auf. Ich schleuderte die Lampe zur Seite und sprang los.
Meine Hände schlossen sich um den pelzigen Hals, dem sich ein heiserer Schrei entrang. Krallen gruben sich mir ins Fleisch. Der Körper bäumte sich auf und zuckte noch einmal, dann wurde er still und war weg!
In meinen verkrampften Händen war nichts mehr.
Ich packte meine Taschenlampe wieder und leuchtete das Gebüsch ab.
Dann sah ich sie. Ich schwöre, ich sah sie, ihre Umrisse, wie ein Schatten von ihr. Ich hörte das Gemurmel ihrer Beschwörungen, und ich hörte auch die vertraute Stimme von Robert.
Ich machte einen Satz auf die verschwommene, kniende Gestalt zu – sie kniete und verneigte sich vor dem Bild.
Bevor meine Füße den Boden wieder berührten, war die Gestalt verschwunden. Ich fand nur noch einen Fotorahmen und ein Telegramm, das Roberts Tod bekanntgab.«
Die Drinks waren warm geworden.
»Das ist alles, was ich Ihnen erzählen kann«, schloss Joe, der Fremde. »Ich muss noch hinzufugen, dass ich allen Freunden und Bekannten den leeren Bilderrahmen zeigte, und alle sagten: Nein, es hat nie eine Fotographie von Robert gegeben! Und Carolyn? Sie sind sicher, dass man sie eines Tages finden wird. Sie ist weggelaufen, sagen sie, und sie wird wiederkommen. Sie sind sehr sicher. Ich möchte, ich könnte auch so sicher sein.«
Dann stand Joe auf und verließ uns...
Er ließ uns in Zweifel und Unsicherheit zurück. Hatte er die beiden aus Liebe zu Carolyn beseitigt? War seine Erzählung eine Art Beichte, um sein Gewissen zu erleichtern?
Die Gäste unserer Party sind sich jedenfalls völlig einig geworden, dass es irgendwo einen leeren Bilderrahmen gibt, durch den ein Mädchen namens Carolyn hindurchschritt, um ihrem toten Geliebten zu folgen.
Dort, wo die ungarische Puszta endet, beginnt die Region von Baliavasta. Das Gebirge ist von riesigen Wäldern bedeckt und auf dem Gipfel von Poltonav steht, alles überragend, die Burg gleichen Namens. Es ist keine große Burg, aber ein mächtiges Bauwerk.
Die Geschichte dieser Burg verliert sich im Dunkel der Vergangenheit. Niemand weiß, wer sie erbaut hat, niemand kennt die Beweggründe, die den Erbauer bewogen, die Burg hier zu errichten. Es gibt Leute, die sagen, es sei der Teufel gewesen. Gut, er könnte es gewesen sein.
Die Burgmauern sind sehr dick. Die nördliche und südliche Flanke ist aus enormen Steinen konstruiert worden, und um sie zu bewegen, war sicherlich die Kraft von unzähligen Männern notwendig. Die beiden anderen Seiten der Burg sind aus kleineren Steinen errichtet worden.
Die Bauern in dieser Gegend, friedliche Menschen, erzählen immer wieder, dass diese Steine nur von Teufeln zugehauen und eingesetzt sein konnten. Aber wer weiß das?
Den oberen Teil der Burg krönen die Mauerzinnen. Vier Türme, konisch zugespitzt, erheben sich an den Ecken, sie sind mit eigenartig glänzenden grauen Tafeln bedeckt.
Sie funkeln in den Gewitternächten, die oft über Baliavasta toben, und die Burgmauern sind im Laufe der Zeit schwarz geworden.
Jetzt ist diese Burg nicht bewohnt. Das große Tor ist weit geöffnet, jedermann kann die Burg betreten. Doch niemand aus dieser Gegend überquert die Zugbrücke die immer über dem Graben liegt, geht an den vermoosten Ketten und den beschädigten Torangeln vorbei, die einmal zum Aufziehen der Brücke dienten.
Niemand, der die Geschichte dieser Burg kennt, traut sich, hineinzugehen. Und wenn sich ein Fremder danach erkundigt und fragt, wo der Eingang zur Burg zu finden sei, beginnen die Einheimischen zu zittern, zu erblassen und vor sich hinzumurmeln.
»Nein«, sagen sie, »ich weiß es nicht...«
Und wenn der Fremde weiter darauf besteht, dann sagen sie höchstens:
»Gehen Sie nicht... gehen Sie nicht...«
Sie haben Angst. Sie haben panische Angst.
Und ehrlich gesagt, sie haben allen Grund dazu.
Seit vielen Jahren hat keiner mehr das Innere der Burg betreten. Keiner ist mehr den Serpentinenweg hochgegangen, denn was früher ein passierbarer Weg war, das hat die Natur jetzt vollkommen zugewachsen. Der Wald hat diesen Erdstreifen überwuchert, und nun scheint er völlig verschwunden zu sein.
Langsam aber sicher arbeitet die Zeit am Verfall der Burg. Lianen und Efeu haben die breiten Mauern überwuchert, aber die Zeit hat die Bauern nicht vergessen lassen, was dort in früheren Jahren geschehen ist, damals, als diese Region noch zum russischen Imperium gehörte und von einem Präfekten regiert wurde.
In den stürmischen Nächten, die meistens mit dem Vollmond zusammenfallen, erzählen sich die Einheimischen, die sich um den warmen Herd versammelt haben, die tragische Geschichte des Präfekten Fedor Ilivitch, und die seiner Frau, der Präfektin Irina, und die Geschichte von Jeremias Roualka, einem Holzfäller, der seine Frau Rodna und die Wälder liebte.
Und niemand kann diesen Geschichten zuhören, ohne dabei zu zittern.
Alle fürchten in den Vollmondnächten das plötzliche Erscheinen Jeremias Roualkas und haben Angst, von ihm in den Hals gebissen zu werden.
Niemand, nicht einer von ihnen, möchte sich in einen Vampir verwandelt sehen.
Jeremias Roualka wusste nicht, wie alt er in Wirklichkeit war. Vielleicht fünfzig Jahre? Er wusste es wirklich nicht. Aber er fühlte sich stark, das erfüllte ihn mit Zuversicht, mit Zufriedenheit. Er war stark genug, um die Bäume zu fällen, stark genug, um seine Frau Rodna zu befriedigen. Sie hatten keine Kinder, doch hofften sie immer noch, eines Tages Eltern zu werden. Auch wenn er schon anfing zu altern, so war Rodna doch jung und kräftig, sie hatte breite Hüften, die dazu bestimmt waren, Jeremias eines Tages zum Vater zu machen.
Jeden Monat musste er achtzig Bäume fällen; dazu hatte er sich verpflichtet. Und dann musste er die Stämme auf einem Ochsenwagen bis zum Waldrand schleppen. Es war eine harte Arbeit, zu hart, um allein gemacht zu werden.
Und kein Tag verging ohne Arbeit. Nicht ein einziger Tag, an dem seine geschliffene Axt sich nicht in einen harten Baumstamm einfraß, an dem die Ochsen nicht mit müden und langsamen Schritten, aber sicher, ein oder zwei gefällte Bäume abschleppten.
Roualka hatte sich mit eigenen Händen ein Haus in einer Waldlichtung errichtet. Hinter dem Haus befand sich ein Verschlag, der für die Ochsen bestimmt war.
Das Haus war klein, es bestand aus einem einzigen Wohnraum, doch für ihn war es schöner als die Burg des Präfekten Ilivitch. Außerdem wartete in diesem Haus seine geliebte Rodna auf ihn, ein Lächeln auf den Lippen, mit breiten Hüften, und Augen, die ihn einluden.
Nach seiner Verheiratung mit Rodna hatte sich sein ganzes Leben geändert. Es war drei Jahre her, und er fühlte sich als der glücklichste Mensch der Welt.
Seine Frau stammte aus dem Ort Stebasta, einem kleinen Dorf in der Puszta.
Er war eines Tages zum Wochenmarkt in dieses Dorf gefahren, nicht mit der Absicht, etwas zu kaufen: Er wollte eine Frau finden, mit der er sein Leben verbringen konnte.
Er ging immer wieder über den Marktplatz und betrachtete alle Frauen. Und dann wählte er aus drei Frauen eine aus, die ihm am besten gefiel. Es war Rodna, die gemeinsam mit ihrem Vater, Tuch und Kleider an einem Stand verkaufte.
Jeremias Roualka war nicht der Mann, der unnötig viele Worte verlor.
»Ich möchte eure Tochter zu meiner Frau machen – wieviel verlangt ihr für sie?«, fragte er.
Rodna senkte den Blick und errötete leicht. Aber aus den Augenwinkeln beobachtete sie den Mann, der so plötzlich an den Stand gekommen war.
»Sie ist uns eine große Hilfe... sie näht die Kleider...«, murmelte der Vater.
»Zwanzig Rubel!«
»Sie ist viel mehr wert!«
»Darum habe ich sie ausgewählt. Aber ich habe nicht mehr Geld. Ich kann ihr ein Haus im Wald bieten, Arbeit, Essen und einige Rubel, um sich Kleider zu kaufen. Ich arbeite für den Präfekten Ilivitch und fälle monatlich achtzig Bäume.«
»Sie ist viel mehr wert«, wiederholte die Mutter, als sei sie das Echo ihres Mannes.
»Vierzig Rubel. Zwanzig jetzt gleich, die habe ich bei mir; die anderen innerhalb eines Jahres.«
»Aber dann kannst du dir in diesen zwölf Monaten keine Kleider kaufen«, ergänzte er, auf Rodna blickend.
»Es ist gut«, erwiderte sie.
»Zwanzig jetzt, zwanzig innerhalb eines Jahres«, bestätigte der Vater.
Roualka zahlte, und noch in der gleichen Nacht schlief er in seinem Haus mit seiner Frau.
Von mm an änderte sich alles. Was früher Langeweile gewesen war, verwandelte sich nun in Fröhlichkeit. Rodna reinigte das ganze Haus, und nach zwei Jahren waren sie soweit, dass sie überall Vorhänge hatten, und dass sie nicht zwei Tage hintereinander das gleiche Essen auf den Tisch bekamen.
Wenn Roualka nach Hause kam, nachdem er den Wald durchquert hatte, setzte er sich an das offene Feuer und begann, seine Axt zu schärfen. Das war seine tägliche Aufgabe, die er mit viel Aufmerksamkeit und Vorsicht erledigte. Dann nahmen sie das Abendessen ein und gingen bald darauf ins Bett. Und so vergingen die Tage, die Monate, die Jahre.
Dann kam ein besonderer Tag. Er hatte den dritten Baum gefällt, nun legte er die Axt beiseite, spuckte in die Hände, rieb sie und ging auf sein Haus zu. Als er hinkam, erwartete ihn eine Überraschung.
Er fand Rodna ohnmächtig auf dem Boden.
»Rodna!« Der Schrei, der seiner Kehle entfuhr, war der Ausbruch eines ungeheuren Schmerzes, aber er konnte ihn nicht verhindern. Männer wie er, die Jahraus Jahrein im Wald leben, haben eine Art sechsten Sinn. Er wusste sofort, dass der Tod im Haus war.
Er hob Rodna auf, und legte sie mit einer Zärtlichkeit und Sorgfalt aufs Bett, die ihn selbst überraschte.
»Rodna«, wollte er sagen, aber sie begann zu stöhnen. Von diesem Augenblick an begannen die schlimmsten Stunden in Jeremias Roualkas Leben. Aber er wusste noch nicht, dass es nur der Anfang von dem war, was ihn noch erwartete.
Er betrachtete Rodna, die ausgestreckt im Bett lag.
Ihr Atem war sehr schwach, ihr Körper heiß, so heiß, als ob sie verbrennen würde. Er befeuchtete ein Tuch und legte es auf die Stirn seiner Frau.
Was hätte er sonst tun können? Er konnte nur am Bett sitzen, er konnte leiden, er konnte wegen seiner Ohnmacht weinen. Oder er konnte zur Burg hinaufsteigen und Hilfe holen.
Hilfe wofür? In der ganzen Region gab es keinen Arzt. Nur ein einziges Mal im Monat tauchte ein Arzt in der Burg auf, um die kranken Diener des Präfekten zu behandeln.
Aber vielleicht war doch jemand in der Burg, der ihm helfen konnte. Doch wenn er jetzt ging, musste er seine Frau allein lassen.
»Rodna, Liebling – ich lasse dich für ein paar Stunden allein. Ich hole Hilfe. Rodna, verstehst du mich?« Aber sie rührte sich nicht. Sie schien ihn nicht zu hören.
Ihm war, als hätte sich eine Lähmung eingestellt, und er wusste wirklich nicht mehr, was er tun sollte. Er brauchte Hilfe.
Roualka küsste sie auf die heiße Stirn.
»Du musst leben«, stammelte er. Gleich darauf verließ er das Haus, die Türen blieben offen, er begann zur Burg zu laufen. Vielleicht würde ihm dort jemand für seine Rückkehr ein Pferd leihen, vielleicht war jemand dort oben, der bereit war, ihm zu helfen.
Der Weg war sehr weit, fast acht Meilen. Doch Roualka war stark, seine Beine waren muskulös, und er war sicher, dass niemand aus der Gegend schneller zur Burg laufen konnte als er.
Eine halbe Stunde später kam ein Gewitter. Der Regen, stark, vom Wind getrieben, durchnässte ihn bis auf die Haut. Auf einmal versanken seine Füße in einem großen, tiefen Wasserloch, die abfallenden Wege verwandelten sich in einen reißenden Strom. Roualka watete hindurch, sein Herz klopfte wie eine Trommel, er befreite sich aus dem Wasser und verfolgte von neuem seinen Weg.
Er mussteRodna! Rodna!