Hans-Joachim Rech
Geschichten aus der Anderswelt
Eine mystische Reise an den Saum des Bewusstseins
Impressum
Covergestaltung: Hennriette Koch
Digitalisierung: Johannes Krüger
andersseitig Verlag
Dresden
ISBN 9783966511322
© andersseitg 2021
(mehr unter Impressum-Kontakt)
“Wer zurück schaut sieht den Abgrund vor sich nicht”
Zeit ist weder endlich noch unendlich - sie ist eine Illusion
Die Zeit wie wir sie wahrnehmen, ist eine große Illusion. Sie wird bestimmt durch die physikalischen Eigenschaften Hell und Dunkel, Tag und Nacht. Hinzu kommen noch die “Jahreszeiten”, die sich dem Umlauf der Erde um die Sonne anpassen und so den naturgemäßen Ablauf manifestieren. Und natürlich wird die Zeit durch das kalendarische Korsett zum einen und das Ticken von Milliarden Uhren bestimmt - beides künstliche Installationen der menschlichen Gesellschaft, um den Tages- und Nachtablauf, der immerhin rund 24 Stunden umfasst, in kleinste Einheiten zu zerlegen, darob die Kontrolle über ihn und unseresgleichen optimal wird. Soweit so gut oder auch nicht gut. Das ist alles nur Physik und Mathematik - nichts weiter. Wer an diese Festlegungen glaubt, das wird der Großteil der Menschheit sein, die in mehr oder weniger zivilisierten Gesellschaften leben, hat sich darin etabliert und versucht so gut wie möglich damit zurechtzukommen. Alles was innerhalb dieses Zeitrahmens geschieht, wird im Rahmen der physikalischen Möglichkeiten rational oder wissenschaftlich erklärt. Der Rest fällt unter den Begriff “unerklärlich - phänomenal”, womit wir bereits die Tür in eine andere Dimension geöffnet haben. Das ist doch Zufall, wird schon seinen Sinn haben, was wissen wir schon von der Welt…. haben sie sich nicht auch schon im einen oder anderen Fall diese Fragen gestellt? Déjà-vu - schon mal gesehen - Erinnerungstäuschung - Fata Morgana??? Sie erinnern sich an Dinge, Geschehnisse, Zeitabläufe, die sie weder zuvor gesehen, erlebt oder in denen sie nach ihrem Dafürhalten noch nicht lebten. Da haben ihnen ihre Sinne einen Streich gespielt, so die landläufige und vielleicht auch ihre Auffassung. Oder der sporadische Blick zur Uhr zeigt ihnen eine bestimmte Zeit an - sie lesen weiter oder hängen ihren Gedanken nach. Und irgendwann blicken sie wieder zur Uhr, aus welchen Gründen auch immer. Und siehe da - die Zeiger der Uhr haben sich offensichtlich nicht weiter bewegt - es ist noch die gleiche Anzeige auf der Uhr wie vor Minuten oder gar länger zurück. Da hat sie ein Zeitloch gestreift - der Hauch der Unendlichkeit, die andere Dimension. Die Iren nennen diesen Zustand Samhain - das ist die “Zeit” zwischen den Zeiten, wo Tag und Nacht eins sind, ein Tag, der in keinem Kalender erscheint aber dennoch vorhanden ist. In diesen zwölf Stunden - der Niemandszeit an Samhain begegnen die Lebenden den Verstorbenen derart, wie sich Menschen halt im “normalen Leben” treffen. Sie essen und trinken zusammen, erzählen, verkehren miteinander und zeugen besonders schöne und kluge Kinder. Sie werden die Hintergründe um das Verständnis zu diesem “Extremzustand” im Text dieses Buches nachlesen können. Es gibt unzählige dieser Begegnungen, Erfahrungen und Geschehnisse, die uns Menschen Zeit unseres Lebens mehr oder weniger intensiv berühren. Energieströme durchdringen uns unentwegt, Milliarden atomarer Teilchen nutzen unsere Körper als “Transmitter”, um sich neu zu formieren oder einfach nur um Energie aufzunehmen. Diese Vorgänge entziehen sich letztlich unserem rationalen Bewusstsein, sie sind “unerklärlich”, auch wenn sich die Wissenschaft quasi den Hintern aufreißt, um uns irgendeine akzeptable Erklärung anzubieten, die auf die eine oder andere Weise in unser vertrautes, übergestülptes Denkbild passt. Der “moderne” Mensch ist in seiner heutigen Lebens- und Daseinsform kaum noch in der Lage oder fähig sich aus den Verstrickungen seiner sich selbst auferlegten Art der Daseinsbewältigung zu lösen, geschweige denn sich mit den Abstraktionen seiner gedanklich-psychischen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Für ihn sind diese Geschehnisse einfach nur phänomenal, unerklärlich, zufällig und gehören in das Reich der “Spökenkiekerei”, des Übersinnlichen, des Paranormalen ebenso wie die weltweit registrierten UFO Sichtungen - Meldungen, die Heerscharen von Wissenschaftlern, Astronomen, Astrologen und Glaubensjünger an das bevorstehende Armageddon auf den Plan rufen, um den Dingen wie auch immer auf den Grund zu gehen. Liebe Leser, vertrauen sie auf ihre naturgegebenen Sinne, machen sie sich frei vom Ballast ihres täglichen Einerleis, der ihnen durch gesellschaftliche Zwänge aufgeladen wird, der sie ablenkt vom Erkennen und Begreifen der kosmischen Urkräfte, die in jedem Lebewesen auf diesem Planeten schlummern - es liegt nur an ihnen den Schutt der Verirrungen und falschen Weissagungen von ihrer Seele hinwegzufegen, aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, um sich den Gedanken zu öffnen, die sie von der ersten bis zur letzten Seite dieses Buches umgeben. Tauchen sie ein in die Welt der Phänomene und Mysterien, der Geheimnisse und Rätsel, welche diese Erde und alles was auf ihr lebt vom Anbeginn ihrer Entstehung umgeben. Nichts ist zufällig, auch wenn einem das eine oder andere unerwartet zufällt - alles hat seinen tiefen Sinn und ist genau für sie, sie und sie alle bestimmt. Ich wünsche ihnen Freude bei der Lektüre, und vielleicht finden sie ja über die beschriebenen Geschehnisse zu Ereignissen zurück, die ihnen selbst zugetragen wurden oder die sie sogar selbst erlebt haben. Einige der beschriebenen Geschehnisse sind meiner Frau und unseren Kindern selbst widerfahren, was jedoch kein Indiz für die Wahrhaftigkeit ist, werden sie jetzt einwenden. Das ist in gewissem Maße durchaus korrekt, deshalb sollten sie diesen entscheidenden Schritt wagen und sich den metaphysischen Kräften öffnen, die sie in völlig neue Verstandes- und Erkenntniswelten führen. Meine besten Wünsche begleiten sie auf ihren gedanklichen Reisen in das Reich der Phänomene, Mysterien und Geheimnisse - vielleicht sogar bis an den Event Horizon.
Endlich Ostern - Falscher Hase und Hühner Frikassee
Und der Weihnachtsmann ist auch nur aus Schokolade
Die Geschichte wiederholt sich - wie Ostern. Noch vier Tage, dann ist es erneut soweit und es heißt - auferstanden aus Ruinen - Entschuldigung - der falsche Film - Frohe Ostern - hat aber auch was mit Ruinen zu tun, jedenfalls bei den Katholiken. Denen ist in Frankreich die liebe Frau unterm Hintern weggebrannt. Soll ein Kurzschluss gewesen sein. Was sonst. Die Hütte wurde im 12. Jahrhundert errichtet, das hält doch kein Kabel aus. Oder die liebe Frau ist endlich auf den Trichter gekommen und hat sich emanzipiert, den Kram hingeschmissen und die Laube abgefackelt. Aber der Aufbau ist schon beschlossene Sache. Hat bei der Frauenkirche in Dresden ein wenig länger gedauert - auch wegen der Spenden. Die haben schon über eine Milliarde zusammen - dabei ist das Feuer noch nicht mal ganz gelöscht oder? Die halten ein paar Glutnester auf kleiner Flamme für den Fall...und schon melden sich die Gutmenschen zu Wort - wo bleibt denn Syrien und der Irak? Na wo schon, da wo sie schon immer sind - an Ort und Stelle und - dann auf der Strecke. Hinter der Hand wird gemunkelt, dass sogar Muslime für den Aufbau der lieben Frau gespendet haben sollen. Schelm - wer Böses dabei denkt. Und Macron - der hat sein Premium Betroffenheitsgesicht aufgezogen - was soll er auch sonst überziehen - und dann in seiner Palast Klitsche den Feuerlöschern eine Blechkrawatte verpasst. Wenigstens wurde der Dornenkranz gerettet - noch vor möglichen Menschen. Das kann nur der Fingerzeig des Herrn gewesen sein, der Ostern vielleicht tatsächlich aus der Kapuzinergruft aufsteigt - quatsch, die ist ja in Wien, aber da sind ja auch die meisten katholisch. Wie dem auch sei - Ostern steht vor der Tür, und damit auch wieder ein Anlass ein wenig die literarische Sau rauszulassen. Ostern ist übrigens das höchste Fest der Christenheit (doch wer und wo sind denn Christen?), noch vor Weihnachten, denn das Weihnachtsfest ist vom Umsatz her uneinholbar, aber was ist schon Umsatz. Als Kinder mussten wir zwei Mal im Jahr an den rheinischen Großkampftagen teilnehmen (Winter- und Sommerschlussverkauf), weil nur dann das Geld reichte um uns einigermaßen einzukleiden. War eine gute vormilitärische Ausbildung, die mir später von Nutzen war. Hat sich gottlob alles gewandelt. Heuer macht man Klick - und schon öffnet Google die Pforten ins Paradies - Lieferung frei Haus bis in die Wohnung - wenn gewünscht. Wir machen das mit unseren Enkelkindern noch auf die traditionelle Art in den Rheinauen oder im nahe gelegenen Schlosspark - das Ostereier suchen. Auch wir Alten haben daran unseren Spaß - wenn wir die Stellen wieder finden, an denen wir vor Jahrzehnten ähnliche Objekte vor neugierigen Suchern verbargen und die Eier noch da sind - die bunten Ostereier natürlich. So ändern sich nicht nur die Zeiten, sondern auch die Eier Ablageplätze - zumindest zu Ostern. Hoffentlich lassen Sie sich nicht zu sehr vereinnahmen vom Trubel, denn Ostern soll ja auch ein Fest der Besinnung sein auf wesentlichere Dinge als bunte Eier und Schokolade von Aldi suchen. Was die Eier angeht, so sollten Sie dabei tunlichst auf Erzeugnisse aus der Bio-Produktion und Freilandhaltung achten, was wiederum die Restbestände an deutschen Feldhasen vor enorme logistische Probleme stellt. Aber auch diese wurden in Zusammenarbeit mit Aldi und Nestlé bravourös gemeistert und dabei selbst höchste Hürden übersprungen. Wahnsinn - wie die das in jedem Jahr schaffen. Einfach phänomenal!!
Der Weihnachtsmann ist auch nur aus Schokolade
Es ist mal wieder soweit - the same procedure as every year - der Großkampftag der Christenheit oder was sich dafür hält, der kollektive Einkaufskrieg, der nicht nur Familien an den Rand ihrer Existenz treibt, sondern die Geschichte von der Heiligen Nacht in ein atemberaubendes, sinnentleertes Dudelritual verwandelt, wo sogar erotische Weihnachtsmärkte zelebriert werden mit allem was das Herz der lebenden Leichen begehrt, einschließlich einer zünftigen Ersatzrute für den Weihnachtsmann, wenn er zu später Stunde die fast verblühte Witwe eines legendären Jahrgangs heimsucht und das in einer Zeit, die allem Anschein nach in eine Art Raserei verfallen ist - das Virus Tempii - erfunden vor vielen Jahrtausenden von eigenartigen Lebewesen, die außer ihrer nackten Haut nichts weiter auf ihrem Ranzen trugen - ach so, beinahe hätte ich es vergessen - eine Kleinigkeit, eher belanglos - zunächst, diese eigenartigen Lebewesen gingen aufrecht auf zwei Füßen, was ihnen aber auf Dauer nicht schnell genug ging, da die Erde auf der sie wandelten doch sehr groß war. Und es gab ja auch so viel zu entdecken und einzusacken. Und plötzlich war da einer, der kam auf eine irrwitzige Idee - und stellte seinen Stammesmitgliedern eine Scheibe vor, die er Rad nannte. Das Ding schlug ein wie eine Bombe, wenn auch erst viele Jahrtausende später Fuhrwerke erfunden wurden, die vorgenannte Sprengkörper zu vogelflugähnlichen Geräten schafften, welche sich mit grausigem Getöse in den Himmel erhoben, wo sie bald entschwanden, um jene Bomben anderorts anderen Stammesmitgliedern auf die Köpfe zu werfen. Überhaupt drehte sich jetzt alles schneller auf dieser Welt und zwar so schnell, dass der Aufrechtgeher - Mensch nannte er sich inzwischen, mit Maschinen durch die Lüfte sauste, die in der Lage waren ihr eigenes Geräusch zu überholen und die Erde - so hieß der Planet nun, in einem Tag öfters umrunden konnten als sie warm zu furzen in der Lage waren, so dass es den rasenden Keulenschwingern von einst spielend leicht möglich war, mehrmals an einem Tag denselben Tag zu erleben. Das war der Zeit nun endgültig zu viel, sie packte ihre Sanduhren zusammen und verabschiedete sich von diesem Planeten Erde in die tiefsten Tiefen des Universums, dorthin, wo alle Uhren im Gleichklang ticken und kein Zeiger danach trachtet den anderen zu überholen, weil er keine Zeit hat. Heuer hatten meine Frau und ich noch ein paar Kleinigkeiten zu besorgen und fuhren wider besseres Wissen in einer dieser Konsumpaläste wo es alles und jegliches zu jeder Zeit zu haben ist. Es war das schrecklichste Erlebnis der letzten Jahre - all die Raptoren - äh Menschen zu sehen - in ihrer ziellosen Hast, gehetzt von diffusen Gedanken, angetrieben von unerklärlichen Impulsen oder von Bluthochdruck, Atemnot und Boshaftigkeit gegen den Nächsten, die Einkaufswagen aufgehäuft bis über den Rand, als stünde das Armageddon vor der Tür - da hilft Ihnen ein Berg Fressen auch nicht weiter; nach allem und jeglichem schnappten die Hände und Finger dieser namenlosen Wesen nicht mehr wissend, warum sie dieses oder jenes an sich rissen - und in einer Nische des riesigen Gütertempels, mehr ein Eckchen, von kaum jemandem bemerkt oder in besonderer Weise gewürdigt, stand ein kleines Männchen , fast ein Kobold, der in seiner Hand eine Sanduhr hielt und sie jedem Menschen, der in den Konsumtempel ein oder aushetzte, für einen winzigen Augenblick vor Augen hielt - und auf dem goldenen Rand des Schauglases stand in schwarzer Schrift "Deine Restlebenszeit", was aber niemanden sonderlich irritierte, geschweige denn beeindruckte. Der Sand aber eilte sich den engen Hals zu passieren, denn er sehnte sich nach jenem Ort am Boden der Sanduhr, wo alle Körner in stiller Eintracht nebeneinander ruhen dürfen, um die Ewigkeit der Zeitlosigkeit zu genießen. Ihnen allen einen geruhsamen Jahreswechsel und vor allem - bleiben Sie gesund und machen Sie einen großen Bogen um die Diebe der Zeit und Geruhsamkeit, die hinter allem und jeglichem lauern und nur auf die Gelegenheit warten, die arglosen Menschlein in ihre Fänge zu schlagen. Dinge gibt es, die sind kaum zu glauben.
Quietschend und knarrend kroch der Güterzug über die Gleise des Verschiebebahnhofs. Fast fünfzig Waggons schleppte die gute alte Lissy, Stratmanns persönlicher Name für das Dampfross, das seit Jahrzehnten unverdrossen seinen Dienst versah. Genauso wie Stratmann, der Rangierlokführer. Schon vierzig Jahre stand er hinter dem Schieber, seit vierzig Jahren befeuerte er den Kessel und schob in dieser langen Zeit Zehntausende Waggons von einem Gleis zum anderen. Er stellte mit seiner Lissy Züge zusammen, deren Ziele er nicht kannte und deren Herkunft im Nebel lag, wie oftmals der Bahnhof, wenn die Tage noch warm, die Nächte längs des Flusses, an denen sein Bahnhof wie eine Burg stand, schon kühl waren.
"Ich bin auf der Lok geboren, meine Muttermilch waren Ruß und Dampf."
So sprach Stratmann, wenn er nach seinem Beruf gefragt wurde. Die Jahrzehnte gingen ins Land, der technische Fortschritt fraß die letzten Enklaven einer beschaulichen Verbundenheit und machte auch vor Stratmann und seiner Lissy nicht halt. In der modernen Bahnwelt war kein Platz für Dampfrösser und nostalgisch verträumte Rangier-Lokführer. Schnelle E-Loks übernahmen Lissys Arbeit. Moderne Containerterminals überspannten mit Krakenarmen gewaltige Abfertigungsanlagen und die Herzen der Menschen. Die Elektronik bestimmte den Arbeitstakt, dem der große alte Verschiebebahnhof nicht gewachsen war. Immer weniger Züge rangierte Startmann mit seiner Lissy zu den Be- und Entladerampen. Meistens waren es Leerwaggons, denn Füllgut wollte man ihm und seiner schnaufenden Freundin kaum noch anvertrauen. Es ging einfach nicht schnell genug. Nach und nach verschwanden die Werkstätten, die Depots und Kohlenhallen, die Wasserspeicher und der große Lokschuppen mit seiner Drehscheibe. Und dann - eines Morgens, war Stratmann allein. Seine Kollegen erschienen nicht mehr zu ihrer gewohnten Arbeit. Gesundschrumpfen - Rationalisierung - Vorruhestand und was nicht noch für absonderliche Bezeichnungen wurden gefunden, um das Entfernen seiner Kollegen zu rechtfertigen. Stratmann machte sich keine Illusionen, er wusste wie es um ihn und seine Lissy stand. Aber solange er noch den Schieber betätigen, die Kohlen schaufeln und die Signale richtig deuten konnte, solange wollte er seiner Lissy die Treue halten, das hatte sich Stratmann geschworen. Rauswerfen konnten sie ihn nicht, er war zu lange dabei. Versetzen kam nicht in Frage, da musste er und der Betriebsrat zustimmen. Gesund war er immer noch, auch wenn die Vertrauensärzte gerne etwas anderes in ihre Berichte eingeschrieben hätten. Nicht zu seinem Wohle, sondern nur um ihn auf eine angenehme Art und Weise loszuwerden. Aber den Gefallen tat er ihnen nicht. So schaffte es Stratmann mit Beharrlichkeit, seiner schon fast sprichwörtlichen Gelassenheit und mit Hilfe seiner Lissy, ein Jahr um das andere diesen Kalkulationsschiebern und Rentabilitätsrechnern abzutrotzen. Der große alte Verschiebebahnhof verlor mit der Zeit seinen düsteren, Ruß verschmierten Charakter, sein Aussehen nahm lieblichere Züge an; zwischen den Gleisen wuchsen Blumen, das Gras bedeckte weithin die Schwellen und überall hatten sich Holunder- und Fliederbüsche angesiedelt. Die Stellwärterhäuschen waren kaum mehr zu sehen. Wild wachsende Birken und Weiden verwandelten sie längst in verwunschene Burgen und geheimnisvolle Schlösser, verliehen dem Bahnhofsgelände ein friedlich mystisches Aussehen, in denen Stratmanns Träume von der ewigen Fahrt mit seiner geliebten Lissy immer konkretere Formen annahmen. Stratmanns Hund Flocke stand stets neben seinem Herrchen, wenn er den Schieber öffnete, und der Dampf seine Lissy zischend und fauchend in Bewegung setzte. Auch Flocke spürte die Veränderungen, die sie längst alle erfasst hatte. Flocke liebte das Bahnhofsgelände - hier gab es viel zu jagen. Doch Flocke war in die Jahre gekommen, wie Lissy, der Bahnhof und Stratmann, sein bester Freund. Beide hatten nur sich und Lissy. Wenn Flocke mit Stratmann nach getaner Arbeit heimwärts ging, dann freuten sie sich schon auf den nächsten Tag, und mit jeder Stunde, die sie nicht mit Lissy auf dem Bahnhof verbringen konnten, starb Stück um Stück ein winziges Teil ihres Traums, den sie für kein Geld der Welt einzutauschen bereit wären. Flocke wünschte sich nichts sehnlicher, als auf seine alten Tage, gemeinsam mit Stratmann und ihrer treuen Lissy, losgelöst von allen Zwängen und Pflichten nur noch um die Welt zu fahren, ferne Länder sehen, endlose grüne Wälder, die Weiten Alaskas, die Savannen Afrikas, die Himmel hohen Gebirge Asiens und die unendlich weiten Ozeane dieser Welt. Und wenn sie das alles irgendwann einmal gesehen haben würden, dann stünde ihrer ganz großen, nie enden werdenden Reise nichts mehr im Wege. Welche Tour fährt Stratmann denn heute? Das ist aber seltsam. So ganz ohne Waggons, nur wir drei.
"Wauu - wauuu" heulte Flocke.
"Ist schon recht, mir ist auch danach zumute. Aber bald haben wir das alles vergessen. - Komm mein Guter, wir erfüllen uns unseren Traum. Wir haben schon viel zulange gewartet. Jetzt ist es soweit. Das wird die schönste Reise unseres Lebens - weil sie niemals enden wird."
Ein wunderschöner Traum - die Reise durch die Ewigkeit.
Im Kriegswinter 1944/45 strömten Teile der deutschen Wehrmacht durch die Eifel über die Reichsgrenze zurück in das noch existierende Deutsche Reich. Groß war die Zahl der Verwundeten, die auf ärztliche Hilfe hofften – meist vergebens. Das Sterben gehörte in dieser Zeit zum täglichen Leben. Im Hürtgenwald, einem Ausläufer der Nordeifel, bestand bis in die vierziger Jahre das ehemalige Restkloster Schwarzenbroich als ruinöses Relikt aus dem 12.Jahrhundert, unweit der Laufenburg, eines stattlichen mittelalterlichen Bauwerks. Das Zisterzienser Kloster ging auf eine gräfliche Stiftung zurück und besaß in der Region umfangreiche Ländereien. Das änderte sich nach dem Einmarsch der Franzosen während der französischen Revolution. Die Klöster wurden vielerorts säkularisiert, ihr Besitz öffentlich gemacht, verkauft oder zerstört. Schwarzenbroich erging es nicht anders. Noch bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges waren die Ruinen des Klosters ein beliebtes Ausflugsziel bei Wanderern. Später Sperrgebiet wegen des nahen Westwalls, dann Korridor der aus dem Westen zurückströmenden Reste der deutschen Wehrmacht. In dieser Zeit hielten sich auch Kampfeinheiten und Verwundete sporadisch in der klösterlichen Ruinenanlage auf, was den Alliierten nicht verborgen blieb. Im Zuge der nachfolgenden Kampfhandlungen wurden die baulichen Überreste des Klosters Schwarzenbroich dem Erdboden gleich gemacht. Die Erinnerung an die verlustreichen Kämpfe um Monte Cassino in Italien drängten sich auf. Also wurde beschlossen, die noch bestehenden Ruinen der Klosteranlage durch Bombenangriffe und Artilleriebeschuss zu zerstören. In den Novembertagen des Jahres 1944 begann noch vor Morgengrauen die Vernichtung von Schwarzenbroich. Die Verwundeten und Frontsoldaten wurden von der Wucht des Angriffs und seiner Heimtücke völlig überrascht. Ein Entkommen aus den inneren Bereichen der Klosteranlage war schwerlich möglich. Das Schreien der sterbenden Verwundeten, die sich schon gerettet glaubten, übertönte sogar das Heulen der Bomben und das Stakkato der Bordkanonen. Schwarzenbroich wurde nie mehr aufgebaut. Die ausgebrannten Restmauern des Klosters ragen noch heute plötzlich und unerwartet wie verstümmelte Extremitäten eines gemarterten Leibes aus einem wild wuchernden Urwald vor den Wanderern aus dem Boden. Der Besucher spürt die Intensität des Leidens und der Schmerzen, die in diese Mauern eingebrannt sind. Wer in den Tagen von November auf Dezember diesen Ort der Qualen aufsucht, dem wird das klagende Wimmern der Sterbenden wie feines Gewisper aus den Mauern zugetragen. So kann man es zuweilen von den alteingesessenen Einheimischen erfahren, welche diese Zeit noch als Kinder erlebt haben und diesen Ort des Schreckens, der Leiden und Qualen in diesen Tagen nach Möglichkeit meiden. Legende - Fiktion - Realität - Memento Mori - Besinne dich deiner Sterblichkeit!
Anfang des 17.Jahrhunderts, der Freiheitskampf der Niederländer gegen die spanischen Unterdrücker befand sich auf seinem Höhepunkt, gelang den Spaniern 1635 die Eroberung der Festung Schenkenschanz, die vor den Toren von Kleve auf einer Insel zwischen Rhein und Waal lag. Diese Anlage wurde ab 1586 von einem Obristen Namens Martin Schenk von Nideggen errichtet, der in niederländischen Diensten stand. Doch die Spanier konnten sich nicht lange dieses Sieges erfreuen. Nur kurze Zeit wehte das Banner Philipps II über den Festungsmauern, dann machte eine neunmonatige Belagerung und die Pest der spanischen Herrschaft ein Ende. Dies nur als Hintergrundwissen um zu verstehen, was während dieser Zeit geschah. Die Belagerungsarmee ließ den Spaniern keine Möglichkeit zur Flucht über Land. Dazu hätten Sie mit Schiffen ans Festland übersetzen müssen, wo die Freiheitskämpfer schon auf die verhassten Besatzer warteten. Die einzige Möglichkeit Entsatz und Verpflegung herbei zu schaffen, bestand über Rhein und Waal. Wer heute auf dem Rheinstrom die Schenkenschanz passiert ahnt nichts von der tückischen Gewalt, die vor mehr als 350 Jahren das Fahren mit Schiffen auf Rhein und Waal zu einem gefährlichen Abenteuer machte. Vor allem nachts. Denn nur in der Nacht konnten sich die Spanier für ein paar Stunden aus der würgenden Umklammerung der Niederländer befreien. Ständig änderte der Strom seinen Lauf, und die Frühlingshochwasser jagten in brausendem Strom der Nordsee zu. Lastkähne verkehrten zwischen dem nordwestlich gelegenen Nimwegen, wo die Spanier ein großes Nachschub Depot unterhielten. In einer dieser Hochwasser-Nächte im Mai muss es gewesen sein, als ein schwer beladenes Lastschiff, bestückt mit Segel, Rudermannschaft und Steuermann einen Zug spanischer Soldaten zur Schenkenschanz schippern sollte. Die gurgelnden Wasser schmatzten gierig am hölzernen Rumpf des Schiffes, und ein um das andere Mal mussten Steuermann und Ruderer alles geben, um das Schiff in der Fahrt zu halten und gegen den gefährlichen Strom manövrieren. Dann schälten sich aus dem Dunkel der Nacht die Umrisse der Festung heraus. Wie ein Stein gewordener Dämon erhob sich das düstere Mauerwerk aus den Fluten des Rheinstromes, und aus den Öffnungen der Schießscharten fiel hin und wieder ein Lichtschein, der sich ängstlich an die bemoosten Steine klammerte.
„Es ist geschafft, gleich landen wir an“ rief der Steuermann gegen den Wind und die schäumende Flut an.
Die Männer im Schiff atmeten auf und frohlockten ob der sicheren Obhut, die sie gleich empfangen würde. Schon erkannten die Fahrensmänner die Gesichter der Wachen, die ihnen durch die Nacht mit hellen Tüchern zuwinkten, ein bestimmtes Signal, das zu jeder Fahrt geändert wurde, um dem Feind keine Möglichkeit zu geben, die Festungsmannschaft zu attackieren. Was dann geschah konnte später niemand mehr genau beschreiben, weil es zum einen Nacht war und zum anderen sehr schnell ging. Das Schiff muss auf eine neu entstandene Untiefe geraten sein; Sand, Geröll und Treibgut mischte der brodelnde Strom zu gefährlichen Barrieren auf; der Lastkahn fuhr sich fest, stellte den Rumpf quer, der sich nun, angeschoben durch die gewaltigen Wassermassen, wie ein großer Baumstamm aus der Flut erhob. Ein Schreien und Brüllen setzte ein, Befehle wurden erteilt, die niemand mehr befolgen konnte oder wollte. Das gesamte Schiff drehte sich krachend und splitternd um sich selbst, der rotbraune Kiel mit Schiffsboden schimmerte für einen kurzen Moment im fahlen Mondlicht, und nur wenige Augenblicke später war vom Schiff, von der Ladung und der Besatzung nichts mehr zu sehen. Nur das grässliche Schreien der Ertrinkenden hallte über die erbarmungslosen Fluten dahin, bis es in der Finsternis erstarb. Das liegt mehr als 350 Jahre zurück und war sicher ein tragisches Ereignis. Aber das ist nur die halbe Geschichte. Besuchen sie das Dörfchen Schenkenschanz auf der heutigen Halbinsel im Rheinstrom bei Kleve. An schönen Sommertagen ein idyllischer Ort, der die Sorgen des Alltags im Handumdrehen vergessen macht. Doch wenn die Frühlingshochwasser kommen, die ganz Großen, Mächtigen, die alles Verschlingenden – dann sollten Sie tunlichst Ihren Fuß nicht auf die Schenkenschanz setzen. Von den mächtigen Mauern des Bollwerks ist nichts mehr zu sehen, es wurde im 19.Jahrhundert geschleift. Aber wenn sich die Geschehnisse jener Maitage jähren, sich in einem jener mörderischen Frühlingshochwasser verdichten, dann erhebt sich die alte Festung wie von Geisterhand getrieben aus den schäumenden Fluten – wie damals in jener dunklen Nacht, die dem Schiff und seiner Besatzung zum Verhängnis wurde. Sollte es Sie aber doch auf die Insel verschlagen, dann lauschen Sie in der Nacht den Stimmen des Stromes. Es sind nicht nur die Einheimischen, die das klagende Hilfegeschrei der Ertrinkenden vernehmen. Die aufgewühlten Fluten spülen die Seelen der Spanier vom Grund des Flusses an die Oberfläche – wo sie vergebens um Rettung und Erlösung rufen.
Morituri te salutante - die Todgeweihten grüßen dich.