RAUL KRAUTHAUSEN | BENJAMIN SCHWARZ
Wie kann ich was bewegen?
DIE KRAFT DES KONSTRUKTIVEN AKTIVISMUS
Inhalt
Vorwort
1. Aktivismus
Aktivismus und Parlament
Held*innen
2. Aktion
Aktionskunst
Ziviler Ungehorsam
Ende Gelände
3. Begegnung
Empathie
Barrierefreiheit
4. Macht
Lobbyismus
Davos
Machtkämpfe
Widerstand
5. Ohnmacht
Burnout
Hass
6. #Bewegung
Fridays for Future
Black Lives Matter
7. Petitionen
Tamponsteuer
Olympia
Zusammenarbeit
8. Konstruktiver Aktivismus
Fantasie
Lösungen
Danke
Aktivist*innen
Anmerkungen
Vorwort
Es ist der 22. Januar 2020. Der einst frostige Berliner Winter zeigt sich bei milden 14 Grad. Wir sitzen im Kreuzberger Café Ahorn, Raúl Krauthausen bei Pasta und Apfelschorle, Benjamin Schwarz bei Ingwertee. Covid-19 ist noch kein Thema, die Klimakrise schon. Wie bei ersten Verabredungen üblich, ahnt noch niemand, was daraus werden wird. Was uns sofort eint, ist die Abneigung gegenüber Small Talk. Das wird uns künftig noch viel Zeit sparen. Also sprechen wir direkt über Aktivismus, über gute und schlechte Kommunikation und über das Olympia-Projekt. Eigentlich sollten wir über Social Media sprechen, über Benjamins Firma part und Raúls zahlreiche Projekte. Doch schnell geht es um mehr als Instagram-Strategien, Communitys und Content-Produktion. Es geht um aktivistische Arbeit. Warum tun wir das? Und wie? Und was bewirkt es?
Raúl: Mir schwebt so etwas vor wie ein konstruktiver Aktivismus.
Benjamin: Und wie sieht der konkret aus?
Raúl: Lass es uns herausfinden.
Bevor wir uns für diese Zusammenarbeit gefunden haben, erfuhren wir beide einen inneren Wendepunkt. Für Raúl liegt er in der Erkenntnis, nicht weiter am »Inklusionszirkus« teilnehmen zu wollen. Nicht weiter von Barrieren in Köpfen zu sprechen, bevor nicht die bürokratischen wie physischen Barrieren beseitigt sind und es selbstverständlich überall Zugänge und Möglichkeiten für Menschen mit Behinderung gibt. Für Benjamin ist es die Zusammenarbeit mit Greta Thunberg. Er trifft sie dabei nicht persönlich, weil sie währenddessen über den Atlantik segelt und er diese Reise in die Welt kommuniziert. Sie weckt in ihm jedoch die Überzeugung, noch viel mehr im Kampf gegen die Klimakrise tun zu können. Und tun zu müssen.
Wir sind Betroffene, die aus ganz persönlichen Motiven etwas bewegen wollen. Ein Mensch mit Behinderung, der für eine tatsächlich barrierefreie Gesellschaft kämpft. Und ein Vater, der dafür kämpft, dass seine Kinder nicht unter den Folgen der Klimakrise leiden müssen. Wir handeln aus persönlichen Motiven. Wir sind nicht objektiv, wir versuchen es nicht einmal zu sein. Dies ist keine wissenschaftliche Arbeit. Wir sind keine reinen Beobachter von Aktivismus. Wir sind mittendrin. Wir haben klare Haltungen und kommunizieren sie auch deutlich.
Und das haben wir mit denen gemein, die wir für dieses Buch treffen: Deutschlands bekannteste Aktivist*innen1. Von ihnen möchten wir wissen, wie ein konstruktiver Aktivismus aussehen kann und auf welche Art und Weise sie etwas bewegen. Geht das überhaupt außerhalb des Parlaments? Oder vielleicht nur dort? Wie radikal muss Aktivismus sein, damit er eine Chance gegen all die Machthabenden in Politik und Wirtschaft hat? Wie wird aus politischem Protest politisches Handeln? Warum tust du das? Warum gibst du nicht auf?
Muss ich persönlich von etwas betroffen sein, um als Aktivist zu kämpfen? Was kann ich als einzelner Mensch erreichen? Wo und wie kann ich anfangen?
Jedes unserer Gespräche haben wir aufgezeichnet, Teile davon als Podcast veröffentlicht. Die Aufnahmen haben wir transkribiert und analysiert. Satz für Satz. Wichtige Erkenntnisse, schlaue Gedanken, spannende Geschichten und inspirierende Fragen – die Aktivist*innen haben viel zu sagen. Jedes Gespräch war für uns aufreibend und so intensiv, dass es Tage dauerte, es zu verarbeiten. Klar, manche von ihnen kannten wir bereits, andere sahen wir zum ersten Mal. Nach jedem Termin schauten wir uns an: Wow, was für ein Mensch! Was für ein Gespräch!
Manchmal überwältigt uns das Held*innenhafte, die Selbstlosigkeit der Aktivist*innen. Dann haben wir einfach nur noch das Bedürfnis, uns zu bedanken – für all die Arbeit, die Zeit, das Leben, das jemand dem Gemeinwohl widmet.
Unser Buch entstand in der Coronakrise, zum Teil während des Lockdowns. Entsprechend viel fand digital statt. Und auch wir trafen uns immer weniger am Ufer des Berliner Landwehrkanals, umso häufiger in digitalen Räumen. Erst wollten wir eine Art Leitfaden schreiben: vom reinen Protest zum konstruktiven Aktivismus. Doch in unseren Gesprächen wurde uns mehr und mehr bewusst: Aktivismus kommt selten von außen, er kommt von innen. Er braucht diesen überzeugungsgetränkten Veränderungswillen, der stärker ist als jedes menschliche Bedürfnis nach Freizeit, Couch oder Party.
Ist dies hier ein Buch von Aktivisten für Aktivist*innen? Nicht nur. Wir glauben, dass vor allem diejenigen, die ihre*n eigene*n Aktivist*in in sich noch nicht aufgespürt haben, hier fündig werden. In den Geschichten und Gesprächen, zwischen und in den Zeilen, in einem konstruktiven Aktivismus. Gleichzeitig ist dies kein missionarisches Buch. Wir teilen zwar die Überzeugung »No one is too small to make a difference«, aber ebenso: »NOT everyone is a changemaker«. Um sich an der Verbesserung der Welt zu beteiligen, müssen wir nicht alle aktivistisch werden.
Und doch: Wir sind nicht bereit, die Welt so hinzunehmen, wie sie ist. Und wir sind uns sicher, dass wir das auch nicht müssen. Dass sie sich verändern lässt, ist längst bewiesen. Nicht allein. Sondern im gemeinsamen Handeln.
Und das fängt immer bei dir an.
1. Aktivismus
»Es bedeutet […], daß es auf Erden keinen Menschen gibt – so brutal, so persönlich feindselig er auch sei –, ohne angeborenes Fundament von Güte, ohne Liebe zur Gerechtigkeit, ohne Achtung vor dem Wahren und Guten; all dies ist für jeden erreichbar, der die geeigneten Mittel verwendet.«
Das Mädchen trägt einen lila Schulrucksack auf dem Rücken und ein Schild vor sich in den Händen – fast halb so groß wie sie selbst. Langsam geht sie durch die ruhige Fußgängerzone. Es ist früh am Morgen, die Sonne versteckt sich noch hinter den historischen Gebäuden. Ihre hohen Wände begrenzen den Weg rechts und links. Dort, am schattigen Rand, bleibt das Mädchen stehen. Sie lehnt das Schild gegen die Mauer, legt ihren Rucksack ab und nimmt einen Stapel Flugblätter heraus. Mit einem Stein beschwert sie den Papierstapel, damit der Wind die Blätter nicht wegweht. Sie setzt sich auf den noch kalten Boden, die Beine angewinkelt neben ihrer roten Trinkflasche und dem Rucksack. Zu ihrer Linken das Schild: »Skolstrejk for klimatet«.
Es ist Montag, der 20. August 2018. Das Mädchen schreibt auf Twitter: »Wir Kinder tun normalerweise nicht das, was ihr uns sagt, sondern das, was ihr tut. Und da ihr Erwachsenen euch einen Dreck um meine Zukunft schert, tue ich das auch. Ich trete bis zum Wahltag in einen Schulstreik für das Klima.«1 Das schwedische Online-Magazin Aftonbladet berichtet noch am selben Tag: »Die 15-jährige Greta Thunberg findet, dass die Menschen das Klima nicht ernst nehmen.« Auf die Frage, warum sie streike, gibt Greta eine klare Antwort: »Niemand sonst tut etwas, also muss ich tun, was ich kann. Es ist meine moralische Verpflichtung, etwas zu tun.«2
Einen Tag später setzen sich zwei weitere Mädchen dazu. Am Freitag sind es bereits 35 Menschen, Schüler*innen und Erwachsene. Schon jetzt wird über das streikende Mädchen aus Stockholm über die Landesgrenzen hinaus berichtet. Niemand nennt sie Aktivistin.
Wir leben in einer Zeit, in der politisches Handeln über das Weiterleben auf diesem Planeten entscheidet: Ein Virus legt die ganze Welt lahm, die weitaus größere Klimakrise zerstört Lebensgrundlagen, Arten sterben aus, soziale Ungerechtigkeit und Menschenfeindlichkeit bedrohen unsere Gesellschaft. »Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir gar keine Wahl haben, ob wir uns engagieren wollen oder nicht«3, sagt die Aktivistin Carola Rackete. Die Frage ist also nicht, ob, sondern wie. Wie kann ich was bewegen? Wie muss ich mich engagieren, damit sich durch mein Handeln etwas verändert? Bewirke ich etwas, wenn ich als einer von hunderten oder tausenden Menschen mit Plakaten an einer Demonstration teilnehme? Schert sich irgendwer um meinen lauten Protest? Ändert sich dadurch etwas? Oder mache ich das vielleicht nur, um mein eigenes Gewissen zu beruhigen? Um überhaupt etwas zu tun? Spielen wir uns damit nicht nur vor, wir könnten etwas erreichen?
Fragen wir die Aktivistin Cesy Leonard. Sie ist Gründerin der Gruppe Radikale Töchter, mit der sie jungen Menschen die Politik mit spielerischen Methoden näherbringt: »Ich glaube, dass die Politik nur durch die Beteiligung der Bürger*innenschaft, nämlich durch kreativen Protest, überhaupt erst lebendig wird. Politischer Protest ist lebenswichtig für die Demokratie.«4 Er ist aber nicht selbstverständlich. Es ist nicht einmal selbstverständlich, politisch zu sein, politisch zu denken. Meinungsforscher*innen bestätigen den Eindruck, dass sich Menschen in Deutschland vor allem mit dem beschäftigen, was die Konsumwelt zu bieten hat – mit all dem, was vermeintlich privat ist. Ist das schlimm? Oberflächlich? Verantwortungslos? Oder vielleicht sogar gefährlich?
Nein, Oberflächlichkeit und politisches Desinteresse führen nicht zu Boshaftigkeit. Doch wer weniger nachdenklich mit seiner Umwelt umgeht, ist eine leichtere Beute für Menschen mit bösen politischen Absichten. »Das Böse ist ein Oberflächenphänomen«, schreibt die politische Theoretikerin Hannah Arendt in ihrem Buch zum Eichmann-Prozess 1961: »Wir widerstehen dem Bösen nur dann, wenn wir nachdenklich bleiben. Das heißt, indem wir eine andere Dimension erreichen als die des täglichen Lebens. Je oberflächlicher jemand ist, desto eher wird er sich dem Bösen ergeben. Das ist die Banalität des Bösen.«5
Wir werden nicht als politische Menschen geboren. Eine wichtige Voraussetzung ist unsere Erziehung. Aus Familien, in denen beim Frühstück oder Abendbrot über Politik gesprochen wird, erwachsen leichter politische Menschen, die es gelernt haben, über den eigenen Tellerrand zu blicken und gesellschaftliche Zustände zu hinterfragen.6 Das klingt nun vielleicht so, als sei für politisches Interesse ein gewisses Maß an Bildung vonnöten. Doch politisch interessiert sind auch diejenigen, die rechte Parolen grölen oder nicht an den Klimawandel glauben. Die Frage, die ein politischer Mensch bejahen wird, lautet zunächst einmal nur: Interessieren mich die Regeln des Zusammenlebens? Und zwar unabhängig davon, wie ich sie gerne hätte?
Im besten Fall aber entwickeln wir ein Urteilsvermögen und einen Gemeinsinn, basierend auf demokratischen Werten. Gute politische Bildung schützt vor den Feinden der Demokratie, weil sie verhindert, dass sie entstehen. Die Demokratie überlebt aber nur, wenn viele Menschen politisch sind. Wenn sich viele dafür interessieren, wie es der Gesellschaft geht, in der wir zusammenleben. Unpolitisch ist der, dem das Schicksal der Polis (Gemeinwesen) gleichgültig ist, sagt Aristoteles.7 Uns geht es hier um all diejenigen, denen es nicht egal ist, was vor ihrer Haustür geschieht, ob die Gesellschaft für alle funktioniert oder ob auch die Generationen nach uns weiter auf diesem Planeten leben können. In diesem Buch geht es um die, die bereit sind, etwas dafür zu tun.
Ihr Engagement ist kein rein selbstloses gemeinnütziges Handeln, denn letztlich profitiert jede*r von einer friedlichen demokratischen Grundordnung. Und auch am Erhalt des Planeten Erde sollte uns allen gelegen sein. Aktivistin Carola Rackete findet klare Worte: »Es braucht sehr viel mehr Menschen, die sich politisch und gesellschaftlich engagieren. Gerade weil wir uns durch die Zerstörung der Ökosysteme in einer existenziellen Krise befinden. Die Klimakrise ist für mich nur ein Teil des gesamten Problems, zu dem ja auch die Ozeanversauerung hinzukommt, das sechste Artensterben, der Verlust der Böden, die Landwirtschaft, die massiven Probleme der Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft. All diese Krisen fordern massive Veränderungen. Und die lassen sich nur umsetzen, wenn sich viele Leute dafür einsetzen. Es reicht einfach nicht, wenn wir nur alle vier Jahre mal wählen gehen.«8
Aber können sich denn überhaupt so viele Menschen politisch engagieren? Nicht selten lautet die Reaktion: Wann soll ich das denn noch machen?! Der Unternehmer Waldemar Zeiler ist politisch aktiv, seit er sich finanziell abgesichert fühlt. Er zeigt Verständnis für diejenigen, die das eben (noch) nicht sind und ihren Alltag unter großen Anstrengungen meistern müssen: Kinder, pflegebedürftige Eltern oder ein fordernder Job, all das erfordert mehr als nur Zeit und Geld. Seiner Meinung nach gibt es aber »genug privilegierte Menschen, die das machen könnten, und die müssen ran«9.
Das allgemeine politische Interesse in Deutschland ist auf Rekordhoch.10 Vor allem bei jüngeren Menschen. Es äußert sich in politischen Bewegungen, Demonstrationen oder Online-Aktionen. Gleichzeitig wollen sich immer weniger Menschen aktiv in Parteien oder Gewerkschaften engagieren. Für den gelernten Buchhändler, Aktivisten und Gewerkschafter Orry Mittenmayer nehmen viel zu viele Bürger*innen ihr Recht auf Politik nicht wahr: »Ich gehörte vor zwei, drei Jahren auch noch zu denen, die immer gedacht haben: Politik gehört nicht mir«, erzählt er, »Politik gehört irgendwelchen alten weißen Männern in Hinterzimmern. Und ich habe nicht mitzureden. Ich bin zu dumm. Und als Schwerhöriger habe ich sowieso keine Chance, da irgendwie mitgestalten zu dürfen. Es brauchte für mich erst mal die gewerkschaftliche Arbeit, um zu verstehen, dass tatsächlich jeder von uns partizipieren kann und jeder von uns eigentlich auch in der Pflicht ist, wenn er oder sie die Möglichkeit dazu hat.«11,12 Orry Mittenmayer ist nicht etwa 65 Jahre alt, sondern erst 25, als er sich wie David gegen Goliath der Plattformökonomie entgegenstellt. Orry arbeitet da als »Rider« beim Lieferdienst Deliveroo und will trotz fehlender Arbeitnehmer*innen-Vertretung die miesen Arbeitsbedingungen nicht länger hinnehmen. Er organisiert den Aufstand der Essenskuriere und wird am Ende erster Betriebsratsvorsitzender bei Deliveroo.
Orry ist mit seinen heute 28 Jahren die Ausnahme: In ganz Europa klagen die Gewerkschaften über ein Nachwuchsproblem. Es gibt dafür viele Erklärungen. Wer politisch uninteressiert ist, sucht als junge*r Arbeitnehmer*in kein politisches Engagement. Wer sich selbst eher politisch rechts, konservativ oder wirtschaftsliberal einordnet, schließt sich ebenfalls keiner Gewerkschaft an. Abgesehen von der wachsenden Gruppe der AfD-Wähler*innen in den Arbeitnehmer*innen-Vertretungen. Bleiben also diejenigen, die sich selbst politisch links verorten. Doch die folgen oft progressiven Ideen und fordern gesellschaftliche Veränderung auf allen Ebenen. Sie wollen sich nicht vom alten, bürokratischen, vermeintlich überstrukturierten und wenig flexiblen Apparat einer Gewerkschaft aufhalten lassen.
Wer mit den Grünen sympathisiert, steht meist ebenfalls nicht unter Verdacht, sich gewerkschaftlich engagieren zu wollen: Zwischen den Grünen und den Gewerkschaften gibt es erst seit wenigen Jahren Verbindungen. Und es wird noch viel passieren müssen, bis das in der Wähler*innenschaft ankommt. Die Mitgliederzahl der SPD schrumpft dagegen unaufhaltsam. Die Verbindung der Partei zur Gewerkschaft ist aber eher eine Erklärung für deren Schwund als eine Lösung für einen Aufschwung. Bleibt noch Die Linke. Hier sind die Verbindungen seit jeher sehr eng. Eigentlich scheinen fast alle Linken auch mit der Gewerkschaft verbunden zu sein. Doch das reicht nicht, um das Nachwuchsproblem zu lösen, zumal Die Linke keine besonders junge Partei ist. Die traditionelle Nähe der Gewerkschaften zu wenigen politischen Parteien erweist sich als großer strategischer Fehler. Zumindest, wenn es um die Rekrutierung von Nachwuchs geht. Bevor 2007 Die Linke entsteht, ist die SPD die einzige parteipolitische Partnerin der Gewerkschaften. Jahrzehntelang. Sicher, auf jeder gewerkschaftlichen Demonstration taucht auch mal eine kommunistische Fahne auf. Das wird in den 1980er und 1990er Jahren in Westdeutschland von damals noch potenten Sozialdemokrat*innen belächelt und als sozialistische Folklore geduldet. Mit der Entwicklung der SPD zur zwischenzeitlich nur noch viertstärksten Kraft auf Bundesebene mit einstelligen Landtagswahlergebnissen rücken auch die Gewerkschaften von ihr ab. Als die SPD noch immer versucht, Arbeitsplätze und Klima gegeneinander auszuspielen, sprechen Gewerkschaftsvertreter*innen längst auf Klimademos. Sie wissen: Hier sind die jungen politischen Menschen. Doch die fragen sich: Ist das nun ein taktisches Anbiedern der Politik-Boomer? Oder haben es die Gewerkschaften endlich begriffen? Nicht, wenn wir auf das Thema Kohleausstieg sehen. Gewerkschafter wie Michael Vassiliadis, der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE), ignorieren den Klimawandel. Ihnen geht es nachweislich nur darum, eine klimafreundliche Politik als möglichst teuer darzustellen: »Die Regierung muss Verantwortung dafür übernehmen, wenn sie einen rentablen Industriezweig politisch abschalten will.«13 Es ist diese Art von Politik und Lobbyismus, die einen rechtzeitigen Kohleausstieg und damit eine zukunftsgerechtere Klimapolitik verhindert.
Es ist fraglich, ob neuere Formen der politischen Beteiligung, also jüngere Bewegungen oder digitale Formate, die Bildungsaufgaben klassischer Einrichtungen übernehmen können. Mit Fridays for Future steigt das Interesse an Politik, Engagement und Demokratie in einer ganzen Generation massiv an. Aber politische Bildungsarbeit ist weder ihr Ziel noch ihre Aufgabe. Die Bewegung aus Jugendlichen und Studierenden organisiert sich von Beginn an selbst. Jeglicher Einfluss der Eltern- und Lehrer*innengeneration wird erfolgreich ferngehalten. Dadurch lernen zumindest die jungen Aktivist*innen mehr, als ihnen irgendeine Einrichtung jemals vermitteln könnte.
Maßnahmen und Angebote muss es jedoch vor allem für diejenigen geben, die zu Hause weniger in Kontakt mit politischen Inhalten kommen. Diejenigen, bei denen aus unterschiedlichsten Gründen nicht morgens am Frühstückstisch aus der Tageszeitung zitiert oder abends pünktlich zur Tagesschau um Ruhe im Wohnzimmer gebeten wird. Kürzungen von Förderprogrammen, die beispielsweise durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgenommen werden, schwächen die politische Bildung. Private Vereine oder Stiftungen bieten Programme und fördern Projekte, können das wachsende Leck aber nicht stopfen, zum Beispiel Projekte wie das VielRespektZentrum in Essen, das durch den privaten Stifter Reinhard Wiesemann finanziert und von dem Sozialaktivisten Ali Can geleitet wird. Ihm begegnen hier Menschen, die nahezu ohne politische Bildung aufgewachsen sind: »Manchen Leuten wurde dieser Zugang nie ermöglicht, sie wurden nie an einer bestimmten Stelle ihres Lebens getriggert oder haben sich nie selbst damit auseinandergesetzt. Und sie schämen sich dafür, dass sie nicht mithalten können.«14
Es muss auch einfache Zugänge zu politischen Inhalten geben. Und zwar ohne populistische Vereinfachungen. Ein Beispiel: Weit über eine Million Menschen lesen noch die Bild-Zeitung, weit mehr folgen ihren Inhalten online, oft indirekt durch die Verbreitung über Social Media. Direkte Aussagen in einer einfachen Sprache mit kurzen Sätzen und vielen Bildern vermitteln das Gefühl der Verständlichkeit. Das Problem: Es ist eben nicht nur einfach, sondern oft allzu vereinfacht. Zwar soll auch bei Bild ein niederschwelliger Zugang zu politischen Themen geboten werden, aber eben nur zu ganz bestimmten und auf eine bestimmte Weise. Aus derart undifferenzierter und selektiver Information lässt sich jedoch keine weitere Stufe der Erkenntnis erklimmen. Noch besser als Stufen wären im Übrigen Rampen, also bessere Zugänge zu Nachrichten. Eine inhaltliche Rampe wäre eine verständliche und korrekte Verbindung zwischen vermeintlich komplexeren Themen und der Lebensrealität vieler Menschen. Medien wie Bild sind aber von vornherein flach angelegt: keine Stufe, keine Rampe, kein Weiterkommen. Stattdessen werden Stimmungen erzeugt.15 Fox News schafft dies in den vergangenen fünf Jahren im Dienste Donald Trumps in den USA: eine systematische und massive Ignoranz durch eine einseitige und dramatisierende Berichterstattung, durch Meinungen und Fake News. Dahinter stehen politische Interessen. Und von denen profitieren keineswegs die Gruppen, die diese Medienangebote hauptsächlich nutzen. Wir sind gewarnt, denn spätestens seit Trump wissen wir, wohin solch ein massenmedialer Populismus führen kann. Gezielte Falschinformationen und dramatisierende Berichterstattung provozieren wütende Massen und Gewalt. Die Erstürmung des Kapitols im Januar 2021 und die versuchte Stürmung des Reichstags im August 2020 sind nur mehr Ergebnisse dieses Populismus.
Es braucht andere Wege, Menschen politische Inhalte näherzubringen. Demokratieaktivistin Cesy Leonard betont, wie wichtig es sei, zu begreifen, was Politik mit mir und meinem Leben zu tun habe. Und zu begreifen, dass diese Demokratie, wenn ich mich nicht für sie einsetze, und sei es auch nur in meinem kleinen Sozialraum, Stück für Stück in Gefahr geraten könnte.16
Klein anfangen also: vor der eigenen Haustür, in der Nachbarschaft und im Freundeskreis17. Vieles ist »politisches Engagement«, auch wenn es sich nicht so nennt. Nicht wenige Menschen behaupten von sich, sie hätten »mit Politik nichts am Hut«, und leisten aber zugleich durch ihr ehrenamtliches Engagement weit mehr für die Gesellschaft als andere, die sich selbst als »politisch« einstufen. Etwas politisch zu bewegen, kann auch bedeuten, beim Elternabend die Stimme zu erheben, wenn sich andere dagegen aussprechen, ein Kind mit Behinderung18 in die Klasse aufzunehmen. Das ist sehr politisch. Aber niemand muss es so nennen. In unserem Gespräch mit Cesy Leonard kommen wir auf das Sozialunternehmer*innen-Netzwerk Ashoka und deren Leitsatz »everyone a changemaker« zu sprechen: »Mir scheint, das ist es, was Leute abschreckt und verängstigt: wenn sie das Gefühl haben, sie müssten ein changemaker sein.«19
Andere Menschen engagieren sich nicht, weil sie sich weder mit sozialen noch mit politischen oder gar globalen Themen auseinandersetzen wollen. Ihnen erscheint die Ignoranz das beste Mittel gegen die großen Krisen der Zeit zu sein.
Darüber wollen wir mit Carola Rackete sprechen. Wir sitzen zusammen im »bUm – Raum für die engagierte Zivilgesellschaft« am Berliner Landwehrkanal. Das Gebäude sollte mal der Google-Campus werden. Intensive Proteste aus Berlin-Kreuzberg verhinderten das. Jetzt gibt es hier für Menschen, die gemeinnützige Arbeit machen, vergleichsweise günstige Büroplätze zu mieten. Außerdem ist hier eine Initiative für Menschen ohne Obdach beheimatet. Carola Rackete ist nur sehr selten in Berlin. Eigentlich ist die Naturschutzaktivistin immer irgendwo in der Welt unterwegs. Wir diskutieren über die globalen Zusammenhänge von Krisen und fragen uns: Warum führen die Dürren in Russland zu einem politischen Rechtsruck in Deutschland? Und warum wird so wenig über globale Politik gesprochen? »Wer informiert sich darüber? Ist das für Leute relevanter als das Ergebnis des Fußballvereins?«20
Das Ergebnis des Fußballspiels steht nur beispielhaft für das Private. Das Private, in das sich die meisten Menschen immer wieder zurückziehen, weil das Leben dort überschaubarer, machbarer, sicherer scheint. Denn die Welt ist voller Zumutungen. Erich Fromm beschreibt in seinem Werk Haben oder Sein das »Absterben unseres Selbsterhaltungstriebes«, das darin begründet sei, dass »der einzelne die sich am Horizont abzeichnende Katastrophe den Opfern vorzieht, die er jetzt bringen« müsste.21 Lieber mit Auto und Flugzeug in die Klimakatastrophe als regelmäßig mit dem Fahrrad zum Bäcker.
Ironischerweise gilt der Rückzug ins Private mittlerweile selbst als Bewegung, wenn auch nicht als politisch. Sie wird auch Postindividualisierung genannt. Spätestens die Coronapandemie mache den Rückzug ins Private zum Megatrend, ließen unlängst Forscher*innen des Frankfurter Zukunftsinstituts verlauten.22 Nicht ganz freiwillig, möchten wir einwerfen. Die Menschen sind schließlich gezwungen, deutlich mehr Zeit im Privaten zu verbringen. Das Öffentliche wird zur ansteckenden Bedrohung, verkörpert durch radikalisierte Wissenschaftsleugner*innen. Viele Menschen sehnen sich nach einer Rückkehr in den öffentlichen Raum – die wenigsten meinen damit den politischen. Es geht hier vielmehr um Freizeitaktivitäten, Urlaubsreisen, Einkaufserlebnisse, Friseurbesuche oder die Freuden des Biergartens. Gleichzeitig zwingt die Pandemie geradezu zur Auseinandersetzung mit politischen Inhalten. Das überfordert nicht wenige und erschöpft viele. Und der ein oder andere winkt ab: »Eine weltweite Krise reicht doch erst mal, bleib mir bloß weg mit dem Klima.« Was kann ein*e Aktivist*in an der Stelle tun? Wir müssen den Menschen wortwörtlich entgegenkommen. Wenn sich jemand nur für den eigenen Vorgarten interessiert, müssen wir eben die Probleme dorthin tragen.
Ja, es lässt uns verzweifeln, wenn wir darüber nachdenken, dass jeder einzelne von uns ausgegebene Euro irgendwo einem Menschen das Leben retten könnte. Leider stimmt es trotzdem. Ja, es liegt nicht in unserer alleinigen Verantwortung. Es sind vor allem politische Fragen, die Politiker*innen beantworten und nicht auf uns in der Zivilgesellschaft abwälzen sollen. Und trotzdem bleiben es unsere gemeinsamen Themen. Für viele ist ein Problem erst dann relevant, wenn es sie direkt bedroht – das Vorgarten-Phänomen, das praktisch bedeutet: Wir müssen die Themen frühzeitig näher an die Menschen heranbringen. Durch persönliche Verbindungen. Klimaaktivistin Luisa Neubauer wendet diese Methode bereits an, indem sie versucht, »nicht die Geschichten von denen zu erzählen, die junge Studentinnen sind wie ich, sondern die Geschichten von meiner Mutter als Krankenschwester mit vier Kindern, wie sie anfing, politisch aktiv zu werden. Oder von meiner Großmutter, warum sie aktiv wurde.«23 Wir sollten weniger von Waldbränden auf anderen Kontinenten berichten als von den Wäldern, die den Menschen näherstehen. Autorin und Aktivistin Dana Buchzik beschäftigt sich damit, wie wir es schaffen können, für Probleme zu sensibilisieren, und auch sie hält nichts von pauschalen Botschaften. »Wir erreichen die Menschen am ehesten, wenn wir Geschichten erzählen. Und wenn wir konkret überlegen, wie wir sie auf die Zielgruppe hin zuschneiden. Wir alle wollen doch als individuelle Person angesprochen werden.«24
Die Metaebene fühlt sich für viele Menschen offenbar zu groß, zu weit weg, zu theoretisch an. Es ist absurd, aber es scheint viele Menschen nicht zu berühren, wenn wir ihnen sagen, dass das Klima die Erde unbewohnbar machen wird. Weil sie es sich nicht vorstellen können. Und das, obwohl die Klimakrise in Form von Waldbränden oder überfluteten Städten längst bei ihnen angekommen ist. Ist es Desinteresse oder eine Art Schutzmechanismus, der ein konsequentes Handeln gegen die Katastrophe verhindert? Verschließt sich die Psyche der Menschen vor zu vielen negativen Nachrichten? Wo bleiben die Alternativen, die Auswege, die positiven Ziele?
Wir beschäftigen uns nicht mit einer besseren Welt, die möglich wäre, sondern wundern uns in einem fort, dass nichts passiert. Die feministische Aktivistin Anne Wizorek erzählt von einem Twitter-Account, der Tagesschaumeldungen aus den 1980ern, 1990ern teilt, und fragt sich, warum damals auf die Nachrichten zur bevorstehenden Klimakatastrophe nicht reagiert wurde: »Warum müssen wir warten, bis uns wirklich der Arsch auf Grundeis geht? Warum muss man immer warten, bis es gar nicht mehr anders geht? Ich habe das Gefühl, wir prokrastinieren unsere bessere Welt geradezu. All das zeigt natürlich, wie stark die Machtstrukturen immer noch sind, gegen die wir da arbeiten müssen.«25 Warum musste erst der CDU-Politiker Walter Lübcke von einem Rechtsterroristen erschossen werden, damit Regierende auf den rechten Terror im Netz reagieren? »Erst danach ging ein großer Aufschrei durch die Politik, und plötzlich wurde sehr schnell gehandelt«26, rekapituliert Mia von Reconquista Internet, die wir aus Sicherheitsgründen nicht mit vollem Namen nennen. Das Vorgarten-Phänomen führt zu einer stets nur reagierenden Politik. Und eine Politik ohne Ideen, ohne Zukunftsvorstellung animiert die wenigsten Menschen dazu, sich an ihr zu beteiligen. Demokratie aber braucht Menschen, die mitmachen.
In einer Diktatur wiederum ist ein*e Aktivist*in in aller Regel sogleich ein*e Staatsfeind*in. Auch wenn in der DDR von »verdienten Aktivisten« gesprochen wurde, wenn Genossen für systemtreues »aktives« Engagement in Vereinen oder anderen Gruppen ausgezeichnet wurden. Die Orden finden sich noch heute auf Berliner Flohmärkten oder über eBay-Kleinanzeigen. Wesentlicher für heutige Zusammenhänge ist der Aktivismus als pazifistisch-sozialistische Bewegung, der sich in den wenigen Jahren zwischen den beiden Weltkriegen vor allem Literaten mit einem besonderen »Weltänderungswillen«27 anschlossen. Ziel der Bewegung war es, Intellektuelle parteiunabhängig für die Politik zu aktivieren. Noch heute definiert ein solcher Veränderungswille den Aktivismus – unabhängig von seiner jeweiligen inhaltlichen Ausrichtung: Aktivist*innen fordern Veränderungen. »Das große Ziel liegt immer darin, dass das, was man macht, letztlich in einer Veränderung der politischen Agenda, der politischen Verhältnisse, münden soll und sich dann im Alltag der Menschen spiegelt«28, beschreibt Ali Can seine Intention als Sozialaktivist.
Sind wir politisch interessiert, fallen uns Dinge auf. Dinge, die wir ungerecht finden, die wir gerne anders hätten, die unseren Werten widersprechen. »Protest« bedeutet, zu sagen, dass wir mit etwas nicht einverstanden sind. Darin liegt schon eine erste Handlung: Ich habe nicht nur eine politische Meinung, ich äußere sie auch, selbst wenn sich die Dinge dadurch noch nicht ändern. Denn Protest allein ist nicht konstruktiv, er zeigt in der Regel noch keine Lösung auf, sondern benennt lediglich das Problem. Dabei machen wir die Erfahrung, dass das Äußern politisch kontroverser Meinungen eine Wirkung erzielt. Sie zeigt sich jedoch nicht selten in kurzfristigen Diskussionen oder im Streit, aber auch wenn wir jemanden durch gute Argumente überzeugen können. Wobei wir uns mit guten Argumenten schon wieder einen kleinen Schritt weiterbewegt haben. Wir meinen also nicht mehr nur, sondern bringen auch gute Gründe vor. Vom Aktivismus sind wir hier noch Lichtjahre entfernt.
Und doch gilt: Wer nicht politisch interessiert ist, wird wohl nur in den allerseltensten Fällen Aktivist*in. Und nur, wer so weit kommt, seine politische Meinung auch zu vertreten und zu begründen, wird auch die nächsten Schritte gehen können. Habe ich schon etwas bewegt? Kommt ganz darauf an: Ich könnte sagen, ich habe mich selbst bewegt. Ein kleines Stück. Die Schritte von der Gleichgültigkeit zur politischen Haltung, schließlich zur politischen Äußerung und weiter zum politischen Protest sind individuell sehr verschieden. Politisch zu sein, ist auch eine Typfrage: Wie verhalte ich mich, wenn mir ein Problem begegnet? Schließe ich instinktiv die Augen und hoffe, dass es jemand anderes für mich löst? Oder suche ich selbst nach Antworten?
Genau das ist die erste Voraussetzung, um politisch aktiv zu werden: Augen auf, nach Lösungen suchen, handeln. Werde also aktiv! Obacht, da ist es wieder. Wir nähern uns dem Aktivismus. Aber Handeln allein ist noch kein Aktivismus, vor allem nicht, wenn das Handeln zu Aktionismus wird. Leider werden diese beiden Begriffe oft verwechselt, dabei könnten sie nicht unterschiedlicher sein: »Aktionismus« beschreibt nur mehr ein impulsives Handeln ohne jedes erkennbare Ziel. Aktionen werden zum Selbstzweck. »Aktivismus« meint dagegen ein aktives, fortschrittliches und zielstrebiges Handeln. Mit Blick auf den Ursprung des Begriffes, wie ihn jene Autor*innen, die die Welt verändern wollten, verstanden29, und zugleich auf eine der heutigen Definitionen30, die dem Aktivismus nicht nur zielstrebiges, sondern auch fortschrittliches Handeln zuschreibt, können wir festhalten: »Aktivismus« bedeutet, für Veränderung zu handeln.
Das Gegenteil von Aktivismus ist der Attentismus, der sich sprachlich aus dem französischen »attendre« ableitet, was abwarten bedeutet. Ein*e Attentist*in ist eine Person, die untätig bleibt, abwartet, passiv verharrt. Und das ist Aktivist*innen ein Dorn im Auge, meint der Philosoph Karl Popper. Er stellte bei ihnen nicht nur »die Neigung zur Aktivität«, sondern auch die »Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens« fest.31 Ein*e Aktivist*in ist demnach nicht nur selbst aktiv, sondern verurteilt auch diejenigen, die keine Aktivist*innen sind. Aber stimmt das überhaupt (noch)? In einem unserer Gespräche mit Luisa Neubauer fragen wir sie, ob sie die Menschen verstehen kann, die sich als »nicht politisch« einordnen und sich damit lieber komplett aus den Debatten heraushalten. Luisa bejaht die Frage und fügt hinzu: »Ich wünsche mir, dass diese Menschen die Krisen für sich entdecken oder zumindest so angesprochen werden, dass ihnen ein bisschen klarer wird, dass es so etwas wie den unpolitischen Menschen in einer Demokratie nicht wirklich gibt.«32 Das stimmt, wenn wir das passiv Politische berücksichtigen. Also Menschen, deren Handeln unfreiwillig und unbewusst politisch ist. Beispielsweise das Einkaufen oder die Nutzung bestimmter Verkehrsmittel. Es reicht jedoch nicht aus, passiver Teil politischer Prozesse zu sein. Denn das bedeutet nicht einmal, wählen zu gehen. Wir meinen hingegen das bewusste politische Interesse. Und darauf aufbauend das politische Handeln. Eine Form dessen ist der Aktivismus. Er weist auf konkrete Probleme hin und fordert Veränderungen. Dafür formuliert er konkrete Ziele – sei es im Umweltschutz, für das Tierwohl, gegen Rassismus oder für die Inklusion – scheinbar unabhängig vom Thema.
Mit Demokratieaktivist Shai Hoffmann sprechen wir über den jungen Rechtsextremisten Sanny Kujath, der in der Fernsehdokumentation Rechts. Deutsch. Radikal.33 des Journalisten Thilo Mischke porträtiert wird: »Er würde sich vielleicht selbst eher als Heimattreuer positionieren, aber für mich, in meinem Verständnis, ist er ein Aktivist«, sagt Shai Hoffmann und erklärt: »weil er für eine Idee, für eine Ideologie, vor die Kamera tritt, um andere Menschen dafür zu begeistern, gewissen Bewegungen und Strömungen beizutreten. Und das ist ja die Idee des Aktivisten: andere Leute zu aktivieren, etwas zu tun.«34 Demnach ist ein Neonazi auch ein Aktivist? Oder ein Rechtspopulist? Gibt es rechten Aktivismus? Ganz langsam. Die rechtsextremistische Gruppe »Identitäre Bewegung« nennt ihre eigenen Aktivitäten selbst »patriotischen Aktivismus«35. Auch in der medialen Berichterstattung wird von »rechten Aktivisten« gesprochen. Allerdings wird in vielen offiziellen Definitionen36 nicht grundlos darauf hingewiesen, dass der Aktivismus progressive Ziele erreichen will, die die Gesellschaft weiterbringen. Wir schließen uns jener Definition an, die unter »Aktivismus« den Einsatz für ein bestimmtes politisches Ziel versteht, das fortschrittlich und nicht menschenfeindlich ist. Doch warum nennen wir das nicht einfach politisches Engagement?
Für Luisa Neubauer sind Aktivist*innen die, die es ernst meinen. Wer von »politischem Engagement« spreche, schwäche diese Intention ab, nach dem Motto: Die einen sind radikal und wollen Veränderung, die anderen spielen im großen Sandkasten der demokratischen Beteiligung. Machthabende kommen ab und an vorbei, um sich mit den Spielenden fotografieren zu lassen oder ihnen eine Auszeichnung zu verleihen. Hoch lebe das politische Ehrenamt, denn es tut mir nichts! Das ist die eine Perspektive auf politisches Engagement. Die andere stellt zu Recht fest, dass das demokratische System ebendieses Spielen im Sandkasten braucht. Ohne es fehle ein wichtiger Baustein, das ganze Haus würde wackeln. Machthabende brauchen Bürger*innen, die sich engagieren, die auf unterschiedliche Art und Weise die Demokratie lebendig halten. Denn politisches Engagement bedeutet oft Arbeit auf lokaler Ebene, im vermeintlichen Klein-Klein der Kommune. Wir könnten auch sagen: Arbeit mit den Menschen. Wer Kindern beim Lesenlernen hilft, unterstützt die Demokratie. Wer geflüchtete Menschen bei Behördengängen begleitet, stärkt das System. Wer mit einer Elterninitiative dafür sorgt, dass Schüler*innen mit Behinderung an der Schule der eigenen Kinder unterrichtet werden können, arbeitet politisch.
Carola Rackete hadert dagegen mit den sprachlichen Zuordnungen: »Was ist ein Aktivist? Vielleicht ist ein Aktivist ja einfach nur ein Teil der Zivilgesellschaft, letztlich eine Person, die sich engagiert. Ich sehe da nicht, wo die Grenze zwischen Engagement und Aktivismus verlaufen soll.«37 Sie selbst spricht lieber von »sozialem Engagement«. Und auch für Demokratieaktivist Shai Hoffmann sind hier die begrifflichen Grenzen fließend: »Als ›Aktivismus‹ würde ich auch bezeichnen, wenn du deinem Nachbarn hilfst, für die Älteren einkaufen gehst, dich mal blicken lässt, einen Tee trinkst. […] Das ist schon Aktivismus im Kleinen. Und jede*r kann damit anfangen.«38 Die Schriftstellerin Margarete Stokowski wählt für sich einen noch breiteren Zusammenhang: »Ich glaube, dass politisches Handeln oft auf einer wesentlich kleinteiligeren Basis stattfindet. Wenn ich einfach solidarisch mit meinen Mitmenschen bin, auf der Arbeit ordentlich mit den Leuten umgehe und niemanden bescheiße. Ich bin schon ein politischer Mensch, wenn ich nach bestimmten Werten, wie Solidarität und Ehrlichkeit, Gleichberechtigung, lebe.«39 Politisches und aktivistisches Handeln sind ebenso wie soziales Handeln wertegesteuert. Das Soziale selbst kann dabei der Wert sein, der mich und das aktivistische Handeln vorantreibt. Deutlich trennen lassen sich Aktivismus und Engagement dadurch, dass Engagement auch außerhalb politischer Themen stattfindet. Ganz praktisch gesehen unterscheiden sie sich in den Arbeitsumfängen: Aktivismus wird von Aktivist*innen meist als Vollzeitbeschäftigung betrieben, ein Engagement kann auch mit wesentlich geringerem Aufwand und in weniger Zeit stattfinden. Auch die Dringlichkeit ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. Ein Engagement verträgt mehr Gelassenheit als der Aktivismus, dessen aktuelle Themen ihn immer wieder zur Radikalität herausfordern. So finden sich bei Aktivist*innen meist radikalere Forderungen. Deshalb wird das, was sich politisches Engagement nennt, in der Gesellschaft als deutlich friedlicher wahrgenommen und somit besser akzeptiert als der Aktivismus. Denn wer sich engagiert, der hält sich meist an gesetzliche Bestimmungen und gesellschaftliche Konventionen. Dem Aktivismus wird viel eher unterstellt, er würde gesetzliche Begrenzungen überschreiten, um seine Ziele zu erreichen. Und das liegt nicht nur an der inhaltlichen Radikalität, sondern auch daran, dass ihm häufig Begriffe wie »Gewalt«, »Chaos« und »Randale« zugeordnet werden. Der eine denkt bei »Aktivismus« an brennende Autos, der andere an streikende Schüler*innen.
Diese populären Assoziationen beeinflussen auch die Aktivist*innen selbst – weniger weil ihnen damit Gewalt unterstellt wird, sondern weil der Begriff bewusst diffamierend eingesetzt wird, um Andersdenkenden die Kompetenz abzusprechen. So gilt die Autorin Margarete Stokowski in Deutschland als eine der wichtigsten Feminist*innen unserer Zeit, ihre Texte sind zweifellos aktivistische Werke. Sie selbst möchte sich aber nicht Aktivistin nennen, »weil das, was andere bei mir als Aktivismus erkennen, im Grunde mein normaler Job als Autorin ist. Zudem wird der Begriff oft in einer sehr abwertenden Bedeutung benutzt, zum Beispiel, wenn man sagt: Das ist kein Journalismus, sondern Aktivismus.«40 Der Vorwurf, jemand sei Aktivist*in, kommt dabei nur aus einer politischen Richtung, stellen wir mit Margarete Stokowski fest, »wenn es darum geht, Leute zu diskreditieren, zumeist Linke oder Feministinnen. Sehr selten ist von christlichen oder kapitalistischen Aktivisten die Rede. Oder Klimazerstörungsaktivist*innen. Die dürften relativ selten sein, obwohl es natürlich Menschen gibt, die eine solche Position aktiv und fordernd vertreten. Wenn man also den Begriff benutzen will, um Leute zu beschreiben, die politische Ziele verfolgen und auch Dinge tun, um diese zu verwirklichen, dann müsste man das eigentlich konsequenterweise auch auf Abtreibungsgegner*innen anwenden, die politische Texte schreiben oder in Talkshows gehen. Die werden aber relativ selten so genannt, und das ist ein Problem mit diesem Begriff.«41
Wer politisch aktiv, aber nicht links ist, wird selten mit dem Stempel »Aktivist« diskreditiert. Das zeigt: Dahinter liegt ein politisches Interesse, und es sind konservative, reaktionäre Kräfte, die den Begriff bewusst instrumentalisieren – einen Begriff, der an sich nichts Beleidigendes hat, der nur deshalb als negativ wahrgenommen wird, weil bestimmte Medien ein abwertendes Bild aufbauen. Gäbe es nicht die junge Klimabewegung um Fridays for Future oder Ende Gelände, wäre der Begriff vermutlich in seiner positiven Bedeutung verloren.
Selbst bei Carola Rackete, die der aktiven Klimabewegung angehört, zeigt die verbreitete negative Anwendung des Wortes ihre Wirkung. In unserem Gespräch merken wir, wie stark sie dieses öffentliche Bild der Aktivist*in bereits eingenommen hat: »Ich persönlich mag das Wort nicht so gerne. Weil ich finde, dass es etwas Abwertendes hat, weil damit häufig übersehen wird, welche Kompetenzen Menschen in einem bestimmten Bereich haben. Auch mich nennen die Leute manchmal eine Klimaaktivistin. Dann erwidere ich immer: Ich bin Naturschutzökologin. Ich habe das studiert. Ich weiß, warum die Klimaerwärmung für den Artenschutz ein Riesenproblem ist. Man wird schon ein bisschen so hingestellt, als ginge es hier um eine persönliche Meinung oder einfach so ein Hobby und nicht um eine ernsthafte Angelegenheit.«42 Es ist verständlich, dass Menschen in ihrem Tun nach dem benannt werden wollen, was sie können und gelernt haben. Der Titel »Aktivist*in« sollte keine Kompetenzen oder Berufsbezeichnungen ersetzen. Er kann diese im Positiven ergänzen. Wichtig ist dabei, dass der Begriff inhaltlich zugeordnet wird, denn niemand ist themenunabhängig aktivistisch: Wir sind Aktivist*innen für die Rechte behinderter Menschen, Antirassismusaktivist*innen oder Klimaaktivist*innen.
Dana Buchzik ist Journalistin, Autorin, Expertin für Radikalisierung und in ihrem Thema durchaus aktivistisch tätig. Sie findet weniger die Begriffsfrage entscheidend als vielmehr die Frage: »Hat da jemand ein Problembewusstsein, hat er die Zeit, hat er die Kraft?« Sie interessiert, »ob Menschen sich einbringen. Welchen Namen sie sich dabei geben, ist für mich irrelevant.«43
Okay: Warum werfen wir dann die Bezeichnung »Aktivist*in« nicht einfach über Bord? Niemand zwingt uns, sie zu benutzen. Doch vielleicht brauchen wir genau diesen positiven Sammelbegriff, um als fortschrittliche Bewegungen zusammenzukommen und gemeinsam für gesellschaftlichen Wandel zu sorgen? Die junge Klimabewegung ist mit der Rückeroberung des Begriffes schon relativ weit. Sie besetzt ihn durch ihren friedlichen, konstruktiven, wissenschaftlich gestützten Protest wieder positiv, indem sie ihn aktiv einsetzt. Dass diese Strategie bereits funktioniert, sehen wir daran, dass der Titel nun schon als eine Art Schutz vor persönlichen Angriffen fungiert: Luisa Neubauer sitzt im Jahr 2020 in der Talkrunde von Markus Lanz. Der mandatslose CDU-Politiker Friedrich Merz fordert sie auf, sie solle sich doch Mehrheiten suchen und bei der Bundestagswahl kandidieren. Er selbst wäre froh, könnte er Mehrheiten hinter sich bringen wie Luisa Neubauer. Stattdessen scheitert Merz mit allen Kandidaturen innerhalb der CDU. Aber das ist in jeglichem Sinne nicht (mehr) wichtig. Es geht darum, wie die alte politische Welt von Männern wie Friedrich Merz auf jüngere Menschen reagiert, die für ihre Zukunft kämpfen, die etwas verändern wollen. Luisa Neubauer erklärt uns, wie hilflos diese Menschen sich ihr gegenüber aufführen: »Wenn mir ein Politiker wie Friedrich Merz so etwas vorschlägt, dann spricht er nicht mich an – nicht Luisa Marie Neubauer, die in Hamburg geboren ist und gerne Fahrrad fährt –, sondern er spricht eine junge Frau in der Politik im weitesten Sinne an, von der er nicht ganz weiß, wie man sie am besten einsortieren kann. Aber das Einsortieren wäre der in seinen Augen hilfreichste Schritt, um mit Disruption umzugehen.«44 Wir alle machen das unaufhörlich: Wir versuchen einzuordnen, was wir hören und sehen. Und so, wie wir andauernd Dinge in die Schubladen unseres Gehirns hineinstopfen, holen wir sie auch wieder heraus. So ähnlich verhält es sich auch mit den Begriffen »Aktivismus« und »Engagement«. In der Theorie lassen sie sich klar unterscheiden, lebendig aber werden sie durch die Erfahrungen, die wir damit verbinden. Das wird in unseren Gesprächen mit den Aktivist*innen sehr deutlich, denn auch hier öffnen sich die individuellen Schubladen: Was ist für mich Aktivismus? Was ist Engagement? Was ist Politik?
Pia und Mia von der Aktivist*innen-Gruppe Reconquista Internet bringen es auf den Punkt: »Wir haben festgestellt, dass dieser Aktivismusbegriff so seine Tücken hat«, sagt Pia, »er ist so klischeebehaftet wie emotional. Wir müssten wohl im schwarzen Hoodie vor dem Rechner sitzen und mit Aktionen provozieren; dabei viel krasser sein, als wir eigentlich sind. An die Grenzen gehen. Für uns sind Aktivisten die Leute von Greenpeace, die auf Booten unterwegs sind. Wir fühlen uns dagegen manchmal eher wie ›Wohlfühlaktivisten‹, weil wir im Warmen sitzen und es uns gut geht. Aber natürlich sind wir dennoch aktiv. Und ich glaube, dieser Wortteil, ›aktiv‹ zu sein – das ist das, womit wir uns identifizieren können. ›Aktivismus‹ heißt für uns deshalb, dass wir nicht hilflos dastehen wollen, sondern den Drang haben, etwas positiv zu verändern.« So sieht auch Mia die Besonderheit der Aktivist*innen in ihrer aktiven Eigenschaft, positive Ideen konsequent weiterzuverfolgen, nicht zu fragen, ob sie sie umsetzen sollten, sondern wie.45
Die beiden jungen Frauen von Reconquista Internet entlarven die begrifflichen Zuschreibungen als lang gehegte Klischees. Sie denken an Greenpeace. Kein Wunder: Die Organisation prägt seit Jahrzehnten die Bilder von Aktivist*innen in medialen Nachrichten so sehr, dass die Begriffe »Aktivismus« und »Greenpeace« für viele Menschen direkt miteinander verwandt sind. Carola Rackete nennt die Non-Profit-Organisation den »Großvater der Umweltbewegung« und bezweifelt, »dass Greenpeace noch radikal sein kann«.
Carola Rackete selbst gehört zur jüngeren Generation von Aktivist*innen. Ihr Name und ihr Gesicht sind bekannt. Trotzdem identifizieren sie die wenigsten Menschen als die Klima- und Naturschutzaktivistin, die sie ist. Denn die öffentliche Person wird mit einem anderen Einsatz verbunden: Im Juni 2019 rettet sie als Kapitänin der Sea-Watch 3 im Mittelmeer insgesamt 53 aus Libyen flüchtende Menschen aus Seenot.
Nach wochenlangem Warten auf eine Genehmigung läuft die Sea-Watch 3 in der Nacht zum 29. Juni trotz eines Verbots der italienischen Behörden den Hafen der Insel Lampedusa an. Nach ihrer Ankunft wird Carola von der italienischen Polizei festgenommen.
Carolas Einsatz ist außergewöhnlich. Sie riskiert damit sehr viel, vor allem ihre Freiheit, da sie damit rechnen muss, in einem italienischen Gefängnis zu landen. Hinzu kommt, dass das Thema Flucht sehr politisch und emotional aufgeladen ist. Carola muss sich verstecken und lebt bis heute aus Sicherheitsgründen weitgehend anonym an unbekannten Orten. Sie wird zum Symbol für eine humane Fluchtpolitik. Ihren selbstlosen Einsatz vor einem brisanten politischen Hintergrund will sie trotzdem nicht Aktivismus nennen: »Im Kern ist Seenotrettung sehr konservativ, weil wir ein Gesetz ausfüllen, das vorschreibt, Menschen in Seenot zu retten. Das ist in internationalen Konventionen so festgelegt. Der Schutz des Menschenlebens wird ja normalerweise in der christlichen Kirche – und angeblich auch von der CDU – hochgehalten. So weit die Theorie. In der Praxis versuchen die europäischen Staaten mit wirklich allen bürokratischen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, zu verhindern, dass wir mit unseren Schiffen im Mittelmeer sind. Das ist ein politisches Statement.«46 Juristisch und moralisch erkennt es die Kapitänin als ihre erste Pflicht, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. So wie all die anderen Seenotretter*innen bei Sea-Watch, Mission Lifeline oder Sea-Eye.