Sabine Adatepe
Lichtblau #mavi
Roman
Es ist euer Leben. Es ist unser Leben.
Es ist das Leben überhaupt …
Bachtyar Ali (Der letzte Granatapfel)
Ankommen oder weggehen?
Mein Lieblingswort ist Sehnsucht.
Dunja Hayali
Prolog
15.06.2013, 22.35 Uhr
»Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zu diesen Tagesthemen: Gewaltsame Räumung: Polizei stürmt Protestlager in Istanbul; überraschende …«
Marie fiel fast der Becher aus der Hand. »Was ist da los, Manfred?« Sie spurtete ins Wohnzimmer.
»Psst, hörst du doch …«
»… nach Tagen der Eskalation und dann wieder der Deeskalation unterstrich Erdoğan heute, wie ernst er seine letzte Drohung meinte, und ließ den Park am Abend dann doch mit Gewalt räumen. Aus Istanbul …«
Marie hechtete neben ihren Mann aufs Sofa. Entsetzt starrte sie auf den Bildschirm.
»Heute Abend, acht Uhr, Sicherheitskräfte gehen mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Protestierende vor und räumen den Gezi-Park. Fast zwei Wochen lang war der kleine Stadtpark im Zentrum Istanbuls ein Ort der Demonstration. Der Demonstration für den Erhalt dieses Parks und zunehmend gegen die als autoritär empfundene Politik der islamisch-konservativen Regierung. Tausende hatten den Park in ein Zeltlager verwandelt. Zur Stunde bauen Polizisten die Zelte ab …«
»Abbauen nennt der das? Die reißen brutal ab, schlagen alles kurz und klein und …«
»Pssst, bitte!«, fuhr Manfred sie an. Marie klappte aufgebracht den Mund zu. Die Kamera fokussierte auf einzelne Szenen, im Laufschritt trugen Männer eine junge Frau auf einer Trage durch das Chaos, ein Mädchen hockte zwischen zwei Helfern und schrie.
»Hast du gehört, das Mädchen da, was hat sie gerufen?«
Manfred rollte mit den Augen. »Ist vermutlich verletzt wie die anderen auch. Jetzt sei doch mal still und hör zu!«
Marie war still, auch wenn es in ihr brodelte. Die Kleine könnte ihre Studentin sein. Oder die Tochter, die sie nie bekommen hatte. Sie schluckte.
*
»Es soll zahlreiche Verletzte gegeben haben, Zeugen sprechen von Szenen wie im Krieg …«
»Oh Gott!« Imke schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. Dieter griff nach der Fernbedienung, ein Knopfdruck und der Bildschirm war schwarz. »Wir sollten längst im Bett sein«, grummelte er. »Kurz vor dem Schlafengehen solche Brutalitäten, das muss doch nicht sein!«
Als der Tumult auf dem Bildschirm abrupt verstummte, ließ Imke die Hände in den Schoß sinken. Mit feuchten Augen blickte sie zu Dieter auf.
»Hast du das schreiende Mädchen gesehen?«
»Da sind viele verletzt, haben sie doch gesagt.«
»Wenn das unsere Tochter wäre …«
1
LEA
#bellaciao
Zu spät! Sie hätte sich viel früher aufmachen sollen. Lea schloss die Augen. Sie würde ihr Leben verpassen! Immer kam sie zu spät! Lamento! Sie schluckte, um nicht zu weinen.
Der Bus brummte, aus den Lautsprechern quoll Rap, sie verstand kein Wort, vor ihr dröhnten Bässe aus den Ohrstöpseln eines Freaks, der sicher noch nie irgendwohin zu spät gekommen war, obwohl er gar nicht zielstrebig wirkte. Lea blinzelte. Özlem, das Mädchen neben ihr, wischte hektisch über ihr Smartphone. Aufgeregt wirkte sie, eben noch hatte sie gelächelt, jetzt durchzogen steile Falten ihre Stirn. Da musste Lea grinsen, Özlem schenkte ihr ein kurzes Lächeln. »Heftig!«, murmelte sie empört. »Jetzt verhaften sie die Ärzte!«
Lea hatte ihre deutsche Studiengruppe in Izmir sitzen lassen, Özlem, die fünf Jahre jüngere Medizinstudentin, sich heimlich aus dem Wohnheim davongestohlen. Beide waren seit Tagen in Izmir auf der Straße und abends in den Parks dabei gewesen, wollten aber da sein, wo alles seinen Ausgang genommen hatte: im Gezi-Park in Istanbul! Allein trauten sich beide nicht so recht, in diesen ungewissen Tagen, die morgens die Revolution versprachen und abends Polizeieinsätze brachten, den Weg in die unbekannte Metropole zu wagen. Auch wenn stündlich Millionen dorthin zu strömen schienen und anscheinend jeder mit offenen Armen aufgenommen wurde. Leas Gruppe war begeistert mitmarschiert bei den Izmirer Protesten, man fotografierte, führte Stegreif-Interviews, postete, was das Zeug hielt, saß abends zusammen und genoss die unerwartete Wende der zweiwöchigen Studienreise wie ein willkommenes Abenteuer. Die Professorin war aufgeschlossen, doch für sie stand die Fortführung des Projekts im Vordergrund. Lea aber mochte nicht die Rolle der Betrachterin von außen einnehmen, sie fühlte sich zugehörig, sozialer Aufbruch war für sie mehr als ein Studienobjekt.
Jubelnde Menschen im Park, aber auch prügelnde Polizisten, Verletzte, singende Jugendgruppen, Mädchen, die von Reizgas benommene Straßenköter versorgten, tanzende, lachende, feiernde Menschen, die plötzlich schreiend auseinanderliefen, Gummigeschosse, Tränengasnebel … Die Bilder der letzten Tage wirbelten Lea durch den Kopf.
»İşte bir sabah …« Träumte sie? »… uyandığımda …«
Die nächste Zeile summte sie mit: »Bella ciao, bella ciao, bella ciao ciao ciao …«
Als Lea die Augen aufschlug, sah sie Özlem ein Video auf Twitter verfolgen und mitsingen. Der Freak vorn zog die Stöpsel aus den Ohren und stieg bei der nächsten Strophe mit ein. Hinten, wo lautstark diskutiert worden war, wurde es still, und bei der dritten Strophe sang der ganze Bus: »Wenn ich sterbe, oh ihr Genossen, oh bella ciao …« Das alte Partisanenlied wirkte frisch und wie für die Gezi-Proteste geschrieben. Die meisten jungen Leute im Bus fuhren nach Istanbul, um sich den Protesten anzuschließen. Und die Bereitschaft, für die hehren Ideale sogar den Tod in Kauf zu nehmen, gehörte einfach dazu. Gegen diesen Gedanken sträubte sich etwas in Leas Kopf, aber ihr Herz glühte. Hatte jemand etwas von Zuspätkommen gesagt? Ach was! Sie war mittendrin und genau am richtigen Ort.
Als sie lächelnd die Augen schloss, blitzte das Gesicht ihres Vaters auf. Bella ciao hatte ihn herbeigerufen. Auf seinen Kassetten hatte sie die türkische Version zum ersten Mal gehört. Baba. Wo mochte er sein? Wie lange hatte sie nichts von ihm gehört?
»Diese Blume, so sagen alle …«, summte Lea, als sie aus dem Bus stieg, es war kurz vor Mitternacht, »… ist die Blume des Partisanen, der für uns’re Freiheit LEBT!« Erstaunt blickten die Mitreisenden sie an, das letzte Wort hatte sie laut gerufen, auf Deutsch. Die Blume des Partisanen, das war ein Bild nach ihrem Geschmack. Und sterben wollte sie auf keinen Fall, und sie wollte auch nicht, dass irgendein Partisan oder sonst wer starb. Darum ging es doch: Protestieren für das Leben!
2
MARIE
#moll
Schatten neben der Tür. Ratten! Ein Knäuel schiefergrauer Ratten, fett und in sich verbissen. Kabbelig. Pulsierend. Schnell aus der Tür, unentdeckt! Nur wie? Die Blase drückt. Jede Sekunde zählt. Hinaus auf den Flur, schnell schnell, still geschlichen, unbemerkt am Rattenknäuel vorbei. Lautlos. Doch schwarz nagelt die Furcht mich auf die Türschwelle. Mein Blick ist gebannt vom düsteren Knäuel neben der Tür. Ich lausche, höre aber ihr Fiepen nicht, nur das Blut in meinen Ohren rauscht. Die Schatten tasten nach mir, da ist kein Licht, nachts darf ich kein Licht machen. Gleich platzt mir der Bauch. Linker Fuß vor, eine Zehenlänge. Reglos verharren die Ratten, sobald ich mich bewege. Stehe ich still, kabbeln und keifen, schnappen und beißen sie weiter. Ich höre sie nicht und höre sie doch. Ich renne, sie erstarren. Bin außer Atem, gehetzt, noch eine Zehenlänge voran. Meine Sohlen kleben am Boden, ich renne mir die Lunge aus dem Leib, doch die Füße bleiben angenagelt. Ein Brummen schiebt die nächtliche Stille vor sich her wie ein Bär. Das Rattenknäuel plustert sich auf, ein Kohlensack ist es jetzt, und bläht und wächst und beult weiter. Ein Zipfel wischt über den Linoleumboden. Ich reiße den Fuß zurück, knalle gegen den Türrahmen. Autsch! Was, wenn die Ratten mich anfallen? Hinter mir Gemurmel. Mein Rücken versteift sich. Zwischen den Fronten gefangen! Das Gemurmel schwillt zum Brummen, zum Dröhnen. Da muss ein Bär sein in Muttis Schlafzimmer. Er sucht nach mir. Ich entkomme ihm nur, weil ich so dringend aufs Klo muss. Nachts darf ich nicht hin. Ich kneife die Beine zusammen. Wo ist sie, fragt der Bär. Raus! Nur hinaus! Sofort!
Ich reiße die Füße mitsamt den rostigen Nägeln vom Boden und fliege zur Tür. Die Ratten im Kohlensack verharren still. Ich schwebe auf den Hausflur hinaus, kräftige Schwimmstöße schieben mich vorwärts. Draußen das Klo ist verrammelt. Sirenen heulen. Die Stiege! Ein Tritt, ins Leere, ich stürze …
Marie hob den Blick. Schwalben schossen wie Pfeile durch die blauen Höhen. Oder waren es Mauersegler? »Kiri, kiriii«, der schrille Schrei tupfte die Andeutung eines Grübchens knapp über Maries Mundwinkel. Die Sonne stand schon hoch. Hinter dem dichten Laub der Linden rund um den Platz wusste sie die Kirchturmspitze verborgen, die winters den Sonnenaufgangspunkt markierte. Gute-Laune-Wetter. Doch der Umschlag in ihrer Hand wischte Marie das Grübchen fort, senkte ihren Blick aus Schwalbenhöhe von Neuem aufs graue Pflaster hinab. Wieder eine Absage. Und das nach diesem Traum. Wieder ein Molltraum, würde Manfred sagen. Und mitfühlend lächeln. Und mit einem Bedauern, das ihr im Laufe der Jahre zunehmend von Überdruss unterwandert schien. Marie zog die Lippen zum Strich.
Ratten waren es also diesmal, ein Rattenknäuel. Sie wusste, dass es nicht wirklich Ratten waren. Was es aber war, wusste sie nicht. In jedem Traum nahm das düstere Bündel neben der Tür eine andere Form an. Mal verschlang es sie, mal wickelte es sich ihr um die Füße, mal zog es sie in einen Strudel hinein. Oft wachte sie mit einem Schrei auf. Den nur sie hörte. Der ihr noch Stunden in den Ohren gellte. Diesmal war sie die Treppe hinabgestürzt. Zur Toilette im Hausflur schaffte sie es nie, höchstens bis zur Tür, die verriegelt war oder ihr entgegenfiel. Ihr schien, sie müsse endlich einmal den Schritt hineinwagen in den ekligen Latrinenverschlag, um den Traum abzuschütteln. Träume deine Träume zu Ende oder sie suchen dich ewig heim!
Seltsam, sie hatte nie in einem Haus mit Abtritt im Treppenhaus gewohnt. Der Traum war stets grau, nicht schwarzweiß, sondern grau in allen erdenklichen Tönen, auch die Geräusche waren grau. Was mochte der Schatten an der Tür bedeuten? Und das Brummen und Dröhnen? Sie war ein kleines Mädchen in diesen Träumen, vielleicht vier, fünf Jahre alt, schwach und hilflos, wie gelähmt, selbst das sonst in Träumen oft so befreiende Fliegen war hier ein schweres Gleiten durch dichten Nebel.
Die Kaffeemaschine blubberte ein letztes Mal und holte Marie in die Küche zurück. Sie griff nach der Lamatasse, goss das schwarze Gift hinein. Es war ein Tag für reichlich Zucker und Milch. Sie verzichtete auf beides. Der erste Schluck verbrühte ihr fast den Gaumen und erinnerte sie an ihren Entschluss, endlich weniger Kaffee zu trinken. Hieß es nicht, Frauen in Fernost litten in den Wechseljahren vor allem deshalb nicht unter Hitzewallungen, weil sie keinen oder doch kaum Kaffee tranken? Wechseljahre, auch so ein gruseliges Wort. Davon war sie doch noch meilenweit entfernt. Heute aber fühlte Marie sich wieder einmal mittendrin. Ein Freitag, die Absage, der Traum. Seit Jahren immer wieder diese Träume. Sie ließen sie um Jahre altern und kamen stets dann, wenn sie dachte, jetzt bin ich sie los. Anschließend dauerte es jedes Mal Stunden, bis der dumpfgraue Nebel sich lichtete.
»Kiriii«, der Mauerseglerschrei hieß sie schweigen. Geh an den Schreibtisch, häng nicht herum, lass dich nicht gehen, steh auf, tu was!
3
LEA
#taksim
Die Stadt funkelte, Lea und Özlem tauchten ein in die Ströme aufgeregter, aufgewühlter junger Menschen, die von überallher zum Taksim-Platz strömten. Was für ein Gedränge! Die Fassade des Atatürk-Kultur-Zentrums im Hintergrund war von Plakaten und Transparenten übersät, vielstimmig und gegensätzlich und doch oder gerade deshalb in friedlicher Harmonie, eine unfreiwillige Kulisse zur Aufführung der Revolution. Auf dem Platz ragte das grell angestrahlte Atatürk-Denkmal aus dem wogenden Menschenmeer heraus, wie ein Leuchtturm aus tosender See. Die Menschen, viele gelb oder weiß behelmt, in T-Shirts und berauschter Sommernachtslaune, jubelten, redeten, lachten, klatschten. Weiß explodierten Blitzlichter, blau leuchteten Handydisplays und strahlten mit den Augen der Menschen um die Wette, machten die Nacht zum Tag, verwandelten den von gepanzerten, beschildeten Polizeiketten umstellten Platz in die fröhlichste Feier, die Lea je erlebt hatte. Vor allem aber sangen die Tausenden, die auch in dieser Nacht hier ausharrten.
»… işte bir sabah uyandığımda … Eines Morgens, als ich erwachte, fand ich mit gebund’nen Händen mein Land unter Besatzung überall …«
Je näher der Menschenstrom Lea und Özlem herantrug, umso deutlicher hörten sie die Begleitung. Jemand spielte Klavier. Und all die Menschen sangen dazu. Sogar Polizisten legten Helme und Schilde nieder und lauschten der Musik.
»… eğer ölürsem … und wenn ich sterbe … wie ein Partisan …bella ciao ciao ciao … sollst du mich begraben … mit deinen Händen in meinem Land …«
Pfiffe, Applaus, Fäuste reckten sich, tausend Kehlen skandierten: »Her yer Taksim her yer direniş! Überall ist Taksim, überall ist Widerstand!«
Sie waren am Ziel. Als das Klavier verklang und die Menge johlte, sah Lea endlich den Pianisten. Die beiden Pianisten! Vierhändig hatten sie gespielt, jetzt sprangen sie auf, umarmten einander, ein junger Mann im hellen T-Shirt mit Basthut, der andere ganz in Schwarz, auch der Bart war schwarz. Lea war es, als entzündete das Leuchten in den Augen der beiden noch auf die Distanz auch in ihr einen Funken. Ihre Wangen glühten. Freudestrahlend drehte sie sich zu Özlem um.
Doch das Mädchen neben ihr war nicht Özlem. Irgendwo in der Menge war Özlem verlorengegangen. Das unbekannte Mädchen lächelte sie an, hielt ein Handy ans Ohr und mit der freien Hand das andere zu. Lea war viel zu aufgedreht, um sich zu grämen, dass mit Özlem das einzig Vertraute, und sei es eine nur wenige Stunden alte Bekanntschaft, verloren war. Die Menge trug sie in den Park hinein, um den sich alles drehte. Hier standen die Bäume, an deren Rettung sich die Proteste entzündet hatten. In dem Gewusel schienen alle einander zu kennen, ein Festival ohne Bühne, hier war jeder Akteur. Jedes Hallo, jedes Lächeln wollte beantwortet sein. Eine Stunde, vielleicht auch zwei oder drei, zog sie von Gruppe zu Gruppe, stellte Fragen, lachte mit, vor allem aber hörte sie zu und saugte die Bilderflut in sich auf.
Ihr schwirrte der Kopf. Ein Junge hielt ihr eine Flasche hin, lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Du siehst müde aus, komm, setz dich zu uns, ruh dich ein bisschen aus«, sagte ein Mädchen neben ihm und rückte für sie zur Seite. Erst jetzt spürte Lea die Erschöpfung und nahm die Einladung an. Sie lauschte dem Gitarrenspiel am Lagerfeuer und nahm die Wasserflasche.
»Danke!« Da flogen ihr die Gesichter der Umsitzenden zu. Unwillkürlich war ihr der Dank auf Deutsch über die Lippen gepurzelt.
»Kommst du aus Deutschland?«
»Aber du kannst Türkisch? Woher kommst du denn?«
»Seit wann bist du hier?«
»Mit wem bist du hier?«
Fragen prasselten auf sie ein, sie schloss die Augen, lächelte.
»Hey, nervt sie nicht mit euren Fragen! Sie ist hier wie wir alle, schön, dass du da bist!«
Sie spürte einen Arm, der sich schützend um ihre Schultern legte. Dankbar blickte sie auf, es war das Mädchen, das sie eingeladen hatte, sich dazuzusetzen.
Ihr Blick fiel auf einen schmalen Jungen vor dem Zelt gegenüber. Er stopfte sich Spraydosen in die Strümpfe. Der hat noch was vor heute Nacht, schoss es ihr durch den Kopf und sie fragte sich, wo er wohl sprayen würde und was. Er wandte ihr den Kopf zu, als hätte er ihre stummen Fragen gehört, und grinste verschmitzt. Als sie zurücklächelte, rief er herüber: »Kommst du mit? Ich geh mir noch ein wenig die Beine vertreten.« Sie nickte heftig, doch als sie aufstehen wollte, taumelte sie und fiel zurück. »Hey, bist du vom Gezi-Rausch betrunken?« Gelächter, mitfühlende Blicke, wieder legte ihr das Mädchen den Arm um die Schulter, der Sprayer schmunzelte. »Na, laufen solltest du schon noch können!« Als er die Wolke sah, die sich auf seine Worte hin auf ihre Miene legte, schob er tröstend nach: »Die nächste Nacht kommt bestimmt!« Er warf sich einen knallroten Radlerrucksack auf den Rücken, zwinkerte ihr zu und verschwand zwischen Bäumen und Menschen.
Erst jetzt bemerkte Lea, dass es ringsum ruhig geworden war, viele hatten sich in die Zelte zurückgezogen, andere lagen in Schlafsäcken oder einfach in Wolldecken oder Jacken gehüllt davor. Manche redeten noch, rauchten, andere schnarchten. Einer weinte am Telefon.
»Wie heißt du eigentlich?« Die Frage riss sie aus den Gedanken. Hier waren alle Freunde, alle gehörten zusammen, viele Namen wirbelten durch die Luft, in einer Diskussionsgruppe glaubte sie vor Stunden sogar den eigenen Namen gehört zu haben, doch nach ihrem hatte sie bisher niemand gefragt. Sie lächelte, drehte sich zu der Fragestellerin um.
»Ti«, sagte sie. »Und du?«
4
MARIE
#schwarz
Der Artikel war nicht fertig. Erst hatte sie sich nicht entscheiden können, das Thema überhaupt anzugehen, dann hatte sie keinen Abnehmer für das Exposé gefunden. Ins Blaue hinein zu schreiben, fiel ihr immer noch schwer. Lieber hätte sie im Austausch mit Kollegen Themenhefte konzipiert, im grellen Licht der Großraumredaktion unausgereifte Artikel von Nachwuchsautorinnen optimiert oder sich über die spitzen Anmerkungen der Chefredakteurin in ihrem Lieblingsartikel echauffiert. Lieblingstext war stets der, an dem sie gerade arbeitete. Sie brauchte den Austausch darüber, wie aus einer Idee ein Text, eine Serie, ein Heft entstehen sollte. Doch nach der Umstrukturierung der Redaktion stand sie auf der Straße. Feste Freie durfte sie sich nennen. Ein Euphemismus. Ein Zugeständnis an ihre langjährige erfolgreiche Arbeit, hatte die smarte neue Redaktionsleitung geschmeichelt. Denn selbst bei den Freien wurde der Reihe nach das »fest« gestrichen. Aus heiterem Himmel war sie beim alten Eisen gelandet, welche Schmach! »Freie« war sie kurz nach dem Studium gewesen, immer in der Hoffnung, nach der nächsten Weiterbildung, dem nächsten Praktikum fest angestellt zu werden. Auf das »fest« nach dem Rauswurf konnte sie sich ein Ei backen.
Schon lange liebäugelte sie damit, wieder einmal etwas zu Lateinamerika zu machen, ihr altes Leib-und-Magen-Thema. Revolución! Libertad! Doch was war aus den einstigen Volksbewegungen geworden, wohin war es mit Ortega in Nicaragua gekommen! Wer aktuell in El Salvador an der Macht war, wusste sie nicht einmal. Morales und Lula schienen Leuchttürme zu sein, doch selbst ihr Licht war blass gegen das Strahlen der hoffnungsvollen Frentes in den Siebzigern und frühen Achtzigern. Als es nun in Brasilien gärte und Bürger auf die Straße strömten, denen es relativ gut ging, rieb Marie sich verwundert die Augen. Sie zögerte zu lange, den Impuls, schreibend Hintergründe zu erkunden, in die Tat umzusetzen. Als sie erfuhr, dass es nicht die Armen waren, die dort aufbegehrten, suchte sie nach Parallelen in Wohlstandsgesellschaften: Besitzstandswahrung als Motivation für revolutionäre Umtriebe? Zäh tröpfelten zu wenige Gedanken in die Tastatur. Zum xten Mal las sie die drei, vier Zeilen. Und kam nicht darüber hinaus.
Wie so oft in jüngster Zeit, wenn die Konzentration zu wünschen übrigließ, loggte sie sich bei Facebook ein. Sie gehörte zu der schweigenden Mehrheit, die verfolgte, was andere posteten, und, der Gipfel an Aktivität, hin und wieder auf »gefällt mir« klickte. Schreiben war ihr Beruf, ihre Leidenschaft, Schreiben hatte seine eigene Ethik, die für sie unvereinbar mit dem Buchstabengeblubber in den sozialen Medien war, außerdem war der Datenschutz in der glitzernden www-Schwabbelwelt völlig ungeklärt.
Ein türkischer Teilnehmer aus dem letzten Workshop hatte ihr eine Freundschaftsanfrage geschickt. Creative Writing für Migranten. Nett war das gewesen, hatte auch etwas Geld gebracht, aber auf Dauer brauchte sie wieder einen festen Job. Sie war nicht der Typ für ein ungewisses Freiberuflerdasein. Ohne das regelmäßige Sprechergehalt ihres Mannes auf dem gemeinsamen Konto hätten die drei Monate Arbeitslosigkeit ihr den letzten Nerv geraubt. »DINKS«, hatte Manfred irgendwann einmal hinter seiner Morgenzeitung gebrummelt und kurz aufgelacht. Bitte? »Double Income No Kids.« Sie hatte nicht einmal grinsen können. Ja, sie galten wohl als gesettled. Ein ruhiges gleichförmiges Leben in einer Partnerschaft auf Augenhöhe. Den Kinderwunsch hatte sie nach all den vergeblichen Versuchen erfolgreich verdrängt, die Nörgelei der Mutter nach Enkeln hatte die Kluft zum Elternhaus weiter vertieft.
Sie nahm die Facebookfreundschaftsanfrage an. Posts blitzten auf. »Ethem’i öldürdüler! Sinsi Katiller!« Was mochte das heißen?
*
»Das ist sein Ende, in spätestens einer Woche ist der Mann weg!« Sie drehte sich um. Der junge Mann, der das gesagt hatte, grinste, als er ihren fragenden Blick sah. »Erdoğan, der türkische Ministerpräsident. Sie werden sehen, wie die Leute im Gezi-Park den wegpusten!«
»Schschsch! Ruhe!«, zischelte es links und rechts im Publikum des Vortrags.
Marie hob erstaunt die Augenbrauen. Ihrer Erfahrung nach geschahen Revolutionen nicht über Nacht. Gut dreißig Jahre war es her, dass sie Spanisch gelernt hatte, um sich der Revolution in Nicaragua anzuschließen. Sweet Sixteen, voller Enthusiasmus und Tatendrang war sie gewesen. Wo waren all die Träume von damals nur hin? Sie lächelte traurig und schüttelte den Kopf.
»Glauben Sie mir, was da abgeht, ist nicht zu stoppen!« Der junge Mann in der Reihe hinter ihr konnte nicht ahnen, dass ihr Bedauern nicht ihm galt, sondern dem eigenen Pessimismus. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Wie gern wollte sie daran glauben. Doch Optimismus schien ein fremdes, der Jugend vorbehaltenes Wesen, das sich mit den Jahren verflüchtigte. Auch dieses Mal erwies sich ihr Pessimismus als Realismus. Weit mehr als die beschworene »eine Woche« war seither verstrichen, doch der türkische Premier schien fester im Sattel zu sitzen denn je.
*
Und nun war in Ankara ein junger Mann gestorben, den zwei Tage zuvor bei den Protesten eine Polizeikugel in den Kopf getroffen hatte. Ethem hieß er, mit einem unaussprechlichen Nachnamen. Erschossen. Marie musste an Romero denken, den Pfarrer und Bischof, der sich so spät erst für das Volk entschieden hatte, bald zu einer der wichtigsten Stimmen der revolutionären Bewegung in El Salvador geworden war, dann streckte ihn, mitten im Gottesdienst, eine Kugel nieder. Vermutlich von den Contras, von mehr oder weniger offiziellen paramilitärischen Einheiten, die die Drecksarbeit für die Regierung erledigten. Sie war damals sechzehn gewesen. Und dieser Ethem in der Türkei? Sechsundzwanzig!
5
LEA
#imagine
Rauch? Lea schnupperte und blinzelte verschlafen. Als sie den Arm unter der Jacke hervorzog, wunderte sie sich über die Enge. Unwirsches Grummeln antwortete ihr. Erschrocken riss sie die Augen auf. Wer lag bei ihr im Bett? Wo war sie? Brannte es?
Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Durch den Zelteingang reichte ihr eine Hand einen weißen Fetzen. »Gegen das Tränengas, ist besser, wenn du eine bei dir hast.« Eine Zigarettenlänge später tauchte ein grinsendes Mädchengesicht auf, Sommersprossen um die Nase, Strähnen hennaroten Haars fielen ihr in die Stirn. »Magst du Tee?« Das Gesicht war schon verschwunden, als Lea nickte. Sie rappelte sich auf, stopfte die Minigasmaske in die Hosentasche, langte nach ihrem Rucksack, erneutes Grummeln von der jungen Frau, neben der sie geschlafen hatte, ließ sie leise aus dem Zelt schlüpfen.
»Guten Morgen, Ti!« Ein verschmitztes Lächeln begrüßte sie zu ihrer neuen Identität. Der Sprayer von gestern Abend hockte auf dem Weg und malte an einem Plakat.
»Am ersten Tag Terroristen«, entzifferte Ti, »am zweiten Provokateure, am dritten …« Fragend schaute sie auf.
»Demonstranten«, erklärte er, »aber wichtig ist der vierte: Am vierten Tag wurden wir zum Volk!« Er lachte. Lea stimmte ein und nahm den Tee, den das Hennamädchen ihr reichte.
»Gibt’s hier irgendwo Simit oder Börek?«, fragte Lea. »Ich hab einen Bärenhunger, vor lauter Aufregung hab ich gestern glatt vergessen, etwas zu essen.«
»Und wir dachten schon, du bist Gezi-besoffen wie wir alle hier, als du gestern hier angetaumelt kamst. Übrigens, ich bin Tayfun.«
Lea grinste. Schwach erinnerte sie sich daran, dass sie am Vorabend mit dem Sprayer gehen wollte, aber einfach umgekippt war. Wie sie ins Zelt kam, wer die Mädchen waren, neben denen sie geschlafen hatte, war ihr schleierhaft. »Ich hol mal Simit«, sagte sie.
»Geh nicht zu einem der fliegenden Händler!«, rief das Hennamädchen.
»Aber …«
Das Mädchen wurde richtig streng, als sie erklärte: »Die meisten sind Polizeispitzel, immer noch! In Gezi heißt die Devise: kein Geld, kein Eigentum, alles ist für alle da!«
»Oder auch: nichts für niemanden!« Tayfun lachte. »Da vorn ist der Gezi-Supermarkt, schau mal, was du da findest.« Er wies mit dem Pinsel um drei Ecken, und Lea lief los, stolperte über Beine und Katzen, Heringe, Leinen und Decken. Alle drei Schritte blieb sie stehen, beäugte Graffiti, Aufkleber, Zettel mit Parolen oder Annoncen, lächelte Neuankömmlingen zu, beantwortete Fragen, stellte selber welche, lauschte einer Querflöte, sprang einer Gruppe junger Mütter bei, die von Kindern bemalte Laken zwischen Bäume spannten, während die Kleinen auf Steinen und Wegen weiterwerkelten, lehnte Zigaretten ab, reichte Wasserflaschen und Gasmasken von Hand zu Hand, wenn sie gerade durch eine Versorgungskette lief, staunte über ein Grüppchen, das mitten auf dem Pflaster sitzend meditierte, und fühlte sich als alte Gezi-Häsin. Endlich fand sie den Supermarkt.
»Willkommen im Çapulcu-Markt« stand krakelig auf einem Pappschild. Auf einer Pyramide aus Steinen lag alles, was das Herz begehrte, Schokoriegel, Saft, Cracker, Wasserflaschen, sogar Käse, Honig, Konfitüre in Portionsdosen. Oben hinter dem Pappschild drängten sich Plastiktüten mit Einkäufen und Mitbringseln für den fliegenden Marktplatz. Sie griff nach Keksen, hielt nach Obst aber vergeblich Ausschau. Gleich nachher würde sie irgendwo eine Riesentüte Obst besorgen, einen Apfel abzweigen und den Rest in den Soli-Supermarkt tragen.
Auf dem Rückweg fand sie den Weg von einer größeren Gruppe auf dem Boden sitzender Leute versperrt. »Ah, die Yogis sind auch schon da«, sagte jemand. Lea setzte sich dazu. Eine Vorturnerinnenstimme lud zum Sonnengruß ein.
Als Lea nach dem letzten Ausatmen die Arme senkte, stieß ihr Ellbogen den Nachbarn an. »Pardon!«, sagte sie und traf auf Tayfuns Grinsen.
»Ich hab dich gesucht. Simit-Holen kann ja keine Stunde dauern!«, sagte er theatralisch. »Es wimmelt hier nur so von Terroristen, Provokateuren, Demagogen. Und Tschapulierern natürlich.« Er zwinkerte ihr zu, zog sie aus dem Pulk der Yoga-Mädchen und nahm sich einen Keks aus ihrer Packung. »Noch einen Tee, dann aber an die Arbeit!« Lea ließ sich gern entführen.
Vor einem Zelt teilte eine ältere Frau Tee aus, deren Goldzahn aufblitzte, wenn sie lachte, und sie lachte ununterbrochen. Gleich daneben hockten zwei Männer und spielten Tavla. Tayfun wies Lea auf die zusammengefalteten Zettel hin, die neben dem aufgeklappten Spielbrett lagen. »Sie spielen ›Verschlossener Umschlag‹«, erklärte er. »Vor dem Spiel notiert jeder Spieler etwas auf einem Zettel. Der Verlierer muss dann tun, was der Gewinner ihm zugedacht hat.«
»So ungefähr wie Flaschendrehen zu zweit.« Lea lachte, dann stutzte sie. Verschwommen stieg eine Erinnerung in ihr auf.
»Es hat etwas mit Vertrauen zu tun«, sagte Tayfun und in Leas Kopf riss ein Schleier.
*
»Das ist reine Vertrauenssache, Ti!«, hatte der Vater gesagt und Lea den Umschlag aus der Hand genommen. Wie viele Jahre war das her? Er hatte sie zum Wochenendbesuch abgeholt und abends zu Freunden mitgenommen. Sie spielten »Verschlossener Umschlag«. Lea wollte wissen, was der Freund für ihren Vater notiert hatte, was würde er tun müssen, wenn er das Spiel verlor? Doch der Vater legte den Umschlag auf den Tisch zurück. »Ich vertraue meinen Freunden«, sagte er. »Was sie für mich entscheiden, ist richtig.« Er war Tavla-süchtig, doch die Umschläge kamen nur selten ins Spiel. Vertrauenssache! Lea wusste, dass sie am Ende erfahren würde, was darin stand. Der Verlierer würde seinen Umschlag öffnen und ihn lesen, erst für sich, oder, wenn er Mut hatte, auch gleich laut für alle. Man würde lachen und diskutieren und der Verlierer würde tun, was der Gewinner für ihn vorgesehen hatte. Was aber im verschlossenen Umschlag für den Gewinner für den Fall seiner Niederlage bestimmt gewesen war, blieb Geheimnis des Verlierers.
Seit der Trennung der Eltern waren die wenigen Tage mit dem Vater Sternstunden für Lea. Er lebte in einer anderen Welt als die Mutter, die den ganzen Tag arbeitete und kaum Zeit für die Tochter hatte. Vater Ziya schien unendlich viel Zeit zu haben, vor allem aber war er, im Gegensatz zur Mutter, die nach Feierabend meist nur noch ihre Ruhe wollte, nie allein. Er nahm sie in den Verein mit, auf Demos, zu Veranstaltungen, in Konzerte, zu Freunden sowieso. Gemeinsam wurde gelacht, viel schwarzer Tee heiß aus kleinen taillierten Gläsern getrunken, gegessen und diskutiert, oft lautstark.
»Du bist mein Sonnenstrahl, Ti!«, lachte der Vater jedes Mal, wenn er sie abholte. Ti war sie nur bei ihm. Wie fast immer hatten die Eltern sich auch beim Namen für die Tochter nicht einigen können, deshalb trug sie einen Doppelnamen: Lea für die Mutter, Tirêj für den Vater. »Aber das ist doch ein Jungenname!«, hatten Vaters Freunde gelästert. »Es ist der schönste Name auf der Welt: Sonnenstrahl, ein ganzes Bündel voller Sonnenstrahlen und obendrein noch mit den Farben des Regenbogens«, hielt der Vater stets dagegen. »All das ist meine Tochter für mich. Als Sohn hätte sie diesen Namen bekommen, warum soll sie nicht auch als Tochter so heißen?« Und Lea trug den Namen mit Stolz, für ihren Vater und für seine Freunde.
Der Vater hatte damals das Tavla-Spiel verloren. Er war blass geworden, als er las, was der Freund geschrieben hatte. Laut wollte er die paar Zeilen nicht vorlesen. Er hatte den Zettel gefaltet, in die Hemdtasche gesteckt, dem Freund die Hand gereicht und mit eiskalter Stimme gesagt: »Mein Wort darauf!« So sehr Lea auch bettelte, sie erfuhr nie, was auf dem Zettel für den Vater stand. Kurz darauf war er fort gewesen. Er rief nur noch an, zunächst häufig, dann immer seltener, und stets versprach er: »Ich bin bald wieder da.« Doch wo er war, verriet er nie. Lea war todtraurig, er vertraute ihr also nicht. »Du wirst es eines Tages verstehen«, flüsterte er durchs Telefon. Später meinte Lea, er hätte dabei jedes Mal einen Kloß im Hals gehabt.
Sie hatte ihn nie wiedergesehen. Und seinen Namen für sie nie wieder benutzt. Bis gestern.
*
»Ti? Warum weinst du?« Tayfun nahm ihren Ellbogen. »Was ist los? Hab ich was Falsches gesagt?«
Ein Schauer durchzuckte sie, sie schüttelte den Kopf, wischte mit dem Handrücken energisch über die Augen. »Nur eine Erinnerung«, murmelte sie. »Ist schon vorbei!« Tayfun musterte sie besorgt, sie zog die Mundwinkel hoch. Zwing dich zum Lächeln, du wirst staunen, wie sich das Spiel der Muskeln auf deine Stimmung auswirkt! Eine Yogi-Regel. Oder so.
»Hörst du das?« Sie lauschte. Der Pianist auf dem Taksim-Platz spielte immer noch oder schon wieder. Sie mussten nicht darüber reden, Hand in Hand liefen sie los, schlängelten sich durch die Menschen, die auch an diesem Morgen zahlreich in den Park strömten. »Imagine all the people«, summten sie mit, »Living for today …«
Sie setzten sich ein wenig abseits, sangen laut mit all den Menschen, Hunderte, Tausende, Hunderttausende, die hier auf den Beinen und in Bewegung waren: »You may say I’m a dreamer … But I’m not the only one …«
Als Lea aufstehen wollte, kribbelten ihr die Beine, zu lange hatte sie im Schneidersitz verharrt, stundenlang erst der Musik dann den Debatten über das weitere Vorgehen gelauscht. Tayfun hatte sich bald gelangweilt, nachdem zunächst er es gewesen war, der unbedingt teilnehmen wollte, denn: »Das ist Basisdemokratie!« Lea war ihm gefolgt, obwohl sie viel lieber von einem Zelt zum anderen gewandert wäre, um das bunte Treiben im Park auf sich wirken zu lassen. Dann fesselte die Diskussion sie doch. Für sie war alles neu. Aber die Proteste dauerten nun schon zwei Wochen an und es drängte die Frage, wie es weitergehen sollte. Sich organisieren, eine Partei gründen, wollten die einen, die anderen hielten dagegen: Unsere Stärke ist unsere Vielfalt, gerade ohne Organisation. Und wie mit einer Räumung umgehen, die manchen undenkbar, anderen aber unmittelbar bevorzustehen schien? Endlos war es hin und her gegangen. Lea wollte bleiben, als es Tayfun weiterzog. Rasch notierte er seine Handynummer auf ihrem Arm. »Für alle Fälle!« Er zwinkerte ihr zu und weg war er. Als das Fazit am Ende lautete: »Wir bleiben, wir kämpfen weiter!«, war Lea fast enttäuscht. Natürlich würden sie bleiben! Der Park gehörte den Menschen, das war doch wohl klar. Aber eine Zukunftsansage war das nicht.
In ihrem Kopf herrschte ein ähnlicher Trubel wie im Park. Sie wühlte sich durch die wogende Menge, die plötzlich stockte. Ein gespenstisch stiller Zug von zehn, vielleicht fünfzehn Gestalten schlängelte sich durch die Menschen. Einige in Schwarz, nur die Gesichter weiß bemalt, andere als Clowns geschminkt. Ein Mädchen mit roter Pappnase und schneeweißer Riesenblüte im Haar kam Lea bekannt vor. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Das war doch Özlem, das Mädchen aus dem Bus! Sie wollte ihren Namen rufen, doch etwas hielt sie zurück. Wie sie da stumm gleichsam durch die Menge schwamm, ging von der Gruppe ein majestätisches Schweigen aus, das nicht nur Lea in ihren Bann zog. Pantomime!
Voran stolzierte ein Mann im schwarzen T-Shirt, das weiße Gesicht maskenhaft. Oder war es eine Frau? Wie ein Zirkusdirektor schritt er, oder sie, breit die Beine, die Brust geschwellt, führte er seine Truppe durch den Park. Unvermutet schlenderte er, spähte nach links und rechts, lächelte selig, bückte sich, hob etwas auf, die Leute reckten die Köpfe, wollten sehen, was er vom Boden klaubte, doch seine schlanken Hände waren leer, das heißt, nur er sah, was er hielt, er beäugte es, strich sanft darüber, steckte es in die ebenso wenig vorhandene Tasche, stapfte weiter, verfiel in Laufschritt, bahnte sich mit hektischen Gesten einen Weg durch die Menge, wie auf der Flucht. Plötzlich erstarrte er, wie getroffen, von einem Schlag, einer Kugel, einer Tränengasgranate, riss den Arm hoch, den Kopf zurück, den Mund auf, Schmerz auf der weißen Maske, stürzte rücklings. Hände reckten sich ihm entgegen, Arme griffen vor, ihn aufzufangen, ohne ihn zu berühren. Sekundenlang froren die Darsteller ein, nur die Clowns gingen weiter, tänzelten um die Szene herum, klatschten lautlos, riefen, weinten, lachten, ohne den geringsten Laut. Da drängelte sich Özlem durch die Menge, das Mädchen mit der roten Pappnase, lautlos ächzend fuhr sie eine fiktive Schubkarre auf den Platz. Die Pantomimen luden vorsichtig etwas Langes, Schweres und doch zerbrechlich Zartes ab, einer kauerte und grub, Özlem setzte sorgsam in das unsichtbar gegrabene Loch, was sie zuvor gemeinsam von der Karre hoben. Ringsum herrschte atemlose Stille. Die Clowns schlugen begeistert die Hände zusammen, lautlos, bestaunten das Werk, den Blick verzückt in den Himmel gerichtet. Als Özlem begoss, was sie imaginär in den Park gepflanzt hat, hatten es alle verstanden. Enthusiastisch applaudierte die Menge.
Lea schmunzelte. Der Mensch sucht stets nach Sinn, dachte sie, immer will er sofort verstehen, will Muster zuschreiben, sortieren, urteilen, bewerten, statt sich einfach nur zu öffnen, zu schauen, zu staunen und zu warten, bis das Geschaute von selbst Gestalt in ihm annimmt, ihn in sich hineinzieht. Wie jetzt das stumme Theater sie. Lea war nur noch Auge, war den Pantomimen dankbar, einen Moment der Stille in den Tumult gebracht zu haben. Der Park nahm pausenlos sämtliche Sinne in Beschlag, alles stürmte auf sie ein, und sie war begierig, alles aufzunehmen. Nun merkte sie, wie viel intensiver Erleben sein kann, wenn nur ein Sinn angesprochen ist und die anderen die Chance bekommen, sich von Innen her zu beteiligen.
Zwei Hände legten sich auf ihre Augen. »Pst!«, zischte es hinter ihr. Lea zögerte.
»Tayfun?« Ein Mädchen neben ihr lachte. Lea spürte ihren Hörsinn explodieren, kaum war sie für eine Sekunde ganz blind, drängte sich ein anderer Sinn in den Vordergrund. Ungeduldig ließ Tayfun seine Hände auf ihre Schultern gleiten.
»Es wird schon dunkel, kommst du heute Abend mit?« Kurz war Lea hin und her gerissen. Natürlich wollte sie mit auf Spraytour gehen, aber die Pantomime hatte etwas Neues in ihr ausgelöst. »Na, wenn du nicht willst, geh ich eben allein.« Lea griff nach Tayfuns Hand.
»Warte! Ich komme mit!« Sie kramte ein Post-it aus der Tasche, kritzelte ihre Telefonnummer darauf, setzte ihren Namen darunter.
»Bist du noch länger hier?«, fragte sie das zierliche Mädchen neben sich.
»Keine Ahnung, man kommt und geht halt«, lachte die. Hilfesuchend blickte Lea Tayfun an. Er grinste und hob fragend die Augenbrauen.
»Wo brennt’s denn?«
»Das Mädchen mit der roten Pappnase und der Blume im Haar, das ist Özlem, mit ihr bin ich hergekommen, im Bus, wir hatten uns verloren, aber jetzt …«
Da schnappte sich die Zierliche an ihrer Seite die Notiz mit der Telefonnummer und wieselte erst durch die Zuschauermenge, dann durch die Pantomimegruppe, war im Nu bei Özlem, flüsterte ihr etwas ins Ohr, steckte ihr den Zettel in die lichtblaue Tüllhülle, warf Lea eine kurze Kusshand zu und verschwand auf der anderen Seite in der Menge.
»Das sind die Mädels von Gezi!«, lachte Tayfun. »Kommst du jetzt mit?«