Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Total Power
erschien 2020 im Verlag Emily Bestler/Atria Books, Simon & Schuster.
Copyright © 2020 by Cloak & Dagger Press, Inc.
Copyright © dieser Ausgabe 2021 by Festa Verlag, Leipzig
Veröffentlicht mit Erlaubnis von Emily Bestler/Atria Books,
ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.
Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-960-2
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Vorbemerkung des Autors
Am meisten hat mich beim Schreiben dieses Buchs der Umstand entsetzt, wie wenig ich mir ausdenken musste. Großflächige Stromausfälle, die sich in der Vergangenheit tatsächlich ereignet haben, von Regierungen beauftragte Analysen von Schwachstellen im Versorgungsnetz sowie offizielle Prognosen der Folgen langfristiger Energieausfälle sorgten dafür, dass sich weite Teile wie von selbst schrieben. Nachdem das gesagt ist, sei darauf hingewiesen, dass Einzelheiten zur optimalen Durchführung gezielter Attacken und konkrete Örtlichkeiten, an denen kritische Infrastruktur zu finden ist, dramaturgisch verschleiert oder frei erfunden wurden.
PROLOG
In der Nähe von Fayetteville, West Virginia
Leichter Nebel kondensierte auf der Windschutzscheibe von Sonja Vance’ Wagen und verwandelte die umliegenden bewaldeten Berge in grüne Schlieren. Wolken stauten sich unter der Brücke, die sie gerade überquerte. Dicht genug, dass sie erwartete, von ihnen verschluckt zu werden, falls sie hinuntersprang.
Verlockend.
Ein Fahrzeug tauchte auf der leeren Straße hinter ihr auf. Sie betrachtete es im Rückspiegel. Ein verrosteter Pick-up, der ein bisschen schief auf den Stoßdämpfern hing. Sie bremste, um ihn vorbeizulassen, und musterte das junge Pärchen mit Baby, das darin saß. Nichts deutete auf eine Bedrohung hin. Andererseits funktionierte das so in diesem Spiel.
Als ihr Nachname noch Woronowa lautete, hatte man ihr beigebracht, dass alles eine potenzielle Bedrohung darstellte. Jede freundliche alte Dame konnte ein Messer oder ein Fläschchen mit Gift hinter dem Rücken verstecken. Jedes Auto war ein potenzieller Verfolger. Hinter jedem harmlosen Dekoartikel, jeder Lampe und jedem Fernseher lauerte womöglich eine Abhörvorrichtung.
Diese Lektionen kamen ihr inzwischen wie aus einer anderen Zeit vor. Nach so vielen Jahren fiel ihr selbst die korrekte Aussprache ihres eigentlichen Namens schwer. Eine Herausforderung, die sie erst nach ein paar harten Drinks meisterte. Aber nicht mit Wodka. Nie mit Wodka.
Sie war in der Sowjetunion zur Welt gebracht worden. Ihre Mutter kannte sie nur aus einer gelben Mappe, die man ihr als junges Mädchen in die Hand drückte. Sie zeigte eine hagere Frau mit harten Gesichtszügen und tief liegenden Augen, die auf lange Suchtprobleme hindeuteten. Laut der Akte war sie eine Diebin und Verräterin. Vielleicht sogar eine Mörderin. Ein schrecklicher Mensch, der vor nichts zurückschreckte, um sich den nächsten Schuss zu setzen.
Inzwischen fragte sich Woronowa, ob diese Frau tatsächlich ihre Mutter gewesen war oder jeder Teilnehmer des Programms dieselbe Mappe ausgehändigt bekam. Eine Lüge auf Papier, die Entsetzen, Schuldgefühle und Dankbarkeit auslösen sollte.
Man hatte sie aus einem rumänischen Waisenhaus geholt. Einem so furchtbaren Ort, dass er sie nach wie vor gelegentlich in Albträumen heimsuchte. Offenbar hatten Tests der Regierung frühe Anzeichen für außergewöhnlich hohe Intelligenz ergeben und eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie zu einer attraktiven Frau heranwuchs. Ausgezeichnete Bedingungen für eine Undercover-Agentin. Sleeper nannte man sie in der Branche.
Den Rest ihrer Jugend hatte sie in einer eigens zu diesem Zweck erbauten Stadt im nördlichen Russland verbracht, umgeben von anderen Kindern wie sie. Man setzte sie einer exakt kalkulierten Dosis aus Englischkursen, westlicher Musik und Hollywood-Filmen aus – natürlich von ihrer stets wachsamen politischen Ausbilderin in den richtigen ideologischen Kontext gerückt. Viele der anderen schienen die endlosen Vorträge über den bedrohlichen Kapitalismus, das unvermeidliche Chaos demokratischer Gesellschaften und die Absurdität von Religion zu genießen.
Sie täuschte ihre Begeisterung allerdings größtenteils nur vor. Gerade so viel, wie es nötig war, um den neuesten Tom Cruise zu sehen.
Die Sowjetunion brach 1991 zusammen, vor ihrer Volljährigkeit. Das Programm wurde trotzdem fortgesetzt. Die Botschaften verloren etwas an ideologischer und nationalistischer Schärfe. Nicht dass es einen Unterschied machte. In ihrer Jugend hatte sie nichts anderes kennengelernt. Wie die meisten Kinder wollte sie die Erwachsenen zufriedenstellen, Bestrafungen entgehen – und natürlich Top Gun genießen.
Mit 22 reiste sie zum ersten Mal in das Land, das sie ihr ganzes bisheriges Leben studiert hatte. Die Erinnerung an diese Erfahrung war ihr noch frisch im Gedächtnis. Die Gerüche. Das helle Sonnenlicht. Die Wärme der Menschen. Auf merkwürdige Weise hatte es sich angefühlt wie … ein Zuhause.
Und dazu war es auch in den letzten 16 Jahren geworden. Im nächsten Monat wurde sie 38; vorausgesetzt sie schaffte es, bis dahin am Leben zu bleiben. Früher hatte sie ihr Überleben immer für selbstverständlich gehalten. Bis dieser Anruf über eine versteckte App auf ihrem Handy eintraf. Ein Anruf, von dem sie sich lange eingeredet hatte, er werde niemals kommen.
Das im Armaturenbrett des Mietwagens integrierte Display des Navigationssystems forderte sie auf, den Highway zu verlassen. Sie verspürte einen Adrenalinschub, wie er nicht zu einer Geheimagentin passte. Als relativ durchschnittliche Programmiererin arbeitete sie von einem vollgestopften Kellerapartment in Washington, D. C. aus. Einer Stadt, die nur wenige Stunden Fahrt hinter ihr lag, ihr inzwischen aber wie ein Teil einer fremden Galaxie vorkam.
Sie fühlte sich schlagartig komplett verloren und desorientiert. Vielleicht war es besser, kurz rechts ranzufahren? Was machte sie hier überhaupt? Alles, wofür sie angeblich kämpfte, existierte nicht länger. Russland war zu einem kapitalistischen Land geworden, regiert von einem Diktator und seinem Klüngel unverschämt reicher Oligarchen. Gehalt vom Geheimdienst bekam sie schon lange nicht mehr. Was auf ihrem Konto landete, verdiente sie sich mit Programmieren.
Trotz dieser Überlegungen befolgte sie die Anweisung ihres Navis und bog auf die steile Nebenstraße ab. Immerhin war das die Lektion, die man ihr am entschlossensten eingetrichtert hatte: Befehle befolgen. Du bist ein Nichts. Ein Rädchen im Getriebe, das entweder seine Funktion erfüllt oder ausgebaut und ersetzt wird.
Als der asphaltierte Teil der Strecke endete, geriet das Navi aus dem Tritt und schlug ihr ständig vor zu wenden. Woronowa schaltete es ab und konzentrierte sich auf das monotone Dröhnen des Motors und das leise Schmatzen von Schlamm unter den Rädern. Sie wusste, wann die entscheidende Abbiegung kam. Viel mehr nicht. Sie sollte dort einen einzelnen Mann vor einer Hütte treffen, am Ende einer ramponierten Piste. Sie sollte sich anhören, was er zu sagen hatte, ihm so viele Informationen von Bedeutung wie möglich entlocken und anschließend Moskau Bericht erstatten. Den einzigen Hinweis zum Inhalt des bevorstehenden Gesprächs lieferte die Aufforderung ihres Vorgesetzten, sich mit dem Stromnetz der Vereinigten Staaten vertraut zu machen. Damit hatte sie in den letzten fünf Tagen jede freie Minute verbracht. Ansonsten ließ sich nur eins mit Sicherheit sagen: Die Person, zu der sie gerade fuhr, war wichtig. Andernfalls wäre Moskau nicht das Risiko eingegangen, eine versteckte Agentin wie sie zu mobilisieren.
Die Hütte geriet in Sicht, halb verborgen im Nebel. Schlichte Bauweise, vermutlich vor ihrer Geburt errichtet. Wie ein kleines Tipi aus Baumstämmen mit abplatzender Rinde und Asphaltschindeln, davor eine große Veranda. Erwartungsgemäß waren die Vorhänge zugezogen. Ein wenig Licht drang dazwischen hindurch.
Woronowa hatte ein Messer im Stiefel versteckt, ansonsten keine Waffe dabei. Ihr letzter Schuss mit einer Pistole lag fast 20 Jahre zurück. Ihr Kampftraining seit der Ankunft in den Vereinigten Staaten beschränkte sich auf einen Kurs im Kickboxen jeden Donnerstagabend.
Sie fühlte, wie die Angst in ihr wuchs. Es fiel nicht schwer, die gegensätzlichen Ursachen dafür auszumachen. Erklärung 1, die wahrscheinlichste: Die SWR hatte beschlossen, dass Leute wie sie mehr Risiken als Vorteile bescherten. Im Haus wartete ein Attentäter, um dieses Problem zu beseitigen. Erklärung 2, die beängstigendere: Eine konkrete Mission stand an und sie überlebte die bevorstehende Begegnung.
Nach ihrer Aktivierung stellte sich die Frage, ob sie weiter in den Vereinigten Staaten bleiben durfte. Beorderte man sie zurück nach Russland? Falls ja, was um alles in der Welt hatte man dort mit ihr vor? Sie in ein Büro zu setzen und für den Geheimdienst arbeiten zu lassen? Sollte sie weiterhin für US-Unternehmen programmieren und geheime Programmcodes einschleusen? Oder in der neuen Filiale von Kentucky Fried Chicken am Roten Platz Hähnchen braten? Fand sie sich überhaupt in einem Land zurecht, in dem sie sich bereits als Kind fremd gefühlt hatte?
Woronowa stellte den Motor ab und griff zur Jacke auf dem Beifahrersitz, bevor sie hinaus in den Regen trat.
Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, worum es hier ging.
Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung zu sein, aber wenn Russen beteiligt waren, ließ sich das nie mit Sicherheit sagen.
Er hatte den Treffpunkt selbst festgelegt und sein iPhone, mit zahlreichen Überwachungskameras in der Umgebung vernetzt, zeigte nichts Verdächtiges. Er steckte das Smartphone in die Tasche und richtete die Aufmerksamkeit auf eine Lücke zwischen Fensterbank und Vorhang. So genau wusste er nicht, was ihn erwartete. Ein Supermodel mit einem dieser ausladenden Pelzhüte? Oder doch eher der Typ ostdeutsche Kugelstoßerin mit straffem Hintern, der aus dem Mund nach Borschtsch stank?
Fast enttäuscht registrierte er, dass die Frau, die die Stufen heraufkam, vollkommen normal aussah. Mitte 30, mit wohlproportionierter Figur in eng geschnittenen Jeans. Sie hatte die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf gestülpt, was ihre attraktiven, nüchternen Gesichtszüge nicht vollständig verdeckte. Eine blonde Haarlocke wippte auf der Stirn.
Vor allem erstaunte ihn, dass sie überhaupt gekommen war. Er versuchte bereits seit einem halben Jahr, diese Begegnung einzufädeln. Hunderte anonymer Kontakte per Internet, um zu beweisen, dass er derjenige war, der er zu sein vorgab, und etwas liefern konnte, das sie brauchten.
Endlich fand dieses Treffen statt.
Als sie die Türschwelle erreichte, zog er sich vom Vorhang zurück und wischte sich den Schweiß von den Händen. Die Zeit, die er mit den Russen verplaudert hatte, stellte nur die Spitze des Eisbergs dar. Mehr als fünf Jahre unermüdlicher Arbeit waren nötig gewesen, um an diesen Punkt zu gelangen. Genau genommen mehr als das. Sein ganzes Leben hatte er auf dieses Szenario, auf diesen Moment hingewirkt. Er glaubte zwar weder an Gott noch an Schicksal, doch er ging fest davon aus, dass dies seine Bestimmung war. Dass etwas Großes bevorstand. Etwas verdammt Großes.
Auf das Abstreifen von Stiefeln vor der Tür folgte ein Klopfen, das zurückhaltender als erwartet klang.
Als er die Tür öffnete, trat sie ein und zog die Kapuze zurück. Ihr Haar war tatsächlich blond, hatte aber dunkle Strähnen. Etwas gewagt, aber passend zu ihrer Erscheinung, die ein wenig zum Asiatischen tendierte. Aus der Nähe betrachtet fand er sie deutlich heißer als aus der Distanz. Sollte sie ihn mit ihren femininen Reizen verführen? Gar nicht nötig, aber ein willkommener Bonus.
Er merkte, dass sie sich unbehaglich lange anstarrten, wusste jedoch nicht, was er sagen sollte. Vielleicht hätten sie einen Code vereinbaren sollen, so wie in den Filmen. Der Wind pfeift durch die Bäume. Woraufhin sie so etwas antwortete wie: Er kommt aus dem eiskalten Norden.
Am Ende war sie es, die als Erste sprach.
»Was haben Sie für mich?«
Kein sexy russischer Akzent. Sie hörte sich an, als stammte sie aus Washington.
»Was wissen Sie über das amerikanische Stromnetz?«
»Mehr als die meisten. Es ist allerdings nicht mein Spezialgebiet.«
Er betrachtete ihre elegante Daunenjacke. »Sondern? Mode?«
Ihr Lächeln war höflich, verriet aber einen Hauch von Abscheu. Nicht das erste Mal, dass eine Frau ihn so ansah. Eher das hundertste.
»Menschen töten und ihre Leichen beseitigen«, erwiderte sie.
Er widerstand dem Drang zurückzuweichen, und rätselte, ob sie es ernst meinte. Ihr Gesicht verriet keine Regung. Man sah ihr nur eins an: dass sie definitiv nicht hier sein wollte.
»Dann werde ich es so simpel wie möglich halten.« Er versuchte, die Oberhand zurückzugewinnen. »Man spricht auch von der weltgrößten vernetzten Maschinerie, was der Wahrheit ziemlich nahekommt. Immerhin reden wir von 7000 Kraftwerken, 50.000 Umspannwerken und 200.000 Meilen Übertragungsleitungen.«
»Als ich sagte, es sei nicht mein Spezialgebiet, meinte ich damit, dass ich nicht in der Lage wäre, das Netz zu steuern oder einen defekten Transformator zu reparieren. Die Eckdaten kenne ich selbstverständlich. Ich bin bestimmt nicht den weiten Weg gekommen, um Ihnen beim Rezitieren eines Wikipedia-Eintrags zu lauschen.«
Er fühlte, wie seine Kehle trocken wurde, lief zum Kühlschrank und holte sich ein Bier. Der Vermieter hatte ein Sixpack Bud als kleines Dankeschön für die Buchung in der Nebensaison kalt gestellt.
»Eins wissen Sie nicht: Es ist ein Wunder, dass das System funktioniert. Über 3000 Versorgungsbetriebe sind daran beteiligt, um die Regulierung kümmern sich mehr Bundes- und Regionalbehörden, als Sie überhaupt kennen. Eine Abstimmung untereinander findet quasi nicht statt. Ein Großteil der Infrastruktur ist über 40 Jahre alt, einiges wird sogar seit gut einem Jahrhundert am Laufen gehalten. Ein unglaublicher Balanceakt. Trotz der vielen unterschiedlichen Komponenten müssen Nachfrage und Versorgung perfekt aufeinander abgestimmt werden. Wenn man seinen Fön in die Steckdose steckt, muss das Netz exakt die passende Menge Strom zur Verfügung stellen. Wenn man ihn abschaltet, muss der Zufluss gestoppt oder verlagert werden.«
»Klar ist es kompliziert, aber Fakt ist, dass es funktioniert. Nahezu fehlerfrei. Und das seit langer Zeit. Es gibt eine hohe Redundanz. Fällt ein Bauteil – oder eine Reihe von Bauteilen – aus, lässt sich das überbrücken, bis es repariert ist.«
»Fehlerfrei und redundant«, antwortete er ungläubig. »Sie müssen zu viel Kool-Aid getrunken haben, Süße. Erinnern Sie sich. 2003 hatten wir einen der größten Stromausfälle in der Geschichte. 55 Millionen Menschen waren auf einen Schlag ohne Strom. Und woran lag es? Ein Angriff Ihrer Freunde aus Moskau? Eine Atombombe? Ein geomagnetischer Sturm? Nein. Bloß ein verwachsener Baum, der in Ohio ein paar Leitungen gestreift hat. Mehr nicht.«
»Es gab andere Faktoren, die dazu beitrugen …«
»Ganz genau!«, rief er und richtete die Bierflasche wie einen Zeigestock auf sie. »Die Sache mit dem Baum hätte einen Alarm auslösen müssen, oder? Irgendein Betreiber in der Provinz, von dem Sie noch nie gehört haben, hätte das Problem erkennen und umgehen müssen. Aber es gab keinen Alarm. Und warum? Wegen eines kleinen Softwarebugs. Ein winziges Versäumnis löste einen Dominoeffekt aus und legte den gesamten Nordosten der USA lahm.«
»Wie auch immer.« Sie klang wenig beeindruckt.
»Das war kein geplanter Anschlag, Lady. Es waren ein paar Äste und ein Programmierfehler. Stellen Sie sich mal vor, was sich erst mit einem bewussten, koordinierten Versuch erreichen ließe. Wie viel Schaden könnte man anrichten? Wie lange würde es dauern, alles wieder ans Netz zu bringen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Nein? Ich aber.«
»Sie behaupten also, eine Möglichkeit gefunden zu haben, Teile des US-Netzes für gewisse Zeit abzuschalten. Das klingt …«
»Ich habe eine Möglichkeit gefunden, das gesamte US-Netz für ein Jahr abzuschalten. Vielleicht sogar dauerhaft, wenn man in Betracht zieht, dass nach sechs Monaten niemand mehr lebt, der die nötigen Reparaturen durchführen kann.«
Ihre Miene wechselte von Gleichgültigkeit zu Skepsis. »Das ist leichter gesagt als getan. Wie Sie mir gerade selbst erklärt haben, reden wir von Zehntausenden einzelner Bauteile, die größtenteils unabhängig voneinander agieren.«
Er lächelte. »Ich bin froh, dass Sie behaupten, sich ein bisschen mit dem Netz auszukennen. Dann werden Sie nämlich grob nachvollziehen können, was ich Ihnen jetzt zeige.«
»Wovon reden Sie?«
Er deutete zum Laptop auf dem Küchentisch. »Na los. Schauen Sie es sich an.«
Sonja Woronowa lehnte sich auf dem Stuhl zurück und starrte wie betäubt auf den Bildschirm. Nach fast 45 Minuten intensiver Auseinandersetzung mit den Daten gelangte sie zur Schlussfolgerung, dass dieser dürre Widerling tatsächlich wusste, wovon er redete. Alles wirkte schlüssig und bis ins Letzte durchdacht. Hochauflösende Fotos von mehr als 1000 Umspannwerken an Schlüsselstellen. Umfassende Schaltpläne der Übertragungsstrukturen samt gegenseitigen Abhängigkeiten und Schwachstellen. Eine Analyse der Sicherheitslücken der eingesetzten Software bei allen großen Versorgungsunternehmen und einigen der kleineren Stadtwerke. Erschöpfende Ausführungen zu wunden Punkten im Leitungssystem – teilweise verliefen die Kabel zu dicht an Bäumen, teilweise ließen sie sich im Winter schlecht erreichen oder wurden aus Geldmangel nicht ersetzt.
Und sie hatte kaum an der Oberfläche dessen gekratzt, was auf dem Rechner dieses Arschlochs gespeichert war. Qualität und pure Menge an Daten waren beeindruckend. Womöglich ein bisschen zu beeindruckend.
Die offenkundige Frage lautete, ob alles bloß Schwachsinn war. Aber selbst das Zusammentragen von so viel Schwachsinn hätte eine monumentale Herausforderung dargestellt. Warum sollte sich jemand so viel Mühe machen? Immerhin musste er damit rechnen, dass russische Analysten das Ganze genauestens unter die Lupe nahmen und abklopften, bevor auch nur ein Cent für die Informationen floss.
»Der Schlüssel zum Aushebeln des US-Stromnetzes liegt nicht in der Hardware.« Zum ersten Mal seit fast einer Stunde sagte sie wieder etwas. »Sicher, einige entscheidende Verteiler in die Luft zu jagen würde immensen Schaden anrichten. Aber nicht dauerhaft. Der Schlüssel ist SCADA – das Supervisory Control and Data Acquisition System. Man müsste sich bei Hunderten einzelner Provider Zugang zu diesem Überwachungs- und Datentool verschaffen. Die Systeme einfach nur lahmzulegen reicht nicht. Man muss die einzelnen Netzwerke unter Kontrolle bringen. Computer dazu bringen, genug falsche Daten zu generieren, die vom eigentlichen Schaden ablenken, bis die Sicherheitsschaltungen herunterfahren.« Sie drehte sich zum Sofa, auf dem er saß. »Ein solcher Grad an Unterwanderung ist nicht machbar. Natürlich, an ein paar Stellen kommt man mit den üblichen Methoden voran – Phishing-Attacken und so weiter. Aber gleich bei Hunderten? Völlig ausgeschlossen.«
»Völlig ausgeschlossen?« Er kämpfte sich vom Sofa und kam zu ihr. Als er vor ihr stand, strich er mit dem Finger über eine seitliche Strähne in ihrem Gesicht. Sie war zu überrascht, um zu reagieren, und starrte ihn bloß an. War das seine Vorstellung von einem Flirt? Hier? Jetzt? Allein die Vorstellung, diesen Freak zu berühren, löste einen Würgereflex bei ihr aus.
»Ja, richtig gehört«, antwortete sie, schob den Stuhl zurück und brachte ihr Haar vor ihm in Sicherheit.
Er verzog verärgert das Gesicht, als ob er fand, dass das zur Bezahlung gehörte. »Nun, dann ist es allerdings seltsam, dass ich es bereits geschafft habe.«
»Was meinen Sie? Was haben Sie geschafft?«
»Ich habe Malware auf die Computer nahezu sämtlicher Energieunternehmen in Amerika eingeschleust.«
»Bullshit.«
Statt einer Antwort beugte er sich vor und navigierte mit dem Touchpad im Browser zu einer langen Liste von Links zu Versorgungsunternehmen. »Nur zu. Probieren Sie es aus.«
Sie verfolgte, wie er zurück zum Sofa ging und sich auf die abgewetzten Kissen fallen ließ. Nachdem sie ihn ein paar weitere Sekunden angestarrt hatte, wandte sie sich erneut dem Laptop zu und klickte auf den Link von Exelon, Amerikas größtem Energiekonzern. Die Log-in-Maske wurde automatisch mit Benutzernamen und Passwort gefüllt und sie war drin. Zehn Minuten später stellte sie fest, dass sie nicht nur auf vergleichsweise unwichtige Abteilungen wie Buchhaltung oder Personalwesen Zugriff hatte. Sie besaß die komplette Kontrolle, auf jede erdenkliche Weise in den laufenden Netzbetrieb einzugreifen.
Sie pickte sich nach dem Zufallsprinzip weitere Einträge aus der Liste heraus und landete bei großen Unternehmen ebenso wie bei winzigen, die nur abgelegene Landstriche versorgten. Jedes Mal wurde die Anmeldung im System vollautomatisch durchgeführt und verschaffte ihr uneingeschränkten Zugang.
Sie wischte ihre Fingerabdrücke mit dem Ärmel von der Tastatur ab und klappte den Rechner zu. Ihre Vorbereitung für dieses Treffen hatte sich auf die technischen Aspekte des Netzes beschränkt. Unweigerlich war sie dabei auch über Informationen darüber gestolpert, welche Konsequenzen solche Angriffe im Erfolgsfall nach sich zogen. Die Gesellschaft war in allen Bereichen von Elektrizität abhängig. Bei der Produktion von Lebensmitteln. Beim Transport. Im Gesundheitswesen. Heizen. Kühlen. Amerika entsprach einem gut geölten Mechanismus – unglaublich effektiv, solange sich jedes Rad drehte. Aber wehe, eins blieb stehen …
»Nun?«, fragte der Mann und holte sie damit ins Hier und Jetzt zurück.
»Was denn?«
»Was soll das heißen? ›Was denn?‹ Ist das etwas, woran Ihre Regierung interessiert ist, oder nicht?«
»Möglich«, entgegnete sie.
»Die Zeit drängt, Schätzchen.«
»Was wollen Sie dafür?«
Er lachte, aber es klang eher nach einem psychotischen Gackern. »Euer Schotter interessiert mich einen Dreck. Ich will einfach nur erleben, wie Amerika in die Steinzeit zurückversetzt wird. Und wenn das passieren soll, muss es jetzt sein. Seit sechs Jahren sitzt ein externes Beratungsunternehmen an Planungen für eine Modernisierung und Absicherung des Netzbetriebs. Sie werden Ihre Ergebnisse in dieser Woche vorstellen. Sollte die Regierung so klug sein, die Empfehlungen umzusetzen, wird die Sache deutlich komplizierter.«
Sie musterte ihn nachdenklich und mimte eine Gelassenheit, die sie nicht empfand. »Wollen Sie damit sagen, wir sollen auf Basis Ihrer Informationen direkt aktiv werden?«
»Habe ich das nicht gerade erklärt? Den IT-Aspekt bekäme ich allein geregelt, aber damit der Plan aufgeht, brauche ich ein Team von Leuten, die einige der Einrichtungen vor Ort lahmlegen. Nicht viele, nur ein paar kritische Verteiler an neuralgischen Punkten im ganzen Land. Sie haben Leute, die so etwas problemlos erledigen könnten. Die Einrichtungen, die zerstört werden müssen, stehen größtenteils nicht mal unter Bewachung. In der Regel gibt es maximal ein bisschen Stacheldraht. Ich vermute, Russland verfügt ebenfalls über die Bolzenschneider-Technologie?«
Sie zuckte zusammen, als sie das Wort ›Russland‹ laut ausgesprochen hörte.
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum wünschen Sie sich, dass Ihrem eigenen Land so etwas zustößt? Ihren eigenen Landsleuten?«
»Was geht Sie das an? Sind Sie an Bord oder nicht?«
Sie schwieg. Ihr Gesichtsausdruck schien ihre Unsicherheit zu verraten.
»Wer wäre ein besserer Partner?«, fragte er. »Die NATO setzt Ihr Land unter Druck. Die großen Wirtschaftssysteme der Welt quetschen es aus. Erneuerbare Energien forcieren den Zusammenbruch seiner ressourcenbasierten Ökonomie. Mit klassischer Kriegsführung kommt man heutzutage nicht mehr weit. Sie können nicht mit Panzern in Kansas einrollen. Sie wissen das besser als jeder andere. Sie sind Meister der asymmetrischen Kriegsführung. Wozu sich weiter die Mühe machen, Amerikaner auf Facebook zu trollen, wenn ich bereit bin, Ihnen das Äquivalent einer Millionen-Megatonnen-Bombe an die Hand zu geben? Und die USA werden keinen Vergeltungsschlag einläuten, weil sie gar nicht wissen, wer es getan hat. Bis sie das herausfinden, jagen sie längst Beutelratten, damit sie nicht verhungern. Das ist Ihre Chance. Das Glück gehört den Tapferen. Sagt man das bei Ihnen nicht auch so?«
»Russland ist ein verantwortungsvolles Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft.« Sie fand selbst, dass sich das ein bisschen naiv anhörte. »Unser Ziel besteht darin, uns gegen Aggressionen von amerikanischer Seite zur Wehr zu setzen. Ihr Vorschlag wäre da sehr hilfreich. Ich nehme an, eine großzügige Entlohnung …«
»Ich bin selbst reich.«
Woronowa nickte nachdenklich. Es wurde Zeit, die Beine in die Hand zu nehmen und Abstand zu diesem Freak zu gewinnen. »Ich bedaure, aber ich verfüge nicht über die Befugnisse, einen Dritten Weltkrieg anzuzetteln. Ich werde alles, was wir besprochen haben, an meine Vorgesetzten weitergeben. Sie hören von uns.«
»Wann?«
»Bald, nehme ich an.«
»Sie sind nicht die Einzigen, mit denen ich spreche. Ich hoffe, das ist Ihnen bewusst. Die Chinesen sind interessiert. Die Iraner und Kubaner ebenfalls. Und es gibt etliche Terrorgruppen, die sämtliche linken Hoden ihrer Unterstützer für den Inhalt dieses Computers opfern würden. Wie gesagt: Sie sind meine erste Wahl. Der Erzfeind Amerikas. Wär doch ein amüsanter Zug, wenn sich die Geschichte unter umgekehrten Vorzeichen wiederholt, nicht wahr?«
1
Madrid, Spanien
Als die Maschine endlich zum Sinkflug ansetzte, drehte sich Mitch Rapp zum Fenster und inspizierte das Gewirr von Landebahnen und Gebäuden, aus denen der Flughafen Madrid-Barajas bestand. Aufgrund einer Verzögerung in Kairo war sein Flug mit drei Stunden Verspätung unterwegs. Aktuell das geringste seiner Probleme. Es hatte fast einen Tag länger als erwartet gedauert, die vielen Baustellen der Saudis im Jemen aufzuräumen. Mit vollen anderthalb Tagen Verspätung erreichte er nun sein Ziel. Sayid Halabi verrottete dank Scott Coleman in der somalischen Wüste, doch ein Großteil der Elitetruppe, die der IS-Anführer zusammengestellt hatte, lief weiterhin frei herum. Die Männer verfügten über signifikantes Know-how in allen Bereichen von Social Media über Special Ops bis hin zu wissenschaftlichen Themen und hatten sich an Orte auf der ganzen Welt abgesetzt. Aktuell schien sich ein früherer Captain der irakischen Armee darum zu bemühen, sie unter seiner Führung neu zu formieren. Kein zweiter Sayid Halabi, aber ein knallharter Hund und verflucht motiviert.
Über ihre Ziele und künftige Strategie wusste man nicht viel, aber ganz bestimmt verkrochen sie sich nicht unter irgendeinem Felsen, bis sie an Altersschwäche krepierten. Sie wollten auf jeden Fall anderen wehtun, bevor sie zu ihrem Date mit Allah aufbrachen.
Rapp hustete in die Hand und prüfte, ob Blut zu sehen war. Eigentlich seit Monaten kein Thema mehr, aber die Angewohnheit wurde man so schnell nicht los. Er hatte verhindert, dass Halabi ein tödliches Pathogen über die mexikanische Grenze in die Vereinigten Staaten einschmuggelte, sich dabei aber selbst infiziert. Die Ärzte wirkten nach wie vor überrascht, dass er noch lebte. Genau genommen war er das selbst. Er hatte mehr Zeit damit verbracht, an Maschinen angeschlossen zu sein, die ihm das Atmen abnahmen, als ihm lieb war, und auf dem Tiefpunkt hätte er den Tod vorgezogen. Wenn es nach ihm ging, sollten ruhig die Schwachköpfe vom FBI übernehmen, wenn das nächste Mal eine bioterroristische Bedrohung ihre hässliche Fratze zeigte.
Die Räder des Triebwerks setzten auf. Rapp blieb auf seinem Platz, während die anderen Passagiere bereits zum Ausstieg drängten. Er schaltete das Handy ein und scrollte durch die SMS-Liste auf der Suche nach Hinweisen, dass bei der bevorstehenden Operation Hindernisse aufgetreten waren. Nichts. Es blieb beim Go. Seine Pläne für eine heiße Dusche, ein Steak und etwas Schlaf vor dem Briefing ließ er sich nicht nehmen.
Sobald die Maschine mehr oder weniger leer war, schlang er einen Rucksack über die Schulter und lief durch den Gang. Die Crew vor dem Cockpit beobachtete ihn im Näherkommen neugierig. Reflexartig drehte er den Kopf zur Seite und murmelte beim Aussteigen die erwarteten Höflichkeiten.
Rapp hatte den Großteil seines erwachsenen Lebens in der Anonymität verbracht. Die aktuelle Verfassung erwies sich da als wenig hilfreich. Seine dunklen Haare waren noch nicht vollständig nachgewachsen und befanden sich im unkontrollierbaren Zustand zwischen kurz genug, um anständig zu liegen, und lang genug, um der Schwerkraft die Kontrolle zu überlassen. Dankenswerterweise ließ sich der Bart nicht lumpen und verdeckte erfolgreich die untere Gesichtshälfte. Nur die Nase mit dem Sonnenbrand lugte unter der Sonnenbrille hervor.
Was dafür sorgte, dass er jedem sofort auffiel, war eindeutig der Staub. Nach der Reise durch den Jemen und Saudi-Arabien klebte er überall an seinem Körper. Der versprochene, voll beladene Range Rover hatte in Flammen gestanden, als er ihn erreichte. Damit blieben ihm nicht viele Möglichkeiten. Statt die Reise auf einem bequemen Ledersitz in einem klimatisierten Wagen zu absolvieren, hatte er eine Hälfte der Strecke auf der Ladefläche eines heruntergekommenen Pick-ups zurückgelegt, die andere auf einem Motorrad.
Die Landebrücke und der Korridor dahinter waren leer. Die restlichen Passagiere sicherten sich bereits einen möglichst guten Platz in der Schlange vor der Passkontrolle. Er schlenderte gelassen weiter zu einem Schild, das ihn nach links verwies, lief stattdessen allerdings durch eine Tür mit der Aufschrift ZUTRITT VERBOTEN. Der Alarm, der in solchen Fällen sonst ertönte, blieb stumm. Auf der anderen Seite empfing ihn eine makellos gekleidete Spanierin.
»Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug«, begrüßte sie ihn fast akzentfrei.
»Alles gut, danke.«
»Draußen wartet ein Wagen. Ich fürchte, er wird Sie direkt zu Ihrer Besprechung fahren. Wie von Ihnen gewünscht, liegen Essen, Wasser und Kleidung zum Wechseln auf dem Rücksitz. Außerdem finden Sie dort einen kurzen Bericht zum aktuellen Stand.«
»Schön, Sie wiederzusehen, Mitch.«
Jordi Cardenas, der Leiter des spanischen Inlandsgeheimdienstes, streckte eine Hand aus. Rapp schüttelte sie. »Ich freu mich auch. Wir sind Ihnen dankbar für die Unterstützung.«
»Es ist uns ein großes Vergnügen.« Cardenas führte ihn in einen fensterlosen Besprechungsraum. Die Männer, die dort saßen, kannte Rapp fast seit Beginn seiner Karriere. Scott Coleman hatte sich am hinteren Ende des Tischs niedergelassen, seine besten Leute auf den Stühlen direkt daneben. Claudia Gould, die Frau, mit der Rapp zusammenlebte und die außerdem die Logistik für Coleman koordinierte, stand neben einem großen Bildschirm, der an der Wand hing. Rapp nickte allen stumm zu und setzte sich auf einen freien Stuhl, der nicht mit dem Rücken zum Eingang stand.
»Okay, ich glaube, wir sind vollständig«, verkündete Claudia mit französischem Akzent, der im letzten Jahr etwas schwächer geworden war. »Fangen wir an.«
Der Bildschirm erwachte zum Leben. Er zeigte Fotos mehrerer Männer aus dem Nahen Osten sowie ein paar Platzhalter, in denen Silhouetten mit Fragezeichen prangten. »Wir tappen im Dunkeln, was die Identität von drei Männern aus Sayid Halabis innerstem Zirkel betrifft, und wissen wenig darüber, welche seiner Handlanger noch leben. Dafür ist uns bekannt, dass Muhammad Nahas die Führung der Gruppe übernommen hat.« Sie deutete auf den Monitor. »Das ist das einzige Foto, das uns von ihm vorliegt. Aufgenommen von der US-Armee während seiner Zeit bei den Sondereinsatzkräften im Irak.«
Die Aufnahme war so beschnitten, dass der Fokus auf den durchdringenden Blick und die Adlernase rückte und man die lächelnden amerikanischen und irakischen Kameraden vom ursprünglichen Foto nicht mehr sah. Durchaus angemessen in Anbetracht der Tatsache, dass alle tot waren. Nahas hatte sie bewusst in einen Hinterhalt geführt, den nur er überlebte.
»Nach dem, was wir aus den Unterlagen der U. S. Army und der Leute wissen, mit denen er gekämpft hat, ist er ein extrem disziplinierter, gut ausgebildeter Soldat. Klug und allgemein respektiert. Allerdings fehlt ihm die Entschlossenheit, die Halabi auszeichnete. Außerdem ist er kein großer Denker. Die Internetaktivitäten, die wir von der Gruppe abfangen konnten, lassen bislang auf keine konkreten Pläne schließen. Sie erörtern verschiedene Szenarien, einen Anschlag nach 9/11-Vorbild oder eine Attacke mit Saringas, wie sie in Japan durchgeführt wurde. Es gibt auch etwas abwegigere Überlegungen, etwa die Vergiftung eines Wasserreservoirs. Insgesamt wirkt es ein bisschen wie …« Sie suchte nach einer passenden Redewendung. »… Stochern im Nebel.«
»Ist Nahas die Zielperson?«, hakte Scott Coleman nach.
»Bedauerlicherweise nicht. Es ist uns bisher nicht gelungen, ihn ausfindig zu machen.« Sie zoomte auf eins der anderen Fotos. Es zeigte einen sauber rasierten Brillenträger Anfang 30. Definitiv arabischer Abstammung, aber er wirkte eher wie jemand, der ein behütetes Leben in Dubai oder Kuwait City führte.
»Das ist die Zielperson. Hamal Kattan. Auf den ersten Blick nicht sonderlich beeindruckend, aber er zählte zu den Schlüsselfiguren in Halabis Umfeld. Er hat Physik studiert und scheint sich mit so gut wie allen technischen Fragen auszukennen. Ein Universalgenie, auf das sich Halabi verlassen hat, um mit der modernen Welt Schritt zu halten.«
»Er wirkt nicht wie ein harter Kämpfer«, fand Rapp.
»Das trifft es ziemlich gut. Er fiel in der Schule nicht als übertrieben religiös auf. Seine Eltern, Jordanier aus dem akademischen Bürgertum, sind ebenfalls im wissenschaftlichen Bereich tätig. Er scheint nach einem Sinn im Leben gesucht zu haben. Halabi lieferte ihm einen.«
Rapp kannte solche Typen besser, als ihm lieb war. Leute, die sich eine Ausgabe von Islamismus für Dummies kauften und als Rekruten beim IS anheuerten. Manche sehnten sich nach Abenteuer oder einem Gemeinschaftsgefühl, andere nach Macht oder Sex. Und einigen ging es darum, Blut zu vergießen und ihre Mitmenschen leiden zu sehen. Außerdem gab es solche wie diesen kleinen Pisser. Existenzen, die ziellos umherirrten, um ihren Platz zu finden.
Die Darstellung sprang zu einem Bild von Kattan, wie er eine enge Gasse mit Kopfsteinpflaster entlanglief und mit hochgestelltem Kragen gegen eine offenkundig steife Brise ankämpfte.
»Diese Aufnahme entstand gestern in Südspanien. Granada, um genau zu sein.«
»Was hat er vor?«
»Sich mit gleichgesinnten Dschihadisten treffen, wie es aussieht«, schaltete sich Jordi Cardenas ein. »Wir haben uns an seine Fersen geheftet und eine Menge spannender Informationen über seine Freunde gesammelt.«
»Aber ihr geht nicht gegen sie vor?«, erkundigte sich Rapp.
»Nein. Es sei denn, ihr fordert uns dazu auf.«
Rapp nickte und forderte Claudia auf, mit dem Briefing fortzufahren.
»Übermorgen hat Kattan einen Flug von Granada nach Washington gebucht. Mit Zwischenlandungen in Barcelona und New York.«
»Kennen wir den Grund? Mit der Einreise in die USA geht er ein ziemlich hohes Risiko ein«, fand Rapp.
»Laut unseren Audiomitschnitten wird er sich dort auf Anweisung von Muhammad Nahas mit jemandem treffen. Gut möglich, dass Nahas ebenfalls an diesem Treffen teilnimmt.«
Rapp merkte auf. Zu gern hätte er diesem Hurensohn eine Kugel zwischen die Augen gepflanzt. »Was genau heißt ›gut möglich‹? Wie wahrscheinlich ist es?«
»Das wissen wir nicht. Die Kommunikation fällt diesbezüglich relativ vage aus. Fifty-fifty, würde ich sagen.«
Sie wechselte zur nächsten Folie. Ein Sitzplan der Maschine, mit der Kattan von Granada nach Barcelona flog. Sie benutzte einen Laserpointer, um einen Platz am Gang in der Nähe der linken Tragfläche zu markieren. »Wir haben dafür gesorgt, dass die Zielperson hier sitzen wird.«
»Begleitet ihn jemand zu seinem Schutz?«, fragte Coleman.
»Da sind wir uns noch nicht ganz sicher«, antwortete Cardenas. »Wir haben erst gestern von diesem Flug erfahren und arbeiten seitdem an Background-Checks sämtlicher Passagiere. Bisher sind wir lediglich auf einen wahrscheinlichen Kandidaten gestoßen: einen jungen Muslim, der ursprünglich aus Marokko stammt und jetzt in Sevilla lebt. Er fährt mit dem Zug nach Granada und nimmt von dort aus dieselbe Maschine nach Barcelona, fliegt aber nicht weiter in die USA.«
»Werden Sie es schaffen, alle Passagiere zu überprüfen, bevor das Ding in der Luft ist?«
»Natürlich. Sollten wir auf weitere Verdächtige stoßen, erfahren Sie es, bevor Sie zusteigen.«
Scott Coleman schnaufte laut. »Das sind eine Menge Unwägbarkeiten, Mitch.«
»Vielleicht eine der kompliziertesten Ops, die wir je durchgezogen haben«, fand auch Colemans Scharfschütze Charlie Wicker. »In zwei Tagen geht’s los, und wir wissen noch nicht mal, ob jemand auf die Zielperson aufpasst.«
Rapp nickte.
»Wir wissen alle, dass es leichter wäre, Kattan auf offener Straße zu schnappen. Davon würde sein Netzwerk allerdings unweigerlich Wind bekommen. Uns blieben allenfalls ein paar Stunden, um ihn zu befragen, bevor sie sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen und unser Wissen wertlos wird. Wenn wir es so hinbiegen, dass sie ihn für tot halten, winkt uns eine realistische Chance, die Überreste des IS endgültig zu beseitigen.«
»Wie steht’s mit Waffen? Sollte er mit Eskorte reisen, müssen wir wissen, ob sie bewaffnet sind.«
»Wir sind bereits dabei, die Sicherheitsvorkehrungen am Airport von Granada unauffällig zu verstärken«, versicherte Cardenas. »Es sollte uns gelingen, alle relevanten Waffen im Vorfeld zu entdecken.«
»Darf ich davon ausgehen, dass wir sie ihnen nicht im Vorfeld abnehmen?«, fragte Joe Maslick.
Rapp schüttelte den Kopf. »Wenn wir einen von ihnen im Sicherheitsbereich aus dem Verkehr ziehen …«
»… bekommt sein Netzwerk unweigerlich Wind davon«, vervollständigte Bruno McGraw den Satz für ihn.
»Richtig.«
»Also steigen wir in einen Flieger, in dem sich eine unbekannte Zahl von Terroristen mit einer unbekannten Zahl von Waffen aufhält, und versuchen, sie lebendig dranzukriegen.«
»Das fasst es gut zusammen.«
»Kugeln und Flugzeuge sind keine gute Mischung«, unkte Coleman. »Erinnert ihr euch an Aserbaidschan?«
Rapp erinnerte sich ein bisschen zu lebhaft. »Hört zu, mir ist klar, dass das nicht unsere üblichen Einsatzbedingungen sind. Wir halten uns neun oder zehn Kilometer über der Erde in einer Umgebung ohne Rückzugsmöglichkeit auf, arbeiten mit Leuten zusammen, die wir nicht genau einschätzen können, und müssen uns auf miese Geheimdienstinformationen verlassen. Ich werde mein Bestes geben, die Risiken zu minimieren, aber wenn in der Luft irgendwas schiefläuft, können wir uns gleich hinlegen und erschießen. Jeder, der nicht mitmachen will, kann sich rausziehen. Es wäre die klügste Entscheidung. Ich mach keinem einen Vorwurf.«
Keiner der Männer am Tisch reagierte. Alle waren dabei. Sie waren immer dabei.
Rapp lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Also schön, Claudia. Dann lass mal hören, was du noch hast.«