eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2021
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Titel der englischen Originalausgabe: Gift or Theft
© 2020 by Liza Cody
Printausgabe: © Argument Verlag 2021
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: Oktober 2021
ISBN 978-3-95988-209-5
Verschmitzt und spannend, dann zunehmend unheimlich schildert Liza Cody eine Woche im Leben von Seema, die wie aus dem Nichts unter den Einfluss eines mysteriösen älteren Mannes gerät. Er gleicht keinem Menschen, den sie je kennengelernt hat. Aber was genau geht hier vor? Wer ist Lazaro wirklich, und was will er eigentlich von ihr?
Liza Cody (* 1944) wuchs in London auf, wurde an einem üblen Mädcheninternat zur Legasthenikerin, studierte dann Kunst und arbeitete u. a. als Roadie, Fotografin, Malerin und Möbeltischlerin sowie in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett, bevor sie zum Schreiben kam. Ihre Kriminalromane um die Londoner Privatdetektivin Anna Lee wurden mit etlichen Preisen ausgezeichnet, in viele Sprachen übersetzt und fürs Fernsehen verfilmt. In den Neunzigern begann sie mit der weltweit als Genrebreaker berühmt gewordenen Bucket-Nut-Trilogie um Catcherin Eva Wylie, für die sie u. a. den Silver Dagger erhielt. Es folgten Storys und sechs weitere Romane, darunter »Lady Bag«, ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimi Preis 2015. 2019 erhielt sie den Radio Bremen Krimipreis für »Ballade einer vergessenen Toten« und ihr kriminalliterarisches Lebenswerk ausgezeichnet. Liza Cody lebt heute unweit von Tochter und Enkeln in Bath.
Liza Cody
Milch oder Blut
Deutsch von Martin Grundmann
CulturBooks Verlag
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Liza Codys Kriminalromane sind gerne Reisen mit extrem ungewisser Route, Ausflüge in Parallelwirklichkeiten, deren warmer und lebhafter Realismus dabei hilft, dieser begnadeten, aber hypereigenwilligen Erzählerin bei ihren Sprüngen und Gedankenspielen zu folgen.
Auch Milch oder Blut beginnt ganz bodenständig im Hier und Jetzt des heutigen Brexit-Englands. Seema, siebenundzwanzig, selbständig, Ich-Erzählerin dieser Geschichte, rutscht in ein seltsames Abenteuer hinein, verstrickt sich in tagtraumartige Eskapaden und gerät in ein undurchdringliches Dickicht aus unvereinbaren Welt- und Lebensanschauungen. Wie eine schwere Krankheit befällt Seema ein Symptom unserer Gegenwart: Von allen Seiten drängen sich ihr sogenannte Wahrheiten auf, Deutungen und Maßgaben. Sie bauen auf ihre Sehnsüchte und Träume, auf Tradition, auf Gruppenzwang und unüberschaubare Regelwerke. Und da Seema ständig mit dem Bedürfnis ringt, endlich irgendwo dazuzugehören und anerkannt zu werden, streitet Vernunft mit Gefühl, Wissen mit Wünschen, Ratio mit Hoffnung. Denn was sie erlebt, ist bizarr.
Milch oder Blut: eine Burleske, ein wilder Ritt durch Genres und Szenarien, eine urwüchsige Erzählung über Prinzipien, Glaube und Aberglaube. Und ein Krimi über Glücksversprechen. Denn Menschen machen ihre Geschichte selbst, wenn auch nicht aus freien Stücken. Hals über Kopf. Oder?
Es regnete nicht direkt. Ich saß in meinem Zimmer auf der Frank-Farm, Hunderte Meilen von London entfernt, und fertigte Bleistift- und Tuschezeichnungen von Adlerfarnen an. Dies war mein vorübergehender Zufluchtsort, bis mein Arm genügend verheilt war, dass ich damit fahren konnte. Im Augenblick war das Exe-Tal in dichten Dunst gehüllt, der weder Regen noch Nebel war, und die Adlerfarne und andere Farnsorten waren juwelenbesetzt von winzigen Wassertröpfchen.
Ashley Frank ist nicht gerade scharf auf Adlerfarn. Er vergiftet das Vieh, beheimatet Waldzecken und ist invasiv genug, um Heidekraut und Heidelbeeren zu verdrängen. Aber er ist alt, alt, alt: Es gibt Adlerfarnfossilien, die fünfundfünfzig Millionen Jahre alt sind.
Meine Zeichnungen beginnen sehr naturalistisch und entwickeln sich dann zu Abstraktionen schlanker Dreiecke. Jeder Farnwedel ein gleichschenkliges Dreieck aus lauter Dreiecken, ausgezackt mit noch mehr Dreiecken.
Meine Mutter liegt auf der Ostseite des jüdischen Friedhofs in der Hoop Lane, vorerst ohne Grabstein und ohne die Wohltat von grünem Bewuchs, nicht mal uralter Farn wächst hier. Denn im Osten liegen die flachen Grabstätten fürs Wüstenvolk. Die Westseite, wo Gras wächst und die Grabsteine aufrecht stehen, ist der englischen Art wesentlich vertrauter.
Der Gottesdienst wurde auf Hebräisch gehalten, ich las die englische Übersetzung mit. Als ich beim sechzehnten Psalm mitzusprechen versuchte, wünschte ich, ich hätte im Hebräischunterricht richtig aufgepasst. »Ich will ihre Trankopfer von Blut nicht spenden …«, sprach ich tonlos mit, und: »Denn du überlässt mein Leben nicht der Totenwelt.« An wen dachte ich wohl, als ich solche Zeilen las? Nicht an meine arme alte Mutter, so viel war sicher. Und dann noch: »Du lässt mich den Weg des Lebens erkennen.« Ach, wie sehr ich mir das wünschte.
Danach sammelten Hannah und ich kleine Steine und legten sie auf meines Vaters Grab. Selbst hier, inmitten meiner toten Familie, fühlte ich mich fehl am Platz und fremd. Welchen Sinn hatte es, Tradition und Überlieferung zu achten, wenn man nicht an Gott glaubte? Wenn Hannah damit kein Problem hatte, warum dann ich? Aber ich tat mich schwer.
Die Trauerhalle auf dem Friedhof war voll mit Leuten, die meine Mutter besser kannten als ich, die ihr nähergestanden hatten als ich. Sie konnten für sie beten. Ich nicht. Sie konnten in ein und demselben berühmten Gebet Gott preisen und seine Abwesenheit beklagen. Ich nicht. Für mich war Gott schon immer abwesend.
In dem Moment fühlte ich mich wie ein junger Busch, über den Wurzeln abgetrennt und liegen gelassen, um einsam zu sterben. Ich hatte es ihr bitter übelgenommen, dass sie meinen Vater entgegen seinen Wünschen traditionell beerdigt hatte. Aber am Tag ihrer Beerdigung war ich froh zu wissen, wo er war, und legte ihm Steinchen aufs Grab. In diesem Augenblick rückte Lazaro in weite, weite Ferne, obwohl ich keine halbe Meile von unserem ersten Treffpunkt entfernt war. Hatte er das Italian Bar & Grill wegen der Nähe zum jüdischen Friedhof ausgesucht? War er so verschlagen und süchtig nach Metaphern?
Weder Amy noch Jake kamen zur Beerdigung. Sie kamen auch nicht, um danach bei Mira Joseph Brot und Eier zu essen. Es war zu früh, um im Haus meiner Mutter, jetzt meinem Haus, Schiwa zu sitzen, es war nicht rein genug dafür. In Wahrheit wollte niemand dorthin. Alle starrten es an, als sie bei Mira eintrafen. Es war jetzt ein Unglückshaus. Den Fluch aufzuheben würde viel Mühe kosten. Ich selbst würde es nicht betreten, bis die Spezialkräfte die Reinigung abgeschlossen hatten. Das war noch etwas, worum ich mich zu kümmern hatte, wenn ich wieder in London war; und ich musste auch sicherstellen, dass Amy definitiv aus meiner Wohnung raus war. Vielleicht brauchte ich da auch Spezialreinigungskräfte.
Sie hatte mir vor einer Woche eine SMS geschickt: »Wollen wir es wirklich dabei belassen?« Ich hatte nicht geantwortet. Sie wusste nicht, wo ich war, und das war gut so. Jake schickte drei SMS: »Ich liebe dich immer noch«, »Ich vermisse dich« und »Wer hätte gedacht, dass das Schwerste der Verlust meiner Mitgärtnerin ist?« Auch ihm antwortete ich nicht. Für mich waren sie beide gestorben. Aber das waren sie natürlich nicht. Ich nahm an, ich würde Jahre brauchen, um den Verlust zu verwinden.
Einstweilen verbrachte ich einen Monat auf dem Land am Rand von Exmoor. Ich zeichnete und malte und spielte mit den Hunden. Als Ashley sie sah, hätte er mich fast ausquartiert, noch ehe er mir mein Zimmer gezeigt hatte. Aber ich führte ihm vor, wie sanft und folgsam sie waren. Und ich versprach, sie würden keine wilden Schafe oder Exmoor-Ponys jagen, und auch seinem Geflügel drohte keine Gefahr. Wir durften bleiben.
Solche Versprechungen machte ich, dabei konnte ich sie gerade erst seit Kurzem auseinanderhalten. Beau war für mich der ältere. Er war etwas breiter um die Brust und eine Spur schneller als Bro. Aber Bro war der Schelm, der meine Haarbürste versteckte und dafür sorgte, dass mir immer nur ein einsamer Pantoffel blieb. Beau stand über solch welpenhaftem Zeitvertreib.
Inzwischen entdeckte ich, dass Ashley mehr Umweltschützer als Farmer war. Er verdiente einen guten Teil seines Einkommens mit Unterbringung und Sonderaktionen für Gäste, die sich für die ›Anbau ohne Raubbau‹-Bewegung interessierten. Ich lernte viel von ihm. Tatsächlich hätte ich mich fast in ihn verknallt, wären da nicht seine Frau und seine Familie.
Eine liebenswerte Familie, eng verbunden, humorvoll und subsistent. Zumindest sah es für mich so aus. Ich war ja nur eine zahlende Urlauberin. Und ich hatte in diesem Monat mit Selbstmitleid zu kämpfen. Es war wohl keine Depression, denn ich konnte mich trotzdem noch in meine Arbeit vertiefen und mit den Hunden das Flusstal und die Moorlandschaft ringsum erkunden. Mit zwei Hunden und einem Skizzenbuch ging ich überallhin. Meine Sachen waren voller Farbkleckse und meine Finger schwarz von Tusche und Zeichenkohle.
»Tut mir leid, Mutter«, flüsterte ich. »Alles, was ich gut kann, macht schmutzige Hände.« Ich konnte nicht das Kaddisch für sie sagen, ich konnte mich lediglich für das entschuldigen, was sie immer genervt hatte – und wofür ich mich nie entschuldigt hätte, als sie noch am Leben war.
Schmutzige Hände waren ein Thema. Ihretwegen hatte ich Lazaros Ring nicht getragen, außer an einer Kette um den Hals. Ich versuchte mir über ihn klar zu werden; ich versuchte, gar nicht an ihn zu denken. Aber in all meinem Zeichnen und Malen war er gegenwärtig. Er hatte mich etwas Tiefgreifendes über Kunst und Natürlichkeit gelehrt. Ich wusste nur noch nicht, was das war. Aber ich war sicher, ich würde aus dieser Trauerphase als eine andere Gärtnerin hervorgehen – und vielleicht auch als andere Frau. Ich hoffte es. Ich hatte so die Schnauze voll von meinem alten Ich, das sich immer alles gefallen ließ: ständige Kritteleien, treulose Freundschaften und meine eigene Oberflächlichkeit.
Beschämt dachte ich daran, wie bei dem schrecklichen Palatine-Wettbewerb meine kaltschnäuzige Missachtung von Jake ans Licht gekommen war. Wenn ich so empfunden hatte, hätte ich mich nie mit ihm einlassen dürfen. Ohne all die Erwartungen und Komplikationen, die Sex in eine Beziehung kübelt, hätte er ein geschätzter Freund sein können. Mit ihnen war er ein unterbewerteter Lebensabschnittsgefährte geworden.
Worum war es bei dem ›Er taugt für‹-Spiel eigentlich gegangen? Zwei ignorante Teenagerinnen, wir machten auf zynisch, taten, als wären wir nicht ignorant, als wäre uns alles egal, als suchten wir nicht nach Liebe und Anerkennung. Eine pubertäre Attitüde, versteinert durch jahrelangen Missbrauch. Wir waren in der Vergangenheit steckengeblieben, Amy und ich. Unsere gewohnheitsmäßige Freundschaft, sie dominant, ich unterwürfig, war ebenfalls steckengeblieben. Sie war die hübsche Blonde, der sich alle Türen öffneten, und ich hing in ihrem Schlepptau, überzeugt, nur willkommen zu sein, weil die Blonde für mich bürgte.
Hannahs Behauptung, sie sei eifersüchtig auf mich, war undenkbar. Ich war eifersüchtig auf sie – so lautete die Übereinkunft, die wir mit fünf getroffen hatten, als sie, wie mir jetzt einfiel, noch naturblond war, und als meine Mutter, wenn sie mühsam einen Kamm durch meinen verfilzten Wuschelkopf zerrte, regelmäßig sagte: »Warum kannst du nicht Haare wie Amy haben?«
Eine im Kindergarten geschmiedete Freundschaft war nie auf den Prüfstand gestellt worden. Sich selbst überlassen verfaulte sie wie Fallobst, und weder Amy noch ich bemerkten es. Oder es lag nicht in unserem Interesse, es zu bemerken.
Ich fragte mich, ob ich für die Franks mehr sein könnte als eine zahlende Urlauberin. Ich zeichnete ihr Haus, ihren Hof und ihre Scheune, ich zeichnete die Kinder, wie sie die letzten Artischocken ausbuddelten, um sie an die Schweine zu verfüttern. Ich zeichnete die Schweine. Mrs. Frank gefiel die Zeichnung vom Haus, und ich schenkte sie ihr. Schon wieder biedere ich mich an, dachte ich kläglich, versuche mir Anerkennung zu erkaufen. Dabei hielt sie mich für eine echte Künstlerin. Ich sagte ihr, ich sei Gärtnerin, und wir führten lange Diskussionen darüber, ob das Mikroklima im Tal sich eignete, um am Spalier auf der Südseite des Hauses eine Comice-Winterbirne zu pflanzen. Ich fand, im Großen und Ganzen war es einen Versuch wert, und sie nahm mir das Versprechen ab, im Winter wiederzukommen und dabei zu helfen.
Bislang war mein Arm noch nicht stark genug, um zu graben. Und da ich meiner Stammkundschaft die Nummern von anderen Gartenleuten dagelassen hatte, die während meiner Abwesenheit aushelfen konnten, fürchtete ich, bei meiner Rückkehr einen Großteil meiner Klientel eingebüßt zu haben. Wer wollte schon eine einarmige Gärtnerin?
»Alle«, versicherte mir Hannah. Aber ich glaubte ihr nicht.
»Du bist jung«, sagte sie. »Der Bruch hätte wesentlich schlimmer sein können. Mach deine Übungen, bald bist du so gut wie neu. Schläfst du genug? Ich glaube, du brauchst viel Ruhe.«
»Es sollte nicht einen Monat dauern, über eine Woche wegzukommen«, knurrte ich.
»Zuerst musst du mal drüber wegkommen wollen«, sagte sie. »Das braucht seine Zeit.« Sie sprach von Lazaro wie von einer Krankheit, die ich bekämpfen konnte; als wäre Willenskraft irgendwie imstande, die Kluft zu überbrücken, die das, was ich wusste, von dem trennte, was ich empfand.
Manchmal dachte ich: Tja, wie man weiß, besiegt die Liebe alles, auch den gesunden Menschenverstand und den Selbsterhaltungstrieb. Das war ein bequemer Gedanke, der mich von allem freisprach. Manchmal dachte ich an das, was er zu mir gesagt hatte, und wie er gesprochen hatte, als wäre ich ihm teuer und unsere Verbindung kostbar. Dann dachte ich: Wie kann jemand, der sagt, er liebt mich, mir Böses wollen? Und dann fielen mir die schönen Worte ein, die Jake und ich in dem Jahr gewechselt hatten, als er nebenbei auch mit Amy vögelte. Und ich dachte: Sei nicht so verflucht naiv – auch Arschlöcher benutzen schöne Worte.
Aber Lazaro hatte mich etwas über Schönheit gelehrt und welche Rolle sie in meinem Leben spielte. Sie sollte im Zentrum stehen und der Kompass sein, der mich stets leiten würde. Diese Lektion war ein Geschenk, unabhängig von dem Raub, den er beging, als er meine Liebe nahm und mir erlaubte, mich ihm nah und teuer zu fühlen. Die Lektion war das Gesamte. Wenn Hannah recht hatte, hing mein Wert für ihn wahrscheinlich letztlich an meinem Tod. Ich war nur zweckdienlich – ein Werkzeug für seinen Ehrgeiz.
Dann, eines frühen Morgens wenige Tage vor meiner Abreise, erfuhr ich etwas Haarsträubendes. Ich frühstückte mit der Familie. Es gab Porridge mit süßen Heidelbeeren, im Hinterland gesammelt von den Kindern, serviert mit Sahne, die Lara Frank aus der Milch ihrer eigenen Kühe machte. Ashley war schon unterwegs, also schnappte ich mir seine Zeitung. Wie immer war der Sportteil aufgeschlagen, und mein Blick fiel auf ein Bild von Mark Kirkby. Aufgenommen am Scheitelpunkt eines unglaublichen Sprungs – voll ausgestreckt, berührten die Fingerspitzen seiner rechten Hand gerade den Ball. Sein rotgoldener Haarschopf leuchtete im Stadionlicht, und seine blauen Augen blickten konzentriert und freudig.
Die Schlagzeile dazu: »Tragischer Tod eines aufsteigenden Sterns.«
Tränen brannten mir in den Augen. Ich las, dass Mark, erst kürzlich in die englische Nationalmannschaft aufgenommen, nach einem Ligaspiel der London Scorpions ganz plötzlich in der Umkleidekabine gestorben war. Ein Teamkamerad berichtete, dass er einfach zusammenbrach, als er aus der Dusche kam. »Wir dachten alle, er veräppelt uns. Wir warteten, dass er aufstand und lachte. Er war der fitteste Kerl in der Mannschaft. Wir sind alle noch zu sehr unter Schock, um es zu glauben.«
»Er hatte eine fabelhafte Saison«, betonte Scorpions-Trainer Will Fellows. »Wir hatten gerade seinen Vertrag verlängert. Ein toller Teamplayer, den wir schmerzlich vermissen werden. Unsere Gedanken sind bei seiner Familie und seiner Freundin.«
Der Mannschaftsarzt meinte, es sei noch zu früh, um Genaueres zu sagen, aber Marks plötzlicher Tod trage alle Anzeichen akuten Hirnversagens wie bei einem Schlaganfall oder einem Aneurysma.
»Warum weint sie«, fragte Lara Franks Jüngste. Die Kinder starrten mich morbide fasziniert an. Eine Erwachsene, besonders eine, die ihnen manchmal an verregneten Nachmittagen Zeichenunterricht gab, weinte doch nicht.
»Esst euren Porridge«, befahl Lara. Sie reichte mir ein Stück Küchenpapier und füllte meinen Becher nach.
Schließlich putzte ich mir die Nase und erklärte: »Ich hab gerade erfahren, dass ein Freund von mir tot ist. So was bringt Leute zum Weinen.« Ich hatte die drei neugierigen, energiegeladenen Kinder liebgewonnen und wollte sie nicht durcheinanderbringen. Daraufhin erzählten sie mir, wie sie geweint hatten, als ein Fuchs ihre älteste Henne riss, und die Spannung löste sich. Gut, dass ich im Laufe des Monats aufgehört hatte, Blut zu weinen, und auch so gut wie kein Nasenbluten mehr hatte.
Ich sah mein Telefon an. Ich wusste, Hannah würde anrufen. Und zehn Minuten später tat sie es.
»Wie läuft’s denn im Paradies?«, begann sie behutsam.
»Schon okay, ich hab die Zeitung gelesen«, antwortete ich.
»Gut«, sagte sie mit der Erleichterung, die alle kennen, die ungern schlechte Nachrichten überbringen. »Und, was denkst du?«
»Es ist schwer, was zu denken. Ich seh ihn immer noch vor mir mit seinen Wahnsinns-Tattoos. Er strotzte so dermaßen vor Energie.«
»Was ist mit dem geheimnisvollen Nahrungsergänzungsmittel?«, hakte sie nach. »Du ahnst bestimmt schon, dass der Detective Sergeant dich sprechen möchte?«
»Er muss sich gedulden, bis ich zurück bin«, sagte ich. »Ich hab nichts von ihm gehört, und ich weiß auch gar nichts, außer vom Hörensagen. Mark hat mir selbst erzählt, in dem Ergänzungsmittel war nichts, was bei seinen Dopingtests aufgefallen wäre. Und Profisportler werden ständig getestet.«
»Dann könnte seine Hochform in letzter Zeit auch die Folge eines Placebo-Effekts gewesen sein?«
»Hannah!« Ich musste fast lachen. »Hast du mal Rugby im Fernsehen gesehen?«
»Vielleicht, selten«, sagte sie verschnupft. »Es ist ein brutales, geistloses Spiel, aber es gibt gelegentlich Momente atemberaubender Anmut. Und dein Freund Mark hat schon in besonderem Maße für so etwas gesorgt.«
Auch ich hatte auf dem Fernseher der Franks ein paar von Marks Spielen gesehen. Ich schwieg ein Weilchen.
Hannah sagte: »Wenn dieses Ergänzungsmittel harmlos war, frage ich mich, warum die Geheimnistuerei. Aber ich frage mich auch, ob es vielleicht tatsächlich keinen Wirkstoff enthielt und Garth Harding damit demonstrierte, dass sein Einfluss auf Marks Bewusstsein, und daher auf seine Leistung, Lazaros Einfluss auf dich in den Schatten stellte. Dir wurde ja tatsächlich eine starke Substanz verabreicht.«
»Tatsächlich wissen wir gar nichts«, sagte ich.
»Außer dass du positiv auf Opioide getestet wurdest und Mark plötzlich und unerwartet verstarb. Ich frage mich, ob er seiner Freundin dasselbe erzählt hat wie dir. Und ich frage mich, ob Harding, Sharpe oder Lazaro argwöhnen, er könnte dir etwas erzählt haben, was sie belastet.«
Mich überkam das alte Gefühl, durch eisige Luft zu stürzen, das ich längst überwunden glaubte. »Willst du damit sagen, dass er seinen Zweck erfüllt hat, als er Garth Harding half, diesen verfluchten Wettbewerb zu gewinnen? Und dass er damit entbehrlich war? Willst du mir sagen, du denkst, ich bin immer noch in Gefahr?«
»Ich habe mit Titus in den Niederlanden telefoniert, bevor ich dich anrief.« Sie klang angestachelt. »Er meinte, wir sollen die Nachrichten verfolgen und aufpassen, ob Marks Freundin einen Unfall hat – wie heißt sie noch?«
»Cat-Lynne.«
»Cat-Lynne. Und er bat mich, dich zu warnen, du solltest vielleicht diskret vorgehen, wenn du mit der Polizei sprichst.« Das war ein Rat, den ich künftig beherzigen musste.
Hannah liebte es, Möglichkeiten aufzuzählen und sie gegeneinander abzuwägen. Ich war dessen immer schneller müde als sie, und nachdem wir aufgelegt hatten, legte ich mich eine halbe Stunde aufs Bett und dachte nach. Die Hunde tigerten ruhelos umher, stupsten mich abwechselnd an und erinnerten mich, dass es Zeit war, auf der Pirsch nach Feinden durchs Hochmoor zu stapfen. Wir hatten zwar nie welche entdeckt, aber meine wundervollen Hunde genossen die Suche gewaltig.
Meine Sicherheit hing von ihnen ab. Aber leider auch ihre von mir. Ich hatte Vorbereitungen getroffen, bevor ich London verließ. Eine Tierärztin hatte ihnen die Chips aus den Ohren entfernt und zwei weitere unterm Nackenfell entdeckt. Die am Ohr tauschte sie aus gegen welche, auf denen nur meine Telefonnummer stand. Niemand vom Palatine-Anwesen konnte sie orten oder mich über sie. Eine Entscheidung, wiewohl logisch, die mir auch Herzeleid bereitete. Denn natürlich wollte die unterwürfige Seite meines Wesens, dass Lazaro mich aufspüren konnte. Ich hatte mir geschworen, ich würde nicht nach ihm suchen. Aber sollte er nach mir suchen und mich zufällig finden …
Zum Glück überwog meine Sorge um Beau und Bro meine erbärmlichen Tagträume. Und diese Sorge war es auch, die mich raustrieb in den seltenen Sonnenschein, um nach Ashley zu suchen.
***
Ashley schlug vor, ich sollte seinen alten Kumpel Ollie in Taunton aufsuchen. Also fuhren wir zwei Tage später alle gemeinsam hin – zu sechst pferchten wir uns in den fünfundzwanzig Jahre alten Land Rover der Franks.
Ollie, gut platziert mitten im Herzen eines beliebten Touristenziels, vermietete und verkaufte Wohnmobile, Caravans, Mobilheime und Campingbusse.
Die Kinder liebten Ollie und seinen Stellplatz. Zu Hause hatten sie Tausende Morgen der wunderschönsten Landschaft zum Umherstreifen und Spielen, aber sie waren fasziniert von beengtem Lebensraum. In Ollies Trailerpark tobten sie sich aus, jagten von einem Minizuhause zum nächsten, erforschten Einbauschränke und wegklappbare Betten, während die Erwachsenen in Ollies Büro Cider tranken und meine Auswahlmöglichkeiten durchsprachen.
Schließlich entschied er, dass zu mir und London am besten ein unauffälliges gebrauchtes Wohnmobil mit Markenkarosserie passte, das er zufällig zu verkaufen hatte. Es war gar nicht so viel länger als mein Gärtnerei-Van, der auf der Lyttleton Road Totalschaden erlitten hatte, aber innen drin gab es ein Doppelbett, eine winzige Küche, eine noch winzigere Dusche und ein Kassettenklo. Der Platz reichte dicke, um für Beau und Bro eine Matratze auf den Boden zu legen, und über Kopf blieb genug Stauraum für Wäsche und Werkzeug.
Ich war von der pfiffigen Raumausnutzung fast genauso begeistert wie die Kinder. Das würde mein Überbrückungszuhause sein, während ich sowohl meine Wohnung als auch das Haus meiner Mutter verkaufte. Es war ein Kleinstheim auf Rädern, von dem niemand wusste außer mir. Darin konnte ich in Sicherheit leben, bis ich herausbekam, ob irgendwer nach mir suchte. Die Hunde würden es beschützen und mich auch, und ich konnte sie beschützen, indem wir nicht aufspürbar waren. Fangt mich doch, wenn ihr könnt, dachte ich.
Ollie machte mit mir eine Probefahrt, aber eigentlich war das nicht nötig, ich war große Fahrzeuge gewöhnt. Er bewunderte mein Geschick beim rückwärts Einparken. Ich erzählte ihm von der Parkplatznot in London, prompt bewunderte er auch meine Tapferkeit. Ich liebte sein tiefes, knurrendes Lachen. Irgendwas an ihm weckte mich auf. Vielleicht seine Bewunderung. Vielleicht auch, dass er ein Freund der Franks war, die ich sehr respektierte und denen ich vertraute.
Wir tauschten Telefonnummern und WhatsApp-Adressen aus. Aber da er im West Country lebte und ich in ein paar Tagen nach London zurückfuhr, erwartete ich nicht, dass daraus was wurde. Trotzdem war es nett, gefragt zu werden.
***
Der Frühling kam spät in diesem Jahr. Die Sonne schien herzlich wenig, und zeigte sie mal ihr Gesicht, strahlte sie kaum Wärme aus. Meine Kundschaft wirkte niedergeschlagen und einfallslos. Ich topfte bei Mr. Sorkin Setzlinge ein: Mais, Zucchini und Zuckererbsen. Er überließ mir zudem ein Eckchen für Hannahs Perserteppich-Zinnien. Während ich mir die Hände schmutzig machte, sah er fern. Doch dann, ganz unüblich, rief er mich nach drinnen, um mir seine Empörung über eine Nachrichtenmeldung mitzuteilen. Da, auf dem Bildschirm, kam der schreckenerregende Anblick riesiger Flächen brennenden Amazonas-Regenwalds. Fassungslos über so viel Unvernunft sagte er: »Und so brutzelt die Erde ab.« Er vergrub den Kopf in den Händen und bebte vor Zorn.
Am selben Tag zeigten mir zwei neue Kundinnen, die Schwestern Elias, weinend eine Internetseite, auf der jemand für neun Pfund neunundneunzig T-Shirts feilbot, die die Hinrichtung eines polnischen Juden in Auschwitz verherrlichten. Sie konnten sich meine Entwürfe für ihren winzigen Vorgartenstreifen nicht anschauen und buchten mich auf den nächsten Tag um. Überall auf der Welt brodelte Irrsinn.
In jener Nacht war mir nur kalt, ich war nicht einsam. Ich schlief um der Wärme willen an die Hunde gekuschelt. Sie waren groß und stark, doch vor meinen Gedanken konnten sie mich nicht schützen. Und gegen Morgen hatte ich einen Traum, der Mr. Sorkins Zorn und den Kummer der Elias-Schwestern aufgriff. Ich stand in der dunklen Ecke einer Krankenstation. Drei maskierte Männer kamen hereinmarschiert. An einem Bett ganz in meiner Nähe blieben sie stehen. Einer sagte: »Die hier ist beschädigt. Reif für die Entsorgung.« Ein anderer Mann trat vor und hob eine Frau aus ihrem Bett, als wäre sie leicht wie ein Baby. Das ›Baby‹ war Kim. Ihr Kopf hing kraftlos nach hinten, ich sah ihr verwüstetes, behaartes Gesicht. Auch ihre Hände waren mit Haaren und Pusteln bedeckt. Der Mann sagte: »Sie stinkt wie ein Hund.« Ich wollte helfen, doch meine Beine verweigerten den Dienst, und ich hatte Angst, sie würde sich in einen meiner Hunde verwandeln. Doch als die Männer mit ihrer schaurigen Last abzogen, sagte Lazaro: »Die Grube wartet schon, aber sei nicht eifersüchtig: Du bist noch nicht an der Reihe.«
Ich erwachte schwitzend vor Angst und Empörung, und da ich nicht wieder einschlafen konnte, fuhr ich nach North Kilburn zu der Verkehrsinsel, wo Jake und ich unseren Guerillagarten angelegt hatten. Ich sah ihn zum ersten Mal wieder, seit ich aus dem West Country zurück war. Über Jake wollte ich nicht nachdenken, aber es war Zeit, den Garten in Schuss zu bringen. Dort wartete genug Müll auf mich, um einen ganzen Abfallsack zu füllen – Einwickelpapiere, Chipstüten, Bierdosen, Plastikflaschen, Plastiktüten, Plastik, Plastik und noch mehr Plastik. Ich säuberte das Beet und köpfte die verwelkten Tulpen und Narzissen.
Da kaum Verkehr herrschte, ließ ich die Beaus raus, damit auch sie sich die Beine vertreten konnten, und wir drehten eine Runde um den Kreisverkehr, während ich zu entscheiden versuchte, was ich als Nächstes hier anpflanzen wollte oder ob ich besser der Sache ein Ende machte und die ganze Insel aufgab.
Während ich unschlüssig herumstand, schob sich plötzlich der Mond zwischen den seifig-streifigen Wolken hervor. Ein abnehmender Dreiviertelmond, hell genug, um mir zu zeigen, dass die Papaver somniferum, die ich vor gut sechs Wochen ausgesät hatte, erstaunlicherweise kleine grüne Triebe aus dem Boden schickten. Der mythische Grüne Mann entstieg seinem Wintergrab, Fingerspitzen voran. Schlafmohn gab die Richtung vor. Ich wusste nicht, sollte ich frohlocken oder mich gruseln. Ich dachte, ohne zu denken, wenn ich in North London Opium anbauen kann, wozu dann noch Opioide?
Ich fing an zu zittern und hob die Hand, um den Ring zu berühren, den ich immer noch um den Hals trug. Er war kalt wie Eis. Ich schauderte. Ohne Vorwarnung sank die Temperatur bis fast zum Gefrierpunkt. Die Dunkelheit rieb mir übers Gesicht wie eine raue Decke.
Wie in meinem Traum klebten meine Füße am Boden fest. Beau und Bro waren unruhig. Einer der beiden hob die Schnauze gen Himmel und heulte. Der Mond verbarg sein Gesicht, und urplötzlich konnte ich mich wieder bewegen. Ich sprintete zu dem Heim auf Rädern, jagte die Hunde, die viel schneller waren als ich. Wir purzelten hinein, und ich warf den Motor an und fuhr los – egal wohin, Hauptsache so schnell wie möglich so weit wie möglich weg von der Verkehrsinsel. Dann hielt ich an.
Meine Nackenhaare kribbelten noch. Den Hunden stand das Rückenfell zur Bürste. Ich glaubte nicht, dass ich sicher fahren konnte – nicht mal auf ruhigen Straßen.
Mein Kopf war brechend voll mit Bildern von dem toten Mark Kirkby und Kim, von der man nie wieder etwas gesehen oder gehört hatte. Ich dachte an all meine unbeantworteten Fragen – Fragen, von denen Hannah und Titus glaubten, sie hätten sie mit ihrer strahlenden, keimfreien Rationalität hinweggefegt. Alles, vom Schnee bis zu den blutigen Tränen, hatten sie mit ihrem wissenschaftlichen Blick unter die Lupe genommen und wegerklärt, bis nichts mehr da war. Außer meiner angsterfüllten Liebe.
Wenn es nichts zu befürchten gab, warum hatte ich solche Angst?
Wenn Lazaro ein Perverser und Sadist war, warum war ich dann immer noch besessen von ihm? Warum war ich, trotz allem, was ich ihm nicht vergeben konnte, nach wie vor in ihn verheddert wie eine Fliege ins Spinnennetz?
Ich versuchte über Vergebung nachzudenken, stellte aber fest, dass das, was ich erinnerte, unmöglich zu vergeben war. Mein Hirn leierte aus unter der Last all dessen, was ich nicht vergessen konnte, und erst recht dessen, was ich nicht vergessen sollte – wie den brennenden Regenwald und Auschwitz. Benötigte ich denn, so wie diese unfassbaren Beispiele menschlicher Unmenschlichkeit, auf ewig Wachsamkeit?
Die Morgendämmerung zog herauf. Beau und Bro zuckten im Schlaf, und ich rieb mir die schlaflosen Augen mit Händen, die immer noch zitterten. »Erklär diese Angst weg, Hannah«, sagte ich laut.
Da plötzlich wusste ich, wusste ich einfach, dass er nach mir rief. Wie zur Hölle konnte er wissen, wo ich war? Weil ich nun doch endlich mal nachts rausgegangen war, nachdem ich wochenlang die Dunkelheit gemieden hatte? Erklär es mir, Hannah.
Oder war es der Ring? Die Stimme der Vernunft raunte unvernünftig: »In dem Ring ist ein Peilsender. Er kann dich aufspüren, sobald du in seine Reichweite gerätst.«
»Aber warum sollte er das wollen?«, rief ich so laut, dass die Hunde mit den Ohren schlackerten.
»Weil du leicht zu haben bist«, antwortete eine Stimme. Es war nicht Hannahs, aber womöglich die von Jake oder Amy. »Du fällst doch auf jede Andeutung von Gunst und Anerkennung rein.«
Ich senkte den Blick. Meine beiden Hände waren um den Ring gekrampft. »Ich beschütze ihn ja«, flüsterte ich angewidert. »Noch immer hüte ich Geheimnisse – seine Geheimnisse.«
Ich versuchte gar nicht erst, meine Hände zu lösen. Ich riss mir einfach den Ring vom Hals, samt Kette und allem. Ich fühlte, wie das Gold in meinen Nacken schnitt, und wusste, am nächsten Morgen würde dort ein böses Mal zu sehen sein. Vielleicht sogar eine lebenslange Narbe.
Ich ließ die Hunde aus dem Wohnmobil. Sie waren immer noch nervös und trabten ganz dicht neben mir her, als ich zurück zu dem Kreisverkehr lief. Auch sie hatten Angst, aber ich war sicher, sie würden mich beschützen. Sie waren die einzigen mir bekannten Geschöpfe, die Lazaro durcheinanderbringen konnten. Noch so eine unbeantwortete Frage: Wie konnte ich jemanden bis zur Selbstaufgabe anbeten, der Hunde verabscheute?
»Kann ich nicht«, sagte ich energisch. »Darf ich auch nicht.«
Beau und Bro standen Schmiere, als ich ein Loch grub und den Ring zwischen den jungen Opiumsprösslingen beerdigte.
Ich musste unwillkürlich weinen, während ich arbeitete, weil es mir unlogischerweise vorkam, als würde ich meine Träume begraben. Aber als ich mir mit meinem dreckstarrenden Ärmel die Tränen abwischte, sah ich keine Spur von Blut.
»Ist es vorbei?«, fragte ich die Hunde, als ich über Lazaros Liebesbeweis die Erde feststampfte. Doch eine ängstliche Gänsehaut wurde ich nicht los, als Beau, Bro und ich zurück zu meinem Heim auf Rädern rannten.
»Irrationale Angst kannst du nicht bezwingen«, erklärte ich ihnen, als wir uns wieder ins Wohnmobil drängten und ich den Motor anließ. »Du kannst sie bloß ignorieren.« Ich fuhr in südliche Richtung. Ich wollte fließendes Wasser zwischen mich und Lazaro bringen, also nahm ich die Lambeth Bridge. Ich dachte, ich halte mich mal an einen alten Aberglauben.
Im Fahren fragte ich mich: »Wie kann eine Jüdin Atheistin sein, und wie kann eine Atheistin abergläubisch sein?«
Nichts ergab Sinn. Nicht mehr seit jener Nacht vor dem Schabbatabend, als ich im Italian Bar & Grill einen gutaussehenden älteren Typ kennenlernte.
Meine Mitbewohnerin Amy verließ das Italian Bar & Grill noch vor Mitternacht. Hastig raunte sie mir zu, dass sie einen Cousin ihres angeheirateten Cousins an der Leine hatte. Das war selbst für Amy rasant: Erst vor zehn Minuten war sie nur mal kurz aufs Klo verschwunden.
»Es wird immer aussichtsloser, Seema«, flüsterte sie und raffte Mantel und Tasche zusammen. »Jetzt bin ich so tief gesunken, dass ich mich auf entfernte Verwandte einlasse, weil mir nur noch auf den Beerdigungen, zu denen mich Mutter mitschleift, passable Kerle begegnen. Tut mir leid, dass ich dich hängen lasse, aber du weißt ja, wie das ist – Noah wartet.«
Ich suchte nach einem Noah, konnte aber im Menschengewühl vor der Bar keinen entdecken. Ich rechnete mit dem Üblichen: dunkles schütteres Haar, notgeiler Blick, Mittelmaß. Vor zehn Jahren hätte Amy ihn nicht mal bemerkt. Vor zehn Jahren hatte sie den großen blonden Sänger einer Goi-Band angebaggert.
Und deshalb saß ich um Mitternacht allein im Italian Bar & Grill, um die Ecke vom Golders Green-Friedhof in der Hoop Lane, und sah aus wie Freiwild für den älteren Fremden, der neben mir auftauchte und mich zu einem weiteren Wodka und einem Tütchen Speckkrusten einlud.
Auf den Wodka ließ ich mich ein – angetrunken genug, um meine Vorsichtsschwelle zu senken. Aber die Speckkrusten lehnte ich ab.
Er setzte sich und sagte: »Verzeihen Sie. Die alten Speisegebote untersagen den Genuss von Schweinefleisch, richtig?«
Ich lächelte unbestimmt. Ich hatte nicht vor, meine Haltung zu religiösen Praxen mit einem Fremden zu besprechen, egal wie gut er angezogen war. Dann sah ich im Schummerlicht näher hin und revidierte meine Meinung. Er sah aus, wie ich mir mediterrane Aristokraten vorstellte – silbernes Haar, fantastischer Anzug, perfektes Schuhwerk. Guter Geschmack umwehte ihn wie der feinste Hauch eines kostspieligen Rasierwassers. Und vermutlich hatte er sich einem höchst raffinierten Schönheitschirurgen anvertraut – seine sonnengebräunte Haut war praktisch faltenfrei und kontrastierte bezaubernd mit dem leuchtend weißen Haar.
Ich war geblendet. Gleichzeitig dachte ich, der führt doch nichts Gutes im Schilde. Sein angestammtes Jagdrevier sollte Mayfair, Paris oder Monte Carlo sein – ganz bestimmt nicht Golders Green. Und müsste sein Beuteschema nicht eine biegsame blonde Achtzehnjährige mit Stammbaum erfordern? Was ich absolut nicht war.
Als der Wodka seine magische Wirkung entfaltete, sagte ich: »Sie, mein Freund, wirken hier wie ein reinrassiges Rennpferd zwischen abgehalfterten Ponys.«
Seine beim Lachen entblößten Zähne waren so perfekt wie der Rest von ihm. »Und Sie, meine Freundin, wirken hier wie ein Engel inmitten der Verdammten.« Eine Ansage, die ich ziemlich schräg fand.
Seltsamerweise blieben wir bei den Verdammten und plauderten über Hieronymus Bosch. Er wollte wissen, ob ich Kunst studierte – was mir schmeichelte –, und ich fragte, ob er Kunsthistoriker war, da er so viel mehr über den Garten der Lüste wusste als ich.
»Ich bin Restaurator«, sagte er.
Und ich bin eine Art Gärtnerin. Spezialistin für Balkonkästen, Veranden und Londoner Kleinstgärtchen. Als Nächstes plauderten wir über Gärten.
»Eine Miniaturistin?« Er hatte einen leichten melodischen Akzent, den ich nicht zuzuordnen wusste.
»Sehr nett ausgedrückt. Meine Mutter nennt es faul. Aber die Vielfalt dabei ist wundervoll: Ich hab schon japanische Moosgärten angelegt und Wüstengärtchen mit Kakteen. Ich hab sogar mal einen Jurassic Park im Blumenkasten gemacht, bevölkert mit Plastikdinos, und ein Gemüsebeet auf einer Veranda.« Angeberin. Nicht viele Leute bekunden echtes Interesse an meiner Arbeit, und wenn es dazu kommt, reagiere ich allzu redselig.
Im Gegenzug erzählte er mir dann von seinem Mondscheingarten in – jawohl – Italien. Offenbar komplett mit Springbrunnen und Statuen. Dazu Beete voller duftender weißer Blumen mit silbrigem Laub. Ein Reflexionsbecken spiegelte Ewigkeit, es gab einen weißen Wasserfall und einen schwarzen Teich, eingerahmt von weißen Narzissen. Der Wildnisbereich bot Lebensraum für Nachtigallen, Eulen, Fledermäuse, Silberfüchse und Glühwürmchen.
»Ich wünschte, ich könnte es mir ansehen«, sagte ich träumerisch, auch wenn ich halb annahm, dass er das alles beim Reden frei erfand. Er klang wie eine Figur aus einem alten Fellini-Film.
»Ich wünschte, ich könnte Sie dort ansehen«, antwortete er. »Alle Frauen sind am allerschönsten im Mondschein.«
Dann rief der Barmann Schluss für heute und ich kämpfte mich aus dem Traum und in meinen Wintermantel. Erst da dachte ich daran, mich vorzustellen.
»Seema Dahami«, erklärte ich und suchte nach meinen Handschuhen. Er sah nicht aus wie der Typ, der einen zünftigen Handschlag austeilt.
Seine Antwort bestand nur aus einem Wort: »Lazaro.« Das kam mir damals nicht sonderbar vor.
Wir waren die Letzten, die gingen, und als wir auf die verlassene Straße traten, erloschen sämtliche Lichter, und der Türsteher verbeugte sich und küsste ihm die Hand. Das allerdings kam mir sonderbar vor: Handküssen ist in Golders Green höchst unüblich. Ich fragte mich mit leichtem Schreck, ob mein Begleiter am Ende gar kein romantischer Märchenerzähler war, sondern ein Mafiapate.
Dann geschah zweierlei: Es begann heftig zu schneien – ungewöhnlich für März –, und eine riesige schwarze Limousine rollte vor uns an die Bordsteinkante. Der Fahrer, ein junger Mann von atemberaubender Schönheit, öffnete die Tür, und ich erspähte eine vollendete Luxus-Innenausstattung. Schwarze Seidenkissen, schwarze Zobelüberwürfe und weiße Hermelinbezüge. Wäre Lazaro nicht so dicht hinter mir gewesen, ich hätte schleunigst Reißaus genommen: Diese Limousine hatte nicht einen einzigen Berührungspunkt mit meiner Messlatte fürs Normale. Aber er sagte: »Ich bringe Sie, wohin Sie wollen.« Also nannte ich meine Adresse und ließ mich in Kissen gleiten, die mich umfingen wie liebende Arme. Ich war müde und hatte zu viel getrunken, aber ich befand mich in Begleitung einen Mannes mit perfekten Manieren. Was sollte da schon schiefgehen?
Ehe er einstieg, reichte der Chauffeur Lazaro eine langstielige Elfenbeinpfeife, in die er eine kleine schwarze Kugel aus einer lakritzartigen Substanz tat. Er gab ihm mit einem Fidibus Feuer, bevor er den Wagenschlag schloss und durch das Schneetreiben zur Fahrertür schritt.
Lazaro inhalierte, und ein seltsamer, leicht würziger Duft erfüllte die Luft. Er lehnte sich zurück und inhalierte erneut.
»Opium«, sagte er sanft und gab mir die Pfeife.
Ich versuch mal zu erklären, warum ich sie nahm. Hätte er gesagt: ›Heroin – benutz ruhig meine Spritze‹, dann wäre ich selbstredend aus dem Wagen gesprungen und heimgerannt. Aber er reichte mir etwas Exotisches in einem hinreißend geschnitzten Artefakt. Wie könnte in einem solchen Prachtstück etwas ernstlich Gefährliches stecken?
Was er mir da anbot, das war die Romantik: Coleridge, Shelley, Byron, Keats und die Träume des Endymion, vielleicht gar Mary Shelley und der Alptraum von Frankenstein.
Und was er mir da anbot, war meine eigene Familiengeschichte. Mein Ururgroßvater, seine Söhne, seine Brüder und Cousins erwarben und verloren etliche Vermögen beim Opiumhandel – das schwarze Gold, das sie in Indien kauften und in China absetzten. Ja, Handel trieben sie auf Arabisch, Hindi und Chinesisch, aber sie beteten auf Hebräisch. Derweil ihre Gemahlinnen den Ladys des britischen Empires nacheiferten und englische Literatur lasen, einschließlich Keats, Coleridge, Byron und Shelley. Vielleicht erbebten sie in wohligem Schauer bei Mary Shelleys Frankenstein. Auch wenn es nichts ist, worauf man stolz sein sollte, stellen meine Cousins die Opiumwaagen unserer Vorfahren als Familienerbstücke zur Schau.
Hätte Lazaro mir etwas Verführerischeres anbieten können?
Ich nahm die Pfeife, setzte meine Lippen dorthin, wo seine gewesen waren, und schmeckte Ewigkeit.
Seine kühle trockene Hand schob sich unter meine Haare und strich mir langsam über den Nacken. Seine Berührung löste ein Zittern aus, das mir den ganzen Rücken runterlief.
»Woher wussten Sie das?«, fragte ich.