Abbie Greaves
Jeder Tag für dich
Roman
Aus dem Englischen von Pauline Kurbasik
FISCHER E-Books
Abbie Greaves, geboren in Oxford, studierte an der Cambridge University und hat mehrere Jahre in einer Literaturagentur gearbeitet. Ihr Lebenstraum ist es jedoch, Romane zu schreiben, über die Liebe und darüber, wie sie den Funken des Außergewöhnlichen in scheinbar ganz normalen Leben entzündet. Ihr erster Roman »Hör mir zu, auch wenn ich schweige« erschien 2020 und fand in vielen Ländern begeisterte Leser*innen.
Pauline Kurbasik, geboren 1982 in Landau, studierte Romanistik, Anglistik und Linguistik sowie Literaturübersetzen. Sie übersetzt Bücher aus dem Englischen und Französischen und lebt in Köln.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Seit sieben Jahren verläuft jeder Tag gleich für Mary: Nach ihrer Arbeit im Supermarkt geht sie direkt zum Bahnhof Ealing Broadway und stellt sich mitten in den Strom der Pendler mit ihrem Schild: KOMM NACH HAUSE, JIM.
Alice ist Lokalreporterin und droht ihren Job zu verlieren. Als sie Mary am Bahnhof begegnet, wittert sie eine gute Geschichte und freundet sich mit ihr an. Alice setzt ihren ganzen Ehrgeiz daran, herauszufinden, was wirklich mit Jim passiert ist - und die Wahrheit verändert am Ende auch ihr eigenes Leben.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Ends of the Earth« bei Century, einem Verlag der Penguin Random House Gruppe, London.
Copyright © Abbie Greaves 2021.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114,
D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Favoritbüro München unter Verwendung von Motiven von Shutterstock
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491135-9
Für Mum und Dad, deren Geduld mit mir, um das Mindeste zu sagen, inspirierend ist.
Am Bahnhof Ealing Broadway gehört Mary O’Connor inzwischen zum Inventar. Sie wird übersehen und unterschätzt, wie so viele achtlos am Straßenrand abgestellte Dinge. Doch da enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Mary sieht nicht schmuddelig aus – ganz im Gegenteil.
Sie trägt ihr Haar am Hinterkopf zu einem Knoten gesteckt, mit kastanienbraun schimmernden dunklen Strähnen. Mary ist seit Jahren nicht mehr beim Friseur gewesen, weil das für sie ein Luxus ist, den sie sich nicht gönnt, aber dank ihrer guten Gene ist ihr Haar dennoch in bestem Zustand. Diesen Genen hat sie auch ihre symmetrischen Gesichtszüge, die hohen Wangenknochen und eine hübsche, markante Nase zu verdanken. Mit ihren großen Augen, die völlig ungeschminkt sind, schaut sie suchend umher, so könnte ein Beobachter meinen. Suchend oder heimgesucht.
Mary kommt jeden Abend hierher, gleich nach der Arbeit in einem nahen Supermarkt, wo sie Regale eingeräumt hat. Sie hat keine Zeit, nach Hause zu gehen, um sich umzuziehen, weil ihre Schicht um fünf Uhr dreißig endet und sie sich beeilen muss, um den Strom der Feierabendheimkehrer am Bahnhof nicht zu verpassen. Sie zieht sich stattdessen einfach eine Strickjacke über das gelbe Poloshirt mit dem Logo ihres Arbeitgebers. Das mag nicht sonderlich schick sein, aber Marys Schönheit überstrahlt jede Modesünde.
Sobald sie am Bahnhof ankommt, schaltet ihr Körper auf Autopilot. Sie sucht sich ihren Platz unter dem Vordach aus Beton, wenige Meter vor den Bahnsteigsperren und links von einem Kiosk, der wässrigen Kaffee anbietet. Wenn sie den richtigen Ort gefunden hat, greift sie nach ihrem Schild. Sie hat es immer dabei, es steckt in einer Seitentasche ihres Wanderrucksacks und hat in der Mitte vom vielen Auf- und Zuklappen einen Knick, der mit der Zeit immer poröser wird. Nicht nur der Knick, denkt sie und verzieht das Gesicht, als ein Schmerz wie von einem Messerstich in ihr linkes Schulterblatt fährt. Und dabei ist sie doch vorige Woche erst vierzig geworden … Der emotionale Tribut der letzten Jahre hat dafür gesorgt, dass sie sich mindestens zwanzig Jahre älter fühlt.
Sie ist groß, fast einen Meter achtzig, deswegen überprüft sie kurz, ob sie das Schild auf Augenhöhe der Passanten hält. Dann klappt sie den Karton auf und zeigt der Welt ihre Nachricht. Wenn ihre Finger anfangen zu krampfen, bewegt sie sie ein wenig, achtet aber darauf, keinen einzigen Zentimeter der Beschriftung zu verdecken: KOMM NACH HAUSE, JIM. Jedes Wort ist wichtig, und jede Silbe ist in ihrem Herzen eingebrannt.
»Jim?«, fragt sie die vorbeiziehenden Pendler, die auf ihre Handys oder eine Gratis-Lokalzeitung starren, die irgendwann vor ihren Füßen landet. In den letzten beiden Jahren ist die Anzahl jener Menschen, die bloß vermeintlich auf Mary reagieren, auf besorgniserregende Weise angestiegen. Tatsächlich sprechen sie in kabellose kleine Kopfhörer, diese winzigen, fast unsichtbaren weißen Apostrophe in den Ohrmuscheln. Sehr befremdlich. Und diese Menschen schauen sie so an, als würde bei ihr etwas nicht stimmen.
Wenn viel los ist, fragen vielleicht ein oder zwei Personen nach, was mit ihr oder Jim los sei. Zuerst meistens jemand, der annimmt, sie würde gerade schwere Zeiten durchmachen und bräuchte ein offenes Ohr. Einige wollen ihr immer etwas Geld zustecken, trotz ihres gepflegten Äußeren. Wie kann sie ihnen klarmachen, dass ihr nicht etwa ein Zuhause fehlt, sondern der Mensch, der ihr Zuhause sein sollte? Immer gehen die Leute schon weiter, bevor Mary die richtigen Worte gefunden hat.
Im Winter packt sie zusammen, wenn ihre Hände so taub sind, dass ihr das Schild zu entgleiten droht – nachdem sie es etwa zwei Stunden lang in ihren dünnen Wollhandschuhen hochgehalten hat. Und jedes Mal aufs Neue fühlt sie sich schuldig. Gibt sie zu früh auf? Was, wenn Jim gerade in dem Moment hier ankommt, wenn sie ihren Schlüssel in die Wohnungstür steckt? Nach fast sieben Jahren in diesem Rhythmus, sechs Mal durch alle Jahreszeiten, hat sie sich an das nagende Gefühl der Unzulänglichkeit gewöhnt, das mit der winterlichen Zeitumstellung einhergeht.
Aber nun, Anfang August, kann sie bis zehn Uhr abends draußen stehen bleiben. Das verschafft ihr eine weitere Stunde, ablesbar auf ihrer Uhr – der silbernen Uhr am schmalen Gliederarmband, ein kostbares Geschenk von ihm. Den Schmerz in den Füßen, in der Schulter und im Herzen wird sie ertragen, weil sie nicht weiß, wohin sie sonst soll und sie keine Lust auf die erdrückende Stille in ihrer Wohnung hat.
Diese eine Stunde wird sie noch ausharren, und selbst dann, weiß sie, wird sie sich noch wünschen, sie könnte für immer hier am Bahnhof stehen bleiben. Sie wird ausharren, bis ihre Knie einknicken und ihre Knöchel nachgeben. Sie wird sich nicht abfinden, keinen Schlussstrich ziehen. Sie wird nicht aufgeben. Nein. Sie wird warten und warten und weiter warten. Hatte sie das nicht Jim versprochen?
Bis ans Ende der Welt oder bis nach Ealing. Für immer.
Zehn Uhr abends. Mary dreht vorsichtig den Kopf von links nach rechts. Erst knackt es, dann knirscht es, als würde man auf trockenes Laub treten. Wer auch immer gesagt hat, dass Stehen gesund sei, war selbst noch nicht täglich zwölf Stunden auf den Beinen. Mary faltet das Schild zusammen und steckt es in den Rucksack zurück, dann lässt sie ein letztes Mal den Blick schweifen. Obwohl sie sich inzwischen an die Enttäuschung gewöhnt haben sollte, schmerzt der Anblick der Bahnhofshalle ohne das eine Gesicht, nach dem sie sich sehnt.
Weil es Dienstag ist, hat Mary keine Zeit, vor ihrer Schicht von 23 bis drei Uhr früh bei NightLine, der lokalen Krisenhotline, nach Hause zu gehen. Donnerstagnachts hat sie die gleiche Schicht, und sie hätte auch noch weitere übernommen, wenn nicht Ted, der Dienstplanschreiber, das verhindert hätte in der Befürchtung, Mary könnte sich überarbeiten. Tatsächlich ist sie dermaßen erschöpft – psychisch und physisch –, dass sie gar nicht mehr weiß, wie es ist, sich anders zu fühlen. Sie hofft, sich auf dem fünfzehnminütigen Spaziergang vom Bahnhof zur Grundschule St. Katherinen – wo sich die Räume der Krisenhotline befinden – etwas zu erholen, einen klaren Kopf zu bekommen für die Nacht am Telefon.
Als Mary bei NightLine angefangen hatte, war das, was mit Jim passiert war, gerade drei Monate her, und sie hatte zwar schon ihre Wache am Bahnhof aufgenommen, aber irgendwie reichte das nicht. Jims Verlust hatte eine Leere in ihrem Leben hinterlassen, wie ein großer klaffender Krater, der sie zu verschlucken drohte. Auch wenn Mary das Gefühl hatte, diese Leere würde nie wieder ausgefüllt werden, wusste sie doch, dass sie zumindest versuchen musste, etwas zu tun, um sich an die Fetzen einer Zukunft zu klammern, die ihr noch geblieben war.
Als an einem ihrer ersten Arbeitstage beim SuperShop ein Anschlag am schwarzen Brett verkündete, dass man neue Ehrenamtliche für NightLine suche, riss sie instinktiv einen der Zettel ab. Sie steckte ihn in die Hosentasche. Einen Tag oder zwei beließ sie es dabei. Jedes Mal, wenn sie an die E-Mail-Adresse schreiben wollte, kam ihr, ehe sie auf Senden klicken konnte, ein Lieblingsspruch ihrer Mam in den Sinn: Bevor du anderen helfen kannst, musst du dir selbst helfen.
Dieser Aphorismus entbehrte nicht einer gewissen Logik. Wenn aber nur Menschen anderen helfen würden, die selbst keine Hilfe benötigen, würde dann überhaupt noch jemand ehrenamtlich tätig sein? Außerdem passte Marys Profil zu den meisten Anforderungen der Ausschreibung. Nur bei dem Punkt »souverän in Krisensituationen« war sie sich nicht ganz sicher, aber Mary sagte sich, dass sie das doch ebenso gut bei NightLine lernen könne.
Noch nie war sie dermaßen mit Informationen bombardiert worden wie bei ihren ersten Schulungseinheiten. Anfangs markierte Ted ihr die wichtigsten Passagen in dem dicken Handbuch, aber damit hörte er bald wieder auf. Vielleicht spürte er Marys Gewissenhaftigkeit – sie würde das Handbuch ohnehin komplett durcharbeiten. Nach all der Lektüre gab es nur einen Satz, den sich Mary zu Herzen nahm, und der prangte als Slogan auf dem Handbuch der Organisation: Raum zum Reden.
Dabei musste sie an Jim denken, was an sich nicht ungewöhnlich war, doch dieser Satz verlieh ihrem Denken eine neue Richtung. Sie hatte lange jedes Gespräch mit ihm im Kopf immer wieder durchgespielt. Doch nun wurde ihr klar, dass all die aneinandergereihten Worte – selbst wenn sie sich ganz genau erinnerte – nicht die ganze Wahrheit enthielten. Mary schwor sich, dass sie ihren Anrufern bei NightLine allen Raum geben würde, den sie aufbringen konnte.
Obwohl ihr Selbstwertgefühl seit Jahren am Boden liegt, weiß sie, dass sie eine gute Freiwillige ist. Und trotz ihrer kräftezehrenden Rolle bei NightLine hat sie festgestellt, dass sie sich dort wohler fühlt als an fast jedem anderen Ort der Welt. Das Gefühl, gebraucht zu werden, erdet sie nach den emotional anstrengenden Wachen am Bahnhof. Die Wände der Klassenzimmer haben etwas Tröstliches. Und dann ist da noch die Gesellschaft der anderen Freiwilligen, die ihr tatsächlich sehr ans Herz gewachsen sind.
Von allen kennt sie Ted am längsten, er ist allerdings streng genommen kein Freiwilliger, vor zwei Jahren nach dem Tod seiner Frau, der Gründerin von NightLine, hat er sich für die Trauerzeit vom Telefondienst zurückgezogen. Nun hat er eine ›leitende‹ Funktion inne, kümmert sich um die Dienstpläne, die Technik, eben die langweiligen Stellschrauben eines solchen Unternehmens. Ted und sie hatten nebeneinanderher gearbeitet, bis seine jüngste Tochter letztes Jahr ihr Studium begann und er Mary gestand, dass er nicht mehr weiterwisse.
Dann sind wir schon zu zweit, dachte Mary und sprang über ihren Schatten, um ihm einen gemeinsamen Spaziergang vorzuschlagen. Inzwischen gehen sie regelmäßig sonntagnachmittags spazieren. Vor einigen Wochen sind sie in Kew eingekehrt und haben seinen Fünfzigsten gefeiert – wenn man bei zwei Scones in einem Café von einer ›Feier‹ sprechen kann.
»’n Abend!«, ruft Mary, als sie das Klassenzimmer betritt.
Ted hat ihr den Rücken zugewandt. Er trägt wie immer Poloshirt mit Kaki-Shorts und steht unter der Lichtleiste, sein rasierter Kopf leuchtet wie eine Glühbirne. Mary sieht, dass er gerade die Teemaschine füllt. Allerdings gehorcht ihm das Ding nicht. Der Behälter aus Edelstahl wackelt gefährlich nah an der Tischkante.
»Mary!«
In seiner Begeisterung, sie zu begrüßen, hebt Ted die Hand, die das Metallgefäß hielt, und es fällt krachend zu Boden. Beide zucken zusammen.
»Dieses Ding ist ein verdammter Albtraum«, sagt er, während der Behälter unter den Tisch rollt. Es überrascht Mary immer wieder, wie neutral seine Stimme in ihren irischen Ohren klingt. Er hat das Temperament eines Ganoven aus dem East End, aber keine Spur eines Akzents.
»War der Urlaub schön?«, fragt Mary.
Ted nickt, und Mary bemerkt, wie braun er geworden ist. Er ist zwar nie blass – ein Vorteil des Gärtnerberufs, vermutet sie –, nach den zweieinhalb Wochen bei seinen alten Eltern in Dorset ist er jedoch richtig braun gebrannt. Das macht ihn zehn Jahre jünger. »Gut, danke. Aber es ist nicht leicht mit anzusehen, wie sie immer gebrechlicher werden.«
Mary versucht, nicht an ihre eigene Mam zu denken, wie es ihr wohl gehen mag, mit ihren geschwollenen Fußgelenken über den Filzpantoffeln. Eine gute Tochter würde ihr abends zur Hand gehen, statt sich fünfhundert Meilen entfernt vor einen Bahnhof zu stellen. Sie schiebt den Gedanken weg.
»Ich muss los«, sagt Ted und reißt Mary damit aus ihrem Tagtraum. Sie hatte wohl zu lange geschwiegen, denn nun sieht sie, wie Ted zögert, er weiß nicht, ob er sie zum Abschied umarmen soll oder nicht. Mary lächelt ihn stattdessen sehr überzeugend an.
Als er weg ist, setzt sie sich und wickelt sich das Telefonkabel um den Zeigefinger, während sie auf die anderen beiden Freiwilligen wartet.
Kurz darauf sieht sie durchs Fenster, wie Kit und Olive die Straße überqueren. Kit – ein Mann in den Zwanzigern mit der unerschöpflichen Energie eines Schuljungen – erzählt gerade etwas. Er streicht sich immer wieder das strohblonde Haar aus den Augen, und Mary kann sich vorstellen, dass Olive – sie ist Chiropraktikerin im Ruhestand – sich verkneifen muss, ihm ein Zopfgummi anzubieten. Kit ist so makellos schön wie ein Boy-Band-Sänger, allerdings legt er nicht viel Wert auf sein Äußeres, was bedeutet, dass er immer so aussieht, als wäre er gerade von einem Festival gekommen. Kaum zu glauben, dass er tagsüber bei einer Investmentbank arbeitet.
»Für mich hört sich das ein bisschen weit hergeholt an …«, sagt Olive gerade, als sie hereinkommen.
Sie winkt Mary zu, dann schnappt sie sich den Drehstuhl vom Lehrerpult. Sie öffnet den Klettverschluss ihrer Sandalen und streift sie ab. Olive ist eine alte Freundin von Ted und arbeitet schon seit der Gründung bei NightLine. Das erklärt, warum sie sich hier wie zu Hause fühlt.
»Wie geht es dir, amigo?«
Kit hatte allen anderen Freiwilligen erzählt, dass er mit einer App Spanisch lerne. Nun gibt es für ihn anscheinend kein anderes Thema mehr.
Kurz herrscht Stille, dann bemerkt Mary, dass er sie meint. »Mir?«
»Was gibt’s Neues?«, hilft Kit ihr auf die Sprünge.
»Nicht viel.« Oder eher gesagt: nichts. Aber wie könnte sie Kit begreiflich machen, dass ihr Leben immer nur aus Supermarktschichten, Bahnhofswachen und an zwei Abenden pro Woche der Freiwilligenarbeit bei NightLine besteht? Nur vage kann sie sich sein Leben als hart arbeitender und noch härter Party machender Stadtmensch vorstellen. Um nichts in der Welt will sie sein Mitleid.
»Hast du einen Sommerurlaub geplant?«
Bevor sich Mary zu einer Antwort aufraffen kann, klingelt das Telefon neben Olive.
»Setz dich!«, herrscht Olive Kit an. »Es geht los.«
Stille legt sich über den Raum, als alle drei nacheinander Anrufe entgegennehmen. Marys erster dauert lange, über zwei Stunden: ein junger Mann, seine Frau hat ihn verlassen, die Zwillinge im Kleinkindalter hat sie mitgenommen. Es wird niemals leichter zu hören, dass jemand nicht mehr weiß, wofür es sich lohnt, morgens aufzustehen, doch Mary kann das zweifelsohne besser nachfühlen als die meisten anderen. Aber das darf sie sich nicht anmerken lassen. Die Freiwilligen sind anonym und dürfen Informationen aus ihrem eigenen Leben nur kurz aufblitzen lassen. Mary findet es tröstlich, sich als Leerstelle zu präsentieren. Das liegt ihr mehr, als eigentlich gesund wäre, denkt sie.
Nachdem er aufgelegt hat, kann sie kurz durchatmen. Sie beißt einmal in das Twix, das Ted ihr hingelegt hat, und brüht eine frische Tasse Tee auf. Wenn sie später an diese Szene zurückdenkt, wird sie staunen, wie die außergewöhnlichsten Ereignisse stets in den gewöhnlichsten Momenten geschehen. Doch nun schluckt sie erst einmal den Bissen vom Schokoladenkeks hinunter und greift dann wieder zum Telefon.
»Guten Abend, Sie haben die Rufnummer von NightLine gewählt. Bevor wir anfangen können, habe ich …«
»Hallo?« Die männliche Stimme am anderen Ende der Leitung klingt brüchig, als läge eine unruhige Hand auf dem Mikrophon.
»Hallo, guten Abend, hier ist NightLine. Ich muss Ihnen zunächst einige Fragen …«
»Ich wollte sagen, dass ich dich vermisst habe.«
Erst traut Mary ihren Ohren nicht. Sie arbeitet so lange hier, dass sie glaubt, schon alles gehört zu haben.
»Bist du noch da?«, fragt die Stimme. Sie hört sich dumpf an, aber man vernimmt deutlich ein Lallen.
»Ja, ja …« Mary legt ihre freie Hand auf den Schreibtisch, aber sie zittert, egal wie stark sie ihren Bizeps anspannt. Eine Sekunde lang versucht sie, sich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Doch vergeblich, schon wird sie Jahre zurückkatapultiert, zurück zu dem Augenblick, als sie sich kennengelernt haben. Das kann doch nicht wahr sein, oder?
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?« Die Worte des Mannes scheinen aufeinanderzuplumpsen, dahinter steckt mindestens eine halbe Flasche Whisky, vielleicht sogar noch mehr. Ihr Herz rast.
»Ja, hab ich. Danke. Du, ähm, hast mich vermisst …« Bei den letzten Worten stockt sie. Erst war es nur ein Funken Hoffnung gewesen – nun steht ihr ganzer Körper lichterloh in Flammen.
»Ich habe dich vermisst.«
Mary blickt über ihre linke Schulter, um sicherzugehen, dass weder Olive noch Kit lauschen. Sie spürt plötzlich den Beschützerinstinkt einer Löwin, und zugleich fühlt sie sich so verletzlich wie die Beute, die gleich erlegt wird.
»Heute ist mein schlimmster Tag seit Jahren. Ich habe mich so allein gefühlt, ich hatte niemanden zum Reden. Es ist schwer weiterzumachen, wenn man sich an niemanden wenden kann. Außer an dich. Du warst immer für mich da. Du hast mich nie im Stich gelassen. Du bist mein sicherer …« Die Verbindung knackt. Mary hört das letzte Wort nicht, aber sie formt mit ihrem Mund die Silbe, deren sie sich sicher ist:
Hafen.
Sie legt sich eine Hand auf die Stirn, sie ist klebrig – von dieser Art feuchten Wärme, bevor man eine Grippe bekommt. Ein weiteres Knacken bringt ihr fiebriges Gehirn auf Trab.
»Wo bist du?«, bringt Mary heraus. Sie braucht eine Antwort. Auch wenn sie weder Ort noch Koordinaten oder irgendetwas Zurückverfolgbares bekommt, ein einziges Wort würde ausreichen. Ein Wort, mehr braucht sie nicht. Okay. Wenn er nach so langer Zeit anruft, muss es einen Grund dafür geben. Denn, o Gott, was ist, wenn er in Gefahr ist, oder krank oder …
»Das kann ich dir nicht sagen. Nicht jetzt. Ich wollte, dass du meine Stimme hörst, Mary.«
Ihr stockt der Atem.
»Du weißt, wie ich heiße«, flüstert sie, mehr zu sich selbst.
»Was?« Da ist es wieder, das weiße Rauschen am anderen Ende der Leitung, das die Stimme verzerrt.
»Bist du noch da? Hallo?« Mary will sichergehen, dass ihre eigene Stimme trotz der schlechten Verbindung durchdringt. Verzweifelt kämpft sie gegen die technische Störung an. »Hallo?« Sie hat das schreckliche Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben. Sie darf ihn jetzt einfach nicht verlieren. »Hallo?« Ehe sie noch ein Wort sagen kann, ist die Leitung tot.
Mary taumelt zur Tür. Sie sieht kaum etwas, weiß nicht, wo sie hintritt, in ihrem Kopf spielen sich Horrorszenarien ab. Sieben Jahre Nichts sind innerhalb von einer Minute in sich zusammengefallen. Warum? Warum jetzt? Sie lehnt sich mit der brennenden Stirn gegen die Glasscheibe, der Fenstergriff drückt sich in ihren weichen Bauch. Was hat das alles zu bedeuten?
Sie starrt ihrem Spiegelbild tief in die Augen, als wäre dort etwas, was ihr Halt geben könnte.
Aber sie sieht nur Jim und ihre erste gemeinsame Nacht: seine kehlige Stimme und sein Gesicht, das wie ein Zuhause ist.
Mary kann sich noch genau erinnern, wo sie gestanden hat, als sie James zum ersten Mal sah. Nicht weil es Schicksal war, Amors berühmter Pfeil, oder wegen sonst irgendwelchen Unsinns, für den sie weder die Zeit noch den Kopf hatte. Nein, sie erinnert sich daran, weil es genau da war, wo sie Sekunden zuvor eine halb volle Auflaufform mit Coq au Vin über ihr bestes weißes Shirt geschüttet hatte.
Der Zeitpunkt hätte nicht schlechter sein können. In weniger als einer Stunde würden Braut und Bräutigam zu dem Empfang erscheinen, und sie hatten mehr als genug bezahlt, um verlangen zu können, dass ihre Oberkellnerin sich nicht mit dem Hochzeitsmahl bekleckerte. Außerdem war die Sauce brühend heiß. Es war schon schlimm genug, im Juli in voller Montur zu arbeiten – eine Verbrennung konnte man da gar nicht gebrauchen.
Mary schob das Baumwolltop hoch, das am BH klebte, um ihre Haut zu kühlen, und war sich bewusst, dass man nun freien Blick auf ihre Brüste hatte – sie trug einen absurd knappen Balconette-BH, zu dessen Kauf Moira sie überredet hatte. Sie blickte sich kurz um, um sicherzugehen, dass sie allein war.
»Alles in Ordnung dort drüben?«, rief der Mann im Türrahmen.
Wer zum Teufel war das? Keiner von den Caterern. Mary wäre es aufgefallen, wenn einer von ihnen wie ein Model ausgesehen hätte. Ein Hochzeitsgast? Nein – es war viel zu früh, und dafür war er nicht passend angezogen, mit seiner legeren Hose und dem kragenlosen Hemd. Wer hätte so topmodische Männerklamotten im Stormont-Hotel in Belfast erwartet? Mary ganz sicher nicht.
Plump platschte eine Kirschtomate von Marys linker Brust auf den Teppich.
Der Mann unterdrückte ein Lachen und schnalzte mit der Zunge. Seine Stoppeln im Gesicht hatten die Länge, die die Mädchen an der Rezeption flüsternd als »Dreitagebart« bezeichneten, wenn die gut betuchten Gäste der Junggesellenabschiede eincheckten. Sie hatte nie verstanden, was daran anziehend sein sollte – bis gerade eben.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. Die Situation war ihr peinlich, ja, aber eine ungestüme Neugier auf den Fremden, der gerade auf sie zuging, überwog. Er hatte den Blick nicht ein einziges Mal von ihr abgewendet.
»Mir?«
»Ja, Ihnen. Oder warum starren Sie mich an und sagen nichts?«
Wieder lächelte er, diesmal breiter und mit einem Selbstbewusstsein, das vermuten ließ: Er hatte schon etliche Frauen mit nassem T-Shirt gesehen.
»Damit wollte ich nicht sagen, dass Sie mir helfen müssen.« Mary bemerkte plötzlich, dass sie den Bogen überspannt hatte – wie um alles in der Welt konnte sie bloß einen Gast bitten, sauber zu machen? »Ich bin sowieso selbst schuld.«
»Nun, ich bin früh dran.«
Auch noch ein Engländer.
»Für die Hochzeit?« Mary machte eine Kopfbewegung in Richtung Sitzordnung, die auf einer Staffelei in einer Ecke des Veranstaltungsraums stand.
»Schön wär’s! Ich bin zu einer Konferenz hier. Für Chirurgen. Fachrichtung Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde.«
Tatsächlich? Er sah ein wenig älter aus als Mary, die mit ihren siebenundzwanzig Jahren dachte, sie hätte mehr als genug Lebenserfahrung, um das Alter des Mannes genau einschätzen zu können. Er war doch allerhöchstens Mitte dreißig? Das könnte auch das Selbstbewusstsein erklären. Vielleicht auch den wissenden Blick, die Fältchen in den Augenwinkeln. Er starrte sie immer noch hungrig, fast schon wild an.
»Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen …«, sagte Mary leiser. Ihr Gehirn hatte alle Funktionen eingestellt. »Sie könnten es, ähm, an der Rezeption versuchen.«
»Aber mir gefällt der Anblick hier.«
Was hatte er da gesagt? Mary hoffte, dass sie in ihrem seltsamen Zustand keine akustischen Halluzinationen bekam.
Der Mann machte einige Schritte und blieb dann bei einem Hühnerschenkel knapp zwei Meter vor Mary stehen. Es war schon eine Weile her, seit ihr ein Mann auf Augenhöhe begegnet war – die meisten Männer in Belfast reichten ihr gerade mal bis zur Schulter. Sie schätzte, dass dieser Engländer knapp zehn Zentimeter größer war als sie: Sie könnte ihm problemlos den obersten Hemdknopf schließen, wenn er denn einen hätte.
»Sind Sie sicher, dass Sie keine Hilfe brauchen?«
Mary gestattete sich einen Blick in seine Augen – ein tiefes, warmes Haselnussbraun, das sie an Nutella erinnerte. Seine Gesichtszüge hatten etwas Verspieltes. Eine Narbe zerfurchte seine linke Augenbraue. Sie hätte zu gern herausbekommen, woher er sie hatte.
Sie hielt den Ofenhandschuh in ihren zittrigen Händen. »Nein, ich komme schon zurecht. Aber vielen Dank für das Angebot.«
»James, ich heiße James.«
»Vielen Dank, James. Ich bin dann mal weg.«
Warum um alles in der Welt hatte sie das denn gesagt? Mary wollte nicht, dass sie ihm so in Erinnerung blieb. Das sollte nicht sein. Aber was wäre die Alternative? Sie musste sich auf ihre Arbeit vorbereiten und ihr Oberteil wechseln.
Er setzte sich in Bewegung. Aber statt zu gehen, hob er das Hühnerbein vom Boden auf und biss so genussvoll hinein wie ein Hund, der eine Woche lang durch die Wildnis gestromert war.
»Köstlich.«
Mary war dermaßen schockiert, dass sie wie erstarrt verharrte und zusah, wie er Richtung Ausgang ging. Und als er sich an der Schwelle zum Flur umdrehte und seinen Kopf durch die Tür steckte, um sie nach ihrem Namen zu fragen – antwortete sie.
Die Hochzeitsfeier war im Nu vorbei. Sie hatte inzwischen schon so viele mitgemacht, dass es ihr oft so ging. Doch dieser Nachmittag war anders: Jedes Mal, wenn sie einen Gast mit dunklen Locken sah, wurde ihr flau, in der Hoffnung, es könnte James sein; jedes Mal strich sie ihr Ersatzshirt glatt, damit es nicht so stark über der Brust spannte – sie konnte das heiße Gefühl seines Blicks nicht abschütteln.
Als die Feier vorüber war, blieb sie noch zum Aufräumen und Saubermachen. Eine Doppelschicht bedeutete auch doppelte Bezahlung, und in der Familienkasse wurde jeder Cent gebraucht, obwohl Mam wegen der Umschläge mit Bargeld immer mit ihr stritt. Mam wollte, dass sie noch genug übrig behielt, um auch ›ihr eigenes Leben zu führen‹. In den ersten Jahren hatte das geheißen, sich einige Wodka-Colas leisten zu können, wenn sie mit den anderen Mädels von der Arbeit ausging.
Aber als die Schule vorbei war, wurden solche Abende seltener, bis nur noch Mary und ihre beste Freundin Moira übrig blieben. Alle anderen waren zum Studieren weggezogen oder hatten eine Ausbildung zur Kosmetikerin oder Buchhalterin oder – wie Ciara Campbell – zur Schweißerin begonnen. Es hatte auch etwas Gutes, dass die alten Freundschaften auseinanderbrachen: Man bekam nicht mehr unmittelbar mit, wie schnell alle anderen Fuß fassten in ihrem neuen Leben.
Mary räumte noch das restliche Geschirr weg und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie die Umstände sich gegen sie verschworen hatten und sie in einem Job gefangen hielten, der eigentlich eine Notlösung gewesen war. Seit elf Jahren war sie beim Storemont-Hotel beschäftigt, seitdem sie mit sechzehn die Schule beendet hatte. Zu wissen, dass man nach vorne schauen sollte, war eine Sache; viel schwerer war es, wenn man keine Ahnung hatte, was genau man machen sollte. In ihrer Freizeit stellte sie Landkarten aus Stoff her, aber das war bloß ein Hobby. Mam hatte eine Stoffkarte von Belfast in den Flur gehängt – bislang ihre beste –, doch sie erinnerte Mary immer nur daran, dass sie es versäumt hatte, eine künstlerische Laufbahn zu verfolgen. Es half auch nicht, dass sie noch zu Hause lebte; Gemütlichkeit hatte selten jemanden zum Aufbrechen verleitet.
Sie sammelte die Gläser ein. Eins sah aus, als hätte es einen Sprung, und sie hielt inne, drehte es im Licht hin und her, um zu schauen, ob es tatsächlich beschädigt war. In der Spiegelung sah Mary kaum älter aus als bei ihrem Arbeitsbeginn vor elf Jahren. Das lag an den großen Augen, dachte sie. Ihr war immer schon bewusst gewesen, dass sie hübsch war, auf konventionelle Art, das konnte sie sich gerade noch zugestehen. In ihrer Erziehung war für Eitelkeit kein Platz gewesen, denn – wie Mam immer betonte – gutes Aussehen war nicht alles.
»Mary?«
Sie blickte zur Tür.
»War die Hochzeit schön?«
»War nicht meine.«
»Ja, das dachte ich mir.« Er sah noch besser aus als in ihrer Erinnerung. Er hatte einen Knopf seines komischen Hemdes geöffnet und sich die Ärmel hochgerollt, so dass Mary seine muskulösen Unterarme bewundern konnte. »Könnten Sie jetzt ein wenig Hilfe gebrauchen?«
Also ab in die zweite Runde.
»Na gut«, sagte Mary, nachdem sich ihre Zunge wieder gelockert hatte. »Sie können dort drüben die Tischdecken runternehmen. Die kommen in den Wäschebehälter ganz hinten.«
James erledigte seine Aufgaben, und Mary musste sich verkneifen, ihn anzustarren – sie konnte nicht fassen, dass er zurückgekommen war. Sie musste wissen, warum – aber wie konnte sie das fragen, ohne verzweifelt oder zu bemüht zu wirken? Sie entschied sich, die Frage einfach zu stellen. Er war schließlich Engländer, und es war recht unwahrscheinlich, dass sie ihn je wiedersehen würde.
»Wie kommt’s, dass Sie noch hier sind? Doch bestimmt nicht aus Freude am Putzen.«
»Ihretwegen.«
»Wie bitte?«
»Sie haben mich schon verstanden.« Dieses Mal blickte James auf. Da war es wieder, das Lächeln. Sie wusste nicht, wie es möglich war, sich einem Fremden so nah, sich so zu Hause zu fühlen. »Sie«, wiederholte er. »Sie haben etwas … Geheimnisvolles an sich. Ruhig, aber wild. Ja, vielleicht ist es das. Und schön sind Sie auch, das ist zwar hilfreich, aber zweitrangig. Ich will herausfinden, was es mit Ihnen auf sich hat. Ich habe Sie in den letzten paar Stunden vermisst.«
Mary hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte. Waren Engländer nicht eher zurückhaltend? Oder war das nur Unsinn, den sie aus Filmen hatte? Wie dem auch sei, Mary kannte niemanden, der seine Gedanken und Komplimente dermaßen direkt aussprach. Sie sollte sich bei James bedanken, aber das wirkte so geschäftlich. Am besten tat sie nichts, damit sie den Augenblick nicht zerstörte.
James ging zurück zu seinen Tischdecken.
»Wollen Sie einen Drink?« Sie nahm eine halb volle Weinflasche und zwei unberührte Gläser vom Tisch.
»Ich dachte schon, Sie fragen nie.«
James setzte sich neben Mary, sein Bein berührte ihres. »Cheers«, sagte er und hielt ihr sein Glas hin. »Auf Hochzeiten und Konferenzen und überraschende … Begegnungen.«
Mary errötete. Sie war nie jemand gewesen, der Dinge überstürzte. Außerdem war es schon so lange her, dass sie sich mit einem Mann in einer solchen Situation befunden hatte. Dean war der Letzte gewesen, und die Trennung von ihm war bereits drei Jahre her. Moira meinte, sie hätte untenrum bestimmt schon Spinnweben. Mary konnte ihr nicht widersprechen.
»Woher kommen Sie?«, fragte sie und wollte das Thema wechseln, bevor man ihr die Gedanken ansehen konnte.
»Aus Ealing. West London. Waren Sie schon einmal in London?«
Mary schüttelte den Kopf. Sie war kurz vor ihrem Schulabgang mit der Klasse in Calais gewesen, davon abgesehen hatte sie Nordirland noch nie verlassen.
»Es ist toll da, zumindest für Touristen. Wenn man dort lebt, ist es verrückt. Und teuer. Aber ich bin da aufgewachsen, und nun komme ich irgendwie nicht mehr weg.«
Mary konnte das gut nachvollziehen. James erzählte ein wenig von den Sehenswürdigkeiten in seinem Viertel und fragte sie, ob sie viel reise – oder ob sie gern reisen würde? Mit einem so aufmerksamen Zuhörer hätte Mary sich stundenlang weiter unterhalten können, und dennoch fühlte sie sich die ganze Zeit über seltsam ungeduldig.
»Und Sie leben allein?« Man hätte sie für übervorsichtig halten können, aber sie wollte sichergehen, dass sie niemandem auf die Füße trat. Sie hatte nichts, woraus sie Rückschlüsse auf die Rechtschaffenheit dieses Mannes ziehen konnte, außer dem eigenen Bauchgefühl, und im Augenblick war in ihrem Magen die Hölle los – sie hatte Angst, dass er es hören konnte.
»Eingefleischter Junggeselle.« James legte sich die Hand aufs Herz »Mit der richtigen Frau bin ich eine treue Seele – und ohne die richtige Frau bin ich …«
»Allein«, beendete Mary den Satz.
»Wie charmant.«
»Ich meine, Sie sind heute Abend alleine hier, oder?«
James runzelte die Stirn, und Mary zwang sich, nicht einzuknicken. Dieses Auftreten war ganz und gar untypisch für sie, und dennoch fühlte es sich richtig an. Wann würde sie wieder so eine Gelegenheit bekommen? Der Mann würde kommenden Montag wieder auf der anderen Seite der Irischen See zur Arbeit gehen.
»Ja. So ist es.«
Mary wusste, dass sie den ersten Schritt machen musste. »Vielleicht sollten wir einen Versuch wagen.«
An der Rezeption hatte der Nachtportier Dienst, das sanfte Summen der Drehtüren wurde nur von seinem gelegentlichen Schnauben unterbrochen, wenn er einschlief. Beim Warten auf den Fahrstuhl legte James Mary eine Hand auf den Rücken. Als sich die Türen öffneten, erhöhte er leicht den Druck und führte sie hinein, so dass ihr Spiegelbild – sie lehnte nun mit dem Rücken an seiner Brust – von den Metallverkleidungen verzerrt wurde.
Langsam setzte sich der Aufzug in Bewegung, und Mary fragte sich, ob er sie an Ort und Stelle küssen würde, wie in einem Film oder diesen Berichten in der Cosmopolitan, wo Frauen fünfzig Tacken dafür bekommen, dass sie ihre kuriosen sexuellen Neigungen offenlegen. Aber nein. Mary hatte noch nie erlebt, dass Zurückhaltung so frustrierend sein konnte.
Er übernachtete in der fünften, der ›eleganten‹ Etage, wie sie sie nannte, mit den größeren Zimmern und der schicken Suite am Ende des Ganges. Die häufig für die Flitterwochen gebucht wird, dachte Mary und erschauderte. Kurz vor seiner Tür löste James den Arm von ihr und zog seine Zimmerkarte aus der Hemdtasche. Die Tür öffnete sich beim ersten Versuch, und er trat in die Dunkelheit, während die Lampen flackernd angingen.
Mary folgte ihm und drückte die Tür mit der Hüfte ins Schloss. Bevor sie weitergehen konnte, waren Jims Lippen schon auf ihrem Hals. Er küsste sie dort, fuhr mit der Hand unter ihren Rockbund, schob mit einer schnellen Bewegung ihr T-Shirt hoch und über den Kopf. James hakte den BH auf, und sie senkte die Arme, damit er zu Boden fallen konnte. Flüchtig überlegte Mary, dass sie irgendwie ihre Strumpfhose loswerden sollte, aber ehe sie darüber nachdenken konnte, wie das zu bewerkstelligen war – weil sich James’ Körper nun fest an sie drückte –, bückte er sich schon und zog sie ihr zu den Knöcheln hinunter, so dass sie die beiden Nylonwülste von den Füßen schütteln konnte. Er hob Mary hoch und trug sie zum Bett.
Sie sah James beim Ausziehen zu. Er blickte sie nicht direkt an, das machte es leichter, vermutete sie, weil sie nicht auf ihren Gesichtsausdruck achten oder sich fühlen musste wie bei der Bewertung eines preisträchtigen Zuchttiers. Das bedeutete allerdings nicht, dass sie nicht seine Figur wahrnahm, sein Brusthaar, das wenige Zentimeter unter seinem Schlüsselbein begann, die beiden Linien, die am Unterleib ein V formten.
Als er ins Bett kam, sich über Mary beugte, mit seinen schwieligen Fingern zart über ihre Brustwarzen streichelte, dann die Hände sanft über den oberen Rand ihrer Oberschenkel gleiten ließ – kam Mary der Gedanke, dass sie ihn vielleicht schon einmal gesehen hatte. Er hatte nicht gesagt, dass er zum ersten Mal in Belfast war. Könnte es sein, dass sie ihm im Hotel begegnet war? Oder in einer Bar in der Innenstadt?
Viel weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht. Mit seinem Kopf zwischen ihren Beinen, ihren Händen in seinem Haar und einem Kissen unter ihrem Po war zum Nachdenken kein Platz mehr.
Nachdem Mary gekommen war, zitterte sie am ganzen Körper, und als James seinen Kopf auf ihre Brust legte, das Ohr auf die gerötete Haut dort drückte, bebten die beiden gemeinsam wie die Doppelpropeller eines Zweimannflugzeugs.
Mary fuhr mit dem Finger über die Kerbe in seiner linken Augenbraue. Wie konnte ein Mensch nur so vertraut und gleichzeitig so völlig fremd sein?
Sie spürte bereits, wie sie sich verliebte.
Nach sieben Jahren im SuperShop kann Mary ihre Aufgaben im Schlaf erledigen. Morgens füllt sie Regale auf und muss auch (falls erforderlich) Produkte umräumen, und nachmittags setzt sie sich an die Kasse und scannt bis zum Ende ihrer Schicht die Einkäufe der Kunden. Aber heute gehen ihr die Aufgaben nicht so leicht wie sonst von der Hand.
Sie räumt gerade losen Kohl in die Regalkisten und bemerkt erst, dass sie voll sind, als mehrere Köpfe neben ihr auf dem Boden landen. Etwas später passiert ihr wieder ein Malheur, eine Frau hält ihr eine Minute lang die Kundenkarte hin – Mary bemerkt es nicht. Irgendwann hustet die Frau, und Mary wird zurück in die Gegenwart katapultiert, sie entschuldigt sich mehrfach, dennoch vermuten wohl etliche Menschen in der Schlange, dass mit ihr etwas nicht stimmt.
Die Filialleiterin Janet ruft Mary daraufhin unter dem Vorwand von der Kasse weg, sie brauche ihre Hilfe im Lager. Beim Stehen wankt Mary. Sie hat den Großteil des Tages ohne Schlaf und Nahrung hinter sich gebracht, dennoch herrscht in ihrem Kopf aufgeregtes Durcheinander. Immer wieder muss sie Gesprächsfetzen der letzten Nacht durchgehen, sich an jene warme Vertrautheit von Jims Stimme erinnern, aus der sie Schmerz herauszuhören meinte.
»Was ist los?«, zischt Janet, als sie eine ruhige Ecke bei den Kühltruhen gefunden haben.
Eine einsame Erbsenpackung liegt neben Marys Fuß. Sie stupst sie an und fummelt an ihrem Namensschild herum. Die auf dem Kopf stehenden Buchstaben Was kann ich für Sie tun? verschwimmen vor ihren Augen.
»Mary, komm schon, du musst mir sagen, was los ist. Ich will es dir doch nur leichter machen, aber du musst mir erzählen, was passiert ist. Sonst kann ich dir so schlecht …« Janet macht eine ausladende Handbewegung.
Mary weiß, was sie sagen will. Janet ist dafür verantwortlich, dass sie noch hier arbeiten kann, obwohl die Geschäftsleitung Marys Nachtschichten nicht guthieß. Anscheinend sollte sie die Marke SuperShop stets und ständig repräsentieren, während der Arbeitszeit und darüber hinaus. Sie hat nicht gewusst, dass Leute so viel Wert auf die Loyalität derjenigen legen, die ihre Lebensmittel einpacken.
»Ich weiß … Ich weiß«, murmelt Mary. »Er hat angerufen. Gestern Nacht.« Die Worte purzeln aus ihr heraus, und nun – wo sie zwischen ihr und Janet in der Luft hängen – fühlen sie sich erschreckend real an. Es ist genau das eingetreten, was sich Mary erhofft und erträumt hat, und dennoch kann sie den Gedanken nicht abschütteln, dass ihn etwas Schreckliches zu seinem Anruf getrieben haben muss. Der Gedanke daran, dass es ihm schlecht gehen könnte und sie nicht für ihn da ist, schnürt ihr die Kehle zusammen.
»Mary …«
Janet muss nicht fragen, von wem sie spricht. Es geht doch immer nur um ihn. Sie streicht sich eine Strähne leuchtend rotes Haar hinters Ohr. Im Augenblick ist Tönung im Angebot.
»Total seltsam, ich weiß. Die ganze Zeit über habe ich gar nichts von ihm gehört – kein Wort, keine Postkarte, keinen Brief –, und nun so etwas?« Mary blickt auf und sieht Janets kritischen Blick. »Ich weiß, dass du mich für verrückt hältst. Und vielleicht hast du recht. Ich habe die meiste Zeit über selbst das Gefühl, verrückt zu werden, aber nicht in dem Moment, als ich seine Stimme wieder hörte. Janet, ganz ehrlich, er war es. Das weiß ich. Er meinte, ich sei sein sicherer Hafen. Das hat Jim immer über mich gesagt.«
Marys Stimme bricht, und Janet nimmt sie in den Arm. Ebenso wie alle anderen weiß sie nichts Genaues über Jim – wo er hin ist, unter welchen Umständen er verschwunden ist –, aber jeder sieht, welchen Tribut das alles von Mary gefordert hat.
»Ich will nur wissen, dass es ihm gut geht und er in Sicherheit ist. Dass er nicht in Schwierigkeiten steckt oder … Was ist, wenn er mich braucht? Ich ertrage den Gedanken nicht …«
»Moment. Nun mal langsam. Eins nach dem anderen.«
Mary versucht, ein Schluchzen zu unterdrücken. »Wie kannst du dir so sicher sein, dass er es war? Hat er das gesagt?« Janet spricht nun leiser, als würde sie mit einem Kind reden, das gerade einen Nachtschreck hat und nur die beruhigende Stimme wahrnehmen kann.
»Es war seine Stimme. Und er meinte, er vermisst mich und hätte mich kontaktiert, weil ich immer für ihn da gewesen sei, dass ich diejenige war, die ihn nie aufgegeben hat.«
»Und das alles ist zu Hause passiert?«
»Nein, bei NightLine. Er muss also wissen, dass ich dort arbeite – oder es herausgefunden haben. Vielleicht wohnt er in der Nähe und hat mich dort gesehen oder … Ich weiß nicht, warum, aber ich bin mir sicher. Hier drin.« Mary schlägt sich so fest aufs Herz, dass Janet befürchtet, sie könnte einen blauen Fleck bekommen.
Sie nimmt Marys Hand fest zwischen ihre beiden Hände. »Alles ist gut.« Janet zieht ein zerknülltes Tempo aus der Tasche und reicht es Mary. »Süße, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mir war immer schon klar, dass man sich auf dein Urteilsvermögen verlassen kann, deswegen werde ich es auch jetzt nicht in Frage stellen. Wir reden morgen weiter darüber, aber im Augenblick halte ich es für das Beste, wenn du nach Hause gehst. Ich buche dich als krank aus – das ist kein Problem. Geh einfach nach Hause und leg die Beine hoch. Bleib heute Abend bitte daheim, ja?«
Mary ignoriert den letzten Satz und presst sich die Fingerknöchel unter die Augen, um die Tränen zurückzuhalten.
»Danke. Es tut mir leid.«
»Kein Problem – dafür sind Freunde doch da, oder?« Janet drückt Marys Schulter. »Ich muss wieder zurück. Du schleichst dich raus, und, ähm, kein Wort zu den anderen bitte. Ich will hier keinen Aufstand! Du hast Migräne, falls jemand fragt. Das ist eine fiese Krankheit.«
Mary versucht, so wenig Zeit wie möglich in ihrer Wohnung zu verbringen. Von der Größe her handelt es sich eher um eine Schlafstätte, mehr konnte sie sich für ihr Gehalt nicht leisten. Sie hat ein Wohnzimmer mit Kochnische, ein Schlafzimmer und ein Badezimmer mit der lautesten Lüftung der Welt. Die Wohnung reicht ihr vollkommen aus, weil sie ohnehin nicht viele Habseligkeiten besitzt, doch ab und zu schaut sie auf den grauen Teppich und die abblätternde Strukturtapete und fragt sich, wie sie mit vierzig allein hier gestrandet ist, wo doch mit dreißig alles noch so vielversprechend ausgesehen hatte.
Mary weiß, dass sie selbst schuld ist an ihrer Einsamkeit seit Jims Verschwinden. Mam ruft ab und zu mal an und erkundigt sich nach ihr, doch Mary antwortet stets ganz fröhlich und findet immer neue Ausflüchte, warum sie nicht zu Besuch kommen kann. Jeder ihrer drei jüngeren Brüder – zu keinem hat sie eine enge Beziehung – hat inzwischen eigene Kinder, und sogar das ehemalige Party-Girl Moira, ihre älteste Freundin aus Belfast, ist nun verheiratet und hat zwei Kinder unter drei Jahren. Eine gute Ausrede dafür, dass man sich aus den Augen verloren hat, aber im tiefsten Inneren weiß Mary, dass es nicht schaden würde, auch einmal auf Textnachrichten zu antworten.
In London hat Mary Bekannte – die Freiwilligen von NightLine, Janet –, aber es sind alles nur sehr lockere Verbindungen. Das bedeutet nicht, dass Mary nicht ab und zu mal eingeladen wird, aber sie sagt immer ab. Meistens sind es ohnehin Abendeinladungen, und da weiß jeder, dass sie am Bahnhof ist. Anfangs versuchten noch alle, sie zu überreden, mal einen Abend ausfallen zu lassen. Janet war besonders hartnäckig – sie wollte, dass Mary das Schild gar nicht mehr in die Hand nahm.
Anfangs fühlte Mary sich angegriffen. Für wen hielt Janet sich, Mary zu sagen, wie sie mit ihrem Verlust umgehen sollte? Doch mit der Zeit hatte sie verstanden, dass Janets Nachdruck ein Zeichen von Sorge war. Einmal hatte sie ihr fast die Gründe für ihr Wachestehen erklärt. In ihrem Kopf war immer schon alles klar gewesen, die Rahmenbedingungen ihrer Existenz in einer Welt ohne Jim an ihrer Seite: Weil ich etwas tun muss; weil ich versprochen habe, dass ich immer sein sicherer Hafen sein werde, egal, was auch passiert, weil Liebe ohne Geduld keine Liebe ist. Doch dann schnürte sich ihre Kehle zusammen, und sie murmelte die immer gleiche einstudierte Antwort, um die Frage abzuschmettern: Jeder hat sein Päckchen zu tragen.
Nun schlägt Mary die Vordertür zu, geht direkt ins Badezimmer und spritzt sich Wasser in das verquollene Gesicht. Als sie in den Spiegel blickt, erinnert fast nichts mehr an das Mädchen, nach dem sich die Leute freitags abends umschauten, dem Mädchen, das Jim erstarren ließ, sein Herz klaute und ihn auf einen ganz neuen Lebensweg schickte. Er hatte Mary von Anfang an als ›schön‹ bezeichnet. Aber es ist etwas anderes, jemandem so etwas zu sagen und es jemanden wirklich spüren zu lassen. Jedes Mal, wenn er den Haken an der Rückseite ihres Kleides verschloss, verharrten seine Hände noch ein wenig an Ort und Stelle; wenn er ihr eine verfilzte Haarsträhne am Hinterkopf herauskämmte, fühlte sie sich ein wenig wohler in ihrer Haut.
Der Gedanke daran, wie seine Hände über ihren Nacken strichen, genügt, und sie spürt ein schmerzhaftes Verlangen. Sie stolpert in den Flur, will sich ihre Tasche wieder schnappen, doch in der Eile wirft sie das wackelige Schränkchen um. Sein Inhalt ergießt sich auf den Boden, darunter auch, in einem von Jahren liebevoller Berührung abgegriffenen Schuhkarton, jede Nachricht, die Jim ihr jemals geschrieben hat.
Mary kniet sich hin. Jetzt ist so ziemlich der unpassendste Zeitpunkt, um in Erinnerungen zu schwelgen. Jim hat angerufen, und bis sie weiß, was das zu bedeuten hat, muss sie noch wachsamer sein. Sie sollte eigentlich längst am Bahnhof stehen, mit dem Schild in der Hand. Was ist, wenn er dort auftaucht und damit rechnet, dass Mary an den Ticketschaltern auf ihn wartet, so wie früher, am Ende einer langen Schicht? Diese Wahrscheinlichkeit ist gerade höher als jemals zuvor. Nicht auszudenken, dass sie nicht der erste Mensch ist, der ihn sieht und in den Arm nimmt.
Sie sammelt die Erinnerungsschnipsel zusammen, bei den meisten handelt es sich um Postkarten, die ihr aus den zitternden Händen rutschen. Jim brachte ihr von jedem Ort eine mit, egal, ob er im Vereinigten Königreich oder weiter weg war, er schrieb diese Karten nach seiner Rückkehr, während Mary noch döste, und stellte sie dann im Haus auf, wo sie sie entdeckte. Es gibt Postkarten vom Giant’s Causeway; von jeder Touristenattraktion in London; eine von einer Konferenz in Singapur und eine aus Washington. Sie dreht die Karte ganz oben auf dem Stapel um:
Ich habe die Copacabana gesehen! Den Zuckerhut! Und auch die Konferenzzentren (so dröge, wie sie sich anhören). Kurz, ich bin um die halbe Welt gereist und wäre dennoch nirgendwo lieber als bei Dir.
Für immer Dein,
Jim xxx