Sechzehn Pferde

Greg Buchanan

Sechzehn Pferde

Roman

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Greg Buchanan und Henning Ahrens

Greg Buchanan wurde 1989 geboren und lebt in den Scottish Borders, Großbritannien. Er studierte Englisch an der University of Cambridge und promovierte am King’s College London über Identifikation und Ethik. Er ist Absolvent des Creative Writing der University of East Anglia und hat sich in der Gaming-Community einen Namen als Drehbuchautor für Videospiele gemacht. »Sechzehn Pferde« ist sein erster Roman.

 

Henning Ahrens lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt am Main. Er veröffentlichte diverse Lyrikbände sowie die Romane »Lauf Jäger lauf«, »Langsamer Walzer«, »Tiertage« und »Glantz und Gloria«. Für S. Fischer übersetzte er Romane von Richard Powers, Kevin Powers, Khaled Hosseini. Zuletzt erschien sein Roman »Mitgift«.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Sechzehn Pferdeköpfe werden auf einer Farm des sterbenden englischen Küstenorts Ilmarsh entdeckt. Kreisförmig eingegraben in den Ackerboden, nur ein einziges Auge blickt in die rote Wintersonne. Die Veterinärforensikerin Dr.Cooper Allen wird zum Tatort gerufen. Früher wollten sie Tierleben retten, heute diagnostiziert sie ihren Tod. Dann entspinnt sich eine unvorhergesehene Kette weiterer Verbrechen. Durch die Kadaver in der Erde verbreitet sich eine Infektion, die Gemeinde wird unter Quarantäne gestellt. Die Außenseiterin soll mit dem örtlichen Polizisten Alec Nichols die schockierenden Fälle aufdecken. Doch was, wenn das Böse nicht nur im Boden lauert, sondern in den Menschen selbst? Etwas Böses, das Allen selbst immer tiefer in einen Strudel aus Schuld und Vergeltung hinabzieht?

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Sixteen Horses bei Mantle, an imprint of Pan Macmillan The Smithson, 6 Briset Street, London.

Copyright © Buchanan Productions Ltd 2021

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Die Zitate im Werk stammen aus Robert Frost, Innehaltend inmitten der Wälder an einem Schnee-Abend (1922), übersetzt von Paul Celan.

Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg

Coverabbildung: Lee Acaster/Getty Images

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491191-5

Allein im Dorf erst, drüben, steht sein Haus.

Der Schnee füllt ihm den Wald – steh ich und schau,

dann sieht er mich nicht, macht er mich nicht aus.

 

Mein kleiner Gaul, der findets wohl verquer:

kein Haus, kein Hof – und dahier hält sein Herr;

ein Teich, gefroren, und nur Wälder um uns her;

der Abend heut – im ganzen Jahr kein finsterer.

 

Das Zaumzeug schüttelt er – die Schelle spricht:

Ist das ein Mißverständnis – oder nicht?

Ich lausch und horch – ich hör sonst nichts;

doch, dies noch: leichten Wind, die Flocken, erdwärts, dicht.

 

Anheimelnd, dunkel, tief die Wälder, die ich traf.

Doch noch nicht eingelöst, was ich versprach.

Und Meilen, Meilen noch vorm Schlaf.

Und Meilen Wegs noch bis zum Schlaf.

 

Robert Frost

Kurz vor Sonnenaufgang standen Wolkenfetzen am Himmel, sie übersäten den Horizont als rostbraune Silhouetten. Die beiden waren allein unterwegs.

»Kondensstreifen«, hatte der Farmer zu Beginn ihres Fußmarsches gesagt. Davon abgesehen war er stumm geblieben.

Nun enthüllte der Schein ihrer Taschenlampen die Böschung eines flachen Grabens, der das dem Meer abgetrotzte Marschland durchzog. Im Schilf und auf den Uferböschungen regten sich Fliegen, Grillen und Rohrammern.

»Wo ist die Stelle?«, fragte Alec bibbernd. Es war fünf vor sieben. Er hatte seine Jacke im Polizeiwagen gelassen.

»Hier waren keine Schafe«, meinte der Farmer und überging die Frage. Er sprang über den Graben, glitt auf der steilen Böschung aus, fing sich aber wieder. »Sonst treiben sie sich gern hier rum.«

Alec betrachtete den Schlamm, und der Farmer grinste, wobei die wettergegerbten Wangen unter dem grau-weißen Bart zum Vorschein kamen. Mit dem dicken

»Nein.« Doch. »Ich hoffe mal, ich bin nicht umsonst hier. Und diese Fliegen …« Eine hatte es sich unterhalb des aufgekrempelten Ärmels zwischen den Haaren seines Unterarms gemütlich gemacht, und er wedelte sie hektisch weg. Er war ein gefundenes Fressen für die hiesige Fauna.

»Beim nächsten Mal sollten Sie besser nicht halb nackt rumlaufen«, meinte der Farmer.

Alec verzog den Mund. Er trat einen Schritt zurück, dann sprang er über den Graben. Er landete mit einem klatschenden Geräusch im dicken, zähen Schlamm, bespritzte seine schwarze Hose und die Jeans des Farmers.

Der sagte lächelnd: »Ts-ts-ts. Was man nicht alles tun muss, wie?«

Alec wollte den Schlamm von der Hose wischen, verschmierte ihn aber nur. Seine Hände wurden schmutzig.

Der Farmer ging weiter.

Er wies auf einen halb leeren, etwa siebzig Meter entfernten großen Wassertank aus durchsichtigem, nun verdrecktem Plastik. Eine Schliere markierte den Wasserstand wie ein schiefes Lächeln. »Wir haben sie in der Nähe des Tanks entdeckt.« Sein Gesicht fiel in sich zusammen.

Bald ginge die Sonne auf.

Sie wanderten weiter. In der Stille surrten Fliegen, irgendwo weiter draußen blökten Schafe im Halbdunkel.

»Jean zieht weg«, sagte der Farmer. »Schon gehört?«

»Wer?«

»Jean, sie wohnt den Weg hinunter«, erklärte der Farmer stirnrunzelnd. »Sie zieht weg, verkauft ihre Farm.«

»Ah, ja, Jean …« Alec verstummte kurz. »Ich habe das Schild gesehen.« Er war unterwegs daran vorbeigekommen. Die Farm war bestimmt doppelt so groß wie diese, und Vieh und Land waren in deutlich besserem Zustand. Der Name war ihm trotzdem nicht geläufig. Er kannte hier noch immer kaum jemanden. Vermutlich sollte ihm auch mit dieser Information unter die Nase gerieben werden, dass er ein Fremder war.

»Sie will zu ihrer Familie ziehen. Behauptet sie jedenfalls.«

»Ich glaube, ich habe sie gelegentlich in der Stadt gesehen«, sagte Alec. Sie hatten den Wassertank fast erreicht. »Sind das die Leute, die diese Schnecken machen? Sie mischen Wurstfleisch in eine Art Zimtschnecke. Köstlich. Haben Sie mal gekostet?«

Er schlug wieder nach einer Fliege, nun auf seinem Gesicht.

»Nein«, antwortete der Farmer. »Ich bin Vegetarier.«

»Ach, ja? Meine Frau hat es vor Jahren versucht, aber …«

»War nur ein Witz«, sagte der Farmer, und das Gespräch erstarb.

***

Knapp zwanzig Meter weiter wich die Brache einem frisch bestellten Acker, dessen dunkle Erde stellenweise aufgeworfen war. Man versank bei jedem Schritt im nassen Schlamm.

Die Grenze des Landes wurde in der Ferne von einem Drahtzaun markiert, der an den Stellen, wo sich Schafe gerieben hatten, mit schimmernden Wollbüscheln geschmückt war.

Jetzt waren keine Schafe zu sehen. Es war eine Einöde.

»Ich weiß wirklich nicht, was wir hier …«

»Dort«, unterbrach ihn der Farmer. »Im Boden.«

Alec senkte seinen Blick. Anfangs sah er nur Erde.

»Ich kann nichts …«

Er verstummte, und im nächsten Moment wurden sie von einer Windbö gestreift. Auf dem Boden schien sich etwas zu bewegen.

Er ging ein paar Schritte weiter und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf die Stelle. Einen Meter vor ihm türmten sich schwarze Haare in dicken, seidigen Wirbeln, schlammig wie der Boden.

Alec trat näher und ging in die Hocke. Er wischte die Hände an der Hose ab und holte ein Paar Latexhandschuhe aus der Tasche. Er wollte sie schnell überstreifen, doch seine Finger – kalt und klamm nach dem Fußmarsch –

Schließlich hob er ein Haarbüschel an, das sich erstaunlich schwer und zottelig anfühlte. Er hielt es noch höher, fuhr mit den Fingern der anderen Hand durch die Strähnen, befühlte sie.

Alec legte die Haare behutsam ab. Die Sonne stieg immer höher. Da war noch etwas.

Etwas Schwarzes, glänzend wie Plastik und mit einem schmutzig weißen, halbmondförmigen Rand. Es sah an ihm vorbei.

Es war ein Auge, ein großes, bekümmertes Auge im Boden.

Alec richtete sich auf und wich zurück.

»Meine Tochter hat sie entdeckt«, sagte der Farmer. »Sie hätte gar nicht hier sein dürfen …«

Alec ließ den Taschenlampenstrahl über den Boden gleiten. Es gab weitere – manche dicht beieinander, andere abgesondert. Er suchte einen Umkreis von dreißig Metern ab, bis er die Gewissheit hatte, alle gefunden zu haben.

Alec zählte sechzehn Köpfe, auf der Seite liegend und fast vollständig eingegraben. Nur ein Auge lag frei, und bei einem Kopf konnte man ein Stück des Halses erkennen. Schwer zu sagen, ob die Reste der Kadaver sich auch an dieser Stelle befanden.

Ringsherum war alles voller Fußabdrücke: Seine eigenen, die des Farmers, zweifellos auch von dessen Tochter.

Alec sah ruckartig auf, er spürte, wie ihm Säure in die Kehle stieg. Der Himmel wurde zusehends heller, das Rot breitete sich aus wie Feuer, die Wolken nahmen eine bläuliche Färbung an. Im Schilf zirpten und summten immer noch Fliegen und Grillen, aber kein Insekt ließ sich auf den toten Augen nieder. Sie schienen unantastbar zu sein.

In einer halben Meile Entfernung war ein Haus am Horizont zu erkennen.

»Wer wohnt dort?«, fragte Alec.

»Niemand.«

Er starrte das Haus an. Es wirkte einsam.

»Haben Sie so was schon mal gesehen?«, fragte er. »Das ist …«

Grotesk.

Wunderschön.

»Nein. Sie etwa?«

Alec schüttelte den Kopf, trat noch weiter zurück, betrachtete abermals die Haare. Eindeutig Schweife, wie er jetzt begriff.

»Das ist doch Mord«, sagte der Farmer, nun leiser. »Schauen Sie nur. Schauen Sie doch mal.«

Es handelte sich genau genommen um Sachbeschädigung, um ein Eigentumsdelikt.

Mit allem, was nicht als Mensch galt, konnte man nach Belieben verfahren.

Alec blickte wieder zu dem Haus, das dunkel und abweisend in der Ferne stand.

Der Farmer rang sich ein Lächeln ab. »Abgesehen von meiner Frau, meinen Sie? Nein, nein, ich komme mit den Leuten klar. War immer so.« Er schwieg kurz. »Und was nun?«

»Wir sollten einen Tierarzt rufen«, antwortete Alec. »Wir müssen sie obduzieren lassen. Wir rühren sie besser nicht an, bevor wir nicht mehr wissen.«

»Das kann ich mir finanziell nicht leisten«, meinte der Farmer.

»Sie müssen das nicht …«

»Und außerdem«, fuhr der Farmer fort, »hat sie jemand hier vergraben, stimmt’s? Pferde buddeln sich wohl kaum selbst ein.«

»Und der schlammige Boden? Wenn dies früher Meeresgrund war, dann sind sie vielleicht … Tja, ich weiß auch nicht, aber vielleicht sind sie im Boden versunken.«

»Nein«, entgegnete der Farmer entschieden und ohne sich weiter zu erklären.

Alec betrachtete wieder die Augen. Sie waren reglos, aber davon abgesehen hätten sie auch lebendig sein können.

Er holte sein Handy heraus, um zu fotografieren. Das musste reichen, bis Unterstützung käme. »Sie müssen dringend auf Ihre anderen Tiere achten«, sagte Alec. »Vielleicht können Sie sie im Stall unterbringen.«

»Und der Halter?«, fragte der Farmer.

»Welcher Halter?«

Alec betrachtete erneut die Köpfe und sah dann den Farmer an. »Diese Pferde waren also nur bei Ihnen untergebracht?« Er schwieg kurz. »Dann müssen wir mit den Haltern Kontakt …«

»Nein«, fauchte der Farmer. »Nein, nein, nein.«

»Schon gut«, sagte Alec und trat näher, worauf der Farmer zurückwich. »Ihre Versicherung deckt bestimmt alles ab.«

»Sie begreifen nicht. Ich halte keine Pferde – ich habe nie Pferde auf meiner Farm gehabt. Das habe ich der jungen Frau schon am Telefon klarzumachen versucht.«

Eine Fliege landete neben seinem Auge.

»Ich habe diese Pferde noch nie gesehen.«

Ein Toter sitzt in einem Raum. Er ist nicht umgekippt, weil seine Hände hinter dem Rücken gefesselt sind. Die Luft ist von Staub und Gasen gesättigt. Sein rechtes Auge ist nur noch eine leere Höhle. Irgendetwas regt sich in seinem Magen.

Der Hunger hat ihn überlebt. Seine Eingeweide brodeln, sein Mikrobiom, erhitzt durch Bakterien und symbiotische Flüssigkeiten. Das Leben, das dem Toten noch innewohnt, konsumiert und atmet weiter, bis alles erstickt. Er verdaut sich selbst.

Es stinkt nach ranzigem Schweinefleisch und Zucker. Es ist ein abartiger Gestank nach Essen. Es stinkt, wie es auf Erden schlimmer nicht stinken kann.

Ein Toter sitzt in einem Raum, aber er ist nicht allein.

Zwei Detectives schauen zu, während man etwas von der Leiche entfernt. Etwas, das nicht zu dem Opfer, ja nicht einmal zu einem Menschen gehört.

Drei weiße Katzenhaare, die im Blut entdeckt wurden.

Cooper presst sich die Maske fester aufs Gesicht. Der Gestank ist widerlich, aber sie lässt sich nicht aus dem Konzept bringen. Sie wird nicht zum Fenster rennen und

Es ist die erste Leiche, die Cooper je gesehen hat, aber das ist ihr nicht anzumerken.

Sie konzentriert sich auf die Katzenhaare und blendet alles andere aus. Sie darf jetzt keine Gefühle zeigen.

Durch diese Katzenhaare wird der Fall aufgeklärt. Mit ihrer Hilfe wird man jemanden identifizieren, den bislang niemand zu identifizieren vermochte.

***

»Warum sitzen wir hier?«, wollte die Therapeutin wissen.

In dem kleinen, weißen, von Neonröhren erhellten Raum gab es keine Uhr, doch Cooper trug eine schwarze SmartWatch am linken Handgelenk. Sie musste täglich aufgeladen werden. Sie war klobig. Sie hatte einen roten Rand. Sie war so umständlich und nervig zu handhaben, dass sie das Geld im Grunde nicht wert war.

Cooper konnte schwerlich auf ihre Uhr schauen, ohne dass man ihr unterstellte, sie sei nicht bei der Sache. Die Therapeutin legte alles zu ihrem Nachteil aus. Sie war gnadenlos.

»Warum sitzen wir hier, Cooper? Überlegen wir noch einmal, warum wir hier sitzen.«

Cooper verengte die Augen.

»Wollen Sie, dass ich erkläre, was ich fühle?« Sie setzte sich aufrechter hin. »Das tue ich ja schon.«

»Ich möchte auf etwas zurückkommen, das Sie

»Damals befand ich mich am Ort eines Mordes«, erwiderte Cooper verärgert. »Ich hatte zum ersten Mal mit einem Mordopfer zu tun. Was hätte ich denn tun sollen? Heulen?«

Die Therapeutin starrte sie an. Sie war ganz anders als Coopers letzte Therapeutin, eine warmherzige Frau, die große, grüne Pullover geliebt und Empathie, Sympathie und noch viel mehr besessen hatte.

Diese Frau hingegen hatte einen kalten Blick.

»Ich war damals fünfundzwanzig. Ich entfernte die Katzenhaare, ich untersuchte den Toten, und draußen habe ich mich dann ins Gras erbrochen.« Cooper neigte sich etwas vor. »Ich habe gute Arbeit gemacht.«

»Glauben Sie, Sie waren darauf vorbereitet?«

»Aber sicher. Man hätte mich nicht mit dem Job betraut, wenn ich nicht vorbereitet gewesen wäre.«

»Sie sind keine Polizistin. Sie gehören nicht zur Spurensicherung. Sie sind …«

»Ich war bestens vorbereitet«, unterbrach Cooper sie. »Ich bin Profi, ob Sie es glauben oder nicht.«

»Sie sind Tierärztin.«

Cooper wandte den Blick ab. Eine Weile herrschte Schweigen, weshalb sie wieder auf die Uhr sah.

14:18 Uhr.

14:19 Uhr.

»Die Katzenhaare, die wir auf dem Bein des Mordopfers entdeckt haben, stammten von einem Freund seines

Die Therapeutin schwieg, und sie verkrampfte sich.

»Sie scheinen immer noch nicht zu begreifen, wieso ich …«

»Warum haben Sie sich auf den Geruch fixiert? Das würde mich wirklich interessieren.«

»Kennen Sie den Gestank einer Leiche?«

Die Therapeutin schüttelte den Kopf.

»Er lässt keinen Raum für andere Gedanken.« Cooper griff nach der Flasche, die neben ihr stand, und trank einen Schluck Wasser. »Ein Teil von uns lebt nach dem Tod weiter, stimmt schon, aber ganz sicher keine Seele oder Ähnliches. Nur unsere Gedärme.«

»Sie haben gesagt, wir fressen uns selbst.«

»So ist es ja auch. Die Bakterien, die wir in uns tragen, zersetzen alles.«

»Dann fressen wir uns genau genommen nicht selbst

»Wir bestehen zu sechzig Prozent aus Wasser. Unser Körper bietet Raum für alles Mögliche.«

Cooper setzte sich aufrecht hin, sah erneut auf ihre Uhr. 14:23 Uhr. Die Therapeutin studierte ihre Notizen.

»Warum wollten Sie Tierärztin werden?«, fragte sie.

Cooper sah sie an.

»Warum diese Berufswahl?«

»Ich wollte Tieren helfen.«

»Ja.«

»Ist das die ganze Wahrheit?«

Kurzes Schweigen.

»Wenn Sie Tieren helfen wollten«, fuhr die Therapeutin fort, »dann würden Sie Tieren helfen. Stattdessen tun Sie etwas anderes, wenn ich es richtig sehe.«

Cooper nickte.

»Warum?«

»Weil ich keine Lust hatte, bei der Arbeit höflich tun zu müssen.«

»Wem gegenüber wollten Sie nicht höflich tun?«

»Wem gegenüber?«

»Cooper …« Die Therapeutin seufzte.

»Allen gegenüber.«

»Wie meinen Sie das?«

»Die meisten Menschen verschwenden keinen Gedanken daran, dass sie irgendwann sterben. Das meine ich.«

»Und Sie wissen, was die meisten Menschen denken?«

»Ja«, antwortete Cooper. »Sie doch auch. Das ist Ihr Job.« Sie schnaubte. »Glauben Sie allen Ernstes, die Leute würden kapieren, was es heißt, zu sterben? Wenn man das Thema anschneidet, sieht man ihnen an, was in ihnen vorgeht. ›Ach, über den Tod mache ich mir keine Gedanken, alles halb so wild, vorausgesetzt, ich habe keine Schmerzen, und wenn ich erst mal tot bin, spüre ich sowieso nichts mehr, wo also ist das Problem?‹«

»Und was ist das Problem?«

»Das Problem besteht darin, dass man es nicht weiß«,

»Andere leben aber weiter«, entgegnete die Therapeutin.

»Ja und?«

Wieder Schweigen. Cooper verkniff sich den Blick auf die Uhr. »Ich habe Veterinärmedizin studiert, weil mir damals nichts Besseres eingefallen ist.«

»Und heute?«

»Heute bin ich einunddreißig und habe seit Jahren kein krankes Tier mehr behandelt.«

»Und wie finden Sie das?«

»Das ist mir gleichgültig.«

»Bereuen Sie etwas?«

»Nein.«

Die Therapeutin notierte etwas. »Fahren Sie fort.«

»Ich mag meinen Job.«

Die Therapeutin legte den Notizblock auf den Tisch. »Ihre Sitzhaltung – und die Art, wie Sie es sagen – verraten mir, dass es Ihnen nicht leichtfällt, sich zu Ihrem Job zu bekennen. Ich finde das interessant.«

»Prima, dass Sie Ihren Spaß haben.«

»Cooper …«

Draußen war das Licht schwächer geworden.

»Wir können nicht zusammenarbeiten, wenn Sie nicht dazu bereit sind«, sagte die Therapeutin.

»Das haben Sie bereits erwähnt.«

»Dann wiederhole ich mich halt.«

»Ich dachte, Sie befürchten, Ihr Leben zu vergeuden, Cooper. Nun habe ich den Eindruck, dass genau das Ihre Absicht ist.«

»Ja, scheint so, nicht wahr?«

Die Therapeutin zögerte kurz, bevor sie weitersprach. »Erzählen Sie mir von …«

»Wussten Sie, dass die Suizidrate bei Veterinärmedizinern viermal höher ist als der Durchschnitt?« Sie legte eine Pause ein. »Und diese Statistik ist nicht neu – so ist es seit langem.«

»Woran liegt das Ihrer Meinung nach?«

»Wir wissen, wie man Leiden beendet.«

Sie betrachteten einander stumm, weder besonders wütend noch besonders freundlich, aber Coopers Atem ging schneller, als ihr lieb war.

Schließlich ergriff die Therapeutin das Wort.

»Warum sitzen wir hier, Cooper?« Und nach einer Pause: »Diese Frage habe ich Ihnen schon vor zwanzig Minuten gestellt – warum sitzen wir hier?«

»Das habe ich beantwortet.«

»Nein, das haben Sie nicht. Ich möchte den wahren Grund hören. Nicht, was Sie sich einreden. Nicht diesen …«

Cooper starrte sie an.

»Ich bestehe darauf, dass Sie es aussprechen.«

Die Therapeutin seufzte. »Ich frage noch einmal, und ich möchte, dass Sie ehrlich sind.«

Sie blieb stumm.

»Warum sitzen wir hier, Cooper?«

Im Flur regte sich etwas. Sie sah auf die Uhr. 14:38 Uhr. Die Zeit wurde knapp.

Sie blickte auf, mit müden Augen, noch immer angespannt.

»Wegen der Pferde«, sagte Cooper. »Wir sitzen hier wegen der Pferde.«

»Schon wieder.«

Auf der Straße war kein anderes Auto unterwegs.

»Und es war nicht das letzte Mal, oder?«

Der Fahrer blieb stumm.

»Nun sag schon.«

Der Himmel vor ihnen wurde von einem Feuerwerk erhellt.

»Was wärst du lieber? Unbedacht oder grausam?«

Ilmarsh