Francesca Reece
Ein französischer Sommer
Roman
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller und Tobias Schnettler
FISCHER E-Books
Francesca Reece, 1991 in Wales geboren, studierte Französische und Englische Literatur am King’s College in London und an der Sorbonne. Seit fünf Jahren lebt sie in Paris, hat jede Menge unterschiedliche Jobs und schreibt. 2019 erhielt sie den Desperate Literature Prize für ihre Kurzgeschichte »So Long Sarajevo/They Miss You So Badly«. »Ein französischer Sommer« ist ihr erster Roman.
Juliane Gräbener-Müller, Jahrgang 1956, übersetzt seit vierzig Jahren Romane und Sachbücher aus dem Englischen und Französischen, u.a. von Louise Erdrich, Elif Shafak, Ian Rankin, Neal T. Stephenson, Frédéric Beigbeder und Tecia Werbowski. Für die Übertragung von Stephensons Roman »Anathem« wurde sie zusammen mit ihrem Mitübersetzer Nikolaus Stingl mit dem Kurd Laßwitz-Preis ausgezeichnet. Juliane Gräbener-Müller lebt und arbeitet in Bammental bei Heidelberg.
Tobias Schnettler wurde 1976 in Hagen geboren und studierte Amerikanistik. Er arbeitet als Übersetzer in Frankfurt am Main und hat zuletzt unter anderem Bücher von Nell Zink, Andrew Sean Greer und John Ironmonger übersetzt.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Als Assistentin des berühmten Schriftstellers Michael verbringt Leah den Sommer in einer Villa an der Küste von Südfrankreich. Dort soll sie die Tagebücher seiner Jugendjahre ordnen. Malerische Morgenstunden am Strand, Wein, gutes Essen, kultivierte Gespräche. Leah genießt den unbeschwerten Rhythmus des bourgeoisen Lebens und die illustre Gesellschaft in der Sommervilla. Doch Michaels Tagebücher von seinen Ausschweifungen im Soho der 60er und dem krisengeschüttelten Athen der 70er Jahre offenbaren immer dunklere Seiten des Schriftstellers, und bald stößt Leah auf ein Geheimnis, das eng mit ihr selbst verwoben ist.
»Der Roman, der in diesem literarischen Sommer den Ton angibt«Sunday Times
»Sinnlich und spannend. Der perfekte Sommerroman!« Stylist Magazine
»Umwerfend geistreich und unmöglich aus der Hand zu legen« Francine Toon
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Voyeur« bei Tinder Press, London.
Copyright © 2021 Francesca Reece
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Simone Andjelković
Coverabbildung: 83 Oranges
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491352-0
Für meine Mutter, und für Jess
Wir könnten vereinfachend sagen: Männer handeln und Frauen treten auf. Männer sehen Frauen an. Frauen beobachten sich selbst als diejenigen, die angesehen werden. Dieser Mechanismus bestimmt nicht nur die meisten Beziehungen zwischen Männern und Frauen, sondern auch die Beziehung von Frauen zu sich selbst. Der Prüfer der Frau in ihr selbst ist männlich – das Geprüfte weiblich. Somit verwandelt sie sich selbst in ein Objekt, ganz besonders in ein Objekt zum Anschauen – in einen »Anblick«.
John Berger, Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt
Seine Porträts von mir sind ohnehin alles Lügen. Es sind allesamt Picassos, kein einziges davon ist Dora Maar.
Dora Maar
Ja, manchmal ist das Leben eintönig und alltäglich, wie heute, da ich diese Seiten schreibe, um Fluchtlinien zu finden und zu entweichen, durch Breschen in der Zeit.
Patrick Modiano, Gräser der Nacht
Sie war sich schmerzlich bewusst, dass es ihr mit fast Mitte zwanzig nicht gelungen war, sich ein koordiniertes Leben aufzubauen.
Muriel Rukeyser, Savage Coast
Meine Verbindung zu Michael begann mit einer Anzeige im FUSAC, dem monatlich erscheinenden Stadtmagazin, das dem größten Teil der anglophonen Bevölkerung von Paris bekannt (und verhasst) war. Der Header (in einem blasierten, paternalistischen Blau gehalten) war ein Symbol für Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und ganz allgemein eine Sackgasse des Unglücks. Das Heft bot ein immer wiederkehrendes Raster aus winzigen Wohnungen, die man niemals bekommen würde, und den immer gleichen drei Stellenangeboten in Endlosschleife: Englisch sprechender Babysitter; Kellnerin in einem »Café im Diner-Stil« oder der allgegenwärtige »Geschäftsführer einer australischen Bar, der Lust hat, Teil eines jungen, verrückten Teams zu werden!« FUSAC war der argwöhnische Vermieter, der einem als Expat eine geringere Miete anbot, wenn man sich zufällig mit Reflexzonenmassage auskannte. Es war der jüngste Sohn eines texanischen Geschäftsmanns, im Stil eines Bohemiens und mit fettigen Haaren, der nach Europa gekommen war, um sein Fanmagazin über John Cassavetes herauszubringen und nun für (unbezahlte) Beiträge warb. FUSAC war ein seltsamer Zombie aus der prädigitalen Ära und einer der Grundpfeiler der Gig Economy.
Es war die Zeit, in der ich mir angewöhnt hatte, lange, ziellose Spaziergänge durch die Stadt zu machen. Immer wieder ging ich an dieselben Orte zurück – meine Füße trugen mich mechanisch dorthin –, Orte, an denen ich schon mal gewesen war, als ich mich noch nicht so unglaublich nutzlos gefühlt hatte. Sie existierten in einer bestimmten Konstellation rund um Paris, Anker, die sich durch Zeitschichten bohrten und die die Macht hatten, mich wieder mit verschiedenen Orientierungspunkten in meiner Erinnerung zu verbinden. Sie waren ein Beweis dafür, dass Zeit kein schreckenerregendes lineares und kinetisches Biest war, das in einer unaufhaltsamen Flugbahn an mir vorbeirauschte. Ich war seit drei Jahren aus der Universität raus und hangelte mich so durch. Es kam mir vor, als hätte ich den Höhepunkt bereits erreicht; als wäre meine vielversprechende Jugend eine Anomalie gewesen – oder hätte mich zumindest nur auf eine trügerische Weise ermutigt, weil sie sich in der Provinz abgespielt hatte (bei all meiner Selbstverachtung war ich auch noch ein Snob).
Montagmorgens verließ ich das Haus etwa zu der Zeit, in der die echten Leute zur Arbeit gingen. Im Aufzug teilten wir uns von ganz oben bis nach unten eine Zeitblase. In der Regel handelte es sich um Männer in schicken Anzügen und foulards mit teuren Aktentaschen, für gewöhnlich attraktiv, aber fast ausnahmslos niedergeschlagen, mit dicken Tränensäcken unter den Augen. Aus dem Lautsprecher tönten Bruchstücke eines Streichquartetts (dieselben drei Phrasen in einer Schleife, Phrasen, die sich Jahre später auf unerklärliche Weise in meinen Gedanken wiederfanden und die ich den ganzen Tag summte, ehe mir klarwurde, wann sie sich dort eingenistet hatten). Wir grüßten einander mit einem Nicken oder einem knappen Lächeln, und manchmal machte ich einen Anlauf zum Smalltalk: Fait froid aujourd’hui oder J’ai toujours cet air dans ma tête! Ich fragte mich, was sie wohl von mir hielten. Ob sie dachten, ich sei noch Studentin, ob durch mich bei ihnen eine Wehmut erweckt wurde, die mit verlotterter Jugend zu tun hatte oder ob sie sich lediglich fragten, wie jemand so Schlampiges es in ihr Gebäude hatte schaffen können. An der Eingangstür boten wir einander ein flüchtiges bonne journée und kehrten dann eilig dem jeweils anderen Leben den Rücken zu, während wir unser Dasein weiterhin in gegenseitiger bewusster Ignoranz fristeten.
Die Straßen waren voll mit weiteren echten Leuten. Ich pflügte zwischen ihnen hindurch, als hätte auch ich Termine und ein greifbares Ziel, über die Buttes und nach Süden Richtung Abbesses, die Rue des Martyrs hinunter und dann in einem Schwenk nach Osten ins 10., ohne einen bestimmten Plan oder speziellen Gedanken im Kopf, nur mit dem schwachen Impuls, weiterzugehen, auf eine Art zentralen Punkt hin – zur Seine mit ihrer Anziehungskraft. An jenem konkreten Montagmorgen schlafwandelte ich über den Pont des Arts und nach Saint Germain-des-Prés. Auf dem Boulevard überkam mich dieser angenehme Hauch von Nostalgie, der zum Zweck meiner Fußmärsche geworden war. Hier, gegenüber den flaschengrünen Markisen des Les Deux Magots mit den bunten Touristenscharen, konnte ich wieder Studentin sein. Angetrieben von dem unbeschwerten Mangel an jeglicher Verantwortung ging ich die Rue des Saints- Pères hinunter und in ein Café, in dem junge Männer in blauen Hemden und roten Chinos mit herrlich strubbeligem Haar und makelloser Kieferpartie über die Europäische Union und Praktika in New York redeten.
Die Hände in den Manteltaschen hatte ich mich ins Café hineingestohlen, wie ein überzähliger ungeladener Gast, der um eine Dinnerparty herumschlich. Das Licht war grau an diesem Morgen. Die Seine war grau gewesen, die imposanten Gebäude der Sciences Po, die den Straßenraum in der Mitte zerschnitten, waren grau gewesen. Die einzige Farbe in dem Café, einmal abgesehen von dem Streifen gedämpften Neons entlang der Theke, war das charakteristische Blau der FUSACs, die in einem Stapel neben der Tür lagen. Ich ließ ein Exemplar zwischen die Zettel in meiner Tasche gleiten und suchte mir einen Platz in einer Ecke. Ich schlug die erste Seite mit den Annonces d’emploi auf. Ein trüber Nebel aus immer und immer denselben Wörtern: Babysitting, Business Englisch, Empfangsmitarbeiterin im Hostel. Dann blieb mein Blick ganz plötzlich an einer Unstimmigkeit mitten auf der Seite hängen – Blockbuchstaben wie aus der SMS, die eine Oma getippt hatte: AUTOR SUCHT ASSISTENT/IN.
»Mademoiselle!«
»Je prends un p’tit café, s’il vous plaît«, murmelte ich automatisch.
AUTOR SUCHT ASSISTENT/IN ZUR UNTERSTÜTZUNG BEI
ARCHIVARBEIT/RECHERCHE FÜR NEUEN ROMAN.
Mit einem shakespearischen oder klassischen Namen
brauchen Sie sich nicht zu bewerben.
PARIS UND SÜDEN. TEILZEIT. MICHAEL: 01.14.24.60.86.
Mehrmals las ich die Anzeige durch und spürte den Kloß, der sich immer dann in meiner Kehle bildete, wenn ich etwas mit Potenzial vor mir hatte. Ich begann mir schwache Argumente gegen einen Anruf unter dieser Nummer auszudenken. Was bedeutete »und Süden«? Von wann war diese Ausgabe überhaupt? So was hatte sich doch bestimmt schon jemand anderes unter den Nagel gerissen. Dann schwang sich mein Hirn, seiner Neigung entsprechend, auf einen Strom guter Omen ein: 24 war meine Glückszahl; 86 war das Jahr, in dem meine Eltern geheiratet hatten; Michael hatte der Mann geheißen, der mir im Alter von dreizehn Jahren eine Zahnspange verpasst hatte – und seitdem waren meine Zähne weitgehend in Ordnung gewesen. Es war ein angenehm klingender Name. Auf Papier sahen das A und das E nebeneinander gut aus, wie die Wölbung einer kleinen Unebenheit im Asphalt. Andererseits, wenn »Michael« in irgendeiner Form seriös war, warum hatte er sich dann für eine Anzeige in einem chronisch ätzenden Stadtmagazin entschieden? Verlegen kreiste ich um die Zeilen, genoss den filmreifen Touch der ganzen Aktion und stopfte das Heft dann wieder in meine Tasche, wo das Ausbleiben einer echten Aktion unsichtbar blieb.
»Es ist einfach so, Schätzchen, dass ich das Gefühl habe, ein besonderer Mensch zu sein.«
Ich nickte in ernstgemeinter Zustimmung.
»Ich bin einfach so offen. Manchmal komme ich mir vor wie eine leere Seite in einem Notizbuch; ich warte nur darauf, dass die Welt ihre Ideen auf mich schreibt, damit ich sie besser machen kann.« Romain spielte zwischen Zeigefinger und Daumen mit der silbernen Kette um seinen Hals, während er sich mit der freien Hand einen Löffel voll grell rosarotem Granatapfel in den Mund schaufelte. »Weißt du, was ich meine?«, fragte er mit Nachdruck.
»Absolut«, sagte ich, ohne einen Schimmer zu haben, wovon er sprach. Er schürzte die Lippen und legte mir eine seiner sorgsam gepflegten Hände aufs Knie. Seine Muskeln spannten sich unter dem tiefen V-Ausschnitt seines T-Shirts. »Deshalb bist du ja auch die perfekte Englischlehrerin für mich.«
Ich blickte auf die Übungen hinunter, die ich am Abend zuvor akribisch für ihn zusammengestellt hatte, und verspürte ein flüchtiges Schuldgefühl, weil er so wenig Englisch mit mir gelernt hatte und außer Schlagwörtern wie le marketing und un selfie das einzige Englisch, das ihm in den ganzen zwei Stunden, die wir heute zusammen verbracht hatten, über die Lippen gekommen war, in »Ariana Grande ist sexy Tänzerin« bestanden hatte.
Romain war einer der drei Jobs, die mich während dem, was ich diese seltsame Zeit der Schwebe in meinem Leben nannte, über Wasser hielten. Er war ein weniger bekannter Promi-Fitnessguru, den ich um fünf Uhr morgens, die Pupillen in seinen schönen leeren Augen zu großen schwarzen Tümpeln erweitert, beim Warten in einer Schlange vor der Toilette kennengelernt hatte.
»T’as un accent«, hatte er gesagt, während er meine Hände gepackt und vor Freude einen Lippentriller von sich gegeben hatte. Ich hatte – in einem ähnlichen Zustand – vor Zufriedenheit gestrahlt und mich mit hochgereckten Händen darüber ausgelassen, wie nett Menschen waren, wie großartig die Musik und wie aufregend berührungsfreundlich seine Lederhose war.
»Anglaise«, hatte ich geseufzt, während meine Schultern gegen den spürbar pulsierenden Beat andrängten und ich meine Augen in Ekstase geschlossen hielt.
»Mais c’est trop bien!« Wieder griff er nach meinen Händen. »Ich suche eine Englischlehrerin.« (Eine Pause, um sich auf die Lippen zu beißen.) »Ich spüre, dass wir eine echte Verbindung haben.« Zu diesem Zeitpunkt in der Nacht spürte ich zu allen dort eine echte Verbindung – wir alle zusammengeschweißt durch denselben göttlichen Strahl vollkommener menschlicher Energie.
Er hatte mir sein Handy in die Hand gedrückt, dessen Display, so schien es mir damals, flimmernd vor meinen Augen hüpfte. Beim dritten Versuch hatte ich es geschafft, meine Nummer einzutippen, und mein Schicksal war besiegelt. Unser Stundenplan gestaltete sich unregelmäßig. Es gab Wochen, da versuchte Romain, mich zu mehreren vierstündigen Unterrichtseinheiten mit ihm im Starbucks an der Métrostation Saint-Paul zu überreden; dann wieder hörte ich wochenlang nichts, und dann plötzlich ein nicht enden wollender Ansturm manischer Nachrichten (oft um drei Uhr morgens), in denen er darauf bestand, dass wir uns wirklich sehen mussten und dass er wirklich in vierzehn Tagen fließend Englisch können musste und dass wirklich seine Karriere davon abhing. Unser »Unterricht« lief in der Regel darauf hinaus, dass ich Nachrichten auf seinem Grindr-Account übersetzte, mir YouTube-Videos von seinen Trainingseinheiten anschaute oder seinen spirituell angehauchten, ausschweifenden Monologen lauschte, von denen er gerade wieder einen begann.
Außer mit Romain wurschtelte ich mich so durch mit einem Job in einem Szenecafé und einem weiteren, bei dem ich einer Gruppe von Mädchen zwischen zehn und zwölf Jahren »Englisch anhand von Songs« beibrachte, was dazu geführt hatte, dass ich mich jetzt erschreckend gut im Werk von Justin Bieber auskannte. Ich war keineswegs unglücklich. Es war eher so, dass ich permanent den Druck der Zeit spürte. Ich hatte das deutliche Gefühl, nicht über viel davon zu verfügen, und vor allem sah ich mich selbst als nicht im Einklang mit der Zeit, zu der ich wohl gehörte.
Allerdings hatte mein Unbehagen, wie es schien, eindeutig mit den Millennials zu tun. Die meisten meiner Freunde aus dem Studium waren in London geblieben und bastelten entschlossen an ihren Karrieren. Sie ließen sich in zwei Gruppen unterteilen: diejenigen, die sich durch reihenweise unbezahlte Praktika hindurch von ihren Eltern hatten unterstützen lassen und sich jetzt nach und nach die »coolen Vorzeigejobs« angelten, und dann die anderen, die übergangslos in der City verschwunden waren und deren Leben sich mehr und mehr von meinem zu entfernen schien – Freitagabendcocktails in Soho und Shoreditch, perfekte Garderobe von COS, Gespräche, die ausschließlich aus griffigen Akronymen zu bestehen schienen. Abgesehen davon ließen mich selbst die beneidenswerteren Jobs mit ihrem Gefasel über Clickbait und Kontaktaufnahme mit Kreativen gleichgültig; wobei ich in diesem Fall den Verdacht hegte, dass meine Gleichgültigkeit womöglich von einer leichten Eifersucht durchzogen war.
Nach Paris – wo ich schon mein drittes Studienjahr verbracht hatte – war ich in der Annahme zurückgegangen, dort ein preiswerteres Zimmer zu bekommen und weniger arbeiten zu müssen als in London, was mir viel Zeit verschaffen würde, um »mich selbst zu finden« oder was immer ich zu tun gedachte. Als sich dann aber die Zeit vor mir ausdehnte, beschlich mich allmählich das Gefühl, dass ich genetisch bedingt ohne Ehrgeiz war, und ich fand mich, kurz gesagt, damit ab, wirklich gar nicht so besonders zu sein.
In dieser Zeit dachte ich viel darüber nach, wie ich mein Studium anders hätte angehen können. Obwohl mir das damals kaum bewusst gewesen war, konnte ich jetzt sehen, dass ich die ersten beiden Unijahre in stummer Ehrfurcht verplempert hatte. Ich war aus einem kleinen Dorf in Cumbria gekommen, dem traurigen Satelliten einer Stadt, die langsam verendete – überall leere Läden und Bushaltestellen mit von der Sonne gebleichten Aushangfahrplänen. Als ich das letzte Mal mit meiner Mutter sprach, berichtete sie, man habe sogar den Geldautomaten abmontiert.
Das Dorf gehörte zu jenen Orten, denen es völlig an Glanz fehlte, wenn man sich in einem Umfeld junger Leute bewegte, die in Oxford oder Bristol oder Wimbledon oder selbst New England aufgewachsen waren und die sich zu russischen Schriftstellern, Kimchi, nationaler Gesetzgebung und den Vorzügen verschiedener Langstrecken-Airlines äußern konnten. Deren Eltern waren bei der BBC oder einer NGO tätig. Meine Mum arbeitete in einer Grundschule und mein Dad war die eine Hälfte eines »Skidder-Teams« – ein qualifizierter und zunehmend aus der Mode kommender Forstberuf, den ich im Interesse meiner neuen Freunde etwas romantisch als »Holzfäller« übersetzte. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft, dass ich diese Auszeichnung in der Orientierungswoche wie ein Ehrenabzeichen getragen hatte und dass sie von den Kommilitoninnen und Kommilitonen, deren Eltern mir völlig unverständliche Berufe hatten, zum Fetisch erhoben worden war. Ein Sozialistensohn aus Dulwich hätte sich vor Begeisterung fast bepinkelt, als er von meinem Vater hörte. »Holzfäller?«, hatte er gegurrt. »Mann, das ist ja mal ein echter Job – da geht’s zurück aufs Land.«
Ich war ein äußerst produktiver und ehrgeiziger Teenager gewesen, fand aber, dass die kreativen Bestrebungen, die der Trost meiner klaustrophobischen Jugend gewesen waren (Themen wie Musik und Literatur, auf denen meine eigene Persönlichkeitswahrnehmung basiert hatte), zunehmend mit Unsicherheit behaftet waren. Infolgedessen wurde ich zu einer zwanghaften Tagebuchschreiberin, die in dem Versuch, mit ihren Altersgenossinnen und -genossen gleichzuziehen, alles auf Papier fixierte und Bücher geradezu verschlang. Ich litt immer noch unter dem Moment, als der Junge, an den ich meine Jungfräulichkeit verloren hatte (dreisprachig, typisch internationale Schule), meine sorgfältig zusammengestellte Filmsammlung als »so klischeehaft« abgetan hatte.
Besagte Jungfräulichkeit zu verlieren war wie das Abstreifen einer schlecht sitzenden Haut gewesen, auf die allerdings eine Zwangsjacke folgte. Mir graute vor meinem eigenen Körper – meinem Schamhaar, meinen unordentlichen Schamlippen –, und vor allem wollte ich um jeden Preis die Jungen beeindrucken, die sich (für mein Empfinden) herabließen, mit mir zu schlafen. So dringend wollte ich als sexuell befreit und von Natur aus begabt gelten, dass am Ende mein einziges Ziel darin bestand, dass er (wobei er ein ganzes Defilee von verwirrend selbstbewussten Mittelschichtjungen in zu weiten Pullovern war) auf seine Kosten kam. Ich dachte, ich ließe mir selbst eine Art Erziehung angedeihen und lag damit vermutlich gar nicht so falsch. Ich glaube, im Verlauf von zwei Jahren machte ich eine einzige Erfahrung, die darauf hindeutete, dass Sex mir das bieten konnte, was ich mir selbst zu bieten vermochte, aber das Erlebnis war schmutzig und von Schuldgefühlen durchdrungen und fand mit dem Ex einer Freundin auf einem knarrenden alten Sofa in seinem feuchten Kellerraum in der Chatsworth Road statt. Als er mich am nächsten Morgen zur U-Bahn brachte, war mir fast, als würden mir unter der beschämenden Last der Tat, die ich begangen hatte, jeden Moment die Beine wegsacken. Mit Macht überkam mich der Wunsch, sofort nach Hause zu gehen und mich zu waschen.
In Paris war alles anders geworden. Weit entfernt vom verschleierten und heimtückischen Schmerz des Klassensystems (von dem ich erst entdeckt hatte, dass es noch existierte, als ich nach London gekommen war), hatte mich eine Welle des Selbstwerts erfasst. Ich näherte mich der Stadt als Londonerin, nicht als Landpomeranze. Paris, das ich zunächst als Museumsstück betrachtet hatte, lag mir mit seinem Widerstand gegen ein Voranschreiten in die Zukunft unglaublich gut; die Stadt war fast genauso stagnierend wie ich selbst. Ich arbeitete so gut wie gar nicht: Statt kellnern zu müssen, lebte ich aus der ungekannten Fülle meines Erasmus-Stipendiums und schrieb ausschließlich für mich selbst.
In Paris machte ich meine wichtigste (und zugegebenermaßen vorhersehbare) Entdeckung: Sex. In Frankreich war Sex überall, besonders, wenn die Tage allmählich etwas länger wurden. Sex war der Filter, durch den das Leben lief. Ich stellte fest, dass es vollkommen normal war, jemanden in der Métro mit den Augen auszuziehen oder wenn der Mann in der papeterie zu einer Kundin sagte, der neue Frühlingstag sei nicht annähernd so schön wie sie. Französische Männer waren offen und entspannt, und ich stellte schließlich fest, dass ich ein Objekt sexueller Begierde war – und dass das ein Aktivposten war, der als Waffe dienen konnte.
Es war Frühling. Alles saß draußen auf den Terrassen, aber immer noch in Mäntel und auffällig große Schals gehüllt. Am Kanal blühten die Glyzinien. Emma zog an der Zigarette, die wir uns teilten. »Du wirst also anrufen?«, fragte sie.
Emma war eine meiner erfolgreicheren Freundinnen; genau genommen wohl die erfolgreichste, denn sie hatte es geschafft, auch als voll funktionsfähige Erwachsene mit Katze und Freund in der gemeinsamen Wohnung noch Mensch zu bleiben. Sie arbeitete für eine digitale Kunstplattform und war auf wundersame Weise in der Lage, keine Mordgedanken in mir auszulösen, als sie erzählte, wie sie während der Biennale in Venedig mit dem »zweitwichtigsten Künstler Pakistans« von der Dachterrasse eines Renaissance-Palazzos aus den Sonnenaufgang beobachtet hatte. Sie war vielleicht die stilvollste Person, die ich kannte, auch wenn jedes einzelne Kleidungsstück, das sie trug, aussah, als wäre es einer einsiedlerischen Achtzigjährigen entwendet worden. Rechts von mir saß Alex, der in einem Bekleidungsgeschäft arbeitete, für das man, um auch nur ein Vorstellungsgespräch zu bekommen, ein zukunftsorientiertes und gut gepflegtes Instagram-Profil brauchte.
In einer Geste, die ich von den Franzosen gelernt hatte und mit der man jeden Funken von Verantwortung oder Selbstbestimmung zurückwies, blies ich die Wangen auf. »Ich weiß es nicht«, sagte ich seufzend. »Erscheint doch ein bisschen sinnlos, oder?«
»Du solltest trotzdem anrufen. Es könnte was Cooles sein.«
Ganz ehrlich, angesichts dessen, was Emma als die quasi-performative Unbestimmtheit der Anzeige beschrieben hatte, wusste niemand von uns wirklich genau, welche Aufgaben der Job beinhaltete. »Archivarbeit/Recherche« waren entsprechend nichtssagende Indikatoren. Unser Urteil beruhte auf der Tatsache, dass die Stelle eindeutig in den nebulösen Dunstkreis eines »Jobs in der Kunstszene« gehörte, und in unserem abgeschotteten Universum von Hochschulabsolventen der Kunst- und Geisteswissenschaften verlieh diese banale Kategorisierung dem Ganzen einen unwiderstehlichen Reiz und Status. Wir steckten alle gleichermaßen in dieser bourgeoisen Manie fest, Jobs in der Kulturbranche ziemlich zu überhöhen. Nach allem, was wir wussten, konnte Michael (der womöglich, à la Madonna, ganz auf einen Nachnamen verzichtet hatte) jemanden suchen, der/die seine Pflanzen goss, ihm Tee kochte oder einfach nur sein Ego massierte (was einer richtigen Massage immer noch vorzuziehen war). Die Sache war die: Wenn ich mich auf Partys als Assistentin eines Schriftstellers vorstellen könnte, würde mein Sozialkapital (und vermutlich auch mein Selbstwertgefühl) einen Aufschwung erleben. Später würde ich verstehen, dass es gerade die Überhöhung einer bestimmten Art von Arbeit war, die dem Kunstestablishment seine gefährliche Macht verlieh.
»Um ehrlich zu sein, der Anzeige nach könnte er ein ziemlicher Wichser sein«, sagte Alex und sah dabei vom Display seines Handys auf, das er sich anschließend in den Schoß fallen ließ. »Ich meine, das mit Shakespeare? Hallo?« Für Alex waren die meisten weißen Heteromänner Wichser.
»Nein, nein«, protestierte ich. »Genau darauf bin ich ja angesprungen. Vielleicht hat er die Nase voll von den ganzen Cressidas und ihrer gnadenlosen Herrschaft über die Kunst – mit den ganzen unbezahlten Praktika und ihren Häusern im verdammten Stockwell …« An Alex’ Grimasse konnte ich erkennen, dass es ihm lieber wäre, ich würde mich jetzt nicht über soziale Gerechtigkeit auslassen, und ebenso wenig wollte ich, dass jemand von den beiden ahnte, wie deutlich ich mich innerlich schon auf die Seite dieses völlig Fremden gestellt hatte. Im Verlauf von achtundvierzig Stunden hatte ich mir mehrere unterschiedliche Versionen unserer ersten Begegnung ausgemalt, von denen nur zwei winzige Andeutungen von etwas enthielten, was ganz bestimmt eine langsam schwelende Verführung sein würde. Als läse er meine Gedanken, stöhnte Alex: »O Gott, und wenn du den Job kriegst, wirst du natürlich mit ihm schlafen – und er wird irgend so ein eingebildeter, typisch schwabbeliger Babyboomer sein …«
»Wahrscheinlich hat er eine Tochter namens Cressida«, ergänzte Emma. Ich täuschte Entrüstung vor, konnte aber kaum mich selbst überzeugen.
»Du solltest aber anrufen«, sagte Alex nach kurzem Schweigen. »Immerhin ist der Job bezahlt. Vielleicht ist das ja dein Ausstieg aus dem Café?«
Wir sprachen oft über meinen Ausstieg aus dem Café, eine Art abstrakten Deus-ex-machina-Moment, über den ich angenehm wenig Kontrolle hatte, mit dem sich mein Leben jedoch wie durch ein Wunder in etwas Zusammenhängenderes verwandeln würde: ein Job; ein Mann. Ich hatte sogar angefangen, beim tabac in meiner Straße Rubbellose zu kaufen.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich ernst. »Ich werde auf jeden Fall wenigstens anrufen.«
Genau im richtigen Moment kam der zweite pichet Corbières. Ich spürte schon vom ersten die herrliche Lockerung meiner Glieder. Emma gab mir den Rest der Zigarette.
Am Ostersonntagmorgen konnte ich mich nicht so recht dazu aufraffen, meine Wohnung zu verlassen. Spät und verkatert wachte ich in einen dieser schlappen, sich hinziehenden Tage hinein auf und spürte ganz besonders deutlich, dass ich allein lebte. Ich schaltete das Radio ein und hörte mir ein leicht surreales Feature über weibliche Promis an, die die Entscheidung für das Abhalten eines EU-Referendums unterstützten. Offenbar war Ginger Spice irgendwann in den neunziger Jahren einmal ganz und gar nicht begeistert von diesen gemeinen Bürokraten in Brüssel gewesen. Ich aß zwei gekochte Eier, dachte an Jesus und schaffte es, die Hälfte eines dünnen französischen Romans zu lesen, in dem ein junger Literat eine angemessen schweigsame, rätselhafte und problembeladene Heldin beobachtete. Ungefähr um halb sechs, als ich es in meinen vier Wänden nicht mehr aushielt, fasste ich den klaren Entschluss, hinauszugehen. Der dicke, amphibienartige Ehemann der Concierge in seinem zunehmend ergrauenden Unterhemd hing im Korridor herum. Ich grüßte ihn munter, und er machte einen durch meine bloße Existenz irgendwie beleidigten Eindruck.
»Sie dürfen Ihre Schuhe nicht mehr vor der Tür stehen lassen«, grummelte er. »Auch nicht, wenn es regnet.«
Monsieur et Madame la concierge waren voller Verachtung für mich, weil ich in dem winzigen chambre de bonne unter dem Dach des Hauses wohnte und mir ein Stehklo mit meinem Nachbarn Farouk teilte, einem liebenswürdigen, gesprächigen und überwiegend abwesenden Studenten, den das Conciergeehepaar selbstverständlich ebenfalls verachtete. Die siebte Etage war ein unvermeidlicher Fleck auf dieser ansonsten von Geld strotzenden co-propriété. Ich hatte oft mitbekommen, wie sich die Gesichter der beiden, wenn sie die Familien aus der sechsten Etage grüßten, kurz zu einem gequälten, unnatürlichen Lächeln verzogen, und wusste daher, dass sie zu sozialen Nettigkeiten durchaus imstande waren. Zurzeit hielt Madame meine Post in Geiselhaft, um mich dafür zu bestrafen, dass ich mein Fahrrad im Hof geparkt hatte. Ich war davon ausgegangen, dass die beiden wenigstens heute in einem Anfall religiöser Hingabe abwesend sein würden. Fehlanzeige.
Draußen ging ich mit zügigem Schritt, vorbei an sonntäglich vollen Terrassen und gut gekleideten Kindern, die auf ihren trottinettes dahintrödelten. Ich hörte mir ein altes BBC-Interview mit Morrissey an, und als ich durch das große grüne Tor auf den Friedhof schlüpfte, überließ ich mich Morrisseys für den Norden typischer Aussprache: Ich verstehe einfach nicht, wie es sein kann, dass Leute nichts mit ihrem Leben anfangen, obwohl sie wissen, dass die Zeit endlich ist. Für einen Augenblick fühlte ich mich ertappt, aber andererseits verstand ich wirklich nicht, wie ein Mann, der so überzeugende Texte über einen sanften und freundlichen Umgang miteinander schrieb, sich gleichzeitig darüber auslassen konnte, dass England den Engländern gehörte. Das schien meinen Verdacht zu bestätigen, dass erfolgreiche Menschen alle irgendwelche verstörenden Perversionen zu verbergen hatten.
Ich war allein. Der Cimetière Saint-Vincent war ein gewundenes Knäuel aus Wurzeln, spindeldürren Eisenstäben und von der Sonne gebleichten Köpfen abgeschnittener Hortensien, ein Haufen Ersatzteile, die von dem großen Friedhof die Straße hinunter an der Place de Clichy übrig geblieben waren. Hierher kam ich, wenn ich mich am verlassensten fühlte, denn der Ort erinnerte mich an meinen Exfreund. Kurz beäugte mich eine langhaarige graue Katze, und ich las die Namen, die auf den Krypten prangten (FAMILLE CAILLEBOTTE, FAMILLE LEGRANDE). Der Boden war mit braunen Kiefernnadeln übersät, so wie der Garten bei meinen Großeltern, als ich noch ein Kind war. Alles war in Abstufungen tiefgrün: die Wasseroberfläche des Gartenteichs; oder die tintenklecksartig auf den Grabsteinen gewachsenen Flechten; oder die Tönung des Lichts, wenn es beim Schulgottesdienst durch die bunten Kirchenfenster fiel. Ich beschloss, Michael anzurufen.
Im L’Etoile de Montmartre saß ich auf einem der Barhocker und spielte alle möglichen Ergebnisse des Anrufs durch: ein kurzes Stelle bereits besetzt. Magnetische Anziehung via Telefon (der vage Eindruck, eine göttliche Vorsehung sei am Werk, belegt durch ein paar flüchtig mitbekommene plumpvertrauliche Witze). Schweres Atmen, ein paar peinliche Sätze direkt aus einem Porno und die Erkenntnis, dass ich in die Falle gegangen war. Ich starrte in mein Weinglas, während ich die purpurne Flüssigkeit immer wieder kreisen ließ, und zwang mich, aktiv zu werden. Und wenn auch nur, um den Avancen des mittelalten Mannes neben mir zu entgehen, der im Begriff schien, mich in ein Gespräch zu verwickeln, wählte ich schließlich die Nummer. In der Leitung klingelte es, und nach einer sekundenlangen Ewigkeit:
»Allô?« Es war die Stimme einer Frau. Sie war keine Französin.
»Oui, allô, je vous appelle par rapport à l’annonce d’emploi. Pourrais-je parler avec Michael, s’il vous plaît?«
»Er ist nicht da«, erwiderte sie schroff auf Englisch, »und die Stelle ist leider nicht mehr frei.«
»Ah.« Enttäuschung breitete sich – kombiniert mit einer Spur feiger Erleichterung – in meinem Körper aus und legte sich sanft auf meine Schultern. »Okay, gut, jedenfalls trotzdem vielen Dank.«
»Ja. Wiederhören«, seufzte die gesichtslose Stimme, offenbar genervt von meinem Anruf. Nachdem die Frau aufgelegt hatte, klingelte der Hörton noch kurz in meinen Ohren. Für einen Moment behielt ich das Handy in der Hand, als könnte sie zurückrufen, und spürte das stumme Gewicht in meiner Handfläche.
»Donc vous êtes Américaine?« Der Mann rechts von mir hatte seine Chance ergriffen.
»Britin«, sagte ich mit einem süßlichen Lächeln. Ich schluckte die letzten Tropfen aus meinem Glas hinunter und ließ eine Handvoll Münzen auf den Tresen fallen. »Ciao.«
Nach dem erfolglosen Telefonat wanderte ich bis weit nach Sonnenuntergang ziellos im quartier umher, in Gedanken mit der Frage beschäftigt, was in aller Welt ich mit meinem Leben anfangen könnte. Die Vorstellung, in einem Büro zu arbeiten, erfüllte mich regelrecht mit Entsetzen, und inzwischen wusste ich, dass ich alles andere als stresstauglich war. Wenn ich bloß daran dachte, wie ich in der Mittelstufe einmal einen Lehrer enttäuscht hatte, wurde ich noch im Alter von vierundzwanzig Jahren von lähmenden Schuldgefühlen übermannt. Ich dachte an eine Freundin, die als PR-Frau in der Finanzbranche arbeitete und mir irgendwann einmal voller Stolz erzählt hatte, dass eines Tages die Geschicke ganzer Unternehmen von ihr abhängen würden. Mir erschien oft allein die Tatsache, dass ich selbst von mir abhing, schon ganz schön mühsam. Als ich merkte, dass ich mich vor einer mir vertrauten Weinbar befand, blieb ich stehen und wusste mit einem Mal genau, was mich in eine bessere Stimmung versetzen würde.
Ich schob die Tür zu dem überfüllten kleinen Raum auf, der aussah wie die hintere Küche einer Privatwohnung. Die Wände waren gelb und spärlich mit alten Bildern im Deyrolle-Stil dekoriert, auf denen Motive wie unterschiedliche Arten von Trauben, Schweinen oder Geflügel aus sämtlichen Regionen Frankreichs zu sehen waren. Den Fußboden bedeckten da, wo man ihn sehen konnte, Terrakottafliesen, und die schwache Beleuchtung schuf eine gemütliche Atmosphäre. Während ich mich zwischen den voll besetzten Tischen bis zum Tresen im hinteren Teil durchdrängte, vergewisserte ich mich, dass wirklich er Schicht hatte. Ein angedeutetes Wiedererkennen – oder besser ein Wiedererkennen mit Fragezeichen – huschte über Benoîts Gesicht, als er merkte, dass ich mich ihm gegenüber niedergelassen hatte.
»Mademoiselle«, sprach er mich an und taxierte schamlos mein Äußeres. Ich bestellte ein Glas Saumur und zog das dünne Buch aus meiner Tasche. Fünf Minuten später schob er sich an mein Ende des Tresens. »Was liest du denn da?«, fragte er auf Französisch. Ich zeigte ihm die Erzählung von Patrick Modiano, die ich an diesem Nachmittag zur Hälfte gelesen hatte, und er schnaubte. »Et alors?«
»Kennst du das Buch?«, fragte ich. Er lächelte, holte eine staubige Flasche unter dem Tresen hervor und schenkte erst mir und dann sich selbst nach. »Ich kann heute nicht über Bücher sprechen, Schätzchen«, sagte er. »Dazu bin ich viel zu verkatert.«
Verkatert war er auch bei unserer ersten und letzten Begegnung rund ein Jahr zuvor gewesen. Ich war mit dem Friedhofs-Ex in die Bar gegangen, und Benoît hatte beschlossen, dass wir ihn von seiner »dionysischen Strafe« ablenken würden. Das war tatsächlich seine Ausdrucksweise gewesen. Er war zwischen dreißig und vierzig, groß, dünn, und sein Charisma reichte aus, um ihn wesentlich attraktiver erscheinen zu lassen, als er tatsächlich war. In ihm sah ich ansatzweise, wie ich selbst in zehn Jahren zweifellos sein würde. Er jobbte in Bars und schrieb Filmdrehbücher – hatte allerdings seit über fünf Jahren keins mehr abgeschlossen. Ich hatte ihm erzählt, dass ich Literatur studiert hatte. Er hatte einen Master in Philosophie und fragte mich, wen ich denn gerne läse. Nachdem wir uns im Gespräch bewährt hatten, begann er, unsere Gläser großzügig nachzufüllen, bis wir alle drei ziemlich betrunken waren – ich, wie damals üblich, mehr als alle anderen. Zum Glück war es ein Sonntagabend, und nach zweiundzwanzig Uhr wurde die Kneipe allmählich leerer. Die Unterhaltung war von Literatur zum Sexuellen und dann in uneingeschränkt vulgäres Terrain übergegangen.
»Euer Nachbar hat nur deshalb so lauten Sex, weil er offenbar den Vogel vögelt«, sagte Benoît zu uns, während er auf eine riesige Käse- und Wurstplatte, die er gerade anrichtete, hauchdünne saucisson-Scheiben stapelte. »Ihr zwei müsst es einfach besser und lauter machen!«
An dieser Stelle ein anzügliches Augenzwinkern in meine Richtung. So wie die gewieftesten Ladendiebe Plasmafernseher aus Einkaufszentren stahlen, indem sie die Geräte einfach dreist durch die Ladentür hinaustrugen, hatte er ungeniert mit mir geflirtet. Als mein Ex dann aber auf der Toilette war und Benoît mir eine Zigarette anzündete – wobei er mir länger in die Augen sah, als mir angenehm war –, erkannte ich, wie ganz und gar aufrichtig seine Absichten waren, und erwiderte, während ich den ersten langen Zug wieder ausströmen ließ, betrunken und geschmeichelt von seinem Blick.
»Du erkennst mich überhaupt nicht, stimmt’s?«, sagte ich jetzt.
Er kniff die Augen zusammen und registrierte Einzelheiten meines Gesichts. »Hilf mir doch mal.«
»Letztes Mal war ich mit jemandem da«, sagte ich. »Typ BWLer.«
Er runzelte die Stirn, und dann fiel sichtbar der Groschen. »Ja. Ja! Du bist die, die lieber Floristin werden wollte, als ihre Masterarbeit zu schreiben, stimmt’s?« Ich lachte. »Hast du denn noch Floristin gelernt?«, fragte er. Ich gab zu, dass der Floristinnenberuf als ein weiterer aufgegebener Traum auf dem Friedhof meiner Ambitionen gelandet war. »Gut«, sagte er entschieden. »Est-il possible d’être révolutionnaire et d’aimer les fleurs?«
Fünf Stunden später hatte sich die Bar vollständig geleert, und ich war betrunken genug, um die Vorstellung, mit in Benoîts Wohnung zu gehen, überaus verlockend zu finden. Während er aufräumte, lehnte ich auf eine Weise an der Theke, die mir ebenso verführerisch wie stabilisierend erschien; später stand ich draußen an der Bordsteinkante in der Kälte und wartete, bis er die Rollläden aus Metall vor dem Barfenster heruntergezogen hatte.
»T’as froid?«, fragte er, als er mich mit fest verschränkten Armen bibbern sah. Ich nickte in der Annahme, dass er mir jetzt galant seine Jacke um die Schultern legen würde. Stattdessen schlug er gegen das herabhängende Metallgitter und drehte sich wieder zu mir um. »Bon«, sagte er und zog mich, eine unsichere Hand auf meiner Schulter, so nah an sich heran, dass seine Unterlippe meine Stirn streifte. »Dann gehen wir doch am besten nach drinnen.« Sein Gesicht verzog sich zu einem kleinen selbstgefälligen Lächeln.
Gegen Morgen: »Was ist denn aus deinem Freund geworden?«, fragte er schlaftrunken und fuhr mir dabei zerstreut mit einem Finger den Unterarm entlang.
»Wie’s scheint, kann ich Freunde nicht halten«, sagte ich in die Matratze.
Benoît lachte. »Tant mieux.« Ich lag bäuchlings nackt auf seinem Bett. Dem Zimmer fehlte es an jedweder Dekoration. Auf dem Fußboden stapelten sich Bücher neben schmutzigen Tassen und Weingläsern, von denen manche mit Asche und vergilbenden Zigarettenstummeln ausgekleidet waren; ein Glas auf dem Nachttisch diente jetzt als Behältnis für das schlaffe verknotete Kondom. Mein Blick las träge die Namen auf den Buchrücken: Boris Vian, Henry Miller, Philip K. Dick, Hermann Hesse. Norman Mailers grinsendes Gesicht ganz oben auf dem Stapel war zur Hälfte unter der Kondompackung verschwunden. Benoîts Zeigefinger hatte meinen unteren Rücken erreicht, wo er einen Augenblick verharrte, bevor er mir mit der flachen Hand einen Klaps auf den Po gab. »T’as de très belles fesses«, schwärmte er, und ich verspürte den scharfen Stich eines hohlen Stolzes, auch wenn ich aus eigener Erfahrung wusste, dass ein Po-Kompliment etwa so unerlässlich war wie das Angebot eines Kaffees am nächsten Morgen.
»Oui«, wiederholte er, »de très très belles fesses«, und dann zählte er in einer Art Ronsard’schem blason, der mein neunzehnjähriges Ich rettungslos betört hätte, in bewunderndem Ton sämtliche meiner Einzelteile auf. Die Augen geschlossen, lag ich still da und fragte mich, ob es normal war, meine Eroberungen mit einer solchen an Verachtung grenzenden Gleichgültigkeit zu betrachten.
Danach dachte ich ein paar Wochen lang überhaupt nicht an Michael, und ganz ehrlich, ich hätte ihn wahrscheinlich völlig vergessen, wäre Annas Ausstellungseröffnung nicht gewesen. Es war Emma, die mich mitschleppte, damit ich sie vor den »Kunstwichsern« rettete. Die Ankündigung der Veranstaltung hatte sie mir über Facebook geschickt – Anna Young: Objektive/Perspektiven –, zusammen mit einem alten Artikel, den sie aus ihrem Guardian-Archiv ausgegraben hatte. Er stammte aus dem Jahr 1998 und begann mit einer Beschreibung von Annas Studio: Auf den ersten Blick könnte man Youngs Studio leicht mit einem der innovativen neuen Restaurants in der Gegend verwechseln, die tapfer versuchen, Focaccia und Grillgemüse in SE1 einzuführen. Ich wollte nichts anderes, als mich auf den Boden meines Zimmers legen, Lana Del Rey hören und die Weinflasche leeren, die ich mir zum Kochen aufgehoben hatte. Das Schicksal hatte jedoch anscheinend andere Pläne.
Sie kam in den Raum spaziert und es war, als wäre ich durch eine Art Tunnel direkt in meine eigene Vergangenheit gerutscht. Dieses Mädchen war nicht bloß wie Astrid, sie war Astrid. Der größte Teil ihres Gesichts war hinter einem Vorhang aus Haar versteckt, doch ich sah es sofort; ich spürte es, wie einen elektrischen Schlag.
»Alles gut, Darling? Du siehst ein bisschen blass aus«, sagte meine Frau und berührte mich leicht am Ellbogen.
Mein Blick löste sich nicht von dem Mädchen, das tatsächlich echt sein musste; sie gab einem Fremden gerade Küsschen auf die Wange, also besetzte sie greifbaren Raum. Annas Stimme war weit weg, und ich fragte mich einen Augenblick lang, ob ich meinen Aufenthaltsort gewechselt hatte, ob sie nicht vielleicht durch ein geschlossenes Fenster zu mir sprach oder sogar vom Rand eines Swimmingpools aus. Ich war unter der Oberfläche. Selbst der Bereich um das Mädchen herum schien in eine andere, ältere Sphäre des Seins zu gehören. Das Licht war so, wie das Licht 1968 ausgesehen hatte, in der Ecke, beim Waschbecken in der Wohnung in der Charlotte Street. Es fiel auf genau dieselbe Weise auf ihre Lider, wie es auf Astrids gefallen war.
Anna zischte meinen Namen und erhöhte den Druck auf meinen Arm. Irgendein mechanischer Impuls erlaubte es mir, meinen Kopf ruckartig in ihre Richtung zu bewegen. Sie stand tatsächlich direkt neben mir. Ich verzog das Gesicht.
»Ja? Ja – entschuldige. Ich hab mich gerade ganz komisch gefühlt. Ich hol mir was zu trinken. Möchtest du auch was?« Ich zwang mich, fröhlich zu klingen.
»Noch ein Glas Weißwein«, sagte sie, ein wenig besänftigt.
Astrid war ebenfalls auf dem Weg zur Bar, und ich beschleunigte mein Tempo und ignorierte eine Gruppe, die ich vage als meinen französischen Übersetzer und seine Adjutanten erkannte, und von denen einer gerade meinen Namen rief, Mi-kai-ell, Mi-kai-ell! Sie existierten nun in einem Reich, dem ich entkommen war. Ich war jetzt bei Astrid, in der Bar der Students’ Union in der Malet Street. Ich konnte den hartnäckigen Muff der Universitätsgebäude riechen, verbunden mit Bier und altem Zigarettenrauch. Ich hatte beinahe das Gefühl, dass meine Haut, wenn ich mir ins Gesicht gefasst hätte, glatt und straff gewesen wäre, so wie sie es damals gewesen war.
Sie war jetzt so nah, dass ich sie berühren konnte, und ich streckte die Hand aus und fasste nach ihrer Schulter. Sie fuhr herum, und ein kurzer Anflug von Erschrecken machte einem starren, höflichen Lächeln Platz. Ich suchte ihr Gesicht nach irgendeinem Zeichen von Erleuchtung ab, als mich plötzlich eine ungewohnte soziale Unsicherheit erfasste. Ich spürte, wie sich ein nervöses Lachen Bahn brach und in meiner Kehle verfing, weil mir auffiel, dass ich noch immer ihre Schulter gefasst hielt; ich spürte die Wärme ihres Körpers, die sich in meiner Handfläche sammelte. Verlegen ließ ich los und tätschelte sie wie ein entfremdeter Vater, der versucht, seine Liebe zu zeigen. Unbeholfen nach dem ersten Gedanken greifend, der mir in den Kopf kam, räusperte ich mich und sagte wenig originell:
»Haben Sie nicht mit meiner Tochter studiert?«
Sie sah mich mit einem Blick an, aus dem, wie ich entsetzt feststellte, nur vage kaschiertes Mitleid sprach. Wie schrecklich. Sie fand das alles erbärmlich. Ich wollte unbedingt mit dem Daumen über ihre Unterlippe streichen, um zu erfahren, ob es sich genauso anfühlte.
»Kann schon sein«, sagte sie. »Wo hat sie denn studiert?«
»Wie bitte?«, fragte ich, ein wenig benommen, bis ich mich daran erinnerte, was ich gerade gesagt hatte. »Ah. Oxford. St Catz. Clarissa.«
Das Mädchen sah mich ausdruckslos an, und dann, als hätte sie sich gerade an eine Art soziale Verpflichtung erinnert, sagte sie freundlich: »Ach. Wie Mrs Dalloway? Oder die eine von Samuel Richardson? Oder wie diese Serie mit Sabrina aus Total Verhext!?«
Ich betrachtete ihre Züge genauer, und es stimmte einfach alles; doch ihre Stimme war nicht ganz richtig, und sie hatte den verdammten Samuel Richardson erwähnt, was überhaupt keinen Sinn ergab.
»Eigentlich James Baldwin.« Ein wenig defensiv.
»Nein, das kann ich nicht gewesen sein. Mich haben sie in Oxford nicht angenommen.«
»Michael?« Die vertrauten Kadenzen der Stimme meiner Frau waren die Totenglocke meiner verwirrend schimmernden Halluzination. Sie schmiegte ihren schlanken Körper besitzergreifend an meinen. »Wer ist das?«
Ich drehte mich um und sah, wie sie das Mädchen freundlich anlächelte. Das unvorhergesehene Eindringen schnöder Realität half mir, meine Fassung zurückzuerlangen. Ich stülpte mir meine »Freundlicher-Gesprächspartner«-Kappe über, legte einen Arm um Anna und sagte: »Na, genau das versuche ich gerade herauszufinden. Ich bin mir sicher, dass wir sie irgendwoher kennen; ich hätte schwören können, dass sie mit Clarissa zur Uni gegangen ist.«
Anna betrachtete das Mädchen kühl. »Ich kann nicht behaupten, dass sie mir bekannt vorkommt«, und dann, eine elegante, langfingrige Hand ausstreckend: »Entschuldigen Sie meinen Mann. Ich bin Anna Young, und das ist Michael.«
»Leah«, erwiderte das Mädchen, sichtbar erleichtert, dass Anna die Situation so souverän in die Hand nahm. In den Raum deutend fügte sie an: »Glückwunsch. Das alles sieht – ähm – ich meine, das Werk sieht … phantastisch aus.«
Anna lächelte. »Danke. Machen Sie gerade ein Praktikum in der Galerie?« Ihre Stimme klang herzlich, doch die Frage war eine nicht sehr subtile Demonstration ihrer Macht.
nichts