Mónica Subietas
Waldinneres
Roman
Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen
FISCHER E-Books
Mónica Subietas wurde 1971 in Barcelona geboren und lebt heute in Zürich. Sie ist Journalistin und veröffentlicht ihre Beiträge über Kultur und Reisen in spanischen und Schweizer Zeitschriften. Außerdem ist sie als Editorial Designerin und in der Leseförderung für Kinder im Vorschulalter tätig. »Waldinneres« ist Mónica Subietas' erster Roman.
Lisa Grüneisen, 1967 geboren, arbeitet seit ihrem Studium der Romanistik, Germanistik und Geschichte als Übersetzerin. Sie übersetzte unter anderem Bücher von Carlos Ruiz Zafón, Carlos Fuentes, Miguel Delibes, Alberto Manguel und Frida Kahlo.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Ein jüdischer Kunstsammler rettet sich mit Fluchthelfern vor den Nazis in die Schweiz, doch seine Spur verliert sich im Dickicht eines Waldes. Zurück bleibt nur sein Gehstock, darin eingerollt ein kleines Gemälde.
Siebzig Jahre später betritt Gottfried Messmer das Foyer einer Bank in Zürich. Im Schließfach seines Vaters findet er einen echten Klimt. Wie kam sein Vater an dieses Bild? Und wo ist sein wahrer Besitzer? Gottfried muss sich einem Familiengeheimnis stellen, das weit in die Geschichte seines Landes zurückreicht.
Mónica Subietas erzählt von Flucht und Verrat, von finsteren Zeiten und glücklichen Tagen. Ein bewegender Roman über den Versuch, die Schrecken der Vergangenheit zu überwinden.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© Mónica Subietas, 2022
By arrangement with Literarische Agentur Mertin Inh. Nicole Witt e. K., Frankfurt am Main, Germany.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung: Gustav Klimt, ›Waldinneres‹, 1881
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491400-8
Für Harry, für die Chance und die Liebe.
Und für Laia, weil sie mich weiterbringt.
»Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.«
Søren Kierkegaard, Der Begriff der Angst
Februar 2010
Ein Nagel hatte genügt, um Max Müller auszuschalten. Er lag auf dem Boden seines Ateliers, die linke Wange auf den Holzdielen. Ein Faden aus bereits geronnenem Blut rann vom Nacken auf den Eichenboden und verschwand zwischen noch frischen Farbklecksen. Er hatte einen kleinen, kaum verheilten Riss an der Oberlippe, und die Wange, die zu sehen war, leuchtete bläulich von einem kürzlich erhaltenen Schlag.
So fand ihn Gottfried, der beinahe auf die Nagelpistole trat, als er sich dem reglosen Körper des Malers näherte. Ein rascher Blick durch den Raum offenbarte, dass der Tisch umgestürzt worden war. Pinsel, Werkzeuge, Zeichnungen und Papier lagen wahllos auf dem Boden verstreut. Er stellte fest, dass der intensive Geruch nach Lösungsmittel von einer Flasche ausging, die ein paar Meter über den Boden gerollt war und deren Inhalt eine unregelmäßige Spur auf dem mit bunten Klecksen gesprenkelten Fußboden hinterlassen hatte. Auf dem Boden neben Max’ Leiche saß Tony. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen und schaukelte wie weggetreten vor und zurück. Gottfried beugte sich zu ihm hinunter. Er musste schreien, damit Tony ihn ansah. Sein Blick war leer.
»Verdammt, Tony! Was ist hier passiert? Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht reingehen sollst, bevor ich da bin!«
Er erhielt keine Antwort. Tonys Lider waren geschwollen, die geröteten Augen stachen aus der dunklen Haut hervor. Gottfried legte dem jungen Mann die Hände auf die Schultern.
»Wir müssen uns was überlegen. Ich will nicht ohne Koch dastehen. Hast du die Bullen gerufen?«, fragte er.
Tony schüttelte langsam den Kopf. Eigentlich hätte Gottfried die Antwort ahnen können. Tony konnte die Polizei nicht rufen: Alle hatten mitbekommen, wie er sich einige Stunden zuvor im Kafi Glück mit Max geprügelt hatte. Aber Gottfried wusste, dass es keine Alternative gab. Er richtete sich auf, zog das Handy aus der Jackentasche und wählte den Notruf.
»Es war offen«, flüsterte Tony vom Boden. Gottfried hielt das Mikrophon zu.
»Was?«
»Die Tür stand offen, als ich kam.«
»Das ist gut.«
Tony hörte, wie sein Boss erklärte, was sie im falschen Moment an den falschen Ort geführt hatte. Ebenso wie er die Fragen beantwortete, die der Polizist in der Zentrale stellte, um Gottfried in der Leitung zu halten, solange der Streifenwagen unterwegs war. Die Polizeiwache von Wiedikon lag nur ein paar Straßen entfernt, und die Sirenen waren bereits zu hören. In Zürich waren die Entfernungen nie sehr groß. Tony konnte nicht an einen möglichen Ausweg denken. Er konnte an gar nichts denken.
Gottfried legte auf, als ein Krankenwagen vor Max’ Atelier hielt, gefolgt von zwei Streifenwagen. Die blinkenden Lichter fielen durch die Glasbausteine und zersprangen zu Hunderten blauer und orangeroter Blitze, die wie Glühwürmchen über die an die Wände gelehnten Gemälde huschten. Gleich neben dem leblosen Körper des Malers schien das Licht von einem der Bilder in alle Richtungen zurückzuprallen wie von einer Discokugel. Gottfried trat näher, um festzustellen, dass der Effekt von den Köpfen Dutzender Nägel verursacht wurde, die in der Leinwand steckten. Max hatte den Titel des Werks auf eine der Längsseiten geschrieben. Ein einziges Wort in schwarzen Großbuchstaben: WUT.
Das Zuschlagen der Autotüren und die knirschenden Schritte der Polizeistiefel auf dem gefrorenen Schnee rissen Gottfried aus seiner Lethargie. Er griff nach Tonys Hand und zog ihn zur Tür des Ateliers, um dort auf die Beamten zu warten. Er wollte den Anschein von Normalität erwecken, obwohl die Situation alles andere als normal war.
Zwei Polizisten führten Gottfried und Tony in eine ruhige Ecke und begannen, ihnen Fragen zu stellen, während die übrigen Beamten den Tatort in Augenschein nahmen. Die Besatzung des Rettungswagens kümmerte sich um Max. Das Ganze kam Gottfried wie ein Film vor, und er beschloss, seine Rolle zu spielen. Neben ihm bedeckte Tony unauffällig seine geschwollenen Fingerknöchel mit der anderen Hand, während er aus dem Augenwinkel die Rettungssanitäterin beobachtete, die ihre Instrumente neben Max ausgebreitet hatte und nun seinen Puls fühlte. Nach einigen Sekunden sprang die Frau auf und rief:
»Er lebt!«
Herbst 1942
Hermann Messmer tastete den Boden mit einem Spazierstock ab, während er durch den dichten Wald stapfte. Eine Schicht aus trockenem Laub reichte ihm bis weit über die Knöchel und verbarg den in dämmriges Licht getauchten Weg, der nach Moos und Torf roch. Ein versteckter Ast war ihm gegen das Schienbein geschlagen. Er spürte den stechenden Schmerz durch den dicken Stoff der Hose, aber er blieb nicht stehen, um nachzusehen, wie schlimm es war. Es war nicht diese Verletzung, die ihm Sorge machte. Er hatte seinen Schützling zurücklassen müssen, um dessen Leben zu retten. Nun hastete er hangabwärts, um zu der Holzfällerhütte zu gelangen, bevor das Licht genauso schnell schwand wie die Wärme des Tages. Er kannte den Weg gut, aber seine Unruhe veränderte die Landschaft, und an jeder Weggabelung überfielen ihn Zweifel.
Er blieb einen Moment stehen, um nach einem Hinweis zu suchen, der ihm bestätigte, dass er auf dem richtigen Weg war, doch hinter den Bäumen waren nur noch mehr Bäume und unter den Blättern noch mehr Blätter. Keuchend verfluchte er im Stillen den Regierungsbeschluss, der ihn in diese Lage gebracht hatte. Die Welt befand sich im Krieg, und die Schweiz verschanzte sich hinter ihrer Neutralität, die zunehmend Risse bekam.
Anfang August hatte der Bundesrat in dürren Sätzen die Schließung der Grenze für Juden beschlossen: »Aufzunehmen sind vorläufig nur noch Ausländer, die aus politischen oder anderen Gründen wirklich an Leib und Leben gefährdet sind und keinen anderen Ausweg als die Flucht nach der Schweiz haben, um sich der Gefahr zu entziehen. Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z.B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge.«
Obwohl die Entscheidung im ganzen Land zu Protesten geführt hatte, war der Beschluss zum Ende desselben Monats bestätigt worden. »Das Boot ist voll«. Dieser vom Radio ausgespuckte Satz hatte sich in Hermann eingebrannt wie das glühende Brandeisen auf der Kruppe eines Pferdes. »Das Boot ist voll«. Die Stimme des Justizministers Eduard von Steiger war bedeutungsschwer durch das bescheidene Wohnzimmer der Messmers gehallt, das nur mit dem Allernötigsten eingerichtet war: Ein Tisch, zwei Stühle, ein erloschener Kachelofen und der Handarbeitskorb von Hermanns Frau Ada teilten sich den Raum. Eine goldgerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie vom Tag ihrer Hochzeit hing einsam neben dem Fenster als einzige Erinnerung an bessere Zeiten.
Sie saßen gerade beim Abendessen, als diese vier Worte, mit schweizerischer Getragenheit ausgesprochen, ihnen den Appetit verschlugen. Die Metapher ließ keinen Zweifel aufkommen: »Wer ein schon stark besetztes kleines Rettungsboot mit beschränktem Fassungsvermögen und ebenso beschränkten Vorräten zu kommandieren hat, indessen Tausende von Opfern einer Schiffskatastrophe nach Rettung schreien, muss hart scheinen, wenn er nicht alle aufnehmen kann. Und doch ist er noch menschlich, wenn er beizeiten vor falschen Hoffnungen warnt und wenigstens die schon Aufgenommenen zu retten sucht.« Es war der 30. August 1942, als das große rote J, das in die Pässe der Juden gestempelt war, auch in der Schweiz zu einem tödlichen Siegel wurde.
Hermann weigerte sich zu glauben, dass das Land, das seine Eltern aufgenommen hatte, als sie während des Ersten Weltkriegs aus Deutschland geflüchtet waren, Tausende von Hilfesuchenden dem nahezu sicheren Tod preisgab. Die Lebensmittelknappheit konnte nicht als Entschuldigung dienen. Der Wahlen-Plan hatte Parks, Gärten, Plätze, Höfe und sogar Blumentöpfe in landwirtschaftliche Flächen verwandelt, auf denen Kartoffeln, Gemüse und Getreide wuchsen. Lebensmittelkarten sorgten dafür, dass weitere Grundnahrungsmittel an die Bürger ausgegeben wurden. Es war nicht viel, aber alle hatten zu essen.
Die Schweiz war von den Nazis und ihren Verbündeten umzingelt. Doch trotz der zunehmenden Präsenz der Gestapo in den Straßen ging das Leben mehr oder weniger seinen gewohnten Gang, auch wenn nicht zu übersehen war, dass der Ausdruck ›Überfremdung‹ in Zürich wie im ganzen Land traurigerweise populär geworden war. Zu viele Fremde.
Die Teller standen weiterhin unangerührt vor Ada und Hermann. Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein, obwohl sie gar keinen Durst hatte.
»Die Grenzen zu schließen ist, als würde man sich die Augen zuhalten, um nichts sehen zu müssen«, sagte sie dann.
»Alle machen es so«, antwortete er. »Denk daran, was in Evian passiert ist.«
»Es sind Menschen, Hermann. Man kann Menschen nicht einfach gegen Lebensmittel und Kohle eintauschen. Wie Sammelbildchen.«
»Es ist nicht nur das, mein Liebling. Was hindert Deutschland daran, unser Land einfach zu besetzen? Ihnen gehört schon halb Europa.«
»Willst du damit sagen, dass du die Entscheidung der Regierung gutheißt, Hermann?«
»Natürlich nicht!«, widersprach er heftig. »Ich bin Deutscher, erinnerst du dich? Ich bin hier, weil sie es schon einmal versucht haben. Sie haben versucht, ein großdeutsches Reich zu schaffen, aber es ist ihnen nicht gelungen.«
»Also?«
Hermann betrachtete das Foto vom Tag seiner Hochzeit mit Ada und erinnerte sich, wie sehr sie sich darauf gefreut hatten, eine Familie zu sein. Er dachte an das Kind, das nicht zur Welt gekommen war. Dann sah er wieder zu seiner Frau, die auf eine Antwort wartete. Seine Eltern hatten fliehen müssen. Er würde das nicht tun.
»Wenn die Schweiz beschlossen hat, den Flüchtlingen die Tür zuzuschlagen, öffnen wir die Fenster, Ada. Wenn sie nicht massenweise kommen können, werden wir sie einzeln ins Land schleusen.«
Sommer 2009
Gottfried drehte sich in Julias riesigem Bett um und öffnete die Augen einen Spaltbreit, ohne ganz wach zu werden. Die Sonne knallte durchs Fenster. Er spürte das Kitzeln kleiner Schweißtropfen, die ihm den Hals hinabrannen. Der Klingelton seines Mobiltelefons drang gedämpft zu ihm. Ihm war nicht ganz klar, ob das Geräusch real war oder der Nachhall eines noch nicht verlassenen Traums. Er hoffte, Julia würde für ihn rangehen, und beschloss, den Anruf zu ignorieren. Doch das Handy gab keine Ruhe und zwang ihn schließlich aufzustehen. Eine kurze Nachricht auf der Küchenplatte informierte ihn darüber, dass seine Freundin erst spät zurückkommen würde. In Unterhosen und sich durchs zerzauste Haar fahrend, nahm er widerwillig den Anruf entgegen. Er hasste unterdrückte Rufnummern.
»Messmer.«
»Guten Tag, Herr Messmer. Spreche ich mit Gottfried Messmer, dem Sohn von Hermann und Ada Messmer?«
»Ja. Und Sie sind …?«
»Gehört Ihnen ein Gastronomiebetrieb namens Kafi Glück in Zürich?«
»Es ist mehr als nur ein Gastronomiebetrieb, aber ja, ich bin der Besitzer. Wer sind Sie?«
»Ihr Vater ist am 13. Januar 1960 verstorben?«
Gottfrieds Gehirn arbeitete nur langsam. Er spürte Anzeichen eines Katers, der, das wusste er, den ganzen Tag anhalten würde. Er war nicht in der Stimmung für Ratespiele, und es interessierte ihn einen feuchten Kehricht, dass die Person, die ihn mit der Kaltblütigkeit eines Scharfschützen mit Fragen torpedierte, eine Frau war. Sie hatte ihn in Unterhosen erwischt.
»Würden Sie mir bitte sagen, wer zum Teufel Sie sind und was Sie von mir wollen?«
Seine Gesprächspartnerin blieb unbeeindruckt.
»Beantworten Sie bitte meine Frage, Herr Messmer. Erst dann kann ich Ihnen sagen, wer ich bin.«
»Das ist doch Schwachsinn. Glauben Sie nicht, dass ich womöglich lieber kooperieren würde, wenn ich wüsste, mit wem ich es zu tun habe?«
»Ich habe Ihnen lediglich eine Frage gestellt. Es steht Ihnen frei, darauf zu antworten oder nicht.«
Gottfried war kurz davor aufzulegen, doch dann würde er nie den Grund dieses Anrufs erfahren. Nach kurzem Zögern beschloss er zu antworten.
»Ja, so ist es. Am 13. Januar. Und jetzt sagen Sie mir …«
Die Frau ließ ihn nicht aussprechen.
»Nun, dann gehe ich davon aus, dass unsere Mitarbeiter die richtige Person gefunden haben. Ich bitte um Entschuldigung für das Verhör, Herr Messmer. Es ist eine notwendige Formalität. Sie sprechen mit der Sekretärin von Herrn Markus Kielholz, Abteilung für Rechtsnachfolge bei der Zürcher Bank. Herr Kielholz würde gerne in einer vertraulichen Angelegenheit einen Gesprächstermin mit Ihnen in unserer Niederlassung am Paradeplatz vereinbaren.«
»Wer, sagten Sie, sind Sie?«, beharrte Gottfried, verwirrt von dem Ton der Anruferin, die nun um Freundlichkeit bemüht war.
»Die Sekretärin von Herrn Kielholz von der Zürcher Bank.«
»Ich meinte Ihren Namen.«
»Ach so, natürlich. Entschuldigen Sie. Anna Butkovic.«
»Und weshalb will mich dieser Herr Kielholz von der Zürcher Bank sprechen?«
»Wie gesagt, Herr Messmer, es handelt sich um eine vertrauliche Angelegenheit. Selbst wenn ich den Grund kennen würde, könnte ich Ihnen am Telefon nicht mehr sagen. Herr Kielholz möchte Sie persönlich sprechen.«
»Verstehe. Und natürlich ist es dringend.«
»Ich denke schon, Herr Messmer.«
Gottfried trat ans Küchenfenster. Auf der anderen Seite der Glasscheibe hangelte sich die Katze eines Nachbarn vorsichtig die Holzkonstruktion hinunter, die ihr Besitzer am Balkon angebracht hatte, damit das Tier in den Garten gelangen konnte. Er stellte fest, dass die Hortensien blühten, ohne dass es ihm aufgefallen wäre. Als die Katze unten angekommen war, widmete er sich wieder der Unterhaltung mit Anna Butkovic, das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, wobei er der Versuchung widerstand, genauso das Weite zu suchen wie die Katze. Er träumte davon, tagsüber zu leben und sich nachts zu erholen. Einen eigenen Garten zu haben. Sich um die Hortensien zu kümmern. Der Kater wurde mit dem Alter immer schlimmer.
»Schauen Sie, Frau Butkovic, ich bin heute Nacht erst spät ins Bett gekommen und gerade erst aufgestanden. Ehrlich gesagt, würde ich immer noch schlafen, wenn Sie mich nicht mit Ihrem Dauerklingeln geweckt hätten. Würde es Ihnen etwas ausmachen, in einer halben Stunde noch mal anzurufen? Ich muss erst duschen und einen Blick in meine Agenda werfen. Ich nehme an, Ihr Chef kann dreißig Minuten warten, oder?«
»Natürlich, Herr Messmer. Aber ich bin sicher, dass es sich um eine Angelegenheit in Ihrem Interesse handelt. Bitte zögern Sie den Termin nicht hinaus.«
»Keine Sorge, das werde ich nicht tun.«
In Wahrheit besaß Gottfried gar keine Agenda. Er zog es vor, Herr über seine Zeit zu sein, anstatt sie durchzutakten, um anderen Priorität einzuräumen. Er lächelte, als er sah, dass Julia die Kaffeemaschine angelassen hatte. Er mochte es nicht zu warten, bis sie aufgeheizt war. Er nahm eine schwarze Kapsel, schob sie in den Schlitz und schloss den Deckel. »Das ist kein richtiger Kaffee«, sagte er sich. »Es ist ein Surrogat, das sie in Kapseln stecken, damit man es nicht sehen und riechen kann, bis einem nichts anderes mehr übrigbleibt, als es zu trinken.« Er hatte es Julia schon ein paarmal gesagt, aber ihr war es völlig egal, dass ihm der Kaffee bei ihr nicht passte: Es waren ihre Wohnung und ihr Kaffee, auch wenn sie ihn eher aus Gewohnheit als mit Genuss trank, immer mit Sojamilch und zwei Löffeln Zucker. Gottfried hingegen bevorzugte ihn schwarz, ohne Zucker. »Wahrscheinlich trinkt Julia deshalb Kapselkaffee«, schloss er. »Weil sie eigentlich keinen Kaffee mag.«
Gottfried bevorzugte italienische Kaffeemaschinen, weil sie ihn an Gloria erinnerten, seine erste Frau. Sie hatte ihm beigebracht, aus dem Kaffeesatz zu lesen, der in der Tasse zurückblieb. Julias Kapseln hinterließen kaum Kaffeesatz, und ohne Kaffeesatz gab es keine Zukunft, die man lesen konnte. »So weit ist es durch diese Kapseln gekommen. Es gibt keine Zukunft mehr.« Er lachte über seine eigene Übertreibung. »Oder eine Zukunft voller Müll.«
Die Tasse in der Hand, setzte er sich auf einen der beiden Hocker, die aus der kleinen Kochinsel einen Essplatz machten. Er griff erneut nach dem Handy, um Tony eine Nachricht zu schicken: »Hoi, das Lammfleisch muss weg.« Der Koch antwortete sofort. »Verstanden, Chef. Heute Abend Spießchen mit Gemüse«. Die ironische Bezeichnung ›Chef‹ entlockte Gottfried ein Lächeln. In der Küche des Kafi Glück hatte Tony das Sagen, aber Gottfried kümmerte sich um die Vorräte, was nicht immer zum Wohlgefallen des Kochs war.
Er trank einen Schluck Kaffee und las die Tagespresse. Tagesanzeiger und NZZ hatten dasselbe Thema auf ihren Startseiten: »Die UBS gibt die Identität von 4550 Kunden an die USA preis.« Die Tage des Schweizer Bankgeheimnisses, das den Kunden Vertraulichkeit hinsichtlich ihrer Konten zusicherte, waren gezählt. Gottfried überflog die Schlagzeilen, ohne sich näher mit einem Thema zu befassen. Er las nicht gerne am Bildschirm. Außerdem wusste er nicht, wo er seine Brille gelassen hatte, und ohne Brille konnte er die winzige Schrift nicht entziffern, in der die Textblöcke der Online-Nachrichten geschrieben waren.
Als seine Augen zu brennen begannen, stand er auf, um die Ladestation des iPods zu suchen. Julia legte sie ständig woandershin. Er fand sie in einem Regal, in dem sich willkürlich und ohne ersichtliche Ordnung Bücher, Krimskrams und Fotografien stapelten. Er fuhr mit dem Zeigefinger über das Navigationsrad bis zum Buchstaben E und wollte gerade auf Play drücken, als das aufdringliche Klingeln des Handys dazwischenfunkte. Es waren exakt dreißig Minuten vergangen. Gottfried ging widerwillig ran.
»Messmer.«
»Guten Tag, Herr Messmer. Hier ist Anna Butkovic.«
Er wollte das Gespräch nicht unnötig in die Länge ziehen und auch nicht länger im Ungewissen bleiben; also machte er noch für denselben Nachmittag einen Termin mit Markus Kielholz aus. Die warme Stimme von Terry Evans erfüllte Julias Wohnung mit einem schwermütigen Blues, während Gottfried sich fragte, was das für eine Angelegenheit sein mochte, dass der Vertreter einer Bank, deren Kunde er nicht war, ihn unbedingt sprechen wollte.
Die Alliierten hatten Grund zum Optimismus. Aus Italien kamen Gerüchte über eine Schwächung Mussolinis, und man war zuversichtlich, dass Vichy-Frankreich nicht mehr lange besetzt sein würde. Doch niemand konnte voraussagen, zu welcher Seite sich die Waage in diesem grausamen Konflikt neigen würde. Alles, was das Ehepaar Messmer mit Gewissheit wusste, war, dass die Zukunft nicht in den Händen derer liegen konnte und durfte, die sich in ihrem Hass herausnahmen, Gott zu spielen. Einen Gott der Finsternis. Den leibhaftigen Teufel.
Obwohl Hermann und Ada gläubig waren, wussten sie, dass es das absolute Gute und Böse nicht gab; Gott konnte grausam sein und der Teufel ein guter Verbündeter. So rechtfertigte es Ada ihrem Mann gegenüber: »Niemand ist nur gut oder schlecht, Hermann. Die meisten Menschen führen ein Leben, in dem sich das Gute und das Böse die Waage halten.«
Und genau das hatte Hermann dazu gebracht, diesem Flüchtling zu helfen. Er konnte ihn nicht einfach zurücklassen. Wütend umklammerte er den Spazierstock und ging weiter, lehnte sich gegen die unerwartete Wendung des Schicksals auf, das ihn in Versuchung führte, sein Vorhaben aufzugeben. »Ich bin nicht wie sie. Ada und ich sind nicht so. Wir reichen denen, die Hilfe brauchen, die Hand«, sagte er zu sich selbst. »Ich werde das Paket an den nächsten Boten übergeben. Und wenn es mich das Leben kostet.«
Mit diesem Versprechen setzte er seinen Weg bergabwärts fort, quer durch die dichten Buchen-, Eichen- und Tannenwälder rings um den Walensee, wo die Gipfel über 2000 Meter hoch aufragten. Die Schmerzen im Schienbein wurden immer stärker, genau wie seine Angst.
Plötzlich glaubte er, in der Ferne etwas Vertrautes zu erkennen. »Gott lässt sinken, aber nicht ertrinken«, murmelte er vor sich hin. Mit angehaltenem Atem ging er weiter und begann dann zu rennen, getrieben von einer Zuversicht, die genau wie seine Schritte immer kleiner wurde, je mehr er sich dem Ziel näherte. Schließlich warf er den Stock weg und sank vor den Steinen der einzigen noch stehenden Mauer auf die Knie. Es roch durchdringend nach verbranntem Holz.
Ungläubig betrachtete Hermann die verkohlten Überreste der kleinen Holzfällerhütte, dem einzigen Ort in mehreren Kilometern Umkreis, an dem er so etwas wie Verbandszeug hätte finden können. Einige Minuten lang hatte er noch Hoffnung, während er verzweifelt den Schutt durchwühlte, aber vergebens. In der Ferne waren Schüsse zu hören. Jäger oder Soldaten? In weniger als einer Stunde würde die Sonne untergehen. Er hatte zwei Optionen: Zu seinem Schützling zurückkehren und die Nacht im Wald bei einem Mann mit einem offenen Schienbeinbruch verbringen, der Kälte und den wilden Tieren ausgeliefert, die schon bald das Blut wittern würden. Oder sein eben gegebenes Versprechen vergessen und sich auf den Heimweg machen.
Er hob den Stock auf und ging eilig hangaufwärts, während er sein Mantra wiederholte. »Ich bin nicht wie sie.« Ihm fiel ein, dass er das Bein des Juden mit zwei stabilen Ästen und den Ärmeln seines Hemds schienen könnte. Das würde genügen, damit der arme Teufel sich so weit bewegen konnte, um einen Ort zu suchen, an dem sie die Nacht verbringen konnten. Hermann hatte nur ein Taschenmesser dabei.
Zweimal musste er stehen bleiben, um Luft zu schöpfen. Beim zweiten Mal bemerkte er einen mächtigen umgestürzten Baum, dessen Stamm innen hohl war. Wenn es ihm gelänge, das Paket bis dorthin zu bringen, könnte er beide Enden mit Steinen oder Ästen verschließen. Es wäre ein annehmbares Versteck für die dunkelsten Stunden. Wenn der Mann, so schwer verletzt, wie er war, die nächtliche Kälte in den Alpen überlebte, könnte er ihn dem nächsten Kurier in der beruhigenden Gewissheit übergeben, dass man ihn nicht mehr auswies, da er sich nun auf Schweizer Boden befand. Und wenn er starb, würde der hohle Baumstamm sein Sarg sein.
Der Gedanke an einen möglichen Ausweg verlieh Hermann Flügel, und schon bald erkannte er die Rückseite des Felsens, an dem er den Verletzten zurückgelassen hatte. Er umrundete ihn vorsichtig und mit gespitzten Ohren. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Auf der anderen Seite war es erschreckend still. Für eine Sekunde befürchtete er, der Mann sei gestorben. Knapp drei Schritte trennten ihn von der Gewissheit, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Was sollte er mit dem Toten machen? Wie sollte er einen Toten übergeben? Vielleicht war der Mann auch nur bewusstlos. Die Schmerzen, der Blutverlust … Er hielt den Atem an und ging um den Vorsprung herum: Nichts. Ungläubig blickte er sich um. Hatte er sich verlaufen? War dies der richtige Felsen? Er machte kehrt und ging noch einmal um den Felsblock herum. Dann entdeckte er etwas auf dem Boden, das alle seine Fragen beantwortete. Der Flüchtling war verschwunden. Nur ein rötlicher, eingetrockneter Fleck zeugte davon, dass an dieser Stelle vor knapp einer halben Stunde noch ein Mann mit gebrochenem Bein gelegen hatte. Hermann wurde bewusst, dass er nicht einmal seinen richtigen Namen kannte.
Markus Kielholz nahm den kleinen Taschenspiegel, den er in einer Schublade seines Schreibtischs aufbewahrte, und bleckte die Zähne wie ein wieherndes Pferd. Mit dem Nagel des kleinen Fingers entfernte er ein winziges Stückchen Basilikum, das zwischen den Schneidezähnen steckte. An jedem anderen Tag hätte er sich die Zähne geputzt, bevor er sich wieder an die Arbeit machte, aber Gottfried Messmer war zu früh da. Als er vom Mittagessen zurückkam, war er ihm am Empfang begegnet, deshalb erschien es ihm nicht korrekt, ihn jetzt warten zu lassen. Offen gestanden, wollte er selbst nicht länger warten, nachdem sein Team endlich den Erben in der kniffligsten Angelegenheit seiner ganzen Zeit als Leiter der Abteilung für Rechtsnachfolge ausfindig gemacht hatte. Jetzt konnte er beruhigt in Rente gehen.
Jedes nachrichtenlose Konto bedeutete aufwändige Nachforschungen nach möglichen Erben, ein Prozess, der sich nur selten lohnte, da die Begünstigten das Geld oder die Wertsachen für gewöhnlich in ihr Heimatland oder in ein Steuerparadies transferierten. Der Erfolg bestand darin, ein Konto aus seinem Dornröschenschlaf zu erwecken, um es anschließend auflösen zu können.
Gottfried war noch in seiner Wohnung vorbeigegangen, um sich dem Anlass entsprechend anzuziehen.
Er hatte den einzigen Anzug aus der Versenkung hervorgeholt, den er besaß – nicht aus Geldnot, sondern wegen mangelnder Gelegenheiten für diese Art von Etikette. Während Gottfried sich umzog, fragte er sich, was dieser Kielholz über Hermann und Ada wusste. Und über ihn und das Kafi Glück. Vor allem aber fragte er sich, ob der Banker etwas wusste, von dem er selbst nichts ahnte. Das Interesse dieses Bankmenschen machte ihn stutzig. So viele Ungewissheiten konnten nichts Gutes bedeuten.
Die Hose spannte am Bund, so dass er einen Gürtel anziehen musste, um das zu überspielen. Auch das Jackett ließ sich nicht richtig zuknöpfen, weil er inzwischen einen ziemlichen Bierbauch hatte. Das Kafi Glück lief gut, aber dort brauchte man keinen Anzug. Außerdem hatte das Nachtleben die Zeit, in der er frühmorgens entlang der Limmat vom Zürichsee zur Badestelle auf der Werdinsel gelaufen war, auf null reduziert. Eine beginnende Arthrose machte ihm das Laufen unmöglich. Und verkatert zu sein half auch nicht. Auf eine Krawatte verzichtete er, weil er keine besaß. Er hatte damals seinen Vater an einer Krawatte erhängt aufgefunden.
Kielholz’ Büro befand sich im ersten Stock eines neoklassizistischen Gebäudes am belebten Paradeplatz, auf dem Weg zwischen Hauptbahnhof und Zürichsee. Gottfried war fünfzehn Minuten früher dort als vereinbart.
Frau Butkovic war wesentlich freundlicher und ein bisschen älter, als Gottfried sie aufgrund ihrer Stimme eingeschätzt hatte. Das gefiel ihm. Er ertrug die Arroganz der Jugend nicht. Julia behauptete immer, das sei ein Zeichen dafür, dass er alt werde. Er verbrachte die Wartezeit mit einem mehr oder weniger kurzweiligen Gespräch mit Kielholz’ Sekretärin, aber es gelang ihm nicht, der Frau den Grund zu entlocken, der ihn in diese sterile Bürowelt geführt hatte, wo das Vorzimmer so groß war wie seine ganze Wohnung.
Als Markus Kielholz endlich kam, reichte er ihm die verschwitzte Hand zu einem festen Händedruck, bevor er in seinem Büro verschwand, ohne ihn hereinzubitten. Gottfried sah Frau Butkovic an, unschlüssig, ob er ihm folgen oder auf seinen Warteplatz zurückkehren sollte. Dann klingelte das Telefon der Sekretärin, und diese stand sofort auf, um ihn in das Allerheiligste des Bankers zu führen. Ihre Absätze klapperten auf dem beigefarbenen Marmor. Sie zog eine Spur ihres süßlichen Parfüms hinter sich her, das sich in Schwaden im Raum ausbreitete.
Kielholz erwartete ihn mit einem Lächeln, das zu übertrieben war, um ehrlich zu sein. Sein Büro war hell und geräumig und mit einem Möbelsystem aus Metall eingerichtet, das ebenso kühl wie teuer wirkte. Jede Menge zeitgenössischer Kunst hing an den Wänden und stand überall in den Regalen. »Kunst für Leute, die mehr von Geld verstehen als von Kunst«, sagte sich Gottfried. Sein Gastgeber bot ihm einen Platz an und versuchte, ein höfliches Gespräch zu beginnen. Der Besitzer des Kafi Glück wartete nicht einmal ab, bis er saß, um ihn zu unterbrechen.
»Wissen Sie, Herr Kielholz, ich habe kein Interesse daran, Kunde Ihrer Bank zu werden, falls es das ist, weswegen Sie mich hergebeten haben. Geld interessiert mich nur als Mittel zum Zweck. An mir werden Sie nichts verdienen.«
Kielholz hielt sein Grinsekatzengesicht noch ein paar Sekunden aufrecht und kam dann zur Sache.
»Ihr Geld interessiert mich nicht, Herr Messmer. Die Angelegenheit, wegen der ich Sie anrufen ließ, ist in Ihrem Interesse, nicht in meinem.« Er ging um seinen Schreibtisch herum und nahm Gottfried gegenüber Platz. »Wie Frau Butkovic Ihnen sicherlich mitgeteilt hat, leite ich die Abteilung für Rechtsnachfolge der Zürcher Bank. Und offensichtlich sind Sie der Erbe eines Bankkontos bei unserem Institut. Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal von schlafenden Konten gehört haben.«
»Ich dachte, Geld schläft nie«, antwortete Gottfried knapp aus seinem funktionalen Ledersessel mit verchromten Füßen.
»In diesem Fall schon«, entgegnete Kielholz, ohne sich von der Ironie seines Gegenübers aus der Ruhe bringen zu lassen. »Es schläft seit fast fünfzig Jahren. Allerdings wissen wir gar nicht, ob es sich um Geld handelt. Zu dem Konto gehört nämlich ein Bankschließfach, und wir wissen nicht, was es enthält.«
Der Bankangestellte sah Gottfried an, während er auf eine Reaktion wartete, die nicht kam. Unbehaglich rutschte er auf seinem Stuhl hin und her, um schließlich das Schweigen zu brechen:
»Bis zum Jahr 1973 wurden zwar die Gebühren bezahlt, aber es hat sich nie irgendwer für den Inhalt des Schließfachs interessiert. Es ist, als hätte Ihr Vater ein Konto eröffnet, das danach vollständig vergessen wurde.«
Gottfried stützte das Kinn in die Hand und hielt seinem Blick stand. Er sagte nichts; er sah keine Notwendigkeit, vorzeitig Luft zu verschwenden. Vermutlich war der Moment, in dem ihm der Mann den wahren Grund nannte, aus dem er ihn hatte kommen lassen, noch nicht gekommen. Alles, was er sagte, schien ihm nur Vorgeplänkel zu sein, Worthülsen ohne tatsächliche Informationen. Geplapper, bevor er zum Angriff ansetzte. Er hatte sich nicht geirrt, denn Kielholz richtete sich auf und stützte die Ellbogen auf den Tisch, um sich ihm anzunähern. Dann ließ er die Bombe platzen:
»Schauen Sie, Herr Messmer, ich will ehrlich zu Ihnen sein: Wir möchten, dass Sie das Schließfach öffnen, damit wir das Konto auflösen können.«
Gottfried lehnte sich zurück und ließ sich einen Moment Zeit, bevor er antwortete. Ein geerbtes Bankschließfach lag weit außerhalb aller Vorstellungen, die er sich als Grund für diesen Termin ausgemalt hatte. Geheimnisse lockten ihn nicht. Sie machten ihm vielmehr Angst.
»Und warum sollte ich es öffnen?«
April 1938
Die Ursprünge von Jakob Sandlers Glauben verloren sich im weitverzweigten Geäst seines Stammbaums. Deshalb war ihm nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland im Jahr 1938 klar, dass er das Land verlassen musste. Es war zwei Wochen nach Purim. Seine Frau und seine Tochter waren schon Tage vor diesem schicksalhaften 12