Kretische Ehre

Nikos Milonás

Kretische Ehre

Kriminalroman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Nikos Milonás

Nikos Milonás alias Frank D. Müller hat sich bereits im jungen Alter von 17 Jahren bei seiner ersten Kreta-Reise in die Mittelmeerinsel verliebt. Aus einem kühlen norddeutschen Sommer kommend, war er überwältigt, als er vom Schiff aus die Küste zu Gesicht bekam und der intensive Duft von wildem Thymian übers Meer zu ihm herüberwehte. Seither verbringt er so viel Zeit wie möglich auf Kreta und hat Land und Leute fest ins Herz geschlossen. In seinem deutschen Leben wohnt der gebürtige Hamburger mittlerweile in München, arbeitet als Regieassistent und Dokumentarfilmer und ist (Co-)Autor diverser TV-Sendungen (u.a. »München 7«).

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Die Michalis-Charisteas-Reihe:
Kretische Feindschaft
Kretischer Abgrund
Kretisches Schweigen

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Erschienen bei  FISCHER Scherz

© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Ageny GmbH, München.

Redaktion: Ilse Wagner

Covergestaltung: Johannes Wiebel|punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491427-5

kretischen Boden betritt, fühlt man sich frei.

 

Mikis Theodorakis

 

 

›Wie war das Leben für dich, Opa?‹,
fragte ich einen alten Kreter.

›Wie ein Glas frisches Wasser‹, erwiderte er mir. 

›Und hast du noch Durst, Opa?‹

›Verflucht sei der, der keinen Durst mehr hat!‹, rief er.

 

Nikos Kazantzakis

1. Kretische Feindschaft

2. Kretischer Abgrund

3. Kretisches Schweigen

4. Kretische Ehre

5. Kretische Nacht (erscheint 2023)

Michalis Charisteas, Mitte 30, Kommissar in Chania

Hannah Weingarten, Anfang 30, Kunsthistorikerin

Pavlos Koronaios, Anfang 50, Partner von Michalis

 

Sotiris Charisteas, Bruder von Michalis, Wirt des Athena

Takis Charisteas, Vater von Michalis, Wirt des Athena

Loukia Charisteas, Mutter von Michalis

Elena Chourdakis, Schwester von Michalis

Theo Chourdakis, Sohn von Elena, 11Jahre alt

Sofia und Loukia, 10 und 8Jahre alt, Töchter von Sotiris

 

Jorgos Charisteas, Leiter der Mordkommission von Chania

Myrta Diamantakos, Assistentin in der Polizeidirektion

Ioannis Karagounis, Leitender Kriminaldirektor von Chania

Kostas Zagorakis, Chef der Spurensicherung

Lambros Stournaras, Gerichtsmediziner Chania

 

Daniela Weingarten, Hannahs Mutter, Mitte 50

Eberhard Wagner, Stiefvater von Hannah, Ende 50

 

Galatia und Nikoletta, Töchter von Koronaios,
18 und 20Jahre alt

 

Manolis Mavropanos, Musiker, Ende 20

Loukas Mavropanos, sein Bruder, 32Jahre alt

Pandelis Mavropanos, der Vater, Anfang 60

Lambros Mavropanos, Onkel, 62Jahre alt

Anastathios Mavropanos, Großvater von Manolis,
95Jahre alt

Soula Mavropanos, Mutter von Manolis und Loukas,
Ende 50

Katerina Marinakis, Schwester von Manolis und Loukas, Mitte 30

 

Antonis Christakis, Musiker, Mitte 30

 

Vrasidas Lazaridis, Polizist in Anoghia, Mitte 30

Andreas Stamatakis, Revierleiter von Anoghia, Ende 40

Stelios Vikakis, Bürgermeister von Anoghia, Anfang 60

Melissa Padadakis, Wirtin in Anoghia, Mitte 30

Christos Stafylidis, Chef der Mordkommission Rethimnon

Nikos Kritselas, Chef der Mordkommission Heraklion

 

Markos, Kollege von Hannah

 

Aristidis Armenakis, Ziegenhirte in Kallikratis, Ende 50

Kostas Armenakis, dessen Sohn, Mitte 30

 

Spyros Tragaki, Nationalist aus Chersonissos, Anfang 20

Zabia Tragaki, seine Schwester, Mitte 20

Eva und Petros Tragaki, Eltern der beiden, Ende 40

Militos Fotiadis, Nationalist, auffällig hager, Mitte 40

Danilos Tsitselakis, Nationalist mit markantem Kopf, Ende 40

Alexandros Karabatsolis, Anführer der Nationalisten, Mitte 50

In der Ferne zogen die letzten Ausläufer des Gebirges vorbei. Die Sitze des Wagens waren blutverschmiert. Der Kopf des Mannes sackte zur Seite. Er schüttelte ihn.

Mühsam öffnete sein Bruder die Augen. »Ich will nicht …«, presste er leise hervor. Schweiß lief ihm über die Wangen. Sein Gesicht war fast weiß.

»Nein, du wirst nicht, wir haben es gleich geschafft …«

Hilflos sah er zu den anderen Männern, doch die wichen seinem Blick aus.

Sie näherten sich der Schnellstraße. Links ging es nach Rethimnon, dort gab es eine Klinik.

Doch der Fahrer bog nach rechts ab.

»Wo fährst du hin? Wir müssen ins Krankenhaus!«

»Wir fahren nach Heraklion! Sieh zu, dass er bis dahin durchhält!«, rief der Mann am Steuer.

»Aber das dauert fast eine Stunde! Und nach Rethimnon sind es zehn Minuten!«

»Wir müssen nach Heraklion! Und jetzt ist Ruhe«, sagte der Mann neben ihm schroff. Sein Anzug war voller Blut, seine linke Schulter mit einem Hemd notdürftig verbunden. Das Sakko hing nur noch über einem Arm.

»Aber er wird …«

Er wollte es nicht aussprechen. Doch er wusste, dass sein Bruder diese Fahrt nicht überleben würde.

Hannah schien regelrecht ergriffen zu sein. Konzentriert musterte sie die Ritzen in den Felsen und die kleinen Nebenkammern der Höhle. Michalis hingegen interessierte sich mehr für die große, längliche Öffnung über ihnen. Dort schien die Sonne, und es war warm und hell, und dort wäre Michalis jetzt gern gewesen. Hier unten war es ziemlich kühl.

»Und in einer dieser Kammern soll also Zeus aufgewachsen sein«, sagte Hannah.

»Eine merkwürdige Vorstellung, oder? Hier unten ein Kind zur Welt zu bringen?«, erwiderte Michalis.

»Kind. Na ja.« Hannah grinste. »Zeus war ja nun nicht gerade ein normales Kind. Sein Vater war ein Titan und Zeus ein Gott der griechischen Mythologie. Außerdem …«

Michalis legte seinen Kopf schräg und strich sich durch den dunklen Vollbart. Er wusste, dass seine deutsche Freundin sich gründlich auf diesen Besuch in der Idäischen Höhle hoch oben im Psiloritis-Gebirge vorbereitet hatte, während er sich nur noch dunkel an das erinnerte, was er in der Schule über Zeus, dessen Vater Kronos, seine Brüder Hades und Poseidon und all die anderen griechischen Götter gehört hatte.

»Angeblich ist Zeus ja gar nicht in dieser Höhle geboren worden«, fuhr Hannah fort.

»Es ist ja auch nur eine Legende.«

»Ja, klar, aber das mein ich nicht. Es gibt doch auch die

Michalis nickte und war froh, dass auch Hannah zum Eingang der Höhle blickte. Sie schien zu frösteln, doch Michalis kannte die Beharrlichkeit seiner Freundin, selbst wenn ihr kalt war. Sie hatten ihre Jacken im Wagen gelassen, und ihre hellblaue Bluse half kaum gegen die kühle Luft in der Höhle.

»Wollen wir wieder hoch?«, fragte Michalis. »Ich find es ziemlich frisch hier unten.«

»Das bisschen Kälte … stell dich nicht so an.« Hannah lachte.

»Sollte es dir nicht zu denken geben, dass wir die einzigen Besucher sind? Wahrscheinlich sind alle anderen schon erfroren.« Michalis grinste.

»Zeus ist hier ja auch nicht erfroren. Sonst gäb es doch eure ganze Mythologie nicht.« Hannah nahm Michalis’ Hand und gab ihm einen Kuss. »Ja, wir gehen gleich. Aber da oben …« Sie deutete auf ein dunkles Loch in zehn Metern Höhe. »Irgendwo da gibt es eine Kammer, in der im neunzehnten Jahrhundert kultische Gegenstände entdeckt wurden.«

Hannahs Blick wanderte über die feuchten, glatten Felsen. Am liebsten wäre sie zu dem dunklen Loch hinaufgeklettert, doch im Gegenlicht des Höhleneingangs tauchte die Frau vom Kassenhäuschen auf. Vermutlich gab es immer wieder Besucher, die unerlaubt in die verborgenen Bereiche der Höhle steigen wollten, dachte Michalis.

 

»Bald fällt der erste Schnee«, sagte Michalis. »Manchmal schneit es hier oben schon im November.«

Hannah deutete zu den Tieren, die in dem satten Grün der Hochebene grasten. »Aber die Ziegen und Schafe werden vorher in die Täler gebracht, oder?«, erkundigte sie sich.

»Ja, natürlich. Ab Ende Oktober werden sie auf LKWs oder Pick-ups geladen und nach unten gefahren.«

 

Mit der Fernbedienung ließ Hannah die Lichter ihres kleinen, braunen Toyota aufblinken. Seit sie fast jeden Tag zum Archäologischen Museum nach Heraklion fahren musste, hatte sie einen eigenen Wagen. So ganz hatte Michalis sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass jetzt meistens er der Beifahrer war.

»Wollen wir direkt nach Chania? Oder in Anoghia noch etwas essen?«, fragte Hannah.

»Lass uns lieber hier essen. Meine Familie ist gerade so anstrengend«, antwortete Michalis.

Hannah nickte. Ja, Michalis’ Familie war im Moment nicht einfach, und es tat gut, am Wochenende unterwegs zu sein.

Die letzte Nacht hatten sie in einer Pension in dem Ort Anoghia verbracht und abends in einer der Tavernen an der Platia Perachori gegessen. Später hatte vor einem Kafenion der Vater der Wirtin auf einer Laute kretische Lieder gespielt. Auch wenn der schnelle Rhythmus der Musik in Hannahs Ohren fremd klang, war sie beeindruckt gewesen.

 

»Vier Tage noch«, sagte Hannah unvermittelt.

Ja, vier Tage noch. Dann würde mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zum ersten Mal ein Teil von Hannahs Familie nach Kreta kommen. Hannah hatte sich diesen Besuch, wie sie in den letzten Wochen begriffen hatte, zu einfach vorgestellt. Denn was für eine pragmatische Deutsche einfach nur ein Besuch war, war für eine kretische Familie im Grunde ein Heiratsversprechen. Seit Hannah vor einigen Wochen erwähnt hatte, dass ihre Mutter mit ihrem zweiten Ehemann nach Chania kommen würde, stand für die Familie Charisteas fest: Michalis und Hannah würden, sobald die deutsche Familie eingetroffen war, ihre Hochzeit ankündigen.

»Ich hab das unterschätzt. Sonst hätte ich meiner Mutter ausgeredet, nach Kreta zu kommen«, erklärte Hannah.

»Wenigstens mein Vater ist nicht ganz so überzeugt, dass wir jetzt heiraten werden. Er glaubt erst dann an eine Hochzeit, wenn auch dein Vater in Chania auftaucht«, sagte Michalis.

Für Takis, Michalis’ Vater, war eine Hochzeit noch immer etwas, bei dem die Väter vorher gefragt werden und ihr Einverständnis geben mussten. Und da Takis bisher kaum Scheidungen erlebt hatte, konnte er mit der Tatsache, dass lediglich Hannahs Stiefvater auftauchte, nicht viel anfangen. Heiraten, das musste mit den richtigen Vätern besprochen werden.

»Es sei denn, wir wollen doch …«, meinte Michalis.

Auch wenn Michalis nicht sonderlich traditionell dachte, so war es für ihn doch selbstverständlich, dass er es war, der einen Heiratsantrag machen würde. Dass Hannah so offen darüber sprach, irritierte ihn. Vielleicht hätte er ihr sonst längst einen Antrag gemacht.

 

In Anoghia bemerkten sie schnell, dass etwas anders war als am Tag zuvor. Der obere Teil des Ortes war menschenleer, und es fuhren auch keine jungen Männer mit ihren Pick-ups oder auf ihren Motorrädern die Hauptstraße auf und ab. Im unteren Teil mussten sie viel weiter von der Platia entfernt parken als gestern.

»Wollen wir lieber weiterfahren?«, fragte Hannah.

»Bis Chania sind es mehr als zwei Stunden. Wir probieren es hier, und wenn es zu voll ist, fahren wir zur Küste und suchen uns da etwas.«

Vor allem wollte Michalis am Abend nicht im Athena auf seine Familie stoßen und wieder endlos über den Besuch von Hannahs Mutter und des Stiefvaters reden müssen.

Während sie an einer kleinen, geschlossenen Taverne vorbeigingen und von der Platia Perachori immer lauteres Stimmengewirr zu ihnen drang, beschlich Michalis das Gefühl, es wäre vielleicht doch besser gewesen, weiterzufahren.

Doch noch deutete nichts darauf hin, dass ihn das, was sie heute Nacht erleben würden, in seinen bisher schwierigsten Fall verwickeln würde.

Nach der zweiten engen Kurve, als die Kirche an der Platia auftauchte, fielen ihnen Kinder in festlicher Kleidung auf. Erst dann bemerkten sie, was anders war als gestern: Die kleinen Straßen waren gesperrt, und der Platz stand voller Reihen mit Tischen und Stühlen. Ein großes Fest wurde gefeiert, und Hunderte Menschen aßen und tranken, lachten und riefen laut durcheinander.

»Lass uns zur Küste fahren und irgendwo am Meer essen«, sagte Hannah, doch im selben Moment wurden sie von Kindern umringt und Richtung Platia gezogen. Michalis wusste, wie beeindruckt kretische Kinder von der großen Hannah mit ihren langen blonden Haaren waren. Und schon tauchten zwei Männer auf und führten Michalis und Hannah zu einem der festlich gedeckten Tische. Ohne dass die beiden lange gefragt wurden, saßen sie plötzlich inmitten der Feiernden und bekamen voll beladene Teller gereicht. Michalis bemerkte, dass viele Gäste kleine Ansteckkreuze trugen, und begriff: Sie waren in eine Tauffeier geraten.

Die Tische waren übersät mit orektika, den Vorspeisen, und dem tsigariasto, im Topf gebratenen Rippchen vom Lamm. Gerade wurde der Hauptgang aufgetragen, das pilafi, Lamm- und Ziegenfleisch mit vrasto, Reis, der im Saft des Fleisches gekocht worden war. Kaum leerte sich einer der Teller von Michalis und Hannah, wurde sofort nachgefüllt.

Während Hannah es genoss, von den Frauen und einigen Kindern umringt zu sein, sah Michalis sich um. Auf der Platia standen große Maulbeerbäume, die im Sommer Schatten spendeten. In vier Richtungen führten schmale Straßen weg. Am Eingang einer Gasse wuchs eine von einer hüfthohen Mauer umgebene Platane. Neben der Kirche gab es ein kleines Eckgebäude, in dem ein winziges Museum an den legendären, sehr jung verstorbenen Musiker Nikos Xylouris erinnerte.

Auf den Tischen entdeckte Michalis viele Bomboniera, jene mit Zuckerguss überzogenen Mandeln, die die Gäste einer Taufe noch in der Kirche als Geschenk bekamen. Eine Taufe wurde auf Kreta aufwendig gefeiert und war auch entsprechend teuer. Daher wurde mit so einem Fest gern gewartet, bis mehrere Kinder geboren waren und gleichzeitig getauft werden konnten, dann musste nur ein Mal ein Fest ausgerichtet werden. Heute hatten sich zwei Brüder zusammengetan, um die Taufe von insgesamt fünf Kindern zu feiern.

Michalis hatte schon oft an solchen großen Familienfesten teilgenommen. Hannah hingegen erlebte es zum ersten Mal und war von der Gastfreundschaft fasziniert.

Die Sonne stand inzwischen so tief, dass die Platia im Schatten lag. Es war zu spüren, dass die warme Jahreszeit vorüber

Michalis beugte sich zu Hannah. »Der in der Mitte, das ist Manolis Mavropanos«, sagte er leise.

»Kennst du ihn?«, fragte Hannah.

»Jeder auf Kreta kennt Manolis Mavropanos. Er ist einer der besten und berühmtesten Musiker der Insel. Ich war schon auf zwei seiner Konzerte.«

»Und der spielt hier bei einer Taufe?«

»Alle Musiker lieben es, auf Festen zu spielen. Andernfalls würden sie nicht respektiert werden, selbst wenn sie phantastisch sind«, antwortete Michalis.

»Und der andere, der auch dunkle Locken hat …«

»Das ist sein Bruder. Loukas. Auch ein guter Musiker. Aber Manolis ist unvergleichlich.«

Hannah kniff belustigt ihre Augen zusammen.

»Du klingst ja richtig stolz«, sagte sie.

»Manolis Mavropanos ist einer von uns, und er gibt Konzerte in ganz Europa«, erwiderte Michalis. Ja, er war stolz, dass Manolis Mavropanos zu Kreta gehörte und etwas von dem, das die Seele dieser Insel ausmachte, in die Welt trug.

Schon bald wurden Tische zur Seite geräumt, und einige Männer in kretischer Tracht und mit hohen weißen Stiefeln stellten sich im Halbkreis auf, um einen pentazolis, einen Tanz mit kunstvollen Sprüngen, vorzuführen.

»Den Sirtaki, den Anthony Quinn in dem Film Alexis Sorbas tanzt, gab es vorher auf Kreta gar nicht«, sagte Michalis. »Anthony Quinn hatte sich bei den Dreharbeiten angeblich einen Fuß gebrochen, aber die kretischen Tänze wären für ihn wohl ohnehin zu kompliziert gewesen. Diese Männer brauchen Jahre, um sie zu lernen. Anthony Quinn hat einige langsame Schritte anderer Tänze kombiniert, und jetzt glaubt alle Welt, auf Kreta wurde schon immer Sirtaki getanzt.«

»Unglaublich«, erwiderte Hannah beeindruckt, obwohl sie Michalis nur halb zugehört hatte. Denn das, was die Männer zeigten, war atemberaubend. Sie hielten sich an den Händen, und immer wieder setzte einer der Tänzer zu akrobatischen Sprüngen an. Kurz darauf versuchte dann der Nächste, ihn zu übertrumpfen.

Auch wenn die Aufmerksamkeit jetzt bei den Tänzern lag, so wurde nach jedem Stück doch Manolis Mavropanos umjubelt. Es schien ihm unangenehm zu sein, dass nicht den

 

Die Sonne war untergegangen, und die Tänzer hatten den Musikern und den Feiernden wieder das Feld überlassen. Im Dunkeln tanzten jetzt viele der Dorfbewohner, auch kleine Kinder, und die Stücke schienen immer wilder und leidenschaftlicher zu werden. Der dritte Musiker spielte nun eine defi, eine Trommel, mit der er den Rhythmus vorantrieb. Manolis Mavropanos sang mit geschlossenen Augen und mit mal weicher, mal rauer und schneidender Stimme. Immer wieder schob er eine mantinada ein, gesungene und gesprochene Reime, von denen die Gäste einige kannten, während andere improvisiert waren und begeistert aufgenommen wurden.

Michalis legte Hannah seine graue Lederjacke über die Schultern, begann dann allerdings selbst zu frösteln. Während er noch überlegte, aus dem Wagen warme Sachen zu holen, klingelte sein Smartphone. Seine Mutter.

»Kommt ihr heute Abend noch zum Essen?«, fragte Loukia.

»Wir sind noch in den Bergen, es wird spät!«, rief Michalis und entfernte sich ein paar Meter von den Feiernden.

»Wo seid ihr denn? Was ist das für ein Lärm bei euch?«

»Hier ist eine Taufe. In Anoghia. Manolis Mavropanos spielt!«, sagte Michalis.

»Manolis Mavropanos? Der Manolis Mavropanos?«, fragte Loukia.

»Ja genau. Hannah ist total begeistert.«

»Na gut. Aber morgen Abend kommt ihr ins Athena!«

Loukia legte auf, und Michalis lächelte. Manolis Mavropanos war auf Kreta so beliebt, dass es sogar seine Mutter besänftigte, wenn sie deshalb erst spät nach Chania zurückkamen.

»Ich geh zum Wagen und hol meine Jacke und einen Pullover«, sagte Hannah, als Michalis an den Tisch trat.

»Das kann ich gern machen«, bot Michalis an.

»Ich muss auch noch meine Mutter anrufen. Das hatte ich ihr versprochen.«

Michalis konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Ja, du bist nicht der Einzige, der mit seiner Familie telefonieren muss!«, rief Hannah und stand auf. Michalis sah ihr nach, bis sie an einer Ecke aus seinem Blickfeld verschwand.

Manolis Mavropanos schien seine Lyra wie in Trance zu spielen, während die anderen beiden Musiker den Rhythmus immer mehr beschleunigten. Mitten in dem Stück setzte das ein, was Michalis befürchtet hatte: Die jungen Männer schossen mit lauten Freudenschreien in die Luft. Michalis blickte sich besorgt um und hoffte, dass Hannah erst zurückkommen würde, wenn es wieder ruhig war.

Für Manolis Mavropanos und seine Musiker schienen diese Schüsse wie ein weiterer frenetischer Applaus zu sein, der sie

Manolis Mavropanos kippte langsam nach vorn und sackte zu Boden. Schlagartig verstummte die Musik, und auch die letzten Schüsse verhallten. Die junge Frau, die an der Hauswand gesessen hatte, stürzte zu dem am Boden Liegenden und schrie nach Hilfe. Die Wirtin kam aus dem Kafenion gerannt.

Um den eben noch umjubelten Manolis Mavropanos breitete sich eine Blutlache aus.

 

Die anderen beiden Musiker sprangen auf. Einen Moment lang war nichts zu hören außer den Schreien der jungen Frau. Loukas, der Bruder von Manolis Mavropanos, hielt plötzlich eine Pistole in der Hand und sah sich in alle Richtungen um. Michalis beobachtete, dass er auch in die Gasse hinter dem Kafenion blickte, in der es keine Tische und keine Feiernden gab. Der dritte Musiker stürzte zu dem Verletzten und zerrte eine Decke von einem Tisch, um sie auf die Wunde zu pressen.

Zwei Männer liefen zu den Musikern, gaben Anweisungen und wollten offenbar verhindern, dass eine Panik ausbrach. Einer von ihnen, ein Mann Mitte sechzig mit Halbglatze, rief in die Menge, dass jemand den Arzt alarmieren sollte. Eltern schnappten sich ihre Kinder und verschwanden mit ihnen in der Dunkelheit der Gassen.

Michalis nahm sein Smartphone und machte von den jungen Männern, die eben noch Freudenschüsse abgegeben hatten, schnell einige Fotos. Da Hannah noch nicht wieder aufgetaucht war, eilte er zu dem Kafenion und den Menschen, die

»Bitte bleiben Sie zurück«, sagte der Mann. Er war Ende vierzig, stämmig, und trug einen kräftigen Schnauzbart. »Es gab einen Unfall.«

»Ich war unter den Gästen, als die Freudenschüsse losgingen«, erwiderte Michalis. »Ich bin Polizist.«

Der Mann mit dem Schnauzbart musterte ihn.

»Polizist? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«

»Mordkommission. Chania.«

»Ah. Chania.« Der Mann wirkte beunruhigt und sprach den Ort Chania gedehnt aus. Dies hier war die Präfektur Rethimnon, und da hatte jemand aus Chania nichts zu sagen. Dennoch trat er einen Schritt zur Seite.

»Ein bedauerlicher Unfall. Ein Querschläger. Unverzeihlich, aber …«, fügte er hinzu.

Ein Wagen hielt vor der Kirche. Ein Mann stieg aus, kam mit einer Arzttasche angelaufen und wurde durchgelassen. Michalis musterte den reglosen und blassen Schwerverletzten, um dessen Körper sich die Blutlache immer weiter ausbreitete. Ein Blick auf die Miene des Arztes genügte Michalis, um zu wissen: Manolis Mavropanos, der trotz seiner jungen Jahre bereits eine kretische Legende war, würde vor ihren Augen verbluten.

»Gibt es eine Polizeistation in Anoghia?«, fragte Michalis den Mann mit dem Schnauzer.

»Ich bin der Revierleiter«, erwiderte der Mann.

»Dann gehe ich davon aus, dass Sie dasselbe sehen wie ich. Sorgen Sie dafür, dass die Namen der jungen Männer, die eben in die Luft geschossen haben, erfasst und ihre Waffen eingesammelt werden«, sagte Michalis eindringlich.

»Erteilen Sie jetzt hier die Befehle?«, erwiderte er herablassend.

»Sie wissen, was die Aufgabe der Polizei bei einer schweren Schussverletzung ist. Und wenn Sie es nicht tun, werden Sie sich dafür verantworten müssen. Spätestens, wenn die Mordkommission aus Rethimnon hier sein wird«, sagte Michalis streng.

Der Revierleiter warf dem älteren Mann mit Halbglatze einen Blick zu. Der trat zu ihnen.

»Ja?«, fragte er.

»Michalis Charisteas. Mordkommission Chania«, stellte sich Michalis vor.

»Stelios Vikakis. Ich bin der Bürgermeister«, antwortete er.

»Ich habe dem Revierleiter geraten, die Namen der Männer, die geschossen haben, aufzunehmen und ihre Waffen einzusammeln«, sagte Michalis.

Der Bürgermeister wirkte ebenso wie der Revierleiter besorgt. Sie alle sahen dann, wie der Kopf von Manolis Mavropanos zur Seite sank und der Arzt die Halsschlagader ertastete. Die junge Frau, die nicht von der Seite des Verblutenden gewichen war, schrie verzweifelt auf und war nicht zu beruhigen. Loukas Mavropanos, der Bruder, ließ seine Pistole sinken und starrte ungläubig auf den vor wenigen Minuten noch gefeierten Lyraspieler.

Manolis Mavropanos war tot.

 

»Das war ein Unfall, das war …«, stammelte der Revierleiter.

»Nehmen Sie jetzt die Namen der Schützen auf und sammeln Sie die Waffen ein«, ermahnte Michalis den Mann energisch.

»Lazaridis!«, rief er unvermittelt mit kräftiger Stimme.

Ein Mann Mitte dreißig mit dunklem Haar und kurzem Vollbart näherte sich.

»Wir brauchen die Namen derer, die geschossen haben«, ordnete der Revierleiter an.

»Und vor allem ihre Waffen. Alle«, ergänzte Michalis.

»Ja, auch die Waffen«, bestätigte der Revierleiter.

Der sportlich wirkende Lazaridis machte sich an die Arbeit. Michalis ging davon aus, dass er ein örtlicher Polizist war.

»Sie sollten die Mordkommission in Rethimnon informieren«, sagte Michalis.

»Die Mordkommission? Wegen eines tragischen Unfalls? Ich kümmere mich jetzt erst mal um die Waffen. Die sind Ihnen ja so wichtig«, erwiderte der Revierleiter und folgte Lazaridis.

Hannah war noch immer nicht wieder zurückgekommen. Beunruhigt wollte Michalis nach ihr suchen, als ihm auffiel, dass sich zwei junge Frauen mit ihren Handys näherten und von dem Toten Fotos machen wollten. Sofort ging Michalis zu ihnen und versperrte ihnen die Sicht auf den Leichnam.

»Hören Sie auf damit«, forderte er sie auf.

Die beiden jungen Frauen musterten ihn herablassend. Von einem Fremden wollten sie sich nichts sagen lassen.

»Warum?«, fragte eine von ihnen spöttisch.

»Weil es geschmacklos ist. Und weil ich Polizist bin und es hiermit anordne«, entgegnete Michalis.

Die beiden richteten ihre Handys noch immer auf das Kafenion.

»Wenn Sie dieser Anordnung nicht Folge leisten, werde ich Ihre Handys konfiszieren«, drohte Michalis.

Michalis nahm sein Smartphone, wählte Hannahs Nummer und war erleichtert, als sie ranging.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte er.

»Ja, alles gut …«, erwiderte Hannah, doch ihr Zögern sagte Michalis, dass etwas nicht stimmte.

»Wo bist du? Soll ich dir entgegenkommen?«, schlug er vor.

»Nein, ich bin gleich da. Ich hab die Schüsse gehört und im Wagen gewartet, bis Ruhe war«, sagte Hannah.

»Gut. Ich stehe vor dem Kafenion«, erwiderte Michalis und war verblüfft, weil Hannah wortlos auflegte. Das tat sie selten.

 

Michalis überlegte, wie er jetzt vorgehen sollte. Einer der berühmtesten Musiker Kretas war erschossen worden, doch die örtliche Polizei schien sich kaum dafür zu interessieren, den Schützen zu ermitteln. Vermutlich war der Todesschütze einer der jungen Männer aus Anoghia, und seine Familie und seine Freunde würden versuchen zu verhindern, dass er als Täter vor Gericht kam. Deshalb war es wichtig, dass die Mordkommission aus Rethimnon schnell hier vor Ort ermittelte. Bis dahin mussten möglichst viele Spuren gesichert und vor allem durften keine vernichtet werden. Immerhin sprach der Revierleiter jetzt mit den Männern, die eben noch Freudenschüsse in den Himmel gejagt hatten. Einige schienen sich zu weigern, ihre Waffen auszuhändigen, doch andere legten ihre Waffen auf die Ladefläche eines Pick-ups. Lazaridis hatte ein kleines Heft und notierte sich die Angaben, sobald eine Waffe übergeben worden war.

Michalis machte von der Situation um das Kafenion Fotos, die vielleicht später helfen könnten, den Tod aufzuklären. Die junge Frau war über Manolis Mavropanos gebeugt und hatte

Michalis suchte nach dem Bürgermeister und entdeckte ihn im Gespräch mit dem Arzt.

»Ich komme später wegen des Totenscheins zurück«, sagte der Arzt zu Michalis und stieg in seinen Wagen.

»Der Bereich um das Kafenion muss abgesperrt werden. Könnten Sie das organisieren?«, bat Michalis den Bürgermeister.

»Ja, ich werde es veranlassen«, erwiderte er.

»Es muss verhindert werden, dass Fotos oder Videos von dem Toten gemacht werden. Sonst steht alles im Internet, bevor die Kollegen den Tod untersucht haben und die Angehörigen informiert sind«, fügte Michalis hinzu.

Der Bürgermeister nickte, winkte eine Gruppe Männer zu sich und sprach leise mit ihnen. Diese Männer kippten einige Tische um und errichteten so eine provisorische Absperrung um das Kafenion.

Die junge Frau saß schluchzend neben dem Toten. Der dritte Musiker hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. Loukas Mavropanos, der Bruder, hielt den Kopf des Toten. Immer wieder küsste er dessen Gesicht und redete verzweifelt auf ihn ein.

Michalis sah sich um. Hannah war noch nicht aufgetaucht.

Loukas Mavropanos riss sich von seinem toten Bruder los. In einer Hand hielt er seine Pistole, mit der anderen nahm er ein Handy und wählte eine Nummer. Michalis ging davon aus, dass er seine Familie informierte. Die würde sich sicherlich sofort auf den Weg machen und bald in Anoghia eintreffen, und dann würde die Lage hier unübersichtlich werden. Es wurde Zeit, die Kollegen aus Rethimnon zu informieren.

 

»Dann sind die Kollegen also auf dem Weg hierher?«, fragte Michalis.

»Nein. Warum? Bei einem Unfall? Das wird doch der Kollege vor Ort regeln können«, erwiderte der Polizist.

Für einen Moment war Michalis sprachlos.

»Hier ist ein Mann durch einen Schuss getötet worden. Das ist eine Angelegenheit für die Mordkommission und nicht für den Revierleiter eines kleinen Ortes. Außerdem würde ich empfehlen, auch die Spurensicherung und die Rechtsmedizin sofort loszuschicken.«

»Ich werde mit unserem Vorgesetzten reden«, sagte der Mann und legte auf. Michalis konnte kaum fassen, dass der Tod von Manolis Mavropanos anscheinend nicht sonderlich ernst genommen wurde.

 

Hannah näherte sich und begriff sofort, was passiert war. Michalis wollte zu ihr gehen, wurde jedoch aufgehalten.

»Wenn Sie Unterstützung benötigen, stehe ich zu Ihrer Verfügung«, hörte Michalis jemanden hinter sich sagen. Er drehte sich um blickte in das Gesicht des Polizisten, den der Revierleiter eben herumkommandiert hatte.

»Mein Name ist Vrasidas Lazaridis«, stellte sich der Mann vor. »Ich bin Polizist. Hier in Anoghia. Jetzt in Zivil.«

»Ah«, meinte Michalis, streckte ihm die Hand entgegen und musterte den Mann kurz. Er machte einen zuverlässigen Eindruck. »Michalis Charisteas, Mordkommission Chania.

»Sie können sich auf mich verlassen«, erwiderte Vrasidas Lazaridis.

»Vermutlich muss ich es Ihnen nicht sagen, aber gehen Sie bitte rücksichtsvoll vor«, fügte Michalis hinzu, denn er war nicht sicher, ob der Mann im Umgang mit den Angehörigen von Todesopfern Erfahrung hatte. Doch Lazaridis nickte, als sei das selbstverständlich.

»Ich bin gleich zurück«, sagte Michalis und trat zu Hannah.

»Wie ist das passiert?«, fragte Hannah.

»Die Balothies hast du ja sicherlich gehört.«

»Ja. Ich war am Wagen, als das losging. Sogar bei geschlossenen Fenstern war es furchtbar laut.«

»Es ist laut, es ist gefährlich, und es ist verboten. Und jetzt haben diese sinnlosen Schüsse ein neues Opfer gefordert.«

»Manolis Mavropanos?« Hannah blickte zu dem Kafenion.

»Ja. Plötzlich hörte er auf zu spielen und kippte vom Stuhl. Wenige Minuten später war er tot.«

In dem Moment fuhr der Pick-up mit den eingesammelten Waffen an ihnen vorbei. Der Revierleiter saß auf dem Beifahrersitz, und ein junger Mann, der vermutlich unter den Schützen gewesen war, fuhr den Wagen.

»Wirst du hier gebraucht? Also, bist du jetzt dienstlich hier?«, wollte Hannah wissen.

»Ich hab die Kripo in Rethimnon informiert. Es gibt hier in Anoghia zwar eine Polizeistation, aber der Revierleiter würde wohl lieber auf Ermittlungen verzichten. Bis die Kollegen aus Rethimnon eingetroffen sind, würde ich gern dafür sorgen, dass keine Spuren oder sonstige Hinweise vernichtet werden.«

»Okay, dann …« Hannah sah sich um. »Vielleicht ist es am besten, wenn ich mich ins Auto setze?«

 

Michalis wandte sich an Vrasidas Lazaridis. Der dachte kurz nach und kam nach wenigen Minuten mit einer Frau zurück, die bei Michalis und Hannah am Tisch gesessen hatte. Michalis erkannte sie nicht sofort, da sie ihr festliches Gewand bereits abgelegt hatte. Jetzt trug sie Alltagskleidung, und ihre grauen Haare, die zuvor mit einem Kopftuch nach oben gebunden waren, fielen ihr offen auf die Schultern.

Diese Frau betrieb mit ihrer Familie eine kleine Taverne in der Nähe der Straße, an der Hannahs Wagen stand. Sie bot Hannah an, mit ihr dorthin zu gehen, bis Michalis hier fertig wäre. Hannah war froh, diese Platia, die vor einer Stunde noch der Ort einer ausgelassenen Feier gewesen war, verlassen zu können.

 

Michalis näherte sich wieder dem Kafenion, wo Vrasidas Lazaridis, der Polizist in Zivil, seinen Posten bezogen hatte. Der Platz war, abgesehen von den trauernden Angehörigen, einigen Wirten und wenigen Bewohnern fast menschenleer. Michalis war klar, dass er jetzt, obwohl er nicht offiziell zuständig war, die Angehörigen darüber informieren sollte, dass diese Platia ein Tatort war, der in den nächsten Stunden gründlich untersucht werden würde.

»Können Sie mir sagen, wann Ihr Vorgesetzter wieder hier sein wird?«, fragte er Lazaridis.

»Er ist mit den Waffen, die er eingesammelt hat, zur Polizeistation gefahren«, erwiderte Lazaridis.

»Ja, das hab ich gesehen. Aber er wird gleich wieder zurückkommen, nehme ich an«, sagte Michalis.

»Der Revierleiter weiht mich nur selten in seine Pläne ein«, antwortete Lazaridis, und Michalis ahnte, dass das Verhältnis der beiden schwierig war.

 

Michalis betrat den abgesperrten Bereich vor dem Kafenion. Die junge Frau kniete schluchzend neben dem toten Manolis Mavropanos. Der dritte Musiker starrte ungläubig in die Nacht. Loukas Mavropanos, der Bruder, hockte vorgebeugt auf einem Stuhl. Zu ihm ging Michalis als Erstes.

»Herr Mavropanos?«

Loukas Mavropanos richtete sich langsam auf. Er hatte ähnlich lange, wilde Locken wie sein toter Bruder, doch seine zeigten bereits ein erstes Grau. Außerdem trug er einen wilden Vollbart, während Manolis lediglich einen Schnauzbart hatte.

»Ja?«

»Michalis Charisteas«, stellte Michalis sich vor. »Kommissar der Mordkommission von Chania.«

»Was wollen Sie?« Er klang verärgert.

Michalis fragte sich, ob dieser Mann einfach in Ruhe gelassen werden wollte oder ob ihm klar war, dass ein Polizist aus Chania in der Präfektur Rethimnon nicht zuständig war.

»Mein aufrichtiges Beileid. Ich war zufällig unter den Gästen und habe gesehen, was passiert ist.«

Loukas Mavropanos setzte eine verächtliche Miene auf, die signalisierte: Sie haben keine Ahnung, was hier passiert ist.

»Die Polizei wird den Tod Ihres Bruders aufklären«, sagte Michalis sachlich. »Meine Kollegen aus Rethimnon sind informiert und werden so schnell wie möglich hier sein.«

Loukas Mavropanos starrte vor sich hin und ließ den Kopf sinken.

Michalis ging zu der Frau, die am Türrahmen lehnte und

»Ich hasse dieses Rumgeballer der jungen Männer«, sagte sie, nachdem sie sich als Melissa Papadakis vorgestellt hatte. »Meistens geht es ja gut. Aber meine Kinder bringe ich immer nach Hause, bevor die Balothies anfangen. Die Kleinen weinen sonst stundenlang. Aber trotzdem wird mein Jüngster in fünfzehn Jahren genauso sinnlos in die Luft schießen wollen.«

»Es ist ja nicht grundlos seit einigen Jahren verboten«, erwiderte Michalis.

»Die Polizei hier kümmert das nicht. Die haben Angst vor den Männern.« Die Wirtin sah Michalis prüfend an. »Oder glauben Sie etwa, Sie werden herausfinden, wer den Schuss abgefeuert hat?«

»Ich habe dafür gesorgt, dass die Waffen eingesammelt und die Namen der Männer notiert werden«, antwortete Michalis.

»Auf die Liste bin ich ja mal gespannt«, sagte Melissa Papadakis bitter. »Sie erwarten hoffentlich nicht, dass unser Revierleiter Ihnen nachher eine Liste überreichen wird, die Ihnen weiterhilft.«

Auch Michalis befürchtete, dass der Revierleiter zwar einige Pistolen und Gewehre einkassiert hatte, vermutlich aber später zu seinem Bedauern nicht genau wissen würde, wem welche Schusswaffe gehörte.

Michalis wollte die Wirtin fragen, warum sie der Arbeit des Revierleiters misstraute, doch da klingelte sein Handy. Überrascht sah er die Nummer von Jorgos Charisteas, seinem Onkel und direkten Vorgesetzten.

»Du bist mit Hannah in Anoghia?«, fragte Jorgos.

»Ja. Wir waren oben im Gebirge. Hannah wollte die Höhle sehen, in der Zeus aufgewachsen sein soll.«

Jorgos schien darauf zu warten, dass Michalis weitersprach.

»Ja. Die Nachricht, dass Manolis Mavropanos tot ist, hat sich sofort verbreitet. Wie ist im Moment die Lage?«, erkundigte sich Jorgos.

»Ich war dabei, als die Freudenschüsse losgingen und Manolis Mavropanos zusammengebrochen ist. Der Tatort wurde provisorisch gesichert. Der örtliche Revierleiter ist keine große Hilfe, einer seiner Polizisten scheint jedoch in Ordnung zu sein. Ich habe die Kollegen in Rethimnon informiert und hoffe, dass sie auf dem Weg sind.«

»Deshalb rufe ich an.« Jorgos zögerte. Michalis ahnte, was jetzt kommen würde.

»Ich hatte eben einen Anruf meines Kollegen Christos Stafylidis aus Rethimnon. Ein guter Mann, ich schätze ihn. Er hat mich um Amtshilfe gebeten. Er meint, es handelt sich ja vermutlich um einen tragischen Unfall«, erklärte Jorgos.

»Und das will der Hauptkommissar Christos Stafylidis von Rethimnon aus beurteilen. Vermutlich von einem sehr bequemen Sofa aus.« Michalis war verärgert.

Jorgos schwieg einen Moment.

»Du hast natürlich recht. Und wenn ich die Amtshilfe verweigere, muss Stafylidis ein Team zusammenstellen und losschicken. Aber er hat Personalengpässe und mich vorgewarnt. Es könnte bis morgen früh dauern, bis das Team eintrifft.«

»Behandelt Stafylidis alle Gewalttaten in seiner Präfektur so nachlässig?«, fragte Michalis spöttisch.

»Wie gesagt, er ist eigentlich ein Guter. Wir kennen uns schon lange. Und mit dir ist ein Mordkommissar bereits vor Ort. Du warst sogar dabei, als die Schüsse fielen.«

»Aber ich bin privat hier. Ich hab kein Team, keine Ausrüstung, keine Waffe. Nichts. Nur einen widerspenstigen Revierleiter«, erwiderte Michalis.

»Die beiden haben sich bestimmt wahnsinnig gefreut, zweieinhalb Stunden in die Berge fahren zu dürfen, weil die Kollegen aus Rethimnon an einem Sonntagabend zufällig keine Zeit haben«, spottete Michalis.

Jorgos schwieg. Michalis schüttelte den Kopf. Sein Onkel kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er niemals einen Tatort verlassen würde, ohne alles für die Aufklärung des Verbrechens getan zu haben.

»Gut, dann schick Stournaras und Zagorakis los. Die Fahrt von Chania nach Anoghia dauert lange genug, vielleicht ist ihre Laune ja wieder erträglich, wenn sie hier eintreffen«, sagte Michalis.

»Koronaios werde ich auch informieren, damit er sich auf den Weg macht.«

Michalis überlegte. Natürlich war es wichtig, seinen vertrauten Partner vor Ort zu haben. Aber sollte er Koronaios wirklich Sonntagnacht anfordern, obwohl einiges für einen tragischen Unfall sprach?

»Es wäre natürlich gut, Koronaios hier zu haben. Aber vielleicht würde ein junger Kollege ausreichen, dem eine lange Nacht weniger ausmacht.«

»Ich werde Koronaios anrufen«, sagte Jorgos. »Und ich werde das Handy immer bei mir haben. Du kannst mich jederzeit erreichen.«

»Denkst du, dass hier bald Presse und Fernsehen oder Schaulustige auftauchen?«

»Das ist zu befürchten. Meine Kinder meinen, der Tod von Manolis Mavropanos sei im Internet ein riesiges Thema. Aber es gibt wohl keine Aufnahmen von dem Toten. Nur aus einiger Entfernung ein paar Fotos«, antwortete Jorgos.

Als Michalis nach dem Telefonat mit Jorgos zu dem Kafenion zurückging, wusste er: Das war jetzt sein Fall. Er würde den Tod von Manolis Mavropanos, diesem charismatischen, verehrten Musiker, untersuchen. Und ihm war klar, was das bedeutete. Schon jetzt fühlte er sich dafür verantwortlich, dem Toten und seinen Angehörigen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und den Täter zu ermitteln. Michalis befürchtete jedoch, das könnte in diesem Fall besonders schwierig werden. Nicht einmal der Revierleiter schien Interesse daran zu haben, den Schützen zu finden. Und dass Loukas Mavropanos sich vorhin mit einer Pistole in der Hand nach dem Täter umgesehen hatte, war ebenfalls kein gutes Zeichen.

 

Der Polizist Lazaridis stand genau dort, wo er schon vor einigen Minuten gestanden hatte.

»Ich habe drei Jugendliche vertrieben, die Fotos machen wollten. Vermutlich für irgendwas im Internet«, informierte Lazaridis, ohne dass Michalis fragen musste.

»Ist es nicht ungewöhnlich, dass es nach so einem tragischen Tod so ruhig ist?«

»Wenn der Tote aus Anoghia stammen würde, wäre das anders. Außerdem …« Lazaridis beugte sich zu Michalis vor und fuhr leise fort: »Der Familie, die die Taufe ausgerichtet hat, gehören zwei der Tavernen.« Er deutete zu einigen leeren

Michalis nickte. Er war sicher, dass es noch mehr gab, was Lazaridis ihm sagen könnte.

»Die Mordkommission von Chania ist von den Kollegen aus Rethimnon um Amtshilfe gebeten worden. Ich bin jetzt offiziell zuständig. Meine Kollegen sind auf dem Weg hierher«, erklärte Michalis.

»Ja, das vereinfacht die Dinge sicherlich«, entgegnete Lazaridis und stockte. Michalis folgte seinem Blick. Neben dem kleinen Museum zu Ehren des früh verstorbenen Nikos Xylouris war der Revierleiter aufgetaucht. Er telefonierte, hatte allerdings seinen Untergebenen im Gespräch mit Michalis bemerkt und verzog verärgert das Gesicht. Sofort trat Lazaridis zwei Schritte von Michalis zurück.

»Es ist damit zu rechnen, dass Kamerateams und Schaulustige hier auftauchen. Manolis Mavropanos war berühmt, und die Nachricht von seinem Tod hat sich wohl bereits verbreitet«, sagte Michalis.

Lazaridis überlegte. »Sie könnten mit dem Revierleiter klären, dass er die Zufahrtstraßen sperren lässt. Es gibt nur drei. Eine davon führt aus den Bergen hierher, von dort kommt nachts niemand. Allerdings« – Lazaridis senkte die Stimme – »sollte mein Chef nicht erfahren, dass dieser Vorschlag von mir stammt.«

Michalis lächelte. »Ich weiß diesen Hinweis zu schätzen.«

»Um den Platz zu sperren, müsste ich Material besorgen. Ich wäre in zehn Minuten zurück«, sagte Lazaridis.

»Kein Problem. Ich bleibe hier«, erwiderte Michalis und blickte zu dem Revierleiter, der immer noch telefonierte und hinter einer Hausecke verschwand.

»Kann es eine Verbindung zwischen Manolis Mavropanos und dem Ort Anoghia geben?«, fragte Michalis.

»Eine Verbindung … Manolis Mavropanos hat schon oft hier in Anoghia gespielt. Ebenso wie sein Bruder und der dritte Musiker. In unterschiedlichen Besetzungen, aber in den letzten Jahren immer mindestens ein Mal.« Er deutete zu dem kleinen Museum auf der anderen Seite der Platia. »Sie wissen ja sicherlich, dass Anoghia ein Zentrum kretischer Musik ist. Für viele sogar das Zentrum überhaupt. Wenn Nikos Xylouris nicht so früh gestorben wäre, wäre er jetzt vielleicht weltweit bekannt. Immerhin ist sein jüngerer Bruder Psarantonis berühmt geworden.«

Auch von Psarantonis hatte Michalis bereits Konzerte besucht. Mit langem grauem Haar, einem wild wuchernden Bart und einer stets mürrischen, strengen Miene war er eine faszinierende Erscheinung und wirkte wie aus der Zeit gefallen. Sein rauer Gesang klang, als habe er schon zu Urzeiten für den Göttervater Zeus gesungen.