Charlotte McConaghy
Wo die Wölfe sind
Roman
Aus dem Englischen
von Tanja Handels
FISCHER E-Books
Charlotte McConaghy, Jahrgang 1988, hat irisch-schottische Wurzeln und wuchs in Australien auf. Ihre Passion für die Natur und Tierwelt und ihre Erschütterung über die Auswirkungen des Klimawandels inspirierten sie zu »Zugvögel«, ihrem literarischen Debütroman, mit dem sie den internationalen Durchbruch erreichte. Sie hat einen Abschluss als Drehbuchautorin der Australian Film Television and Radio School. McConaghy lebt heute in Sydney.
Tanja Handels, geboren 1971 in Aachen, lebt und arbeitet in München, übersetzt zeitgenössische britische und amerikanische Romane, u.a. von Zadie Smith, Erica Jong, Anna Quindlen und Michelle Obama, und ist auch als Dozentin für Literarisches Übersetzen tätig.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Inti Flynn kommt nach Schottland, um Wölfe in den Highlands wiederanzusiedeln. Als Wissenschaftlerin weiß sie, dass die wilden Tiere die einzige Rettung für die zerstörte Landschaft sind. Als Frau hofft sie auf einen Neuanfang. Sie ist nicht mehr die, die sie einst war, hat sich von den Menschen zurückgezogen. Denn die Wolfsbiologin besitzt die seltene Fähigkeit, Gefühle von anderen Lebewesen körperlich nachzuempfinden. Als ein Farmer tot aufgefunden wird und eine Hetzjagd auf ihre Tiere beginnt, muss sie sich ihren Ängsten stellen: Ist der Wolf oder der Mensch die Bestie in den Wäldern? Und wird sie je wieder menschliche Nähe zulassen können – oder von der Wildnis verschlungen werden, die sie retten will?
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Once There Were Wolves« bei Flatiron, New York.
© Charlotte McConaghy
Published by arrangement with FLATIRON BOOKS. All rights reserved.
Dieses Werk wurde im Auftrag von FLATIRON BOOKS durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie, Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung: Julia Seaton
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491447-3
For my little one
Ein wildes Tier und nur das eine heult des Nachts im Walde.
– Angela Carter
Wir waren acht Jahre alt, da schnitt mein Vater mich auf, von der Kehle bis zum Bauch.
Sein Arbeitsschuppen lag mitten im Wald, in der Wildnis British Columbias, es war staubig dort, und es stank nach Blut. Er hatte Tierhäute zum Trocknen aufgehängt, sie streiften uns an der Stirn, als wir zwischen ihnen hindurchkrochen. Ich schauderte schon damals, während Aggie, direkt vor mir, durchtrieben grinste, sie war so viel mutiger als ich. Ganze Sommer über hatte ich wissen wollen, was in diesem Schuppen vor sich ging, aber jetzt wollte ich plötzlich nur noch weg.
Er hatte einen Hasen gefangen, und obwohl er uns mit durch den Wald pirschen ließ, hatte er uns den eigentlichen Akt des Tötens immer vorenthalten.
Aggie konnte es nicht abwarten, und in ihrer Hast trat sie gegen ein Fass mit Salzlake, ihr Fuß tat einen dumpfen, hallenden Schlag, den auch ich am Fuß spürte. Dad blickte auf und seufzte. »Wollt ihr das wirklich sehen?«
Aggie nickte.
»Seid ihr denn auch darauf vorbereitet?«
Sie nickte wieder.
Ich sah den pelzigen Hasen und die vielen Messer. Das Tier rührte sich nicht mehr; es war schon tot.
»Dann kommt mal hier rüber.«
Wir stellten uns rechts und links neben ihn, unsere Nasen reichten gerade über den Arbeitstisch. Von hier aus sah ich die vielen schönen Farben des Hasenfells, Rostbraun und dunkles Orange, warmes Creme und Grau und Weiß und Schwarz. Ein Kaleidoskop aus Farben, nur dazu da, nahm ich an, das Tier unsichtbar zu machen und vor genau diesem Schicksal zu bewahren. Armer Hase.
»Versteht ihr, warum ich das tue?«, wollte Dad von uns wissen.
Wir nickten beide. »Für ein nachhaltiges Leben«, sagte Aggie.
»Und was heißt das? Inti?«
»Wir jagen nur, was wir wirklich brauchen, und geben dem Ökosystem etwas zurück, außerdem bauen wir unser Essen selber an und leben so eigenständig, wie wir können«, sagte ich.
»Genau. Und darum erweisen wir diesem Lebewesen jetzt auch die Ehre und danken ihm dafür, dass es uns nährt.«
»Vielen Dank«, wiederholten Aggie und ich folgsam. Ich hatte den Eindruck, dem Hasen war unsere Dankbarkeit herzlich egal. Im Stillen leistete ich betrübt Abbitte. Aber dabei kribbelte es die ganze Zeit in meinem Bauch, tief drinnen. Ich wollte weg. Das hier war Dads Reich, die Felle, die Messer und das Blut, dieser Geruch, der ihn ständig umgab, es war immer schon sein Reich gewesen, und wenn es nach mir ging, sollte das auch so bleiben; mir kam es vor, als hätten wir die Tür zu einem dunkleren Ort geöffnet, einem grausameren, einem Erwachsenenort. Ich hatte keine Ahnung, warum Aggie unbedingt dorthin wollte, aber wenn sie es wollte, dann musste ich auch bleiben. Wohin Aggie ging, folgte ich ihr.
»Bevor wir ihn essen, müssen wir ihn zuerst häuten. Sein Fell werde ich gerben, damit wir es weiterverwenden oder verkaufen können, und anschließend verzehren wir das ganze Tier, damit …?«
»Kein Abfall entsteht«, ergänzten wir.
»Und warum muss das so sein?«
»Weil Abfall der Erzfeind unseres Planeten ist«, antworteten wir.
»Mach schon, Dad«, quengelte Aggie.
»Nun gut, als Erstes machen wir einen Schnitt von der Kehle bis zum Bauch.«
Die Spitze seines Messers drückte sich in das Fell am Hals des Hasen, und ich merkte, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Bevor ich die Augen zukneifen konnte, öffnete das Messer auch mir die Kehle, zerschnitt mir mit einer raschen, fließenden Bewegung die Haut bis hinunter zum Bauch.
Ich fiel schwer zu Boden, aufgetrennt und triefend. Es fühlte sich so echt an, ich war überzeugt, dass da Blut war, und ich schrie und schrie, und jetzt schrie auch Dad, das Messer fiel ihm runter, und Aggie fiel zu Boden und zog mich fest an sich. Ihr Herzschlag an meinem. Ihre Finger, die mir rhythmisch auf die Wirbelsäule trommelten. Und in ihren mageren Armen war ich wieder heil. Wieder ich selbst, ganz ohne Blut und sogar unverwundet.
Ich hatte immer gewusst, dass mit mir etwas anders war, aber an dem Tag begriff ich zum ersten Mal, dass es gefährlich sein konnte. Und es war auch der Tag, an dem ich, als ich aus dem Schuppen gestolpert war, hinaus in die tiefe, violette Dämmerung, zur Baumgrenze hinüberschaute und meinen ersten Wolf erblickte. Und er erblickte mich.
Jetzt, in einem ganz anderen Winkel der Welt, lastet die Dunkelheit schwer, und ich höre die Tiere ringsum atmen. Ihr Geruch hat sich verändert. Er ist immer noch warm und erdig, aber jetzt mit einer Moschusnote; das heißt, dass sich Angst hineinmischt, und das wiederum heißt, eines von ihnen ist aufgewacht.
Die goldenen Augen finden gerade Licht genug, um aufzuleuchten.
Nur ruhig, beschwöre ich sie stumm.
Es ist Wölfin Nummer Sechs, die Rudelmutter, die mich von ihrem Metallkäfig aus beobachtet. Ihr Fell ist hell wie der Winterhimmel. Ihre Pfoten wussten bisher nicht, wie sich Stahl anfühlt. Wenn ich könnte, würde ich ihr dieses Wissen wieder nehmen. Es ist so eine kalte Lektion. Mein Instinkt drängt mich, sie mit sanften Worten oder einer liebevollen Berührung zu beruhigen, aber gerade meine Anwesenheit macht ihr ja am meisten Angst, deshalb lasse ich sie in Frieden.
Behutsam schleiche ich an den anderen Käfigen vorbei in den hinteren Teil des Anhängers. Die Scharniere der Rolltür entlassen mich mit einem Ächzen in die Freiheit. Meine Sohlen kommen knirschend am Boden auf. Ein gespenstischer Ort, diese Nachtwelt. Ein Teppich aus Schnee reckt sich nach dem Mond, leuchtet für ihn. Nackte, silberumhüllte Bäume. Mein Atem wird zu Wölkchen.
Ich klopfe ans Fahrerfenster, um die anderen zu wecken. Sie haben sich zum Schlafen ins Führerhaus des Lasters gelegt, jetzt blinzeln sie mich benommen an. Evan hat sich eine Decke übergelegt; ich spüre ihren kratzigen Rand an meinem Hals.
»Sechs ist wach«, sage ich, und sie wissen, was das heißt.
»Das wird nicht gut ankommen«, meint Evan.
»Sie brauchen’s ja nicht zu erfahren«, sage ich.
»Anne flippt aus, Inti.«
»Scheiß auf Anne.«
Ursprünglich hätte die Presse hier sein sollen, eine Abordnung der Regierung, Institutsvorstände und bewaffnetes Sicherheitspersonal; es hätte ein Paukenschlag werden sollen. Stattdessen hemmt uns jetzt ein Eilantrag in letzter Sekunde, der nur dazu dient, uns so lange aufzuhalten, bis uns die Tiere durch den Dauerstress der Reise wegsterben. Unseren Gegnern wäre es am liebsten, sie im Käfig zu halten, bis ihr Herz den Dienst versagt. Aber das werde ich nicht zulassen. Und so stehlen wir uns jetzt zu viert – drei Biologen und eine Tierärztin – im Mondlicht mit unserer kostbaren Fracht in den Wald. Still und unbeobachtet. Ohne Genehmigung. Ganz so, wie es von Anfang an hätte sein sollen.
Der Laster kann nicht mehr weiter, also gehen wir zu Fuß. Den Käfig von Nummer Sechs nehmen wir als ersten, Niels und ich fassen je eine der hinteren Ecken, der bullige Evan stemmt den vorderen Teil allein. Amelia, unsere Tierärztin und die einzige Einheimische unter uns, wird bei den anderen beiden Käfigen zurückbleiben und Wache halten. Bis zum Freigehege ist es ein knapper Kilometer, und der Schnee ist tief. Sechs gibt keinen Laut von sich, bis auf ein leises Hecheln, das von ihrem Unbehagen zeugt.
Der Ruf eines Eistauchers erklingt, prägnant und schön.
Ob er sie wohl aufstört, frage ich mich, dieser einsame Schrei in der Nacht, ob sie den gleichen uralten Ruf darin erkennt, den sie von sich gibt? Sie reagiert jedenfalls nicht darauf, zumindest nicht so, dass ich es verstehe.
Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis wir das Gehege erreichen, aber schließlich sehe ich die Umzäunung aus Maschendraht ringsherum. Wir stellen den Käfig mit Sechs darin gleich hinter dem Tor ab und gehen zurück, um die anderen beiden Tiere zu holen. Ich lasse sie nicht gern so unbewacht zurück, aber es weiß ja kaum jemand, wo im Wald die Gehege sich befinden.
Als Nächstes tragen wir Nummer Neun hin, einen männlichen Wolf. Ein gewaltiges Kaliber, der zweite Weg ist also anstrengender als der erste, aber immerhin ist der Wolf noch nicht aus seinem Schlaf erwacht, das ist viel wert. Das dritte Tier ist Nummer Dreizehn, ein weiblicher Jährling. Sie ist die Tochter von Sechs und leichter als die ausgewachsenen Tiere, und auf diesem letzten Gang hilft auch Amelia mit. Als wir Dreizehn ins Gehege getragen haben, dämmert es bereits; Erschöpfung macht sich in meinen Gliedern breit, aber es ist auch Aufregung und Sorge dabei. Fähe Nummer Sechs und Rüde Nummer Neun sind sich noch nie begegnet. Sie stammen nicht aus demselben Rudel. Trotzdem bringen wir sie jetzt in ein Gehege, in der Hoffnung, dass sie Gefallen aneinander finden. Wir brauchen Zuchtpaare, sonst kann das alles nicht funktionieren.
Ebenso gut ist es aber möglich, dass sie einander totbeißen.
Wir öffnen die drei Transportkäfige und verlassen das Gehege.
Sechs, als Einzige ganz bei Bewusstsein, rührt sich erst, als wir uns so weit zurückgezogen haben, wie es geht, ohne sie aus dem Blick zu verlieren. Unser Geruch missfällt ihr. Kurz darauf sehen wir, wie sie sich geschmeidig erhebt und sich in den Schnee hinauswagt. Sie ist fast so weiß wie der Boden, auf den sie so leichtfüßig tritt; auch sie leuchtet. Ein paar Sekunden vergehen, während sie mit erhobener Schnauze in die Luft schnuppert, vielleicht das Lederhalsband mit dem Peilsender registriert, das wir ihr umgelegt haben, und dann, anstatt die neue Welt zu erforschen, rasch zum Käfig ihrer Tochter hinüberhuscht und sich danebenlegt.
Das weckt etwas in mir, ein warmes, brüchiges Gefühl, das ich inzwischen fürchte. Hier droht mir Gefahr.
»Wir sollten sie Ash nennen«, sagt Evan.
Die Dämmerung poliert die Welt von Grau zu Gold, und während die Sonne allmählich aufgeht, erwachen auch die anderen beiden Tiere aus ihrer Betäubung. Alle drei Wölfe haben ihre Käfige verlassen, betreten den halben Hektar glitzernden Wald, der jetzt ihrer ist. Für den Moment ist das aller Raum, den sie bekommen, und er reicht nicht, ich würde mir wünschen, dass es gar keine Zäune gäbe.
Ich wende mich zurück zum Laster und sage: »Keine Namen. Sie ist Nummer Sechs.«
Vom großen Ganzen her betrachtet war dieser Wald vor gar nicht langer Zeit weder klein noch karg, sondern stark und berstend vor Leben. Voll üppiger Ebereschen, Espen, Birken, Wacholderbüsche und Eichen erstreckte er sich über das weite Land, färbte die heute kahlen Berge Schottlands, bot allen erdenklichen ungezähmten Geschöpfen Nahrung und Schutz.
Und inmitten dieser Wurzeln, Stämme und Blätterdächer streiften Wölfe umher.
Heute betreten wieder Wölfe diesen Boden, der ihresgleichen seit mehreren hundert Jahren nicht gesehen hat. Ob sich wohl etwas in ihrem Körper an dieses Land erinnert, so wie das Land sich an sie? Es kennt sie gut; es hat darauf gewartet, dass sie es aus seinem langen Schlummer wecken.
Den ganzen Tag bringen wir damit zu, die verbliebenen Wölfe in ihre jeweiligen Gehege zu tragen, und als es Abend wird, kehren wir in unser Projektquartier zurück, ein kleines Steinhaus am Waldrand. Die anderen trinken in der winzigen Küche Sekt, um zu feiern, dass wir alle vierzehn Grauwölfe in ihre Akklimatisierungsgehege entlassen haben. Aber frei sind sie längst noch nicht, unsere Wölfe, das Experiment hat gerade erst begonnen. Ich setze mich abseits, wo die Bildschirme stehen, sehe mir die Übertragung der in den Gehegen installierten Kameras an und überlege, was die Wölfe wohl von ihrem neuen Zuhause halten. Einem Wald, der dem in British Columbia, aus dem sie kommen, durchaus ähnelt, auch wenn es sich um Laub- und Mischwald und keinen borealen Nadelwald handelt. Auch ich komme aus diesem Wald und weiß, dass alles anders riechen, klingen und aussehen, sich anders anfühlen wird. Wenn ich aber eines über Wölfe weiß, dann, wie anpassungsfähig sie sind. Jetzt halte ich den Atem an, als Nummer Neun auf die zierliche Nummer Sechs und ihre Tochter zugeht. Die Fähen haben ganz hinten im Gehege eine Schneise in den Schnee geschlagen, dort kauern sie jetzt und beobachten argwöhnisch, wie Neun näher kommt. Er ragt vor ihnen auf, grau und weiß und schwarz, einen prachtvolleren Wolf habe ich selten gesehen. Zum Zeichen seiner Dominanz legt er Sechs den Kopf auf den Nacken, und ich spüre in köstlicher Deutlichkeit, wie seine Schnauze sich an meinen Nacken drückt. Sein weiches Fell kitzelt meine Haut, sein heißer Atem verursacht mir Gänsehaut. Nummer Sechs jault leise, bleibt aber geduckt, zeigt ihre Unterwerfung. Ich rühre mich nicht; nur eine Spur von Widerstand, und dieses Maul wird sich um meine Kehle schließen. Er beißt sie leicht ins Ohr, und auch in mein Ohrläppchen graben sich Zähne, ich schließe erschrocken die Augen. Im Dunkeln vergeht der Schmerz so rasch, wie er zugeschlagen hat. Ich kehre zu mir selbst zurück. Und als ich wieder hinsehe, beachtet Neun die Weibchen schon gar nicht mehr, trottet über die ganze Länge am Zaun entlang. Wenn ich weiter hinschaue, werde ich mit jedem seiner Schritte kalten Schnee an den bloßen Füßen spüren, aber das tue ich nicht, ich bin ohnehin schon zu nah dran, meine Grenzen haben sich selbst vergessen. Und so blicke ich stattdessen zur dunklen Decke des Häuschens hinauf, erlaube meinem Puls, wieder langsamer zu schlagen.
Ich bin anders als die meisten. Ich gehe auf eine ganz andere Art durchs Leben, mit einem ganz eigenen Verständnis von Berührungen. Das war mir schon klar, bevor ich wusste, wie es heißt. Um es zu erklären, bezeichnet man es als neurologische Störung. Mirror-Touch-Synästhesie. Mein Gehirn spürt die sinnlichen Eindrücke anderer Lebewesen, aller Menschen und sogar mancher Tiere; was ich sehe, spüre ich auch, und für einen kurzen Augenblick werde ich dann zu ihnen, wir werden eins, und ihr Schmerz, ihr Genuss ist auch der meine. Das kann wie Zauberei wirken, und dafür hielt ich es auch lange, aber in Wahrheit ist es gar nicht so weit davon entfernt, wie sich andere Gehirne verhalten: Sieht man, dass jemand Schmerz empfindet, reagiert man körperlich darauf, indem man sich verkrampft, zurückschreckt oder zusammenzuckt. Wir alle sind fähig zur Empathie. Früher einmal freute ich mich daran, zu empfinden, was andere empfanden. Heute erschöpft mich dieser stete Strom sinnlicher Informationen. Heute würde ich alles darum geben, davon befreit zu sein.
Dieses Projekt wird scheitern, wenn ich es nicht schaffe, Distanz zwischen mich und die Wölfe zu legen. Ich darf mich nicht in ihnen verlieren, sonst überlebe ich das nicht. Für Wölfe ist die Welt ein gefährlicher Ort. Die meisten von ihnen werden bald schon tot sein.
Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, ist es Mitternacht. Ich habe den Wölfen beim Schlafen und Umherlaufen zugesehen, immer in der vergeblichen Hoffnung, sie würden heulen, einer würde anfangen und die anderen nachziehen. Aber Wölfe heulen nicht, wenn sie unter Stress stehen. Unser Projektquartier besteht aus einem Hauptraum mit den Monitoren und der übrigen Ausrüstung, einer Küche direkt daneben und einem Bad dahinter. Draußen gibt es noch einen Stall mit drei Pferden. Evan und Niels sind ganz offensichtlich schon in ihre Unterkunft zurückgekehrt, die sie im nächstgelegenen Ort angemietet haben – ich bin so müde, dass ich mich gar nicht erinnere, mich von ihnen verabschiedet zu haben –, Zoe, die unsere Daten auswertet, liegt auf dem Sofa und schläft. Ich hätte schon vor Stunden aufbrechen müssen und werfe mich hastig in meine Wintersachen.
Draußen ist es beißend kalt. Ich fahre durch den Wald, dann weiter auf einer kurvenreichen Straße, gut drei Kilometer an den nordwestlichen Ausläufern der Cairngorms entlang, und sehe nichts als die kleinen Lichtkegel meiner Scheinwerfer, die mir vorauseilen. Ich hatte immer schon eine Abneigung gegen nächtliche Autofahrten, weil sie die blühende Welt in ein leeres, gähnendes Etwas verwandeln. Würde ich anhalten und einfach hineinlaufen, wäre es eine ganz andere Welt, erfüllt vom Beben des Lebens, von blinzelnd aufleuchtenden Augen und dem Trappeln kleiner Pfoten im Unterholz. Ich lenke den Wagen auf eine schmalere, kurvige Straße, die mich direkt bis in das Tal führt, wo mein Häuschen steht, Blue Cottage. Aus graublauem Stein erbaut und von zwei grünenden Koppeln flankiert, bietet es tagsüber eine zweigeteilte Aussicht: Nach Süden hin liegt dichter, lockender Wald, nach Norden zu langgestreckte, kahle Berge, die von äsendem Rotwild nur so wimmeln werden, wenn der Frühling kommt.
Drinnen sind alle Lichter aus, nur im Kamin glüht es noch orange. Stück für Stück lege ich meinen Winterschutz ab und gehe leise durch den kleinen Wohnraum in ein Zimmer, das nicht meines ist. Sie liegt reglos im Bett, ein Umriss im Dunkeln. Ich schlüpfe zu ihr unter die Decke; falls sie aufwacht, lässt sie es sich nicht anmerken. Ich atme sie ein, finde Trost in ihrem Geruch, der unverändert ist, selbst jetzt noch, so zerstört sie auch sein mag. Meine Finger winden sich in ihr helles Haar, und ich erlaube mir einzuschlafen, geborgen in der Sphäre meiner Schwester, die doch eigentlich immer die Stärkere von uns beiden gewesen ist.
Sachte, sagt er.
Ihre kleinen Hände halten die Zügel so fest umklammert. Ganz winzig sieht sie dort oben aus, so winzig, dass sie mit Sicherheit abgeworfen wird.
Ganz sachte.
Er hält sie zurück, eine Hand auf ihrem Rücken, damit sie flach liegen bleibt.
Du musst ihn spüren. Seinen Herzschlag in dir spüren.
Vor kurzem noch war dieser Hengst frei, und ein Teil von ihm hält daran fest, aber wenn sie sich so an ihn schmiegt, ganz sachte, sachte, so, wie Dad es sagt, beruhigt ihn das.
Ich sitze rittlings auf dem Zaun der Trainingskoppel und schaue zu. An meinen Händen grobes Holz, ein Splitter unter dem Fingernagel. Auch ich liege auf diesem Pferd, ich bin meine Schwester, fest an den warmen Körper des bebenden, kraftvollen Tieres geschmiegt, gehalten von der großen, sicheren Hand meines Vaters, und ich bin auch die Hand meines Vaters, und ich bin der Hengst, die leichte Last, die er da trägt, das kalte Metall in seinem Maul.
Jedes Lebewesen weiß, was Liebe ist, sagt Dad. Und Aggies Umarmung wird zärtlicher, stürmischer. Sie wird sich nicht abwerfen lassen.
Dann aber fährt der Kopf des Hengstes im rosigen Abendlicht hoch; der Wind hat einen Geruch zu ihm getragen, er stampft unruhig. Auf dem Zaun drehe ich mich um, lasse den Blick über den Waldrand schweifen.
Ruhig, sagt Dad, um sowohl das Pferd als auch seine Tochter zu besänftigen. Aber ich glaube, dafür ist es schon zu spät. Denn jetzt habe ich sie entdeckt. Sie schauen aus dem Wald hervor. Zwei starre Augen.
Unsere Blicke treffen sich, und für einen Moment bin ich der Wolf.
Und hinter mir fällt meine Schwester vom sich aufbäumenden Pferd …
Ich schrecke orientierungslos aus diesem Traum hoch, so oft geträumt und zugleich auch Erinnerung. Ein paar Minuten bleibe ich im warmen Bett liegen und hänge ihm nach, aber der Tag lässt sich nicht leugnen, Licht fällt zum Fenster herein, und ich muss dafür sorgen, dass meine Schwester aufsteht.
»Guten Morgen, Liebes«, sage ich sanft, streiche Aggie das Haar aus dem Gesicht und helfe ihr behutsam hoch. Sie lässt sich ins Bad führen, gestattet mir, sie auszuziehen und in die Wanne zu setzen. »Da draußen scheint wirklich und wahrhaftig die Sonne«, sage ich, »am besten waschen wir dir jetzt mal deine Mähne, falls du Lust haben solltest, dich rauszusetzen und sie trocknen zu lassen.« Das tut sie eigentlich für ihr Leben gern, und trotzdem sind meine Worte nichts als Show für uns beide: Ich weiß genau, dass sie heute nicht nach draußen gehen wird.
»Die Wölfe sind in ihren Gehegen. Sie haben die Reise überlebt«, erzähle ich, während ich ihren Kopf shampooniere. »Aber am liebsten würden sie wohl wieder nach Hause laufen.«
Sie reagiert nicht. Es ist einer ihrer schlechten Tage, ich kann also reden, so viel ich will, sie wird nur weiter stumpf auf irgendetwas starren, was ich nicht sehen kann. Und trotzdem werde ich weiterreden, für den Fall, dass sie mich in ihrer Ferne trotz allem hört.
Aggies Haar ist dick, lang und hell, genau wie meines, und während ich systematisch die Pflegespülung in ihre wirren Strähnen einarbeite, überlege ich, ob sie vielleicht doch recht hatte und wir besser alles abgeschnitten hätten. Ihr selbst ist es inzwischen egal, aber trotz aller Mühen, die die Haarpflege kostet, habe ich es doch nicht über mich gebracht, sie abzuschneiden, diese Mähne, die immer ihr Markenzeichen war, dieses Haar, das ich schon mein Leben lang für sie bürste, flechte und hin und wieder stutze.
»Und wenn wir sie nicht über ein Weltmeer transportiert hätten, würden sie das vielleicht sogar schaffen.« Ich helfe Aggie aus der Wanne und trockne sie ab, dann ziehe ich ihr warme, bequeme Kleidung an und setze sie vor den Kamin, während ich Frühstück mache. »Sechs und Neun hegen nach wie vor keine große Liebe füreinander«, erzähle ich. »Aber immerhin sind sie sich auch noch nicht an die Gurgel gegangen.« Die Sätze gehen mir so beiläufig über die Lippen, dass ich selbst erschrecke. Ist das mit jeder Art von Liebe so? Dass sie das Risiko birgt, daran zu sterben?
Aber bei Aggie rufen meine Worte keine entsprechende Erinnerung wach, sie ist viel zu weit weg, unerreichbar. Ich möchte ihr dorthin folgen, wo immer sie ist, und gleichzeitig fürchte ich diesen Ort mehr als alles andere. Und ich fürchte den Tag, an dem sie nicht mehr von dort zurückkehrt.
Von den Rühreiern, die ich neben sie stelle, isst sie nichts, sie ist zu müde, seelisch zu sehr erschöpft, um auch nur irgendetwas hinzubekommen. Langsam und sanft bürste ich ihr die nassen Haare und erzähle weiter von den Wölfen, denn sie sind alles, was ich noch habe, bis auf den Zorn.
Blue Cottage ist nicht allzu weit vom Projektquartier entfernt. Sowohl Cottage als auch Quartier liegen am Rand des Abernethy Forest, eines der letzten Überbleibsel des uralten Caledonian Forest, der nach der Eiszeit hier entstanden ist. Seine alten Bäume sind Teil einer neuntausendjährigen Evolutionskette, und in seiner Mitte haben wir auch das nächstgelegene Wolfsgehege untergebracht, das die Wölfe Sechs, Neun und Dreizehn beherbergt. Wenn sie es schaffen, ein Rudel zu bilden, wird es den Namen ihres neuen Zuhauses tragen: Abernethy. Menschen wohnen hier nur wenige, aber hinter uns erstrecken sich die saftig grünen Wiesen der vielen Schafzuchten, die uns von der nächsten Ortschaft trennen. Nicht unbedingt die Gegend, die ich mir ausgesucht hätte, um ein neues Wolfsrudel anzusiedeln. Andererseits findet man in den Highlands kaum einen Landstrich ganz ohne Schafe, und Wölfe verharren ohnehin nicht immer am selben Ort. Ich kann nur hoffen, dass sie den Schutz der Bäume bevorzugen werden. Hinter dem winterlichen Kiefernwald ragen die Cairngorms auf, und dort, so höre ich, liegt das wilde Herz der Highlands, wo keine Schafe umherstreunen und keine Straßen hinführen. Vielleicht gefällt es den Wölfen dort ja am besten.
Ich habe die Heizung im Wagen voll aufgedreht. Die Fahrbahn ist eisglatt, es fällt leichter Schnee, ein Wirbel aus zarter Spitze. Die Strecke ist schön, weites Land, abfallende Hänge, kurvige, zugefrorene Wasserläufe und immer wieder dichtbewaldete Abschnitte.
Als das schwarze Pferd vor mir auf die Fahrbahn rauscht, glaube ich erst, ich hätte es mir eingebildet. Sein Schweif weht ihm nach wie ein dunkler Komet. Ich trete viel zu abrupt auf die Bremse, die Räder rutschen weg. Der Wagen beschreibt einen Halbkreis, kommt rückwärts mitten auf der Straße zum Stehen, und ich sehe das Pferd gerade noch zwischen den Bäumen verschwinden.
Ich spüre eine Enge in der Brust, während ich den Wagen an den Straßenrand lenke.
Neben mir hält rumpelnd ein Laster. »Alles in Ordnung?«, ruft eine Männerstimme durch das Fahrerfenster, das einen Spaltbreit offen steht.
Ich nicke.
»Haben Sie vielleicht ein Pferd gesehen?«
Ich zeige in die Richtung, in die es gelaufen ist. »Ach, Mist«, brummt der Fahrer, und dann biegt er zu meiner Verblüffung mit dem Laster querfeldein ab, um dem Pferd zu folgen. Entsetzt sehe ich ihn durch den Schnee schlittern. Ich schaue auf die Uhr, dann springe ich aus dem Wagen und folge den Reifenspuren. Nicht weiter schwierig. Er hat regelrechte Gräben gezogen.
Der Schneefall wird stärker; die Welt versinkt um mich herum. Eigentlich habe ich es wirklich eilig, ich werde zu spät zur Arbeit kommen, aber egal. Ich hebe den Kopf, schaue nach oben. Flocken auf meinen Lippen, meinen Wimpern. Meine Hand berührt die kühle, pergamentene Rinde einer Weißbirke. Die Erinnerung an vierzigtausend Zitterpappeln, die rund um mich atmen, die Baumkronen nicht kahl, sondern kanariengelb und so lebendig wie seine Stimme in meinem Ohr. Sie sterben. Wir sind dabei, sie zu töten.
Von irgendwo weiter weg ein Schrei.
Ich lasse die Erinnerung entschwinden und renne los. Vorbei an seinem Laster in den Tiefschnee, den nur seine Fußspuren und die Hufabdrücke eines panischen Pferdes stören. Ich bin ganz verschwitzt, als ich den Fluss erreiche: ein schmaler, fest gefrorener Streifen Eis zwischen steilen Uferböschungen.
Vor mir sein dunkler Umriss. Und unten auf dem Eis steht das Pferd.
Selbst aus dieser Entfernung spüre ich die Kälte unter seinen Hufen. Eine schneidende Kälte. Der Mann ist groß, mehr kann ich unter seiner dicken Winterkleidung von seinem Körperbau nicht erkennen. Kurzes Haar, so dunkel wie sein Bart. Neben ihm sitzt fügsam ein schwarz-weißer Collie. Der Mann dreht sich zu mir um.
»Sie wissen schon, dass das ein Waldschutzgebiet ist?«, sage ich.
Er runzelt verwirrt die Stirn.
Ich deute auf seinen Laster und das Chaos, das er angerichtet hat. »Stört Sie wohl nicht weiter, gegen Gesetze zu verstoßen?«
Er mustert mich, dann lächelt er. »Sie können mich gerne anzeigen, wenn ich das mit dem Pferd geregelt habe.« Er spricht mit starkem schottischem Akzent.
Wir betrachten das Tier auf der Eisfläche. Es belastet den einen Vorderlauf nicht richtig.
»Und worauf warten Sie?«, frage ich.
»Kaputtes Bein. Ich käme da nie wieder rauf. Und das Eis hält auch nicht ewig.«
In der Oberfläche sind hauchfeine Risse zu erkennen, die sich mit jeder Gewichtsverlagerung des Pferdes weiter ausbreiten.
»Am besten, ich hole mein Gewehr aus dem Laster.«
Das Pferd, eine Stute, schnaubt und wirft den Kopf hin und her. Ihr schwarzes Fell wird nur von einer weißen Blesse zwischen den großen, panischen Augen durchbrochen. Ich sehe, wie ihre Flanken sich rasch heben und senken.
»Wie heißt sie?«, frage ich.
»Keine Ahnung.«
»Ist das nicht Ihre?«
Er schüttelt den Kopf.
Ich mache mich daran, den steilen Abhang hinunterzuklettern.
»Lassen Sie das«, sagt er. »Ich kann Sie nicht wieder rausfischen.«
Mein Blick bleibt auf das Pferd gerichtet, während ich schwankend die steile Böschung hinabschlittere. Meine Stiefel treffen auf Eis, ich taste mich langsam vorwärts und halte dabei immer Ausschau nach Rissen. Für den Augenblick trägt es mich, aber manche Stellen sind so dünn, dass man das darunter hinfließende dunkle Wasser sehen kann. Ein falscher Schritt und die dünne Schicht würde bersten – und ich würde geräuschlos darin versinken; ich sehe meinen Körper, wie er hinabgezogen, kopfüber-kopfunter herumgewirbelt wird, bis es vorbei ist mit ihm.
Die Stute. Sie sieht mich an. »Hallo«, sage ich und begegne ihrem tiefen, schimmernden Blick.
Sie wirft den Kopf hin und her, stampft mit einem Huf auf. Sie ist wild und störrisch; als ich näher komme, bäumt sie sich auf, ihre Hufe donnern krachend herab. Ich überlege, ob sie wohl weiß, dass ihr Zorn sie umbringen kann, ob ihr das womöglich ganz recht ist; vielleicht würde sie ja lieber dem Vergessen entgegenpreschen, als zu dem zurückzukehren, wovor sie geflohen ist. Zaumzeug und Kandare, ein Sattel. Manche Pferde sind nicht dafür gemacht, dass man sie reitet.
Langsam gehe ich in die Hocke, mache mich klein. Sie steigt nicht noch einmal, lässt mich aber auch nicht aus den Augen.
»Haben Sie vielleicht ein Seil in Ihrem Laster?«, frage ich den Mann, ohne zu ihm hochzusehen.
Ich höre, wie er loszieht, um es zu holen.
Wir warten, die Stute und ich. Wer bist du, frage ich sie stumm. Sie ist ein starkes Tier und, wenn mich nicht alles täuscht, gerade frisch zugeritten. Ich saß seit Ewigkeiten nicht mehr auf einem Pferd und bin auch nicht mehr dieselbe, die ich einmal war. Ich zeige mich der Stute, frage mich, wie sie mich wohl finden wird.
Der Mann kommt mit einem zusammengerollten Seil zurück und wirft es zu mir herunter. Meine Hände knüpfen die altvertrauten Knoten wie von selbst, so dass ich den Blickkontakt mit der Stute nicht unterbrechen muss, ich halte sie bei mir, richte mich langsam auf. Mit einer raschen Bewegung werfe ich ihr das Lasso über und ziehe es an ihrem Hals fest. Sie steigt noch einmal, aufgebracht, und das Eis wird nicht halten, da bin ich mir sicher. Ich lasse das Seil etwas lockerer, damit es mich nicht umreißt, sorge aber dafür, dass ich es immer noch gut festhalte. Als sie auf ihren Vorderhufen landet, lasse ich ihr keine Möglichkeit, sich erneut aufzubäumen, sondern ziehe am Seil, zwinge sie, den Kopf zu senken, und trete ganz nah an sie heran, um ihr eines Vorderbein anzuheben. Beides bringt sie dazu, das andere Bein zu beugen, und fast erleichtert sinkt sie auf die Eisfläche und kippt schwer zur Seite. Ich schmiege mich an sie, streichele ihr die Stirn, den Hals, flüstere ihr ins Ohr. Braves Mädchen. Ihr Herz hämmert. Ich spüre das Seil am eigenen Hals.
»Das Eis«, sagt der Mann, denn jetzt sind viele tausend feine Risse da.
Als sie bereit ist, schwinge ich ein Bein über ihren Rücken und drücke die Knie zusammen, schnalze ein paarmal mit der Zunge und sage »Auf, auf«. Sie erhebt sich, und ich sitze richtig auf, bringe mein anderes Bein in Position und Spannung in die Knie. Das Seil liegt noch um ihren Hals, aber ich brauche es nicht, ich greife ihr einfach in die Mähne und lenke sie zur steilen Uferböschung hin, während das rissige Eis unter uns erbebt. Das wird nicht einfach, warne ich sie, aber da springt sie schon über den Rand und kippt mich dabei nach hinten. Ich bin vorbereitet, bewege mich im Takt mit ihr, halte mich mit der Kraft meiner Beine auf meinem Platz. Sie quält sich hinauf, die Hufe suchen scharrend Halt, der Boden gibt unter ihr nach – und dann haben wir es geschafft. Wir sind oben, und der Freudenschauer, der durch ihren Körper läuft, brennt sich direkt in meinen. Hinter uns platzt der vereiste Fluss krachend auf.
Ich drücke mich noch einmal eng an ihren Hals. Braves Mädchen. Tapferes Mädchen. Sie ist jetzt ganz ruhig, aber ich weiß nicht, wie lang das anhalten wird. Das verletzte Bein belastet sie nicht. Womöglich ist es durch ihre Flucht in die Freiheit unwiderruflich beschädigt. Ich steige ab und drücke dem Mann das Seil in die Hand. Rau reibt es an seiner bloßen Handfläche, an meiner. »Seien Sie sanft mit ihr.«
»Ich danke Ihnen«, sagt er und nickt. »Sind Sie Reiterin?«
Es zuckt um meine Lippen. »Nein.«
»Könnten Sie sie vielleicht zurückreiten? Sie gehört auf den Burns-Hof, ein kleines Stück nördlich von hier.«
»Warum sind Sie ihr überhaupt nach, wenn sie nicht Ihnen gehört?«
»Ich habe sie einfach nur gesehen, so wie Sie.«
Ich betrachte ihn genauer. »Sie hat sich am Bein verletzt. Es wäre besser, sie nicht zu reiten.«
»Dann lasse ich einen Transporter kommen. Sie sind nicht von hier, was?«
»Gerade frisch hergezogen.«
»Wohin denn?«, fragt er, und ich überlege, ob er wohl zu den Leuten gehört, die im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern alle kennen müssen. Er hat eine ausgeprägte Stirn und eine finstere Augenpartie; ich bin mir nicht klar, ob er attraktiv ist, aber er hat etwas Verstörendes an sich. »Und was führt Sie her?«
Ich wende mich ab. »Müssen Sie sich nicht um den Transporter für das Pferd kümmern?«
»Sind Sie mit den Wölfen gekommen?«, fragt er, und ich bleibe stehen. »Wir haben schon gehört, dass wir uns auf eine Australierin gefasst machen sollen. Wie kommt man auf so was? Haben Sie nicht genug Koalas zum Schmusen?«
»Nein«, sage ich. »Die meisten sind bei Buschbränden umgekommen.«
Das bringt ihn erst mal zum Schweigen.
Nach einer Pause fragt er: »Laufen sie schon frei herum?«
»Noch nicht. Aber das kommt noch.«
»Dann sage ich den Leuten im Dorf schon mal Bescheid, dass sie ihre Frauen und Töchter wegsperren. Die großen, bösen Wölfe sind unterwegs.«
Ich sehe ihn direkt an. »An Ihrer Stelle würde ich mir mehr Sorgen um die Frauen und Töchter machen, die den Wölfen nachlaufen.«
Er mustert mich verblüfft.
Ich wende mich ab, um wieder zum Auto zu gehen. »Wenn Sie das nächste Mal ein Tier einfangen wollen, rufen Sie gleich jemanden, der sich damit auskennt, anstatt mit Ihrem Monstertruck durch naturgeschütztes Unterholz zu brettern.« Wichser.
Ich höre ihn lachen. »Zu Befehl, Ma’am.«
Mein Blick zurück gilt der Stute. Mach’s gut, sage ich stumm zu ihr. Und: Es tut mir leid. Denn das verletzte Bein könnte zu einer ganz anderen Art von Freiheit führen.
Die ersten sechzehn Jahre unseres Lebens verbrachten Aggie und ich jedes Jahr zwei Monate bei unserem Vater im Wald. Unserer wahren Heimat, dem Ort, wo wir hingehörten. Es war eine Landschaft, die ich verstand. Als Kind glaubte ich immer, die Bäume im Wald seien unsere Familie. Bei den größten und breitesten begannen die Äste erst hoch über dem Boden: Daran konnte man erkennen, dass sie schon sehr alt waren. Die Bleistiftzedern waren regelrecht gestreift, ihre Rinde hatte schnurgerade, senkrechte Furchen, die den ganzen Stamm hinaufreichten, waren aber sonst glatt, und in der Nachmittagssonne, die durch das Laubdach zu uns hereinlugte, verwandelte sich ihr Grau in Silber. Elegant waren sie, diese Zedern, mit ihren Blättern, die an Farn erinnerten. Ganz anders die Hemlocktannen, die waren dunkler, erdiger, das Muster auf ihrer rauen Rinde kringelig. Beide waren mit Moos gesprenkelt wie mit Farbspritzern, von einem intensiven, fast neonfarbenen Grün. Es gab hier auch noch viele andere Bäume, Winzlinge, die die größeren umringten und eindeutig jünger waren, Teenager vielleicht und nicht zu bändigen. Die besonders Vorwitzigen schlängelten ihre Finger weit über den Boden, so dass wir darüber stolperten, andere waren dick und buschig und wieder andere schütter und dürr. Kein Baum war wie der andere; jeder war einzigartig, merkwürdig und verschieden, und doch hatten sie alle eines gemeinsam: Sie sprachen.
»Im Wald schlägt ein Herz, das wir nicht sehen können«, hatte Dad uns einmal erklärt. Er lag platt ausgestreckt am Boden, und wir machten es ihm nach, legten die Hände auf die warme Erde und das Ohr ans Unterholz und lauschten. »Es ist hier, direkt unter uns. Darüber unterhalten sich die Bäume und kümmern sich umeinander. Ihre Wurzeln winden sich ineinander, Dutzende Bäume bilden mit Dutzenden weiteren ein Netz, das sich endlos erstreckt, und sie raunen einander durch diese Wurzeln zu. Sie warnen sich gegenseitig vor Gefahren, teilen sich die Nährstoffe. Sie sind eine Familie, genau wie wir. Gemeinsam stärker. Nichts kommt jemals allein durchs Leben.« Dann lächelte er und sagte: »Hört ihr es schlagen?«, und wir hörten es, irgendwie hörten wir es.
An dem Tag, als wir zehn wurden, führte Dad uns an einen Ort, den wir noch nicht kannten. Wir zelteten schon unser Leben lang in diesen Wäldern, aber so weit war er nie mit uns gegangen. Fünf Nächte hatten wir schon draußen im Grünen geschlafen, fünf Tage waren wir gewandert. Aggie wartete gern ab, bis die Stille am tiefsten war, um dann etwas zu brüllen, so laut, dass die Welt ins Wanken geriet. Mir war die Stille lieber.
Dad hatte immer und überall Werners Nomenklatur der Farben dabei; er glaubte fest daran, dass dieses Buch eine Anleitung zum Leben sei. Aggie und ich vertieften uns abwechselnd in seine Seiten, fuhren mit dem Finger über die kleinen Farbquadrate und ihre Beschreibungen, lernten sie alle auswendig. Zu jedem Farbton wurde ein Tier angeführt, das diese Farbe trug, dazu noch eine Pflanze und ein Mineral. Es war, wie unser Vater häufig und mit Stolz betonte, das Buch, das Charles Darwin auf seiner Reise mit der HMS Beagle verwendet hatte, um die natürlichen Farben zu beschreiben, die er entdeckte. Mir kam es immer ganz wundersam vor, dass »Fleischrot«, für meine Augen ein blasses, bräunliches Rosa, nicht nur die Farbe von Kalkstein und der Blüte des Rittersporns war, sondern auch ein Farbton der menschlichen Haut. Oder dass »Preußisch Blau« den Schönheitsfleck auf dem Flügel der männlichen Tafelente ebenso beschrieb wie das Staubblatt der bläulichen Kronenanemone und das tiefblaue Kupfererz.
»Das Buch schafft Verbindungen zwischen den Dingen«, erklärte uns Dad. »Alles darin ist gleich, nur lauter unterschiedliche Farbtöne. Es macht uns zum Teil der Natur.«
Aber an jenem Tag schwieg Dad, und wir folgten seinem Beispiel, bis wir schließlich über eine Anhöhe nicht in das nächste üppig wuchernde Waldgebiet traten, sondern hinaus in ein abgeholztes Tal. Vor uns war der Boden wie bereinigt, jeder einzelne Baum war gefällt und fortgetragen worden.
»Was ist denn da passiert?«, fragte Aggie, aber Dad nahm das alles schweigend in sich auf, nahm es auf sich und alterte darüber. Sein Blick heftete sich auf etwas in der Ferne. Schwer zu übersehen. Ein einsamer Baum, der mächtigste, den ich je erblickt hatte. Eine atemberaubende Douglasie, die direkt in den Himmel ragte, ihr Stamm zu mindestens achtzig Prozent von seinen Ästen entkleidet. So stand sie felsenfest, mitten in diesem Trümmerfeld.
Dad führte uns ins Tal hinunter, hin zu dem Baum; je näher wir ihm kamen, desto gewaltiger ragte er auf. Rücklings am Boden liegend sah ich, wie die fernen Blätter den Himmel liebkosten.
Dann erzählte Dad uns eine Geschichte. »Ich war nicht immer der Mann, den ihr heute kennt«, fing er an. »Vor langer Zeit, als ihr zwei noch nicht einmal ein ferner Gedanke wart, da war ich Holzfäller.«
Er erzählte uns von seinen Wanderungen durch die Wälder, ähnlich den Wanderungen, die er heute machte, und doch so anders. Seine Aufgabe war es, den Kollegen zu zeigen, wo sie fällen und wo sie damit aufhören sollten, und er verwendete buntes Klebeband, um die Bäume zu kennzeichnen und den Wert ihres Holzes zu schätzen. Sobald er mit seiner Arbeit durch war, kamen die Holzfäller und warfen ihre Kettensägen an, und ein Waldstück, das lebendig gewesen war, als er es betrat, blieb tot zurück.
Eines Tages kam er an diese Stelle. Damals sah es hier noch anders aus. Er war von dem Fluss heraufgekommen, den wir am Morgen mit ihm überquert hatten, maß die Distanz, die er zurückgelegt hatte, und markierte seine Bäume. Dann kam er zu diesem einen. Zu dieser Douglasie, dem Baum, der sein ganzes Leben verändern sollte.
Er wusste gleich, dass sie etwas Besonderes war. Größer als jeder andere Baum, den er je gesehen hatte, musste sie ein Vermögen wert sein. Er markierte sie mit rotem Klebeband und machte weiter.
Aber den ganzen Tag kehrte er immer wieder zurück und sah an ihr empor. Sie rührte etwas in ihm an. Und so zückte der damals fünfundzwanzigjährige Alexander Flynn schließlich sein grünes Klebeband und markierte den Baum ein zweites Mal, diesmal als »erhaltenswert«. Es war das Ende seiner beruflichen Karriere.
»An diesem Tag ging ich von der Arbeit fort und kam nie wieder«, erzählte Dad. »Zu spät. Viel zu spät.« Er ließ den Blick über die Baumstümpfe wandern. »Inzwischen gehört dieser Baum einer bedrohten Art an. Neunundneunzig Prozent des alten Bestands an Douglasien sind schon abgeholzt. Das macht diese zu einer der Letzten ihrer Art.«
»Ist sie einsam?«, fragte ich und spürte Schmerz um die Wurzeln, die sich reckten und nichts fanden, woran sie sich halten konnten.
»Ja«, sagte Dad. Dann lehnte er die Stirn an die Douglasie und tat etwas, das Aggie und ich noch nie bei ihm erlebt hatten, bis zu diesem Tag und auch danach nicht wieder: Er weinte.
Die Reise von Vancouver nach Sydney war lang, und Aggie und ich kannten sie bestens. Eine lange Reise von unserem Vater, dem Exholzfäller, nunmehr Waldbewohner und Naturforscher, zu unserer Mutter, der Großstadtpflanze und knallharten Ermittlerin bei der Polizei. Das Leben mit Mum war eine völlig andere Welt. Aber auch nach der Rückkehr in den Betonklotz, in dem unsere Wohnung lag, zu den baumlosen Sandstränden und dem herandonnernden Meer träumte ich noch von der einsamen Douglasie, und wenn ich aufwachte, war ich mir sicher, dass ihre Wurzeln meine waren, die sich vergeblich reckten und keine anderen fanden, nicht einmal die von Aggie.
Mum hatte uns nicht gefragt, wie der Aufenthalt gewesen war – das tat sie nie. Im Grunde fragte sie überhaupt nicht viel. Das mit dem Fragen übernahm meistens ich, weil ich immer noch mehr wissen wollte, keine Antwort schien mir je zu genügen, ich sei, wie Mum konstatierte, ein Papagei, der das Wort »warum« nur zu dem einen Zweck erlernt habe, um seine Mutter in den Wahnsinn zu treiben.
Am meisten beschäftigten mich meine Eltern und die Frage, warum ich sie nie auch nur am selben Ort gesehen hatte, geschweige denn zusammen. Warum wohnt ihr so weit voneinander weg, Dad und du? Irgendwer muss ja die Fluggesellschaften am Leben halten, sagte sie dann, oder etwas in der Art. Also fragte ich: Wo habt ihr euch kennengelernt? In Kanada. Und warum warst du in Kanada? Weil Menschen eben manchmal in andere Länder reisen, Inti. Wie alt warst du da? Weiß ich nicht mehr. Warst du verliebt? Wenn du erst mal erwachsen bist, meint dieses Wort nicht mehr dasselbe. Hat er sich gefreut, als du schwanger geworden bist? Ich habe ihn nie glücklicher erlebt. Und du? Was glaubst du denn, Dummerchen? Und warum habt ihr euch dann getrennt? Weil ich Karriere machen wollte und er nicht fortwollte aus seinem Wald. Warum? Was, warum? Warum konnte er nicht fort? Das weiß ich nicht, Inti, und ich werde es auch nie begreifen, sagte Mum, und dann tat sie, als würde sie mich knebeln, wir mussten beide lachen, und das Verhör war beendet, zumindest für diesen Tag.
Nach jenem letzten Besuch bei Dad, als meine Albträume von toten Bäumen schon eine ganze Weile anhielten, rief sie mich zu sich ins Arbeitszimmer, und das war so seltsam, dass es mir richtig Angst machte. Mums Arbeitszimmer war ein Ort der Wunden, des Blutes und des Todes. Im Grunde ganz ähnlich wie Dads Schuppen. Normalerweise durften wir gar nicht rein.
»Setz dich mal hierher zu mir«, sagte sie und zog einen zweiten Stuhl an ihren Schreibtisch. Ich setzte mich, schaute hinüber zum Türspalt, wo Aggie stand und lauschte. »Was habt ihr denn diesmal mit Dad unternommen?«, fragte Mum.
»Nur gezeltet und so.«
»Und was hat euch beide so verstört?«
Ich dachte über diese Frage nach. »Da waren so viele Bäume, die alle gefällt worden sind.«
Sie sah mir eine gefühlte Ewigkeit ins Gesicht. »Inti«, sagte sie dann sehr deutlich. »Reiß dich am Riemen.«
Ich wurde rot.
Mum strich mir einmal übers Haar, dann hob sie mich mit starken Armen auf ihren Schoß. Auf ihrem Schreibtisch lagen Aktenordner, die sich mit einer Lasche öffnen ließen. Darin waren Fotos. Lächelnde Frauengesichter. »Das«, erklärte mir Mum, »sind alles Frauen, die diesen Monat von ihrem Mann oder Freund umgebracht wurden.«
Ich verstand nicht richtig.
»In Australien passiert das im Schnitt einmal in der Woche.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass es keine gute Idee ist, deine Energie damit zu verschwenden, dich um Bäume zu sorgen. Sorg dich lieber hierum. Andere Menschen. Dein Mirror-Touch-Syndrom macht dich sehr verletzlich, Inti, und obendrein bist du auch noch viel zu nett. Wenn du nicht aufpasst – wenn du nicht wachsam bist, dann wird dir irgendwann jemand sehr weh tun. Hast du das verstanden?«
Sie zog ein Taschenmesser aus der Schreibtischschublade. Dort lagen auch ihr Gummiknüppel und der Elektroschocker, nur die Pistole blieb auf dem Revier. Ich hatte sie nie damit gesehen, aber Aggie malte früher immer Bilder von ihr mit der Waffe und fragte sie ununterbrochen danach.
Mum klappte die Klinge auf und schnitt sich ohne Vorwarnung in den Zeigefinger.
Ich schrie auf vor Schmerz und umklammerte fest meinen Finger, versuchte, das Blut zu stillen, aber es war ja keins da, ich wusste, da war keins, trotzdem fiel ich immer wieder darauf rein, jedes Mal.
Aggie kam ins Zimmer gestürmt und rief: »Nicht!«
»Ganz ruhig, Aggie«, sagte Mum. »Ihr fehlt nichts. Mach die Augen auf«, sagte sie zu mir, und dann, während ich zusah, schnitt sie sich in den nächsten Finger, schnitt mir in den nächsten Finger und dann noch in den dritten, vierten und fünften. Ich weinte, und sie sagte: »Das bist nicht du. Es gehört nicht dir. Dein Gehirn lügt, wenn es etwas anderes behauptet. Du musst dir einen Schutzschild zulegen.«
»Ich bin ihr Schutzschild«, sagte Aggie.
»Ich weiß, aber ihr werdet nicht immer zusammen sein – sie braucht selber einen.«
Aggie und ich sahen einander an und taten diese Bemerkung einvernehmlich ab.
»Wie denn?«, fragte ich Mum.