Becky Chambers
Die Galaxie und das Licht darin
Roman
Aus dem Englischen von Karin Will
FISCHER E-Books
Becky Chambers ist als Tochter einer Astrobiologin und eines Luft- und Raumfahrttechnikers in Kalifornien aufgewachsen. Die Zeit zum Schreiben ihres ersten Romans hat sie sich durch eine Kickstarter-Kampagne finanziert. Das Buch wurde prompt zu einem Überraschungserfolg. Seitdem wurde sie für zahlreiche Preise nominiert und hat einige davon gewonnen, u.a. den Hugo Award für die beste Serie.
Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de
Das »Five Hop One Stop« ist ein kleines, unbedeutendes Motel am Rande einer viel befahrenen Sternenstraße. Wer hier übernachtet, der will eigentlich nur weiter. Trotzdem lassen Ouloo und Tupo nichts unversucht, um die besten Gastgeber der gesamten Galaxie zu sein. Doch als das Satellitensystem des Planeten zusammenbricht, und drei seltsame Reisende bei ihnen tagelang stranden, benötigen sie ihr gesamtes Geschick, um den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Und vielleicht sogar unvergesslich.
»Die Galaxie und das Licht darin« ist vierte Band des »Wayfarer-Zyklus«
Band 1: Die lange Reise zu einem kleinen, zornigen Planeten
Band 2: Zwischen zwei Sternen
Band 3: Unter uns die Nacht
Band 4: Die Galaxie und das Licht darin
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Galaxy and the Ground Within« bei Hodder & Stoughton Ltd in London.
Copyright © 2021 Becky Chambers
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung und -abbildung: Nele Schütz Design, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491536-4
Für die Fremden, die mir geholfen haben.
Prolog
Empfangene Nachricht
Verschlüsselung: 0
Von: Infoteam der Orbitalkooperative Gora (Pfad: 8486–747–00)
An: Ooli Oht Ouloo (Pfad: 5787–598–66)
Betreff: Möglicher Serviceausfall
Es folgt ein Update der Orbitalkooperative Gora zur Satellitennetzwerkabdeckung zwischen 6.00 Uhr und 18.00 Uhr heute, Tag 236/307.
Bei einem Teil unserer Solarenergie-Flotte sind routinemäßige Wartungsarbeiten und Anpassungen geplant. Wir hoffen zwar, dass es nicht zu Unterbrechungen kommen wird, aber die Bewohner und Geschäftsinhaber in den Stadtteilen 6, 7 und 8 (Süd) müssen während der obengenannten Zeit mit einem vorübergehenden Abfall oder Ausfall der Stromversorgung rechnen. Unser Wartungsteam wird zwar alles in seiner Macht Stehende tun, um das zu verhindern, aber bitte treffen Sie dennoch entsprechende Vorkehrungen. Wir empfehlen Ihnen, Ihr Notstromsystem vorab zu aktivieren und zu testen.
Bei Fragen wenden Sie sich bitte über diesen Scribus-Pfad an unser Infoteam.
Vielen Dank, dass Sie Ihre lokale planetarische Kooperative unterstützen!
In den Linkings war das System als Tren aufgeführt. Am wissenschaftlichen Anteil der Dateien war höchstens die Kürze bemerkenswert, denn selbst der enthusiastischste Astronom hätte sich für diesen verlassenen Abschnitt der Karte nur schwerlich begeistern können. Trens namensgebender Stern war von mittlerem Alter und eher gewöhnlich, und abgesehen von den verschiedenen Sorten Staub und Trümmern, wie sie in jedem Sonnensystem zu finden waren, umkreiste ihn lediglich ein knochentrockener Planet von mittlerer Größe, ohne Mond, ohne Ringe, ohne irgendetwas, das man hätte ernten oder abbauen oder im Urlaub hätte bestaunen können. Es war nichts als ein Felsbrocken, an dem sich ein Hauch von Atmosphäre gerade so eben festklammerte. Der Planet hieß Gora, das Hanto-Wort für nutzlos.
Das einzig Bemerkenswerte an Tren und Gora war, dass sie auf der Navigationskarte zufällig in einem günstigen Abstand zwischen fünf anderen Systemen lagen, die viel Verkehr anzogen. Die Zwischenraum-Tunnel, die von diesen lebhafteren Häfen abzweigten, waren alt, erbaut mit einer Technologie, der die Reichweite moderner Wurmlöcher fehlte. Damals waren die Tunnel deutlich kürzer gewesen, und auf den alten Routen aus der Harmagianischen Kolonialzeit gab es für gewöhnlich viele Stellen, an denen Schiffe in den Normalraum zurückkehren konnten, bevor sie die nächste Etappe ansteuerten. Schließlich bekam der langweilige kleine Felsbrocken, der um die triste kleine Sonne kreiste, einen Zweck: Er wurde zum Anker zwischen den eigentlichen Zielen der Reisenden.
Der Verkehr an einem Tunnelknotenpunkt wie Gora war kompliziert, da die Übergänge zwischen den Wurmlöchern akribisch überwacht werden mussten. Unreguliert von einem Tunnel in den nächsten zu rauschen war ein perfektes Rezept für Unfälle, vor allem, wenn man in einen Tunnel eintrat, den jemand anders noch nicht verlassen hatte. Wie alle solche Knotenpunkte wurde auch Tren von der Transitbehörde der Galaktischen Union kontrolliert. Jedes Schiff, das in einen Tunnel eintrat oder ihn verließ, musste zuerst einen Flugplan einreichen, in dem Ankunftszeit, Ausgangspunkt und endgültiges Ziel angegeben waren. Die Transitbehörde gewährte dann den Zugang zu dem betreffenden Zieltunnel und wies dem Schiff eine Abfahrtszeit zu. Die Durchquerung des normalen Raums von einem Tunnel zum anderen dauerte zwar nur ein paar Stunden, aber so kurz waren die Wartezeiten im Tren-Sonnensystem nur selten. Häufig wartete man länger als einen halben Tag, es sei denn, das Verkehrsaufkommen war ungewöhnlich gering. Und so hatte der einsame Planet im Laufe der Jahrzehnte reichlich Gesellschaft angezogen. Gora war übersät von bauchigen Habitatkuppeln mit Zerstreuungsangeboten und Dienstleistungen aller Art. Es gab Hotels, Technik-Tauschbörsen, Restaurants, Reparaturwerkstätten, Lebensmittelhändler, Sim-Läden, Kick-Läden, Smash-Läden, Gärten, Tet-Häuser und Schwimmbäder, und sie alle buhlten um die Gunst der müden Raumfahrer, die sich nach echter Schwerkraft und einem kurzen Tapetenwechsel sehnten.
Eine dieser Kuppeln, die sich auf einer flachen Ebene in der südlichen Hemisphäre befand, beherbergte ein bescheidenes Etablissement. Es hieß – so stand es in verschiedenen Sprachen auf das Shuttlepad gepinselt – Five-Hop One-Stop.
Und Ouloo hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, dass man dort absteigen wollte.
Wie immer wachte sie vor dem Morgengrauen auf. In der schwindenden Dunkelheit öffneten sich ihre Augen mühelos, denn ihr Körper war längst daran gewöhnt, zu genau dieser Stunde und bei genau dieser Beleuchtung aus dem Schlaf zu erwachen. Sie rekelte sich in dem Kissenberg in ihrer Schlafkoje, zog den Kopf unter einem ihrer Hinterbeine hervor und schüttelte ein paar verirrte Fellsträhnen aus den Augen. Dann streckte sie eine Pfote aus und schaltete den nicht benötigten Alarm ab (von dem sie nicht einmal mehr wusste, wie er klang).
Ouloo reckte ihren langen Hals durchs Zimmer und sah, dass die Schlafnische, die gegenüber von ihrer lag, leer war. »Tupo?«, rief sie. Es sah ihrem Kind gar nicht ähnlich, so früh wach zu sein. In letzter Zeit begann jeder Morgen mit einem vorpubertären Krieg, und jeder war langweiliger als der davor. Ouloo spürte eine schwache Hoffnung in sich aufsteigen, die sagenhafte Vorstellung, dass Tupo von allein aufgestanden war, mit der Hausarbeit begonnen und vielleicht sogar gekocht hatte.
Beinahe hätte Ouloo über sich selbst gelacht. Nie im Leben.
Sie tappte durch den Raum, betrat ihren Pflegeschrank, schloss sich in der geräumigen Kabine ein, stellte ihre Füße auf die vier Platzierungsmarker und tippte mit der Nase auf einen Knopf. Sie seufzte, als sich eine Reihe intelligenter Maschinen an die Arbeit machte, sie kämmte und lockte, wusch und spülte, ihr die Pfotenballen massierte und die zierlichen Ohren säuberte. Sie mochte diesen Teil des Morgens, auch wenn sie ein wenig die Zeit vor Gora vermisste, als zu ihrer Morgenroutine noch duftende Seifen und Kräuterpuder gehört hatten. Aber als Gastgeberin eines Etablissements für eine Vielzahl von Spezies war ihr nur allzu klar, dass das, was für sie köstlich roch, bei anderen alles zwischen einer allergischen Reaktion bis zu einer persönlichen Kränkung auslösen konnte, und die langfristige Zufriedenheit ihrer Kunden war ihr um ein Vielfaches wichtiger als das flüchtige Vergnügen eines reichhaltigen Springkrautschaums. Ouloo war eine Laru, die Details ernst nahm, und in ihren Augen war kein Detail zu geringfügig – nicht, wenn es um ihre Kunden ging.
»Tupo?«, rief sie erneut. Angemessen zurechtgemacht verließ sie die Kabine und ging durch den Flur, der ihren Schlafraum mit den anderen Zimmern verband. Ihr Haus war weder groß noch luxuriös, aber genau richtig für zwei Personen, und mehr brauchten sie auch nicht. Es war zwar untypisch für Laru, in einer so kleinen Gruppe zu leben – sofern man zwei Leute überhaupt als Gruppe bezeichnen konnte –, aber Ouloo hielt sich nicht für typisch, in keiner Hinsicht. Worauf sie durchaus stolz war.
Der Korridor war von Dachfenstern gesäumt, hinter denen es so geschäftig wie immer zuging. Tren war gerade erst aufgegangen, aber der Himmel war hell und glitzerte von den Satelliten, den Orbitern und dem beständigen Kommen und Gehen der Schiffe, die starteten, landeten und vorbeiflogen. Als Ouloo an einem Fenster vorbeikam, entdeckte sie, dass das Shuttlepad einen neuen Anstrich brauchte. Im Geist setzte sie es auf Tupos Liste.
Ihre frischen Locken sträubten sich wütend angesichts der Szene, auf die sie am Ende des Ganges stieß. »Tupo!«, schimpfte Ouloo. Ihre Augenlider schlossen sich, und sie seufzte. Sie musste an den längst vergangenen Tag denken, als sie in ihre Bauchtasche gesehen und das hellrosa Klümpchen darin ihren Blick endlich erwidert hatte. Zwei Tagzehnte nach der Geburt hatten Tupos Augen gerade erst begonnen, sich zu öffnen, und Ouloo hatte siren Blick mit aller Liebe und allem Staunen der Welt erwidert, atemlos vor Verbundenheit mit diesem wundervollen, vollkommenen Baby, diesem winzigen, lebendigen Schatz, dem sie sanft und beruhigend zugurrte, während sie sich fragte, zu was für einem Wesen er wohl heranwachsen würde.
Die Antwort war deprimierenderweise das Desaster, das hier auf dem Boden schnarchte, die Gliedmaßen ausgebreitet wie bei einem überfahrenen Tier. Auf dem Projektor in der Nähe lief irgendein albernes Video, dessen Einpersonenpublikum mit dem Gesicht voran in einer Schüssel voller Algen-Crispies schlief.
Für so etwas hatte Ouloo jetzt keine Zeit. Sie marschierte zu ihrem Kind hinüber, schlang den Hals um beide Seiten sires Rumpfes und schüttelte sihn fest. »Tupo!«
Tupo erwachte ruckartig und schniefte. »Ich war es nicht«, stieß ser hervor.
Ouloo stapfte zum Projektor hinüber und schaltete ihn aus. »Du hast doch gesagt, dass du bis Mitternacht ins Bett kommst.«
Mühsam hob Tupo siren Hals und blinzelte verwirrt, immer noch mit Algenbröseln im Gesichtsfell. »Wie spät ist es?«
»Es ist Morgen. Wir bekommen bald Gäste … und jetzt schau dich an!«
Tupo blinzelte erneut und schnitt eine Grimasse. »Mein Mund tut weh«, jammerte ser.
»Lass mich mal sehen«, sagte Ouloo. Sie ging hinüber und schwang ihr Gesicht dicht vor das von Tupo, wobei sie nach Kräften die Tatsache ignorierte, dass ihr Kind den Inhalt der Snackschale vollgesabbert hatte. »Mund auf.«
Gewohnheitsmäßig öffnete Tupo weit die Schnauze. Ouloo spähte hinein. »Oje«, sagte sie, und Mitgefühl mischte sich in ihren Ärger. »Der wird bis zum Ende des Tagzehnts rauskommen, jede Wette. Wir schmieren etwas Gel drauf, hmm?« Tupos bleibende Schneidezähne standen kurz vor dem Durchbruch, und wie alles am Körper dieses Kindes geschah das wenig elegant. Erwachsenwerden war für keine Spezies ein Spaß, aber die Laru waren langlebiger als die meisten anderen und hatten dadurch viel mehr Zeit, diese unangenehme Angelegenheit in die Länge zu ziehen. Ouloo hatte keine Ahnung, wie sie das noch mindestens acht Jahre lang aushalten sollte. Tupo war immer noch so weich, so babyhaft in sirem Wesen, aber jetzt hatte ser endgültig die Schwelle zwischen klein und niedlich zu groß und grobschlächtig überschritten. Nichts passte mehr zusammen, und alles war dabei, sich zu verändern. Es waren nicht nur die Zähne, sondern auch die Gliedmaßen, der Kiefer, das Erwachsenenfell, das an eine schlecht gestutzte Hecke erinnerte, und der Geruch – Sterne, das Kind müffelte. »Du musst dich waschen«, sagte Ouloo.
»Das habe ich doch erst gestern Abend gemacht«, protestierte Tupo.
»Dann mach es noch mal«, sagte Ouloo. »Nachher kommen Äluoner zu Besuch, und wenn ich dich riechen kann, werden sie dich auf jeden Fall riechen.«
Geistesabwesend wühlte Tupo mit einer Vorderpfote in der Snackschale, auf der Suche nach Crispies, die nicht nass waren. »Wer kommt denn heute?«
Ouloo holte ihren Scribus von dem Beistelltisch, wo sie ihn am Abend zuvor hingelegt hatte, wie immer. Sie zeigte auf den Bildschirm und rief die Liste mit den Neuankömmlingen auf. »Es stehen drei Landungen bevor«, sagte sie. Nicht gerade ein Rekordtag, aber auch nicht schlecht. So hatte sie noch Zeit, ein paar Reparaturen zu erledigen, und Tupo konnte anfangen, das Shuttlepad zu streichen. Ouloo gestikulierte erneut, um die Einzelheiten auf dem Bildschirm in den Projektionsmodus zu schalten, so dass Tupo sie sehen konnte.
Die Liste lautete:
Heutige Landungen
Saelen (Ankunft ca. 11.26 Uhr)
Melody (Ankunft ca. 12.15 Uhr)
Korrigoch Hrut (Ankunftszeit ca. 13.06 Uhr)
»Welches Schiff ist das von den Äluonern?«, fragte Tupo mampfend, den Mund voller Algen-Crispies.
»Was glaubst du denn?«
»Keine Ahnung.«
»Ach komm schon. Du weißt es.«
Tupo seufzte. Normalerweise mochte ser diese Art von Ratespielen – und gab dabei manchmal ganz schön an –, aber morgens war nicht sire beste Zeit, selbst wenn ser die Nacht nicht in einer Snackschale verbracht hatte. »Saelen.«
»Warum?«
»Weil das ganz klar ein äluonischer Name ist.«
»Und woran erkennt man das?«
»An der Endung. Und an dem ›ae‹.«
»Sehr gut.« Ouloo deutete auf den dritten Schiffsnamen auf der Liste. »Und welche Sprache ist das?«
Tupo kniff die Augen zusammen. »Ist das Ensk?«
»Ganz kalt. Sieh dir doch die Konsonanten an.«
Tupo verengte die Augen noch mehr. »Tellerain!«, sagte ser, als wäre das schon die ganze Zeit klar gewesen. Sire schläfrigen Augen leuchteten auf. »Sind das Quelins?«
»Quelin, Einzahl, auch wenn es eine Gruppe ist, und ja, richtig.«
Tupo war sichtlich aufgeregt. »Wir hatten schon lange keine Quelin mehr hier.«
»Nun, es sind ja auch nicht so viele von ihnen im GU-Raum unterwegs. Verkneif dir bitte neugierige Fragen darüber, was sie hier draußen machen, ja?«
»Ja. Ihre Beine sind so komisch, Mom.«
Ouloo runzelte die Stirn. »Was hatten wir noch mal besprochen?«
Tupo schnaubte, was das Fell unter sirer Nase zum Zittern brachte. »Nicht komisch, nur anders.«
»Ganz genau.«
Tupo verdrehte die Augen, dann wandte ser sich wieder der Liste zu. »Was ist mit dem zweiten Schiff?«
»Könnte alles Mögliche sein«, sagte Ouloo, denn das Schiff trug einen Klip-Namen. »Wahrscheinlich eine gemischte Besatzung.«
»Schau nach, biiitte«, bettelte Tupo.
Ouloo gestikulierte zu der Liste hin und rief die Details auf, die bei der Transitbehörde hinterlegt waren.
Melody
Schiffskategorie: Familienshuttle
Zugehöriges Orbitalschiff (sofern vorhanden): Harmony
Geplante Aufenthaltsdauer: Zwei Stunden
Pilotin: Speaker
»Was für ein Name ist denn Speaker?«, fragte Tupo. »Das ist doch kein Name.«
»Es ist eindeutig ein Ser-Name«, sagte Ouloo, aber jetzt war sie ebenfalls neugierig. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Modderin. Modder hatten immer so ulkige Namen. Sie rief die Fluglizenz auf, die mit dem Landeantrag übermittelt worden war. Die Datei erschien auf dem Bildschirm, zusammen mit einem Foto der fraglichen Pilotin.
Ouloo schnappte nach Luft.
Tupo war jetzt hellwach. »Was ist das denn?«, rief ser und schob das Gesicht näher zum Bildschirm. »Mom, was ist das?«
Ouloo machte große Augen. Das … konnte einfach nicht stimmen.
Tag 236, GU-Standard 307
Als Speaker erwachte, war Tracker nirgendwo zu sehen. Das überraschte sie nicht. Tracker war immer als Erste auf den Beinen. Vor dem Schlüpfen war Tracker fast schon aus ihrer Schale heraus gewesen, als Speaker begann, ihre eigene zu durchbrechen – etwas, woran sich keine der Zwillingsschwestern erinnerte, wovon aber ihre Verwandten immer wieder erzählten. Speaker hatte nie ein Leben ohne Tracker gekannt, genauso wenig wie sie jemals aufgewacht war, während ihre Schwester noch im Bett lag. So war es auch nicht das Geräusch ihrer geschäftigen Schwester, das Speaker an diesem Morgen weckte, sondern das Summen einer Benachrichtigung.
»Kannst du rangehen?«, rief Speaker, unwillig, das Kissen loszulassen, um das sie sich gerollt hatte.
Das Summen ging weiter, womit sie ihre Antwort hatte.
Widerwillig krabbelte Speaker zum Rand des Hängebetts. Sie streckte einen Unterarm aus und verankerte sich mit dem großen Keratinhaken am Ende ihrer viel kleineren Hand an der nächstgelegenen Stange. Dann schwang sie ihren Körper aus dem Bett und griff mit dem gegenüberliegenden Haken nach der nächsten Stange und so weiter und so fort. Wie auf jedem Akarak-Schiff gab es auch auf der Harmony in jedem Raum Gitter mit Stangen die vom Boden bis zur Decke reichten, jedes ein eigens konstruierter Parcours, um die Routen durch die Bäume nachzuahmen, die ihre Vorfahren benutzt hatten. Weder hatte sich Speaker je durch einen echten Baum fortbewegt, noch bewegte sie sich so gewandt, wie es ihre Vorfahren ihrer Vorstellung nach getan hatten. Wie viele andere war Speaker mit dem geboren worden, was ihr Volk das Irirek-Syndrom nannte – eine umweltbedingte genetische Erkrankung, die sie im Gebrauch ihrer Beine einschränkte. Die beiden kurzen Gliedmaßen, die unter ihr hingen, während sie sich durch den Raum hangelte, konnten zwar greifen und sie passiv stützen, aber das war auch schon alles. Es waren ihre Arme, die sie trugen, und die waren stark und unermüdlich, selbst an einem Morgen, an dem sie unsanft geweckt worden war.
Speaker erreichte das in die Wand eingelassene Kommunikationsbedienfeld und ließ sich in einer der geflochtenen Sitzhängematten nieder, die davor hingen. Mit einer Geste zu dem Panel hin rief sie die Daten des eingehenden Rufs ab. Eine lokale Übertragung, kein Ansible-Ruf. Speaker holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe. Wer weiß? Vielleicht würde es dieses Mal gutgehen.
Auf dem Bildschirm erschien eine Laru – die Gastgeberin ihres Zielstandorts, wie Speaker annahm, denn der vokallastige Name, den sie sich zuvor gemerkt hatte, als sie einen Landeplatz am Five-Hop angefordert hatte, konnte nichts anderes als Laru sein. Die allermeisten Akaraks hatten Mühe, diese Spezies zu lesen, da ihr dichtes Fell so viel von ihrer Gesichtsmuskulatur verdeckte, aber Speaker konnte sowohl die Mimik als auch die Körpersprache der Laru deuten, wie bei den meisten GU-Spezies. Sie hatte beharrlich geübt und wusste, dass sie gut darin war.
Diese Laru hier war nervös, was Speaker sowohl ermüdete als auch kein bisschen überraschte.
Die Laru sprach sie in umständlichem Hanto an. »Ich bin Ouloo, Ihre planetarische Gastgeberin. Bitte nennen Sie mir den Grund Ihres Besuchs.« Das Fehlen einer Begrüßungsfloskel oder eines Willkommensgrußes war auffällig, besonders in der blumigen Kolonialsprache. Man hätte es vielleicht auf Ouloos offensichtliche Schwierigkeiten mit der Sprache schieben können, aber die Erfahrung hatte ihre Gesprächspartnerin eines Besseren belehrt.
Speaker nahm eine Haltung ein, von der sie wusste, dass sie auf Laru funktionierte: Die Schultern hängend, den Kopf weiter vorgestreckt, als es für sie natürlich war. Bei den Laru traf das in etwa die visuellen Marker für jemanden, der entspannt war. »Hallo, Ouloo«, erwiderte Speaker in tadellosem Klip. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Speaker. Sie müssten die Reservierung für unser Shuttle in Ihren Unterlagen haben – die Melody.«
Ouloos lehmrotes Fell sträubte sich vor Überraschung, und Speaker musste nicht erst raten, was der Grund war: Akaraks waren nicht dafür bekannt, sich flüssig auf Klip zu verständigen. »Oh, ich …« Die Laru geriet durcheinander und gab mit ihren zottigen Pfoten Befehle ein. »Die …?«
»Die Melody«, wiederholte Speaker. Sie bezweifelte, dass Ouloo die Reservierung nicht schon zuvor gesehen hatte.
Die großen Augen der Laru huschten auf und ab, während sie auf einem unsichtbaren Bildschirm eine Datei las. »Ja, hier«, sagte Ouloo. Immer noch klang ihre Stimme unsicher, abwesend. »Entschuldigung, ich wusste nicht, dass Sie …« Sie unterbrach sich. »Könnten Sie … Könnten Sie mir die Flugerlaubnis für Ihr Schiff senden?«
Speaker widerstand dem Drang, verärgert mit dem Schnabel zu klappern, und hielt den Kopf weiter beruhigend vorgestreckt. »Mein Pilotenschein müsste Ihnen eigentlich vorliegen, zusammen mit den anderen Unterlagen unserer Reservierung«, sagte sie. »Genügt das nicht?«
»Doch, ähm, durchaus. Es dient nur zur zusätzlichen Bestätigung. Eine ganz normale Sicherheitsmaßnahme.«
Speaker fragte sich, ob es diese Sicherheitsmaßnahme schon vor diesem Gespräch gegeben hatte. »Einen Moment«, sagte sie. Sie rief die Datei auf und schickte sie los.
Ein Zirpen erklang auf Ouloos Seite, als die Datei einging. Die Augen der Laru bewegten sich auf und ab, auf und ab, ein paarmal mehr, als es für das Lesen einer so kurzen Datei nötig war. »Vielen Dank«, sagte Ouloo. »Es scheint alles seine Richtigkeit zu haben.« Sie gab sich jetzt Mühe, freundlich zu klingen, aber ihre Stimme wirkte immer noch ein wenig schroff. »Willkommen auf Gora. Wir freuen uns, Sie im Five-Hop begrüßen zu dürfen. Ich werde bei Ihrer Ankunft im Büro sein, um Ihre Wünsche entgegenzunehmen und Sie durch die Anlage zu führen.« Erneut hielt sie inne. »Es tut mir leid, aber wir hatten noch nie Gäste, die Akaraks waren. Ich versuche immer, für jede Spezies etwas anzubieten, aber ich habe keine – ich weiß nicht –« Sie lachte verlegen. »Ich meine – es ist wohl ein Versehen meinerseits …«
»Keine Sorge«, sagte Speaker. »Wir werden uns nur kurz bei Ihnen aufhalten und fühlen uns in unserem Shuttle ohnehin am wohlsten. Ich brauche nur ein paar Vorräte.«
»Ah ja«, sagte die Laru. »Nun, ich hoffe, Sie haben dennoch einen angenehmen Aufenthalt. Ähm … Sie haben im Leitfaden für die Andockreservierung gesehen, dass Waffen bei uns strengstens verboten sind, nicht wahr?«
Speaker ertrug die unterschwellige Beleidigung, wie so viele andere auch. »Wir führen keine Waffen«, sagte sie.
»Oh«, sagte Ouloo, wieder überrascht. Ihre Miene hellte sich auf, während sie sich bemühte, das Gespräch zu retten. »Dann verursachen Sie weniger Umstände als die Äluonerin. Hier ist gerade ein Shuttle hereingekommen, nach irgendwelchen Schwierigkeiten an der Grenze, und sie musste definitiv ein paar Gegenstände einschließen. Sie werden ihr vermutlich begegnen.«
»Bestimmt«, sagte Speaker. »Wir sehen uns dann beim Andocken.«
Der Bildschirm wurde schwarz. Speaker atmete tief durch. Sie warf einen Blick auf die Uhr – noch eine Stunde bis Gora. Ausreichend Zeit für ein paar leibliche Annehmlichkeiten.
Sie schwang sich von Stange zu Stange aus dem Schlafzimmer in den Waschraum hinüber, wo sie etwas Wasser trank, sich erleichterte und sich eine Packung Wiesenschmelz-Dentbots in den Schnabel warf. Wiesenschmelz war ihre bevorzugte Geschmacksrichtung, nicht die von Tracker, aber es war Tracker gewesen, die beim letzten Markteinkauf die Lebensmittelbestellung aufgegeben hatte. Speaker musste lächeln, als sie den Reinigungsschaum wieder ausspuckte. Ihre Schwester hatte ein Gespür für wortlose Gefälligkeiten.
Nachdem sie sich nun wieder besser fühlte, machte Speaker sich auf den Weg durch den Korridor, wobei sie im Vorbeigehen in jeden Raum einen Blick warf. Für eine typische Akarak-Familie von zehn oder mehr Personen wäre die Harmony viel zu eng gewesen, aber auf diesem Schiff lebten nur Speaker und Tracker. Die unbewohnten Räume waren jedoch keineswegs leer, sondern allesamt vollgestopft mit Technik, Medizin, haltbarem Essen, Bettzeug, Lufttanks – lauter aussortiertes Zeug, das sie geschnorrt oder geschenkt bekommen hatten. Speaker und Tracker transportierten die Sachen nicht für sich selbst, sondern für die Leute, denen sie bei der Arbeit begegneten. Man konnte nie wissen, wer wann etwas brauchen würde, also nahm man am besten alles mit.
Wie zu erwarten war, befand sich Tracker gerade in einem der beiden Räume, die die Schwestern nicht für praktische Zwecke reserviert hatten. Das eine Zimmer gehörte Speaker, die es zurzeit als akustisches Paradies herrichtete, um dort Musik zu hören. Trackers Zimmer – der Raum, den Speaker jetzt betrat – war eine Art Garten. Tracker züchtete Kristalle, und sie hatte den Raum ausschließlich zu diesem Zweck eingerichtet. Der untere Teil des Zimmers war voller Regale, in denen Becher, Brenner sowie Gläser mit Pulvern und Salzen standen. Die Wände waren mit bunten Lämpchen geschmückt, die hier und da in asymmetrischen Winkeln angebracht waren. Den Rest des Raums nahmen Trackers anorganische Kreationen ein, in Schalen und Bechern, die an Bindfäden zwischen Fortbewegungsstangen hingen. Einige der Kristalle waren gezackt, andere klobig und glatt. Manche ähnelten Wassereis oder Motorkohle oder geschmolzenem Glas. Ihre Farben hätten nicht unterschiedlicher sein können, und jede noch so kleine Bewegung von Speaker führte dazu, dass sich der Raum in ein immer neues Glitzerkaleidoskop verwandelte, geboren aus Lichtwellen, die sich in den unterschiedlichen Mineralien brachen.
Tracker hing gerade mit den Füßen am Deckennetz und ordnete den Inhalt einer ebenfalls hängenden Schale. »Die hier entwickeln sich sehr schön«, sagte sie in ihrer Muttersprache Ihreet.
Speaker kletterte auf die fragliche Schale zu, aber auf halber Höhe funktionierte das Labyrinth aus Stangen und Behältern, das Tracker um ihre eigenen Bewegungen herum konstruiert hatte, nicht mehr bei jemandem mit anderen Beinen. Tracker merkte, dass Speaker Mühe hatte, und ohne dass zwischen den beiden Schwestern ein Wort gefallen wäre, schwang sie sich nach unten, um ihr zu helfen. Tracker drehte horizontale und vertikale hintere Gliedmaßen, um ihren Körper auf eine Weise zu wenden, die Speaker nicht möglich war. Sie hakte ihre Handgelenke bei Speaker ein. Sie half, stützte, führte. Speaker folgte, lehnte sich an, ließ sich fallen. Es war ein Tanz, der beiden vertraut war.
An Trackers Oberkörper gedrückt hörte Speaker die Lunge ihrer Schwester rasseln. »Kein guter Tag heute?«, fragte Speaker.
»Nicht besonders«, sagte Tracker. Das Irirek-Syndrom war ihr zwar erspart geblieben, aber sie hatte andere Probleme. Es war Speaker gewesen, die bei Tracker die ersten Anzeichen einer brüchigen Lunge bemerkt hatte, ganze drei Jahre nachdem die unzureichend gefilterte Luft, die sie als Schlüpflinge eingeatmet hatten, eine langsam voranschreitende Mutationsstörung ausgelöst hatte. Anfänglich hatte Speaker keine Ahnung gehabt, was los war, nur dass sie, wenn sie nachts ihr Ohr an die Nasenlöcher oder das Herz ihrer Schwester legte, manchmal hören konnte, wie deren Atem sich verhaspelte und im Schlaf aussetzte. Hätte sie Tracker nicht zum Arzt geschleppt, wäre Speaker zum Einzelkind geworden – das Schlimmste, was einer Akarak passieren konnte.
»Hast du dein Medikament genommen?«, fragte Speaker.
»Noch nicht«, sagte Tracker. Sie zog Speaker noch ein kleines Stück weiter, bis zu der Sitzhängematte neben der Schale, an der sie gearbeitet hatte.
»Nimm dein verdammtes Medikament«, sagte Speaker ruhig, während sie Platz nahm. Sie beugte sich vor und blickte in die Schale. Die Kristalle darin waren von einem tiefen Blau, geheimnisvoll und beruhigend, und verzweigten sich in einer betörenden Geometrie nach außen. Sie nahm einen heraus und betrachtete ihn bewundernd, während sie ihn in dem farbigen Licht hin und her drehte. »Hast du den Anruf deshalb nicht angenommen?«
»Nein«, sagte Tracker, während sie sich in einer Hängematte unter ihr ausstreckte. »Ich wollte mich einfach nicht damit befassen.«
Speaker sah zu ihrer Schwester hinüber. »Danke«, sagte sie. Tracker spreizte freundlich abwehrend die Arme zur Seite. »Sag mir, dass es nicht irgendwas Verlogenes war.«
»Oh, es war eindeutig verlogen«, sagte Speaker.
»Mhm«, sagte Tracker. »Und nichts macht so etwas schlimmer als jemand mit einem Akzent, wie ich ihn habe.«
»Dein Akzent ist okay«, sagte Speaker. »Du bist schließlich nicht die Einzige in der Galaxis, die mit hörbarem Akzent spricht.«
»Na ja, ich kenne nicht halb so viele Wörter wie du. Nicht mal die Hälfte. Ungefähr … ein Achtel. Ein Sechzehntel.«
»Für einen Landeanruf reicht das vollkommen.«
Tracker verhakte die Handgelenke hinter ihrem Kopf und fläzte sich auf eine Weise in die Hängematte, die ausdrückte, dass sie hier nicht einlenken würde. »Du bist die Sprecherin, nicht ich.«
Speaker legte den Kristall in die Schale zurück. »Kommst du dieses Mal mit?«
»Nein«, sagte Tracker. Speaker war nicht überrascht. Tracker verließ das Schiff nur selten ohne triftigen Grund. Dieser Charakterzug war typisch für ihre Spezies, aber Tracker hatte ihn vorsätzlich kultiviert. Sie war eine Meisterin darin, nirgendwo hinzugehen. Doch dann fiel ihr nach ihrer Antwort noch etwas ein. »Wie verlogen war der Anruf?«
Speaker begriff, was sie eigentlich wissen wollte: Ist es gefährlich für dich, allein dorthin zu gehen? »Keiner von der gefährlichen Sorte«, sagte sie. »Sie wirkte pingelig, nicht gewalttätig. Außerdem sind Waffen bei ihr verboten.«
»Na schön. Und du bist dir sicher?«, fragte Tracker.
»Ich bin mir sicher.« Speaker begann vorsichtig den Abstieg. Tracker wollte ihr helfen, aber Speaker winkte ab. »Nicht nötig.« Sie schwang sich zu Trackers Hängematte, und ihre Schwester rutschte beiseite. Mit dem altbekannten Bewegungsablauf legten sie sich umeinander, in einer Anordnung, die sich so natürlich ergab wie die Form der Kristalle. Tracker begann zu husten, und Speaker hielt die Hände ihrer Schwester, während der kurze Hustenanfall anschwoll und wieder abebbte. »Übrigens, solange ich weg bin …«, sagte sie.
Tracker atmete ein paarmal langsam und bewusst durch, um sich zu vergewissern, dass in ihrer Brust alles ordnungsgemäß funktionierte. »Ja?«, fragte sie dann.
Speaker sah Tracker eindringlich an. »Nimm dein Medikament.«
Der Meeresstrand war so schön wie immer. Der Himmel darüber schimmerte im blassen Amethystblau des Mittags. Unten plätscherte das Wasser wie eine zarte, rhythmische Liebkosung gegen den schwarz glänzenden Sand. Alle möglichen Spezies tummelten sich hier, einige Leute schliefen, andere schwammen, manche sammelten Muscheln. Der Strand war beliebt, aber nicht laut; friedlich, ohne langweilig zu sein. Hier hatte man viel Platz, um den eigenen Gedanken nachzuhängen, während man dennoch aus der Ferne von der beruhigenden Gesellschaft der anderen profitierte.
Roveg saß inmitten dieser Szenerie, die Bauchbeine ordentlich unter sich gefaltet, während seine Brustbeine mit der wichtigen Aufgabe beschäftigt waren, ein ausgiebiges Frühstück zu beenden. Vor ihm auf dem Tisch standen verschiedene Speisen, die er an diesem Morgen sorgfältig aus der Stasetruhe ausgewählt hatte. Was er zusammengestellt hatte, war teilweise von den Aandrisk beeinflusst: Getreidecracker mit eingelegten Früchten, würzige, in frischen Saab Tesh gewickelte fermentierte Pilzpaste und ein paar ausgewählte Scheiben heiß geräucherten Flussaals (hierbei handelte es sich um ein äluonisches Gericht, das aber gut zu den anderen Speisen passte). Das Tüpfelchen auf dem i bildete eine Schale Tee – zufälligerweise eine delikate Laru-Mischung – und ein kleines Glas Seegrassaft. Letzteres war der einzige Teil der Mahlzeit, der von Rovegs Spezies stammte, und obwohl er schon die verschiedensten Frühstücke aus den verschiedensten Welten zu sich genommen hatte, hing er immer noch an der alten Quelin-Tradition, den Morgen mit einem reinigenden Schluck dieses Gebräus zu beginnen. Manche Gewohnheiten ließen sich einfach nicht ablegen.
Mit einer unteren Reihe seiner Beine verteilte Roveg die Konfitüre auf den letzten Crackern, während er gleichzeitig mit denen in der Nähe seines Mundes ein Pilzbrötchen hielt. Er knabberte daran und beobachtete dabei einen Schwarm Pelzfische, die jenseits der Wellen spielerisch durchs Wasser sprangen. Ein leichter Windstoß ließ das sandige Gestrüpp direkt hinter ihm rascheln, begleitet von dem Gesang der Chorkäfer, ihr eindringliches Lied leise und süß.
»Freund«, sagte Roveg klar und deutlich. Er drehte seinen Kopf in die Richtung, wo sich seines Wissens die getarnte Wand-Vox befand. »Schalte die Käfer aus.«
Freund zwitscherte bestätigend durch die Lautsprecher, und die Chorkäfer verstummten.
Roveg hatte nichts gegen Käfer, aber heute wollte er etwas anderes, etwas … »Spiel Entspannungsmix Nummer 6«, sagte er. »In zufälliger Reihenfolge.«
Freund zwitscherte erneut, und die Musik setzte ein.
»Schon besser«, sagte Roveg. Er aß weiter und summte beim Kauen leise vor sich hin. »Wie lange dauert es noch bis zum Landeanflug?«
»Zwanzig Minuten«, antwortete Freund.
Roveg bog in milder Überraschung den Bauchpanzer durch. »Nur? Na schön.« Er blickte auf den Rest seiner morgendlichen Genüsse hinunter. »Mist.« Er erwog kurz, den Rest seiner Mahlzeit rasch hinunterzuspülen, aber Essen ohne Genuss war fast so schlimm, wie Lebensmittel wegzuwerfen. Sorgfältig packte er die Reste ein, trank den Seegrassaft mit einem anerkennenden Schaudern aus und stand auf. »Freund, bitte setze die Musikwiedergabe über das Soundsystem fort.« Er gestikulierte zu einem Bedienfeld hinüber. Der Strand verschwand, und zurück blieben nur der Projektor und glatte Wände. Durch die Flügeltür betrat er das dahinterliegende Gangsystem seines Schiffes.
Die Korrigoch Hrut war schon seit etlichen Standards Rovegs Shuttle, und er mochte sie sehr. Sie war zwar nicht sein Zuhause – das hatte er auf Chalice zurückgelassen, eine charmante Wohnung in einer Klippe über dem Stadtzentrum. Aber er bereiste das Weltall am liebsten in einem Schiff, das sich wie ein Zuhause anfühlte, und hatte die Korrigoch Hrut entsprechend eingerichtet. Außerhalb des Antriebskerns gab es keine Wand ohne Kunst. Hier hingen abstrakte Aandrisk-Gemälde, äluonische Farboper-Masken, exquisite Kugeln aus harmagianischem Glas, ein paar Geschenke, ein paar Erinnerungen, ein bisschen schnelllebiger Nippes von Spaziergängen über den Markt. Als er in die Küche ging, strich er mit einem Bein über ein von Menschenhand gemaltes Landschaftsbild. Dieses Stück hatte es ihm besonders angetan.
Er verstaute die Reste mit akribischer Pedanterie, stellte sie sorgfältig in die Stasefächer und ging dann in den Kontrollraum, wobei er weiter die Musik mitsummte, die ihm folgte.
Der Planet Gora füllte den Bildschirm ganz aus; er hatte sein Frühstück keinen Moment zu früh geopfert. Er war noch nie über Gora gereist, und sein erster Eindruck war ein ausnehmend ordentliches Durcheinander. Die anderen Transitknotenpunkte, durch die er gereist war, befanden sich allesamt in der Nähe belebter Planetensysteme, auf denen sich das Leben auf der Planetenoberfläche abspielte und der Verkehr sich auf die Orbiter darüber beschränkte. Aber hier, wo der Planet nur dem einen Zweck diente, die vorübergehenden Bedürfnisse der Durchreisenden zu befriedigen, wo sich jede Kuppel in Privatbesitz befand und das einzige gemeinsame Territorium die Verkehrswege waren, die die Schiffe benutzten, hatte alles den Beigeschmack von utilitaristischer Künstlichkeit. Es gab hier keine Meere, keine Wälder, keine großen Städte. Dieser Ort wurde benutzt, nicht bewohnt.
Rovegs Facettenaugen waren zwar imstande, viele bewegte Objekte auf einmal zu erkennen, aber selbst er hatte Mühe, die Szene vor ihm zu analysieren. In dem Abschnitt des Weltalls, durch den er flog, tummelten sich Schiffe aller Art: schnittige Kreuzer mit polierten weißen Rümpfen, farbenfrohe Tränenschiffe, dafür gebaut, schnell zu fliegen und dabei gut auszusehen, wuchtige, schwer beladene Schlepper, luxuriöse Urlaubsjollen, billig wirkende Raumkapseln und Shuttles, die nur noch von einem Schweißbrenner und der schieren Hoffnung zusammengehalten wurden. Die Schiffe bewegten sich, als würden sie einer Pheromonspur folgen. Im Gänsemarsch flogen sie hintereinander her, dockten hier an und wendeten dort und warteten geduldig in der Wurmlochschlange, bis sie an der Reihe waren, durch den Raum innerhalb des Raums zu springen. So dicht der Verkehr auch war, Roveg fand dennoch Trost in den geordneten Schiffsströmen und den durchkalkulierten Reihen der Bojen. Er flog gern durchs All und freute sich über jede Gelegenheit, mit seinem Shuttle für ein paar Tagzehnte hinauszufliegen, aber er tat es nicht besonders oft. Der Weltraum war nicht sein Leben. Er war niemand, der sich etwas aus einer ungeplanten Spritztour durch die weniger bekannten Abschnitte der galaktischen Karte machte, und ganz sicher landete er nicht gern irgendwo, wo das Transitrecht mehr als Vorschlag denn als Regel galt – vor allem angesichts der Route, auf der er sich gerade befand. Die Aufgabe, die vor ihm lag, war schon heikel genug, auch ohne Verstöße gegen das Transitrecht.
Während Roveg darauf wartete, dass Freund die Korrigoch Hrut in den richtigen Einflugwinkel steuerte, fiel ihm eine zweite maschinelle Choreographie auf, die sich unterhalb des Schiffsverkehrs abspielte – zumindest soweit »unten« im dreidimensionalen Raum eine Bedeutung hatte. Die Orbitalschicht, die Gora umgab, beinhaltete genauso viele Satelliten wie jede andere Welt, die er je bisher besucht hatte. Er sah Comm-Technik und Solarkollektoren. Letztere waren dank ihrer charakteristischen Form unverkennbar – riesige fotosynthetische Platten, die im Dickicht der Comm-Schlüsseln aufleuchteten. Ihre Paneele glitzerten, während sie das unmittelbare, von keiner Atmosphäre gefilterte Sonnenlicht aufnahmen, und er achtete darauf, nicht zu lange zu den konzentrierten, auf die Kollektoren der Planetenoberfläche gerichteten Strahlen aufzublicken. Solarstrom war die einzige Art Energie, die auf einer wind- und wasserlosen Welt sinnvoll war, und es freute ihn, dass dieser Teil der Infrastruktur offenbar gemeinschaftlich organisiert wurde. Die Vorstellung, dass jede Kuppel eine Blase für sich wäre, betrieben von irgendeinem Generator, den der Besitzer hatte auftreiben und bedienen können, gefiel ihm nicht sonderlich. Roveg war durchaus ein Verfechter der Philosophie, sein eigenes Ding zu machen, aber es gab ein paar Bereiche, wo Individualität keine Tugend mehr war und zum Glücksspiel wurde.
»Wir sind bereit zum Eintritt, Roveg«, sagte Freund. Die KI war weder intelligent noch empfindungsfähig, denn Roveg verabscheute es, die fühlenden Varianten zu benutzen. Dennoch war es ihm wichtig gewesen, Freunds sprachliche Dateien umgänglich zu gestalten – auf Klip natürlich. Roveg verwendete seine Muttersprache nur in wenigen Kontexten.
»Danke, Freund«, sagte Roveg, auch wenn die KI mit einem Dankeschön nichts anfangen konnte. »Los geht’s.«
Es gab Leute, für die es Ehrensache war, ein Raumschiff manuell zu landen, aber bei Physik ging Roveg kein Risiko ein. Er sah keinen Sinn darin, seine Rüschen wegen etwas spielen zu lassen, was jede Spezies in der GU ihren Maschinen schon vor Jahrhunderten beigebracht hatte.
Er betrat das Sicherungsgeschirr, das in der Mitte des Raumes hing, und hielt still, während sich die Roboterriemen zwischen seinen Bauchbeinen hindurch und um seinen Brustkorb wanden. »Freund«, sagte er, während er eine seiner Gliedmaßen zu einem Fach in seiner Nähe ausstreckte. Er öffnete die kleine Kammer und holte ein Päckchen Schwerkrafttabletten heraus. »Erbitte die Erlaubnis zu landen.«
»Einen Moment«, sagte Freund. Die Flugstatusmonitore veränderten sich, während die KI arbeitete.
Roveg riss das Päckchen auf und aß die Plättchen mit der darin enthaltenen kalkhaltigen Medizin, wobei seine Luftröhren vor Ekel kurz rebellierten. Die Sicherheitsmaßnahme war notwendig, wie er von früheren heiklen Landungen wusste, aber er konnte sich kaum ein schlimmeres Ende für ein schönes Frühstück vorstellen als Schwerkrafttabletten. Der Hersteller hätte sie wahrhaftig schmackhafter machen können.
Freund meldete sich wieder. »Die Bodenstation hat uns grünes Licht zum Landen gegeben.«
»Ausgezeichnet«, sagte Roveg. Er faltete das leere Päckchen zweimal und legte es wieder in das Fach, bereit für die Verbrennungsanlage. »Leite die Landung ein.«
Es folgte das dumpfe Ruckeln des sich ausschaltenden Artigravs, das laute Surren der Triebwerke beim Positionswechsel, das Dröhnen, als sich Rovegs Schiff in eine präzise Parabelkurve einfädelte. Von einem Moment auf den anderen stürzte die Korrigoch Hrut auf Gora hinab, und die natürliche Schwerkraft packte sie mit unerbittlichem Nachdruck. Roveg zwang sich dazu, sich in seinem Geschirr zu entspannen, wie er es sich vor langer Zeit beigebracht hatte. Sich zu verkrampfen machte den Eintritt in die Atmosphäre nur schlimmer, auch wenn alle seine Instinkte ihm etwas anderes geboten. Auf intellektueller Ebene war ihm klar, dass er das hier schon unzählige Male getan hatte und sich keine Sorgen machen musste. Dennoch … der Anblick eines Planeten, der auf ihn zuraste, ließ sich nur schwer ausblenden. Trotzdem gelang es Roveg, sich zu entspannen und die Technik ihr Werk tun zu lassen. Seine beiden Mägen hielten stand, während das Schiff die dünne Luft von Gora durchschnitt. Das Frühstück blieb zum Glück bei ihm. Jetzt bereute er nicht mehr, die Medizin genommen zu haben.
Eine Kuppel nach der anderen raste bei seinem Sinkflug an ihm vorbei, und er beugte sich mit dem Oberkörper so weit zum Bildschirm vor, wie es die Gurte zuließen. Alles ging zu schnell, um viel zu sehen, aber er hatte bereits mehrere blaue und grüne Flecken entdeckt – das untrügliche Anzeichen pflanzlichen Lebens und der Wasseranlagen, die durch den Weltraum transportiert und für die Reisenden installiert worden waren. Auch ohne die Einzelheiten zu erfassen, wurde ihm beim Anblick der Farben leichter ums Herz. Er hing an seinen Simulationen – wie es sich für jemanden aus seiner Branche gehörte –, aber seine letzte Landung war bereits über zwei Tagzehnte her, und er war mehr als bereit für die wirkliche Welt, so künstlich sie auch sein mochte. Wenn er ehrlich war, zog Roveg Gärten ungepflegten Biomen bei weitem vor und verbrachte in Letzteren so wenig Zeit wie möglich. Wilde Orte hatten zwar ihre Daseinsberechtigung, und die Galaxie brauchte sie, gewiss, aber sie durften gerne hinter Zäunen und Mauern und möglichst dicken Fenstern bleiben.
Das Schiff wurde langsamer, und mit ihm die Welt. Die Korrigoch Hrut trudelte auf ihr Ziel zu und landete so sanft, wie es nur möglich war. Die Aussicht entsprach im Großen und Ganzen dem, was man an einem solchen Ort erwartete: ein kreisrundes Shuttle-Rollfeld vor einer bescheidenen Habitatkuppel. Ein Schleusentunnel verband die Kuppel mit dem Landeplatz, wobei die sechs universellen Schleusenöffnungen sich wie Luftwege nach außen verzweigten. Während Freund das Schiff in die Andockposition brachte, warf Roveg beiläufig einen Blick auf die anderen Shuttles, die nun seine Nachbarn waren. Eines wirkte so militärisch wie äluonisch – weiß wie der Panzer eines Kindes, glatt wie nasses Porzellan, der wuchtige Rumpf konnte sicher einiges einstecken. Das Schiff war in hervorragendem Zustand und eine Augenweide; Roveg hatte noch nie ein äluonisches Schiff gesehen, bei dem das anders war. Die beiden anderen Schiffe sahen nach den vorgefertigten Bausätzen aus, die man mit einem bescheidenen Budget bei Multispezies-Händlern erwerben konnte, aber hier endete die Ähnlichkeit auch schon. Das eine Schiff gehörte offensichtlich seiner Gastgeberin, denn auf beiden Seiten prangte unübersehbar der Schriftzug »BESUCHEN SIE DEN FIVE-HOP ONE-STOP!«. Das andere … nun, es war ein billiges Schiff, ja, und je länger er es betrachtete, desto deutlicher wurde, dass es mit Hilfe von Komponenten aus anderen Bausätzen repariert worden war. Aber so zusammengestoppelt und unansehnlich es auch war, es hielt, und die Konstruktion sah nicht riskant aus. Das Schiff wirkte wie das Ergebnis der Bemühungen von jemandem, der mit dem Wenigen, was ihm zur Verfügung stand, sein Bestes getan hatte. Bei aller Liebe zur Ästhetik hatte Roveg davor durchaus Respekt. Manchmal konnte man nicht mehr tun, als etwas zum Laufen zu bringen.
Er hörte ein Klirren, ein Surren, dann wieder Stille. »Der Andockvorgang ist abgeschlossen«, sagte Freund. »Wenn du so weit bist, kannst du das Shuttle gefahrlos verlassen.«
»Danke, Freund«, sagte Roveg, als das Geschirr ihn losließ. Sterne, und ob er so weit war. Ohne weitere Verzögerung ging er zur Luke, betrat die Luftschleuse, wartete geduldig, während er auf Schadstoffe gescannt wurde, und ging dann weiter.
Am Eingang der Luftschleuse erwartete ihn ein Laru – ein großes Kind, zu jung, um sich schon für ein Geschlecht entschieden zu haben. Es wirkte nicht, als würde es sich in diesem schlaksigen Körper wohlfühlen, und die Füße passten nicht zum Rest. Das Fell sah halbwegs gepflegt aus und war zu lang für das Gesicht. Es hing irgendwie unmotiviert über den großen schwarzen Augen, auf eine hilflose Art, so als wüsste es nicht, warum es noch wuchs, aber auch nicht, was es sonst tun sollte.
»Willkommen im Five-Hop One-Stop«, leierte das Laru-Kind lustlos herunter. Es stand auf drei Beinen – in der Pfote des vierten hielt es einen Scribus –, blickte auf den Bildschirm und reckte den gliedmaßenähnlichen Hals. Dann sah es zu Roveg hinüber, anschließend wieder auf den Bildschirm, und drehte den Scribus um, damit Roveg seine eigene Shuttle-Lizenz lesen konnte.
Es dauerte einen Moment, bis Roveg begriff, dass das Kind seine Identität überprüfen wollte. Das war wohl das, was man hier unter Andocksicherheit verstand. »Ja, das bin ich«, sagte er, wobei er hoffte, dass er mit seiner Interpretation richtiglag.
Das Laru-Kind wippte bestätigend mit dem langen, zottigen Hals und steckte den Scribus in den dünnen Rucksack, den es auf dem Rücken trug, schwang den Kopf nach links, trottete der eigenen Nase nach und führte Roveg ohne ein weiteres Wort hinaus.
Eine Flügeltür glitt auf. Dahinter lag der Five-Hop One-Stop. Der Ort war … kurios. Charmant, auf eine rustikale Art. Roveg war nicht der Typ, der auf so etwas herabsah; Arroganz war eine Eigenschaft, die er zutiefst verabscheute, und er legte Wert darauf, sie auszumerzen, wann immer er sie an sich feststellte. Aber zu behaupten, dass dieses Etablissement seine erste Wahl gewesen war, wäre eine Lüge gewesen. Eigentlich hatte er gehofft, in der Reskit-Lounge absteigen zu können, einem als gut bewerteten Restaurant auf Goras Südhalbkugel, aber dessen Landeplatz war ausgebucht gewesen, genauso wie der Goranische Skulpturengarten, die Harmagianischen Bäder und das Stadtfeld. Sosehr sich Roveg auch ein wenig Luxus gewünscht hätte, um sich die Reise zu versüßen – eigentlich brauchte er nur Treibstoff, und als klargeworden war, dass Andockplätze auf Gora an diesem Tag rar waren, hatte er seine Strategie geändert und die erstbeste Reservierung genommen, die er ergattern konnte.
Er sah sich um und nahm in Augenschein, wohin ihn diese Entscheidung geführt hatte.
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