Für meine älteste Freundin Jane Hampton.
Dies ist für dich, Janiekins!
Alles Liebe, Paigiepoo xxx
Und dann sehe ich ihn, eine schwarze Gestalt vor dem Gewitterhimmel.
Kurz keimt Hoffnung in mir auf und verdrängt die mich mit kalter Hand umklammernde Angst, doch das Gefühl ist nur von kurzer Dauer: Er steht am Abgrund, und ich weiß, dass er springen will.
»Warte!«, rufe ich. Der Wind reißt mir die Worte aus dem Mund. Ich rutsche aus und falle auf die Knie. Mit eiskalten Fingern suche ich am glitschigen Felsen Halt und stemme mich wieder hoch.
Wie weit ich gekommen bin: von der trockensten Wüste zu den erhabenen Gipfeln windumpeitschter Berge. Für ihn würde ich bis ans Ende der Welt gehen – und weiter.
Ich weiß immer noch nicht, ob es die geringste Hoffnung gibt, diesen gepeinigten Mann von seiner Entscheidung abzubringen, aber ich muss es versuchen, koste es, was es wolle.
Weiß Gott, wie ich es allein von hier oben hinunterschaffen soll.
Ich atme so tief wie möglich ein, öffne den Mund und schreie, so laut ich kann …
Wo würdest du hinfahren, wenn du es dir aussuchen könntest?
Als ich diese Frage zum ersten Mal stellte, war ich dreizehn Jahre alt, und die Sommerferien hatten gerade begonnen. Meine beste Freundin Louise und ich lagen auf der Ladefläche des Geländewagens ihres Vaters und schauten in einen tintenschwarzen Himmel, an dem die Sterne funkelten.
»Keine Ahnung«, antwortete Louise schulterzuckend. »Nach Adelaide?«
»Da bist du doch sowieso andauernd«, entgegnete ich. »Das ist ja in unserem Bundesstaat.«
»Ich mag Adelaide«, brummte sie. »Da ist es so schön grün.«
Wenn man in einem Teil des Landes lebt, wo es wie auf dem Mars oder dem Mond aussieht, ist Farbe ein ausschlaggebendes Argument.
»Nein, jetzt mal ehrlich«, setzte ich nach. »Wenn du dir aussuchen könntest, wo du hinfährst. Egal, wohin! Hab mal ein bisschen Phantasie!«
»Hab ich doch gesagt, ich weiß es nicht. Wo würdest du denn am liebsten hin?«
Okay, sie hatte mich gefragt … »Nach Frankreich, Holland, Deutschland, Tschechien, Österreich, Italien und Spanien.« Ich ratterte die Liste herunter, die ich auswendig gelernt hatte, froh, mich nicht zu verhaspeln.
»Das sind doch die Länder, die im Reisepass deiner Mutter stehen«, gab Louise zurück. »Du hast ja Phantasie!«
»Ich würde überall hinfahren«, versicherte ich ihr beschämt, weil sie mich durchschaut hatte. »Bloß nicht hier bleiben.«
»Warum willst du denn aus Coober Pedy fort? Es ist doch die Opal-Hauptstadt der Welt!« So lautete der Werbeslogan der Stadt.
Louise hatte recht. Aber Coober Pedy lag mitten im Nirgendwo.
Wenn man den Namen der Stadt bei Google Maps eingibt, erscheint eine gewaltige orangebeige Sandfläche in Südaustralien, durchzogen von den cremefarbenen Schlangenlinien der Höhenzüge, von ausgetrockneten Bächen und Wasserläufen. Die Gegend sieht aus wie eine Marmorfläche oder wie die Darstellung von Blutgefäßen im menschlichen Körper.
Zoomt man heraus, erscheint noch mehr Landschaft. Erst wenn man zwei Mal verkleinert, tauchen Namen von anderen Städten auf.
Im Norden liegt Oodnadatta, im Osten William Creek und im Süden Tarcoola. Im Westen findet sich der Tallaringa Conservation Park, und das war’s. William Creek scheint zwar nah zu sein, die Fahrt dahin dauert trotzdem sechseinhalb Stunden. Als ich beim letzten Mal nachgeguckt habe, lebten dort zehn Menschen.
Auch jetzt, so viele Jahre später, ist Coober Pedy noch die Opal-Hauptstadt der Welt. Nach dem Ergebnis der Volkszählung von 2016 wohnen hier fast 1800 Menschen, aber Louise gehört nicht mehr dazu. Mit siebzehn ist sie mit ihrer Familie nach Adelaide gezogen. Sie hat längst aufgegeben, mich zu fragen, ob ich sie besuchen komme.
Und ich habe längst aufgegeben, die Frage zu stellen: Wo würdest du hinfahren, wenn du es dir aussuchen könntest?
Jetzt will sie mir jedoch nicht mehr aus dem Kopf gehen. Als Jugendliche habe ich alle damit genervt und hundert verschiedene Antworten bekommen.
Ich hatte mal vorgehabt, mir nach dem Vorbild meiner Mutter die ganze Welt anzusehen und meine eigenen Spuren zu hinterlassen. Aber jetzt bin ich siebenundzwanzig und war noch nirgends; nicht mal außerhalb des Bundesstaates, in dem ich geboren wurde.
All das wird sich nun ändern, und ich bin mir nicht so sicher, wie ich das finde.
Die Hand meiner Großmutter ist kalt. Sonst konnte ich meine Wärme immer auf sie übertragen, aber das geht nun nicht mehr. Ihre pergamentartige, zarte Haut ist von Leberflecken übersät. Ihre weißen Haare sind so ausgedünnt, dass man den Ansatz sieht. Sie ist zu einem gänzlich anderen Menschen geworden, nur noch der schwache Abklatsch der eindrucksvollen Frau, die mich großgezogen hat.
Wo würdest du hinfahren …
Schluss mit dem Kopfzerbrechen! Ich habe keine Ahnung, wo ich hinfahren würde! Ich kenne mich nicht mehr aus! Seit meiner Geburt hocke ich in diesem Nest, und obwohl ich bald frei bin, fühle ich mich wie betäubt.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter. »Sie ist gegangen, Angie«, sagt Cathy liebevoll, Nans Pflegerin, die inzwischen meine Freundin geworden ist. »Es tut mir leid.«
Ich streichle die spröde Hand meiner Großmutter. Erleichterung steigt in mir auf und verdrängt die Trauer, die ich eigentlich empfinden müsste. Es ist, als würde eine Blase in mir anwachsen, bis – plopp! – eine Nadel voller Schuldgefühle sie zum Platzen bringt und Scham mein Herz erfüllt.
Jetzt kann ich fahren, wohin ich will. Nie habe ich mich verlorener gefühlt.
Als ich nach draußen gehe, umfängt mich die Hitze wie ein Schwall warmer Luft aus einem Heißluftofen. Eigentlich wird es bald Winter, doch das ist der Wüste egal.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Menschen freiwillig in eine Sauna gehen, doch das soll es wahrhaftig geben: Dort sitzen sie in kleinen Holzhäusern und schöpfen Wasser auf glutrote Steine, um heißen Dampf zu erzeugen. Dann ziehen sie ihre Sachen aus und schwitzen. Mit Absicht. Zur Entspannung.
Aada hat mir das erzählt, Laszlo auch. Aada ist Finnin und Laszlo Ungar, nur zwei von über fünfundvierzig Nationalitäten, die in unserer Multikulti-Stadt leben.
Ich fand es immer faszinierend, was die Menschen zu berichten hatten, die von weither zu uns gezogen waren. Ich hing ihnen an den Lippen, saugte die Geschichten der Orte auf, aus denen sie kamen oder die sie besichtigt hatten. Ich dachte immer: Eines Tages sehe ich mir das alles selbst an. Das war zu den Zeiten, als diese Träume noch nicht weh taten, als die Sehnsucht noch nicht so groß war.
Eine Hütte ganz aus Holz! Schon die Vorstellung eines Gebäudes aus Holz ist mir fremd; hier gibt es nur wenig Bäume. Der erste »Baum« in Coober Pedy bestand aus Altmetall und wurde neben dem Aussichtspunkt aufgestellt, damit die Kinder etwas zum Herumklettern hatten. Als ich einmal im Sommer versuchte, ihn zu erklimmen, verbrannte ich mir die Hände.
Warum denke ich an Sauna und Bäume aus Metall? Stehe ich unter Schock? Es ist ja nicht so, als sei ich nicht darauf vorbereitet gewesen, dass ich meine Großmutter irgendwann verliere. Alzheimer hat sie mir schon vor Jahren genommen, nachdem uns ein Grubenunglück Großvater raubte.
Die beiden waren die einzigen Eltern, die ich je gekannt habe, die einzige Familie, die ich je hatte. Und jetzt sind sie nicht mehr da.
Türangeln quietschen, meine Nachbarin Bonnie kommt von ihrer überdachten Veranda. Als sie mein Gesicht sieht, weiß sie Bescheid.
»Oh, Angie«, murmelt sie. Sie tritt durch das Törchen, das nun nicht mehr abgeschlossen werden muss, in meinen Vorgarten und nimmt mich in die Arme. »Es tut mir so leid! Willst du rüberkommen? Ich mache dir eine Tasse Tee.«
Ich schüttele den Kopf, das Verantwortungsgefühl lastet noch schwer auf meinen Schultern. »Das geht nicht. Cathy …«
»Na los, geh!«, unterbricht mich Cathy.
Ich weiß nicht, was ich in den letzten Tagen ohne sie gemacht hätte. Sie versteht den Tod auf eine Weise, wie ich es wohl nie können werde.
»Ich warte hier auf Bob«, fügt Cathy hinzu.
Bob ist der Bestatter.
Er kommt, um Nan mitzunehmen.
Plötzlich ist der überwältigende Wunsch zu fliehen größer als alles andere. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich je wieder überwinden kann, unser Haus zu betreten. Ich weiß, dass ich muss, aber am liebsten würde ich weglaufen. Ich werfe Cathy ein Dankeschön zu und folge Bonnie benommen in ihr Haus.
Meine Nachbarin stellt das Wasser auf. Die Uhr an der Wand zeigt halb zwölf. Bonnies Mann Mick kommt bald zum Mittagessen.
Ich kenne Bonnie und Mick schon mein Leben lang – sie waren eng mit meinen Großeltern befreundet, und jetzt sind sie meine guten Freunde. Mick ist Anfang sechzig, groß und gertenschlank. Er hat einen glänzenden Kahlkopf und einen buschigen Schnauzbart. Bonnie ist kleiner und deutlich knuddeliger. Sie hat rosige Apfelbäckchen, die knallrot werden, wenn sie etwas getrunken hat. Früher hat sie in einem Pub in Coober Pedy gearbeitet, heute führt sie ein ruhigeres Leben, während Mick noch keine Anstalten macht, kürzer zu treten. Nach wie vor liebt er das Hochgefühl der Opalsuche, und nicht ohne Grund: Die Jagd nach Bodenschätzen hat ihn einigermaßen wohlhabend gemacht – wohlhabend genug, um sich ein eigenes Heim zu leisten und seinen beiden erwachsenen Kindern unter die Arme zu greifen.
Weniger als die Hälfte der Bevölkerung von Coober Pedy wohnt in normalen Häusern. Die anderen – auch Bonnie, Mick und ich – haben unterirdische Behausungen, die wir »Dugouts« nennen: in den Felsen gehauene Höhlen.
Die Temperaturen bei uns im Outback sind extrem: eisig kalt im Winter, im Sommer oft über vierzig Grad heiß, manchmal sogar an die fünfzig. Unter der Erde hingegen ist es gleichbleibend angenehm. Wenn man nach einem Tag an der heißen Sonne nach Hause kommt, ist es so, als würde man einen mit Klimaanlage gekühlten Raum betreten.
Unsere Behausungen sind in Hügel gebaut; daher sind die Eingänge ebenerdig. Die Küche ist zumeist auf der linken Seite, das Badezimmer rechts, zurückgesetzt unter einer überdachten Veranda, die den Regen abhält. Weiter hinten schließt sich ein System von Räumen an: Ess- und Wohnzimmer, von dem die Schlafzimmer abgehen.
Es ist über fünfunddreißig Jahre her, dass Bonnie und Mick aus Südafrika gekommen sind, doch ihre Inneneinrichtung erinnert noch immer an ihre Heimat. Afrikanische Masken und Flechtkörbe hängen an den in Orange- und Ockertönen gehaltenen Wänden, auf den Sofas und dem Boden liegen bunte Überwürfe, Kissen und Teppiche. Bonnies Elefantensammlung ziert stolz die Nischen und Ecken, die Mick mit einem Presslufthammer in die Wände gestemmt hat.
Er hat auch die Stromleitungen gelegt, direkt auf die Steinflächen. Die indirekt beleuchteten Regale und Wände verbreiten ein warmes Licht. Alle Räume haben gewölbte Decken, deren Oberfläche zurückhaltend künstlerisch gestaltet ist. Da es keine Fenster gibt, sind die Zimmer völlig dunkel und schalldicht. Auch viele Hotels liegen unter der Erde; die Touristen, die in Coober Pedy übernachten, um sich das Leben der modernen Feuerstein-Familien anzusehen, sagen oft, sie hätten noch nie besser geschlafen als dort.
Auch wenn unsere Dugouts einen ähnlichen Grundriss haben, ist Nans Höhle mit ihren weißen Wänden, antiken Möbeln und der Kücheneinrichtung aus den Fünfzigern längst nicht so schick. Bei Bonnie hat es mir immer gut gefallen – ihr Haus war meine Zuflucht, wo ich kurz unterkam, wenn Nan schlief. Allerdings blieb ich nie länger – sie konnte ja aufwachen.
Jetzt wacht sie nie wieder auf.
Eine Erinnerung an meine Großeltern blitzt auf: Grandads blaubraune Augen, die vor Heiterkeit funkeln, und sein Lächeln, halb hinter seinem wild wuchernden Bart versteckt, dazu Nan, die auf allen vieren bunt verpackte Weihnachtsgeschenke unter unserem silbernen Lamettabaum hervorzieht. Sie trug ihre weißen Haare in der für sie typischen Kurzhaarfrisur, und als sie sich über die Schulter zu mir umsah, leuchteten ihre rosa geschminkten Lippen.
So versuche ich sie in Erinnerung zu behalten, so will ich sie in Erinnerung behalten, und in dem Moment überfällt sie mich, die Trauer. Sie quillt aus mir hervor wie schwarze Ameisen aus einem Hügel in der Wüste.
»Ach, Schätzchen«, sagte Bonnie und stellt die Becher ab, um mich zu trösten. »Du warst die beste Enkeltochter, die sie sich hätte wünschen können. Die beste Tochter«, verbessert sie sich und drückt mich an sich. Ich werde von stummen Schluchzern geschüttelt. »Wir sind alle so stolz auf dich, Süße. Das weißt du doch, oder? Du hast alles für deine Nan getan, alles.«
Bonnie war eine von vielen, die mich öfter gedrängt hatten, meine Großmutter in ein Pflegeheim zu geben.
»Wir können nicht mitansehen, wie du dein Leben opferst«, sagte sie einmal zu mir.
Doch ich konnte Nan nicht im Stich lassen. Ebenso wenig konnte ich sie mitnehmen, hätte ich in einen anderen Teil des Landes ziehen wollen. Ersteres wäre ein Verrat der übelsten Sorte gewesen, was ich mir niemals verziehen hätte, und Letzteres war schlichtweg unmöglich. Nan hatte den Großteil ihres Lebens im Outback verbracht und sperrte sich gegen jede Veränderung. So weigerte sie sich, nach Grandads Tod die Wüste zu verlassen, und als die Demenz stärker wurde, wurde ihre Angst nur noch schlimmer.
Bonnie und andere Bekannte versuchten, mir meine Aufgabe zu erleichtern. Sie ermutigten mich, Urlaub zu nehmen oder mal einen Tagesausflug zu machen. Doch wenn ich nicht da war, bekam Nan Panik, und für ein paar Stunden Erholung wollte ich ihr einfach nicht solchen Stress zumuten. Ich traute mich nur, das Haus für kurze Zeit zu verlassen, wenn sie schlief und jemand bei ihr wachte. Ich arbeite von zu Hause aus, mache die Wäsche für eins der Hotels.
Bevor mein Exfreund sein Verständnis für meine Lebensumstände verlor, sagte er mal, ich erinnerte ihn an eine »Prinzessin, die in einer Burg eingesperrt ist«.
»Du meinst wohl, in einem Kerker?«, erwiderte ich und sah mich in dem fensterlosen Raum um.
Wir waren im Wäschezimmer, wo ich Kopfkissenbezüge bügelte, er sah mir vom Türbogen aus zu.
»Bald bist du frei«, sagte er lächelnd.
Der Satz gefiel mir nicht, ebenso wenig wie sein respektloser Tonfall, doch ich hielt den Mund, weil ich mich nicht wieder mit ihm streiten wollte.
Allerdings hatte er recht. Es dauerte zwar noch drei Jahre, aber jetzt bin ich tatsächlich frei.
Ich kann mich kaum daran erinnern, wie mein Leben früher war. Als mein achtzehnter Geburtstag näher rückte, konnte ich es nicht erwarten, flügge zu werden und davonzufliegen, wie meine Mutter es in meinem Alter getan hatte. Ein paar Jahre zuvor hatte ich ihren Reisepass gefunden, und der Anblick der ganzen Stempel aus aller Welt hatte etwas in mir ausgelöst.
Nan hatte mein Reisefieber als persönliche Beleidigung aufgefasst, als sei meine Sehnsucht, die Welt zu sehen, irgendwie gegen sie und meinen Großvater gerichtet. So hatte sie auch bei meiner Mutter reagiert. Das weiß ich von Bonnie. Sie erzählte mir mal, dass Mum und Nan sich immer gestritten hatten, bevor Mum sich durchsetzte und verschwand. Nan hatte nicht gewollt, dass ihre Tochter flügge würde, doch Mum ließ sich nicht die Flügel stutzen.
Anders als ich.
Grandads plötzlicher Tod zwang mich, meine Pläne auf Eis zu legen.
Ihn zu verlieren erschütterte mich, doch Nan zerstörte es. So lange sie nicht wieder auf den Beinen war, konnte ich sie nicht verlassen, doch aus den Monaten wurden Jahre, und ihre allgemeine Vergesslichkeit entwickelte sich zu einer bösartigen Krankheit. Als sie verzweifelte, weil sie nicht mehr wusste, wie man den Tisch deckte oder einen Stecker benutzte, glaubte sie zuerst, einen Hirntumor zu haben. Sie vergaß Dinge, die am selben Tag passiert waren, und suchte in Gesprächen nach bestimmten Wörtern oder Ausdrücken. Ständig verlegte sie ihre Autoschlüssel und verließ zwei Mal den Supermarkt, ohne zu bezahlen. Es war verwirrend, besorgniserregend und frustrierend für sie und verstörend für andere, wenn sie verletzende oder unangemessene Bemerkungen von sich gab und Geburtstage oder Jahrestage vergaß. Doch das alles war noch zu verkraften und viel einfacher zu bewältigen als das, was später kam.
Sie vergaß, wie man sich wäscht.
Sie vergaß, wie man sich anzieht.
Sie vergaß, wie man kocht.
Sie vergaß, wie man isst und trinkt und zur Toilette geht.
Sie vergaß, wie man spricht.
Sie vergaß mich.
»Steck mich bloß nie in so ein Heim!«, mahnte sie immer, selbst als wir das Pflegeheim in Adelaide verließen, wo ihr eigener Vater bis zu seinem Tod mit neunundachtzig Jahren untergebracht war.
Offenbar entging ihr die Ironie der Situation.
Als bei ihr Alzheimer diagnostiziert wurde, flehte sie mich an, in Coober Pedy zu bleiben. Und ich versprach es ihr ein ums andere Mal.
Manche sagen, sie hätte mich niemals darum bitten dürfen, doch ich verstand es. Ich war alles, was sie hatte. Sie hatte mich wie eine Tochter großgezogen, in der Hoffnung, die Lücke zu füllen, die ihre eigene Tochter hinterlassen hatte.
Drei Tage nach meiner Geburt bekam meine Mutter eine Entzündung, die zu einer Blutvergiftung und schließlich zu multiplem Organversagen führte. Nach fast zwei Jahren Reisen, zuerst in Australien und dann im Ausland, wurde sie schwanger und kehrte kurz darauf nach Coober Pedy zurück. Bonnie zufolge hatte sie während ihrer Reise nur selten zu Hause angerufen, sondern lieber Briefe und Postkarten geschrieben. Wahrscheinlich wollte sie sich nicht die Schimpftiraden ihrer Mutter anhören.
Nan konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass ich nach meiner Mutter schlug.
Das war nicht immer so gewesen. Als ich klein war, fanden Nan und Grandad die Ähnlichkeit zwischen uns herzerwärmend. Ich weiß noch, dass sie sich in meiner Kindheit unzählige Male begeistert ansahen und riefen, ich sähe »genau wie Angie« aus, hörte mich »genau wie Angie« an oder habe etwas »genau wie Angie« getan. Wir haben sogar denselben Namen, meine Mum und ich: Angela Samuels.
Ich selbst konnte natürlich nichts vergleichen. Auf den Fotos, die ich genau betrachtet hatte, konnte ich keinerlei Ähnlichkeit zwischen mir und meiner Mutter feststellen. Während sie glänzend lange, glatte dunkle Haare gehabt hatte, hatte ich einen blonden Wuschelkopf. Während ihre Augen in der Farbe eines sonnigen Sommerhimmels strahlten, erinnerten meine eher an Milchschokolade. Sie hatte einen hellen Teint mit Sommersprossen, meine Haut war eher honigfarben. Mum war fast acht Zentimeter größer als ich: ein Meter achtundsechzig, während ich es nur auf eins sechzig bringe, wie an den Kerben in der Küchenwand abzulesen ist, jeweils an unserem siebzehnten Geburtstag angebracht.
Unsere Ähnlichkeit, versicherten mir meine Großeltern, beziehe sich auf unser Lächeln und unser Verhalten, auf die Art, wie wir sprachen, tanzten und spielten. Für mich waren diese Vergleiche nicht greifbar, doch ich freute mich darüber. Ich war dankbar, dass meine Großeltern meine Mutter in mir sahen; von meinem Vater wüssten sie nichts, sagten sie.
Doch es gab eine Nacht, als ich die Wahrheit dieser Behauptung hinterfragte. Es war Silvester, ich war zehn oder elf Jahre alt. Ich hatte laut darüber nachgedacht, ob mein Vater vielleicht irgendwo darauf wartete, dass ich ihn suchte und fand. Nan hatte ein paar Glas getrunken und brummte – ich verstand es ganz deutlich –, er sei ein »schlechter Mann«. Entsetzt war ich aufgesprungen und hatte von ihr wissen wollen, was sie damit meinte, doch sie leugnete, irgendetwas gesagt zu haben.
Ich konnte diese beiden Wörter nicht vergessen. Wenn ich daran dachte, wurde mir eiskalt. Und auch wenn ich gerne wissen würde, wer denn nun mein leiblicher Vater ist, fragt sich ein Teil von mir, ob es nicht besser wäre, wenn ich es nie erführe.
Fünf Tage später bin ich doch wieder daheim. Seit der Bestatter da war, habe ich fast nur geschlafen.
»Du hast dich so lange für deine Nan zusammengerissen, da ist es kein Wunder, dass du jetzt zusammenklappst«, sagte Bonnie, als sie am ersten Abend das Bett ihrer Tochter Helen für mich machte.
Seit Tagen gab es nur Hühnersuppe, aber ich muss zugeben, dass es schön war, zur Abwechslung selbst bemuttert zu werden.
Heute Nachmittag ist Nans Beerdigung, und ich versuche, die Energie aufzubringen und mich anzuziehen. Seit einer Dreiviertelstunde liege ich auf dem Bett und betrachte das Zimmer.
Früher habe ich alle Leute, die ich kannte, gefragt, ob sie mir Postkarten schicken könnten, wenn sie in den Urlaub fuhren, wegzogen oder dahin zurückkehrten, wo auch immer sie herkamen. Die Karten kleben nach wie vor an den grob behauenen Wänden und der Kuppeldecke meines Schlafzimmers, ein Mosaik aus Farben und Ländern, über den ganzen Erdball verteilt.
Die eindrucksvollen ägyptischen Pyramiden, die verfallenen Ruinen Roms. Die Nordlichter in Skandinavien und das kristallklare Wasser Griechenlands. Weiße Sandstrände in Thailand und die schneebedeckten Schweizer Berge. Violette Heide im englischen Moor und die grünen Hügel der irischen Emerald Isle. Ozeane und Savannen, Sonnenauf- und -untergänge, Wolkenkratzer und Holzhütten. Der Pariser Eiffelturm, die Chinesische Mauer und viele, viele andere Motive.
Der schrille Klang der Türklingel erfüllt den Raum. Auch bei Bonnie und Mick kamen immer wieder Bekannte vorbei, um mir ihr Beileid auszusprechen, doch inzwischen ist wohl bekannt, dass ich wieder zu Hause bin. Müde schwinge ich die Beine aus dem Bett und schleppe mich zur Tür. Als ich sie öffne, steht eine blonde Sexbombe vor mir.
»Louise!«
Meine älteste Freundin macht einen Schritt auf mich zu und drückt mich fest an sich.
»Das mit deiner Nan tut mir so leid, Angie«, murmelt sie in meine Haare.
»Was machst du hier?« Ich löse mich von ihr und starre sie an, kann es kaum glauben. Es ist über fünf Jahre her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben.
»Ich komme zur Beerdigung! Was glaubst du denn?«, sagt sie vorwurfsvoll. »Lass mich rein, draußen ist eine Gluthitze! Mir läuft die Schminke runter!« Sie drängt mich in den Flur.
Als Jugendliche hasste Louise ihre Kurven, doch seit sie nach Adelaide zog und eine Stelle in einem Schönheitssalon fand, akzeptiert sie ihre Figur und steht dazu. Die eintönigen, weiten T-Shirts ihrer Jugend sind jetzt Geschichte, stattdessen trägt Louise auffällig bunte, figurbetonte Kleidung. Heute hat sie ein ungewöhnlich zurückhaltendes dunkelblaues Kleid gewählt, wohl für die Beerdigung, doch auf roten Lippenstift und falsche Wimpern mochte sie trotzdem nicht verzichten – so kenne ich es schon von ihren Instagram-Posts.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du kommst?«
»Ich wollte dich überraschen. Als Bonnie anrief, war das wirklich ein Schock für mich. Also, kein richtiger, wir wussten ja, wie es aussah, aber trotzdem. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es dir gehen muss.«
Bonnie hatte angeboten, alle anzurufen, die Nan gekannt hatten, um sie von ihrem Tod zu unterrichten. Ich war zu erschöpft und hatte schweigend zugestimmt.
»Willst du das tragen?« Louise weist auf mein verblichenes blaues T-Shirtkleid.
»Nein, hab mich noch nicht umgezogen.«
»Ah. Puh!«
Das war’s wohl mit ihrem Mitgefühl. War noch nie ihre starke Seite.
»Was ist mit deinen Haaren und dem Gesicht?«
Meine Haare sind … Ich weiß nicht, wie ich sie beschreiben soll, und schon gar nicht, wie ich sie frisieren soll, deshalb überhöre ich die Frage. »Ich hab mich seit Jahren nicht mehr geschminkt«, sage ich.
Damit hörte ich ungefähr zu der Zeit auf, als Nan ihren rosa Lippenstift nicht mehr auftrug, ihr Erkennungszeichen.
»Na, zum Glück habe ich meine Ausrüstung dabei – inklusive wasserfester Wimperntusche«, erklärt Louise. »Also kein Grund zur Panik.«
Ich habe keine Panik. Sie könnte mich wie einen Teletubby anziehen, ich würde mich nicht wehren.
»Komm!«, drängt sie. »Gucken wir mal, was du so im Kleiderschrank hast.«
In meinem Schlafzimmer zieht sie einen roten Vorhang zur Seite, und zum Vorschein kommt eine rechteckige Nische voller Klamotten. Grandad hatte die Kleiderschränke für meine Mutter in den Fels gestemmt – ich schlafe in ihrem ehemaligen Zimmer ‑, aber er kam nie dazu, richtige Türen einzusetzen.
»Das kenne ich noch von damals! Da warst du sechzehn!«, ruft Louise und zieht ein gelbes Kleid auf einem Bügel heraus. »Und das hier!« Sie zerrt einen blauweiß gestreiften Rock hervor, dessen ehemaliges Dunkelblau zu einem ausgewaschenen Violett verblichen ist. »Du brauchst dringend neue Garderobe, Mädel!«
»Hab hier nicht gerade viele Möglichkeiten, shoppen zu gehen.«
Mitleidig sieht sie mich an. »Wann besuchst du uns endlich in Adelaide?«
Ich hocke mich auf die Bettkante und widerstehe dem Drang, unter die Decke zu schlüpfen. »Bald«, verspreche ich. »Ich möchte unbedingt deine Töchter kennenlernen.«
Louise wollte ihren Kindern nicht die rund neunstündige Fahrt hierher zumuten. Die Mädchen sind erst zwei und vier Jahre alt.
»Ich schätze, bevor du irgendwas anderes tust, willst du in die Fußstapfen deiner Mutter treten und nach Europa reisen, oder?«
»Ich weiß noch gar nicht, was ich machen will.«
»Du hattest doch genug Zeit, darüber nachzudenken.« Bedeutungsschwer sieht sich Louise in meinem Zimmer um.
»Urlaub kann ich mir nicht leisten.«
»Aber wenn du das Haus verkauft hast, fährst du los, nicht?«
Bei ihrer beiläufigen Frage zieht sich alles in mir zusammen. Dieser Dugout mag mein Gefängnis gewesen sein, aber ich verknüpfe auch viele glückliche Erinnerungen damit. Die Vorstellung, Nans Sachen zusammenzupacken und mich für immer davon zu verabschieden …
»Oh, Entschuldigung!«, stößt Louise aus, als sie mein Gesicht sieht. »Du hast es ja nicht eilig, natürlich nicht. Adelaide und wir warten auf dich, bis du so weit bist.«
Ich nicke, sie drückt meine Schulter, dann dreht sie sich wieder zum Schrank um und sieht den Rest meiner Kleidung durch. »Wie wär’s hiermit?«, fragt sie und zeigt auf ein knielanges schwarzes Baumwollkleid.
»Das habe ich auf der Beerdigung von Grandad getragen«, murmele ich, während sie es abstaubt.
»Passt es noch?« Sie hält es mir an und mustert mich.
Vielleicht bin ich jetzt etwas runder als früher, aber ich habe in den letzten zehn Jahren nicht viel zugenommen, hauptsächlich dank der Übungen auf meinen Sport-DVDs.
»Scheint so«, beantwortet sie ihre eigene Frage. »Glückspilz. Komm, zieh es an, dann machen wir uns an die Frisur und das Make-up.«
Wie gesagt, Mitgefühl ist nicht Louises starke Seite. Aber das stört mich nicht.
Nicht nur Häuser sind in Coober Pedy unterirdisch: Hotels, Motels, Restaurants, Pubs, Geschäfte, Kunstgalerien und sogar Kirchen sind in Höhlen gebaut.
Irgendwann an jenem Nachmittag sitze ich in der ersten Reihe von einer dieser Kirchen, Louise links von mir, Bonnie und Mick rechts. Nans kleiner, zerbrechlicher Körper ruht im Sarg vor uns. Hinter uns sind alle Plätze besetzt. Viele Gäste stehen. Nan hat über fünfzig Jahre in diesem Ort gelebt und den Menschen viel bedeutet, genau wie sie mir viel bedeuten.
Ich würde jeden Einzelnen als Freund oder Freundin bezeichnen, bin es aber nicht gewöhnt, so viele gleichzeitig um mich herum zu haben. Der Reverend ist der Erste, der das wiederholt, was schon Bonnie zu mir gesagt hat: dass ich alles in meiner Macht Stehende für Nan getan habe und dass sie sich keine bessere Enkeltochter hätte wünschen können. Er ist nicht der Letzte. Auch wenn mir klar ist, dass die Leute die besten Absichten haben, ist es mir unangenehm, und als wir endlich zum Leichenschmaus in den Pub gehen, bin ich völlig fertig. Ich möchte nur noch in meine tröstliche, stille, abgeschiedene Höhle, fühle mich aber verpflichtet, hier zu bleiben.
Gegen Ende verschwinde ich auf die Toilette und setze mich in eine Kabine, die Augen geschlossen, den Kopf in den Händen. Die Verschnaufpause ist nur von kurzer Dauer.
Es klopft an der Tür. »Alles in Ordnung bei dir, Süße?«, fragt Louise.
»Ja.«
»Bonnie und Mick möchten noch etwas sagen, bevor die ersten wieder gehen.«
»Echt?« Bonnie hatte schon auf der Beerdigung gesprochen – was kann denn noch wichtig sein?
Ich spüle und gehe zu Louise raus. Sie lächelt mich an. »Ist zwar alles traurig, aber du siehst süß aus.«
Nicht an Komplimente gewöhnt, ziehe ich eine Grimasse, doch als ich mir die Hände wasche, bin ich selbst ein wenig verblüfft über meinen Anblick im Spiegel.
Louise hat meinen krausen Wust honigblonder Locken zu einem hoch angesetzten Knoten gesteckt. Meine Wangenknochen hat sie mit pfirsichfarbenem Rouge betont, meine hellbraunen Augen wirken durch den pechschwarzen Eyeliner und die Wimperntusche größer und mandelförmig. Und erstaunlicherweise hält das Make-up noch.
»Darf ich?«, fragt sie und zeigt mir das Döschen mit Kompaktpuder.
Befangen stehe ich da und lasse Louise gewähren. Sie betupft meine glänzende Nase, doch ihr Angebot, Farbe auf meine vollen Lippen aufzutragen, lehne ich ab.
»Dann wenigstens Lipgloss?«, fragt sie hoffnungsvoll und schwingt einen roséfarbenen Stift.
»Vaseline«, lautet mein Kompromiss, als ich das Döschen in Louises Tasche sehe.
Wir gehen zurück in den Pub. Im Raum ist es schon ruhiger als vorher, doch plötzlich wird es totenstill.
Mein Blick schweift über meine Freunde und Gäste und bleibt sofort an Mick, einem der größten Männer, hängen. Neben ihm steht seine rotwangige Frau. Bonnie lächelt mir liebevoll zu und winkt mich zu sich herüber.
»Wir wissen alle, dass Angie für ihre Großmutter Ginny eher eine Tochter als eine Enkeltochter war«, beginnt Bonnie, als ich neben ihr stehe. »Aber in den letzten Jahren hatte sie ein bisschen Konkurrenz, weil Angie für Mick und mich auch so etwas wie eine Tochter geworden ist.« Einige schmunzeln. »Und damit stehen wir nicht allein«, fährt Bonnie fort. »Wir alle haben immer wieder Zeit mit dieser jungen Dame verbracht, und ich habe von vielen gehört, dass Angie für sie wie ein Familienmitglied ist, wie ihr eigen Fleisch und Blut. Wir möchten dir sagen, Angie« – sie schaut mir in die Augen –, »dass du nicht allein bist. Hier in Coober Pedy wirst du immer eine Familie und Freunde haben, und wir möchten, dass du das weißt, selbst wenn du durch die halbe Welt reist. Hier wird immer deine Heimat sein.«
Meine Augen beginnen zu brennen. Bonnie nimmt mich in die Arme und drückt mich fest. Um uns herum murmeln die Leute zustimmend. Nach einer Weile löse ich mich von ihr und versuche, meine Fassung zurückzugewinnen.
»Danke«, sage ich und drehe mich zu der Menge lächelnder Gesichter um. Mein Blick bleibt an Grandads altem Schürferkollegen Jimmy hängen, der ganz vorn steht. Er stützt sich auf einen Gehstock, sein linkes Auge zuckt – sein rechtes ist hinter einer Augenklappe versteckt. Von einem Schwall der Zuneigung ergriffen, füge ich hinzu: »Danke, dass ihr alle gekommen seid!«
»Wir sind noch nicht fertig, Angie«, unterbricht mich Mick. Einige lachen. »Wie viele von euch«, wendet er sich an die Gäste, »hat die kleine Angie früher gefragt, wo ihr hinfahren würdet, wenn ihr es euch aussuchen könntet?«
Mehr als die Hälfte der Anwesenden hebt die Hand, Jimmy eingeschlossen. Ich glaube, außer meiner Großmutter war er der Einzige, der sagte, er sei sehr zufrieden dort, wo er lebe, vielen Dank auch.
Grinsend dreht Mick sich zu mir um. »Uns ist klar, dass du vielleicht noch nicht so weit bist, darüber nachzudenken, Angie, aber wir hoffen, dass du nicht zu lange wartest, bis du losziehst und dir die Welt ansiehst, so wie du es dir immer erträumt hast. Bonnie und ich und alle anderen hier möchten dich unterstützen, damit du dir das auch leisten kannst.«
»Wo auch immer du hinwillst«, fügt Bonnie hinzu, »was auch immer du tun willst, dies hilft dir hoffentlich dabei.«
Mick tritt vor und drückt mir ein graues Lederbeutelchen in die Hand. Es ist ungefähr so groß und schwer wie eine Packung Zucker. Ich befühle es und ertaste Gegenstände, die klackernd aneinanderstoßen. Mit großen Augen sehe ich Mick und Bonnie an, dann löse ich vorsichtig das Zugband, um hineinzuspähen.
Der Beutel ist voller Opale.
Grob gesagt, werden Opale in zwei Klassen unterteilt: Edelopale und gemeine Opale. Die innere Struktur des Edelopals bricht das Licht, was ein besonderes Farbenspiel hervorruft, wenn man den Stein neigt oder dreht. Der gemeine Opal hat eine eher milchige Farbe, die oft ins Bläuliche oder Grünliche tendiert.
Der Opal, den ich gerade zwischen Zeigefinger und Daumen halte, ist auf jeden Fall ein Edelopal. Während ich ihn hin und her drehe, schillert er in allen Farben des sichtbaren Spektrums, von strahlendem Orange über feuriges Rot, Rosa und Violett zu hellem Blau, Gelb und Grün.
Als Kind habe ich mich immer darüber gewundert, dass die Edelsteine, die mein Großvater mit nach Hause brachte, nicht im Dunkeln leuchteten. Ihr Aussehen ließ das vermuten. Später erfuhr ich, dass man das nur mit Hilfe einer speziellen Schwarzlichtlampe sehen kann.
Grandad ging gerne mit mir »noodeln«, wie es bei uns heißt, wenn man in dem aus Minenschächten geworfenen Aushub nach Opalen sucht, die die anderen übersehen haben. Manchmal fuhr er abends mit mir auf die Opalfelder und steuerte mich vorsichtig um die bis zu dreißig Meter tiefen Löcher der Schachtanlagen herum. Wenn er seine UV-Lampe einschaltete, bekam ich kaum den Mund zu, so herrlich waren die leuchtenden Farben im Geröll. Es waren nicht nur Opale, auch Achat und versteinertes Holz strahlte, ebenso Skorpione. Grandad mahnte mich immer, genau hinzusehen, bevor ich etwas anfasste.
Im Laufe der Jahre sammelte ich so viele kleine Opale, dass meine Großeltern daraus Schmuck für mich machen ließen, den ich zum Geburtstag oder zu Weihnachten bekam. Diese Schmuckstücke sind mir lieb und teuer: Armbänder, Ringe und Halsketten, in Sterlingsilber gefasst.
Doch der Opal, der nun in meiner Hand liegt, gehört in eine andere Kategorie. Ich kann den Blick nicht von ihm abwenden. Er hat ungefähr fünf Zentimeter Durchmesser und gut und gerne hundert Karat. Ein atemberaubendes Farbenspiel schimmert im Licht meiner Leselampe, während ich ihn vor und zurück neige. Nur gut zwei Drittel des Opals sind geschliffen. Ich finde es schön, dass noch Reste des beigen Sandsteins an ihm kleben, aus dem er geschlagen wurde. Der Anblick erinnert mich an meine Kindheit, wenn ich zusah, wie mein Großvater seine eigenen Funde bearbeitete. Wenn er die Steine schnitt, schliff und polierte, um das Juwel unter dem rauen Sandstein freizulegen, war das für mich pure Magie.
Bei diesem Opal muss ich an meinen Großvater denken, auch wenn es nicht seiner gewesen sein kann, weil wir all seine Edelopale nach seinem Tod verkauften, um uns über Wasser zu halten. Bonnie und Mick können mir nicht sagen, von wem er ist. Mick war mit einigen Kollegen auf die Idee gekommen, Opale für mich zu sammeln, und so wurden auf dem Leichenschmaus ungefähr zwei Dutzend Edelsteine anonym gespendet.
Ich bin immer noch völlig sprachlos.
»Du bedeutest den Leuten hier sehr viel, Angie«, hatte Bonnie am Vorabend zu mir gesagt, als wir uns vor unseren Häusern voneinander verabschiedeten. »Deine Freundlichkeit und Großzügigkeit und die Liebe und Hingabe, mit der du deine Nan gepflegt hast, haben die Herzen der Menschen in unserer kleinen Gemeinschaft aufgehen lassen. Dafür wollten sie dir etwas schenken. Jetzt musst du nur noch die Flügel ausbreiten und fliegen, um die anderen glücklich zu machen. Aber komm zurück – selbst wenn du nur den Hausstand deiner Großmutter auflöst. Komm zurück, wenn du weißt, was du mit dem Rest deines Lebens anfangen möchtest. Wir können es nicht erwarten, von deinen Abenteuern zu hören, also vergiss nicht, uns jede Menge Postkarten zu schicken!«
Ihre Worte rührten mich zu Tränen – auch jetzt wieder.
Es klingelt an der Tür. Ich stecke den Opal in das Beutelchen.
Louise ist da.
»Guten Morgen!«, sage ich lächelnd und ziehe die Haustür weit auf.
»Wie geht es dir?«, fragt sie und kommt herein.
»Ganz gut, glaube ich.«
»Nicht zu müde? Bonnie hat mir erzählt, du wärst total kaputt gewesen. Habe ich gar nicht gemerkt. Warst du vielleicht krank oder so?«
»Kann sein. Ich denke, es war einfach alles zu viel. Heute geht’s mir schon besser.«
»Gut, ich habe mir nämlich überlegt, dass wir mal losziehen. Du hast zu lange drinnen gehockt.«
»Und was hattest du dabei im Sinn?«
Als ihr klarwird, dass ich mich gerade einverstanden erklärt habe, verzieht sie das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Ich dachte, wir machen eine Reise in unsere Vergangenheit und beginnen mit einem Frühstück im Ort.«
»Okay.«
»Supi! Ich koche uns einen Tee. Zieh du dich um und mach dich fertig!«
Heute herrscht ein starker Wind, doch auch wenn der Staub sich in unsere Nasen setzt und Haut und Haare überzieht, spüre ich eine gewisse Leichtigkeit in meiner Brust.
Nach dem Frühstück streifen Louise und ich über das Gelände unserer ehemaligen Highschool und gehen an Louises früherem Elternhaus vorbei. Wir besuchen das Umoona Opal Mine & Museum, wo wir mit sechzehn in den Sommerferien mal als Museumsführerinnen gearbeitet haben. Wir machen sogar eine Stippvisite an den Schauplatz meines ersten Kusses, den ich zufälligerweise im Gehäuse eines alten Raumschiffs bekam, das nach einem Filmdreh in Coober Pedy zurückgelassen wurde.
Schließlich landen wir im Pub. Als Jugendliche kamen wir oft her, obwohl es eigentlich nicht erlaubt war. Wenn Beryl, die Wirtin, gute Laune hatte, drückte sie ein Auge zu. Doch eine falsche Bewegung, und wir wurden an den Ohren rausgezogen und vor die Tür gesetzt.
Auch heute steht Beryl hinter der Theke.
»Schön zu sehen, dass du wieder unterwegs bist«, sagt sie zu mir, als ich eine zweite Runde am Tresen bestelle.
Ich weiß, dass sie es gut meint, doch ihre Bemerkung macht mir ein schlechtes Gewissen. Eben noch haben Louise und ich über ein vermurkstes Doppel-Date gelacht, das wir als Teenager hatten. Wir waren in einem Drive-in, und plötzlich parkten ihre Eltern direkt neben uns. Jetzt frage ich mich, wie ich irgendetwas lustig finden kann, wenn ich erst einen Tag zuvor meine Großmutter beerdigt habe. Es fühlt sich falsch an.
»Du hast so viel durchgemacht, Angie«, sagt Louise, als ich mit düsterer Stimmung an den Tisch zurückkehre. »Jetzt pack dir mit beiden Händen das Leben. Das wird dir niemand vorwerfen.«
»Tut mir leid, aber ich fühle mich hier nicht mehr wohl.«
»Wie wär’s, wenn wir uns eine Flasche mitnehmen und sie bei dir trinken?«, schlägt Louise vor.
Ich habe noch keine Lust, ins Bett zu gehen, deshalb stimme ich zu. Mir fällt ein, dass wir gar keinen Wein zu kaufen brauchen.
»Weißt du was? Wir machen uns einen von Grandads guten Tropfen auf!«
Louises Augen leuchten. »Geile Idee!«
Das Tolle an einer Höhle ist, dass man einfach einen neuen Schrank oder ein Zimmer in den Fels hauen kann, wenn man eins braucht. Wenn man Glück hat, stößt man dabei sogar auf ungeahnte Schätze. Eins der ortsansässigen Motels entdeckte dabei so viele Opale, dass es davon den Bau der neuen Räume bezahlen konnte.
Im Fall von Grandad ging es um ein Weinregal. Er bohrte ein halbes Dutzend flaschengroßer Löcher in die Wand des Wohnzimmers und fand dabei genug Steine, um mit Mum und Nan einen Ausflug nach Adelaide zu machen und dort Weingüter zu besichtigen.
Es war die erste von vielen solchen Reisen, die sie gemeinsam unternahmen, und später fuhr ich anstelle meiner Mutter mit.
Ich erinnere mich noch gut an jene grünen Hügel und die Weinstöcke, die sich endlos hinzuziehen schienen.
Die Weinproben langweilten mich zu Tode, aber das Schwimmen im kühlen, klaren Meer, mit dem wir den Urlaub jeweils abschlossen, entschädigte mich mehr als genug dafür. Das gehört zu meinen schönsten Erinnerungen.
Im Laufe der Jahre vergrößerte Grandad seinen »Weinschrank«. Er bohrte immer neue Löcher und füllte sie mit Flaschen, auch wenn er keine Opale mehr fand. Nan und ich rührten seine Weine später nie an. Nan bevorzugte Sherry, und die Vorstellung, die geliebte Sammlung ihres Ehemanns anzubrechen, machte sie so traurig, dass die Weinflaschen unangetastet blieben.
Mir kam es auch seltsam vor, den Wein zu trinken. Seit Jahren habe ich kaum einen Tropfen Alkohol zu mir genommen. Ich hatte immer Angst, zu fest zu schlafen und irgendwas zu überhören, beispielsweise, dass Nan den Stecker der Kühl-Gefrier-Kombination rauszog. Das hatte sie vor ein paar Jahren an meinem Geburtstag gemacht, und als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich nicht nur einen dicken Kopf, sondern auch massenweise aufgetautes Fleisch im Gefrierschrank. Danach ließ ich ein Schloss in die Küchentür einbauen.
»Ich habe null Ahnung von Wein«, sage ich zu Louise, ziehe irgendeine Flasche aus ihrem verstaubten Loch und wische mit der Hand über das Etikett. »Lockwood House Creek Shiraz.«
»Das Weingut kenne ich!«, ruft Louise. »Das ist oben in den Bergen. Die haben einen echt heißen Kellermeister.«
»Unsere Trauben stammen von fünfundsechzig Jahre alten Reben, die am Fluss bei Lockwood House angelegt wurden«, lese ich vom Etikett vor.
»Gib mal her!«, sagt Louise und nimmt mir die Flasche aus der Hand. »Das ist der Teure von denen. Ich glaube, der kostet ein paar hundert Mäuse«, sagt sie. »Reine Verschwendung bei uns.«
Ich lache und nehme mir vor, ihn Jimmy zu schenken, dann schiebe ich ihn zurück ins Loch. Mit einem Klirren trifft die Flasche hinten gegen die Felswand.
Einige Flaschen später frage ich mich, woher Louise so viel über Wein weiß. Bisher kannte sie jedes Weingut und wusste sogar, welche Jahrgänge besonders gut sind.
»Mark und ich fahren oft zu Weingütern. Ist unser Hobby«, erklärt sie. »Die hier kannst du verkaufen, die sind ganz schön was wert.«
»Ich dachte, ich verteile die Flaschen als Abschiedsgeschenk.«
Sie wirkt erfreut. »Das heißt, du willst wirklich weg?«
Ich lächele und nicke. »Ich weiß noch nicht genau, wann, aber bald. Wenn der Staub sich gelegt hat.«
Auch wenn sich der Staub in dieser Gegend niemals legt.
»Hast du noch einen Reisepass?«, fragt Louise.
Ich nicke. Mit neunzehn Jahren beantragte ich ihn, vor Nans Alzheimer-Diagnose. Als ich sie bat, mir meine Geburtsurkunde zu geben, machte sie mir ein super schlechtes Gewissens. Zusätzlich schmerzte die Zeile auf der Urkunde: Vater unbekannt.
»Wo willst du hin?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Komm nach Adelaide, dann gehen wir in ein paar Reisebüros und lassen uns Angebote machen!«, schlägt sie vor. »Dann können wir shoppen gehen und deinen Kleiderschrank neu bestücken.« Sie zieht eine Grimasse. »Und dann bringe ich dich zum Flughafen und winke dir nach.«
Louises Worte lösen ein warmes Gefühl in meinem Inneren aus. Ist das Aufregung? Es ist so lange her, dass ich sie kaum wiedererkenne.
»Komm, stoßen wir auf die Abenteuer an, die auf dich warten!«
Nachdem wir die nächsten drei Flaschen herausgezogen haben, bin ich so schlau wie zuvor.
»Die sind alle gut«, sage ich. »Such eine aus. Egal, welche.«
»Wirklich?«
»Natürlich.«
»Dann lass uns den Cabernet nehmen.«
»Welcher war das noch mal?« Ich betrachte die Flaschen fragend.
Louise deutet auf eine. »Der da, glaube ich.«
Ich ziehe die Flasche heraus, doch sie ist verstaubt, also haben wir sie noch nicht in der Hand gehabt. Mit einem Klirren schiebe ich sie zurück an ihren Platz und hole die nächste hervor. »Mensch nochmal!«, schimpfe ich, als ich sehe, dass wir auch die noch nicht geprüft haben. »Die nächste trinken wir, egal, was es ist.«
»Abgemacht!« Louise klatscht in die Hände. »Topfschlagen für Erwachsene.«
Ich drücke die Flasche zurück in ihr Loch, doch es klirrt nicht. Ich ziehe sie ein wenig vor und stoße sie wieder hinein. Der Boden des Lochs kann nicht aus Stein sein; er gibt leicht nach, als bestände er aus weichem Material.
»Was ist?«, fragt Louise, als ich die Flasche wieder rausnehme und in das Loch spähe.
»Kannst du mir mal die Taschenlampe vom Regal geben?« Da steckt etwas hinten im Loch. Ich schiebe die Hand hinein und bekomme es mit zwei Fingern zu fassen. Mit einer kleinen Staubwolke ziehe ich ein Stück zerknüllte Leinwand heraus.
»Was machst du da?«, fragt Louise, als ich sie drehe und wende. »Moment mal«, sagt sie, bevor ich den Arm wieder in das Loch schieben kann. »Könnte doch sein, dass da ein Schlangennest drin ist.« Sie gibt mir die Taschenlampe, ich strahle das Loch an.
Ein in der Mitte gefalteter Umschlag hat sich in der Röhre verkeilt. Stirnrunzelnd hole ich ihn heraus. In akkurater geschwungener Schrift ist der Brief an einen Giulio Marchesi in Rom adressiert. Mein Herz setzt kurz aus, als ich meinen eigenen Namen und meine Adresse auf der Rückseite sehe.
Nein, der ist nicht von mir. Er muss von meiner Mutter sein.
»Was ist das?«, fragt Louise. Hastig reiße ich den Umschlag auf und ziehe zwei eng beschriebene weiße Blätter heraus, die ich schnell überfliege.
Ich sehe sie an.
»Ein Brief von meiner Mutter an meinen Vater.«