Frühlingsgeschichten für glückliche Stunden
Herausgegeben von Norma Schneider
Anthologie
FISCHER E-Books
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Eigenlizenz
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: kreuzerdesign|München Rosemarie Kreuzer
Coverabbildung: Jenny Frean, ›A Bicycle Made For Two‹ / Bridgeman Images, Berlin
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491554-8
Jede Reise verwandelt das Spießbürgerliche und Kleinstädtische in unserer Brust in etwas Weltbürgerliches und Göttlichstädtisches (Stadt Gottes).
Der Leser wird sich keine Mühe geben, die hier genannten Orte zu suchen, man hat sich genöthigt, die im Originale befindlichen wahren Nahmen zu verändern.
»Immer im März wird die Welt uns zurückgeschenkt«
Peter Kurzeck
Geniesel, Märzregen, Regentage. Und am Abend die Amsel. Alle Abende. Im Regen, in einer Pause des Regens. Alles tropft. Hat eben aufgehört und wird dann gleich weiterregnen. Grün die Dämmerung und die Amsel singt. Wie in meiner Kindheit. Wie in der Kaiserzeit bei uns in Franzensbad, sagt meine Mutter jeden Abend in meinem Gedächtnis. Und dabei ihr Blick aus unserem Staufenberger Flüchtlingsfamiliendachgeschoßnachkriegswohnküchenfenster, als ob sie in der Ferne Franzensbad sieht (sieht oder sucht?). Die Amsel singt. Vor ein paar Tagen noch war es um diese Zeit schon längst dunkel. Kugelschreiber, Notizzettel, Regenschirm, Zigaretten und wer ich selbst bin! Du suchst dir ein paar Wörter im Kopf zusammen, den Anfang von einem Satz, und machst dich auf den Weg. Aus dem Haus. Die Straße noch naß. Alles tropft. Aus dem Haus in den Abend hinein. Durchs Westend nach Bockenheim. Zu Carina. In der Küche, im Bad, im Schlafzimmer, sagt Sibylle am Abend zu mir. Unter jedem Fenster. Warum fragst du? Vom Hof her die Amsel. Immer im März. Sogar sie als Kind schon, sagt sie. Hier in Frankfurt. In Sachsenhausen in der Siemensstraße. Da war ich als Kind oft allein und vor dem Fenster der Henninger Turm mit seinen Lichtern wie ein freundlicher Riese, der mich beschützt. Vielleicht nicht beschützt, aber tröstet. Und sieht mir bei meinem Alleinsein zu. Wenn man allein ist und froh oder traurig, sagt sie, hört man die Amsel am besten. Abend. Die Wohnung. Sibylle dünn und blaß. Wir wollen gleich noch mehr Bücherkartons in den Keller tragen. Sie hat mit dem Umräumen angefangen und dann nicht mehr weitergemacht. Die Regale abgebaut. Leere Wände. Jürgen sucht dich, sagt sie. Er ruft jeden Tag dreimal an. Hast du nichts von Pascale gehört? Hast du schon gegessen? Sibylle hat ein neues Parfüm. Und wenn dann wieder Sommer ist, sagt Carina, dann rufen uns wieder die Tauben. Dann scheint jeden Tag schon die Sonne, obwohlst es dann noch in der Nacht ist, so früh. Und diesmal wolln mier uns aba merken, was die Tauben zu uns immer rufen! Müssen jetzt morgens und abends immer zusehen, Carina und ich, wie es schon jeden Tag länger hell. Siehst du es auch? Man sieht es am Himmel, man sieht es sogar auf der Uhr, sagte ich. Sechs Uhr abends, halb sieben. Wie gestern und vorgestern um diese Zeit müd an der Warte vorbei. Überall Autos. Viele Lichter im Abend. Straßenbahnen. Der Wind kommt daher. Die Straßen noch naß und trocknen in großen Flecken. Müssen oft stehenbleiben, Carina und ich. Auf jedem Weg. Für euch ist alles ein Spiel, sagt Sibylle, und von mir will sie sich dann nicht ins Bett bringen lassen. Erzähl, Peta! sagt Carina. Erzähl, wie du dir von den Häschen das schönste aussuchen durftest! Erzähl mir das Dorf, erzähl alle Tiere im Dorf! Wie ich ein Kind war, in Franzensbad im Frühling der Wald, sagt meine tote Mutter, Franzensbad steht ja mitten im Wald. Und dann im Mai, wenn der Kuckuck ruft, sagt sie und wird wieder durchsichtig. Will die Uhr lernen, sagt Carina. Und wie geht das mit dem Katzensprung? Daß jetzt von hier bis zum Frühling nur noch ein Katzensprung? Das hat meine Mutter, sagte ich, die du nicht gekannt hast, immer im März zu uns Kindern gesagt. Sag du es jetzt auch zu mir, sagt Carina. Lange stille Märzabenddämmerungen. Erst grau, dann grün, dann wie blaues Glas. Dämmerungen wie Kirchenfenster. Immer im März wird die Welt uns zurückgeschenkt. Und wir auch der Welt.
Ein Kirschkern, sagte ich. Ich stand in der Sonne. Weiß und trocken der Kirschkern auf meiner Hand. So rund und vertraut, daß du ihn fast in den Mund nimmst. Ein Kirschkern im März. Und war das nicht schon einmal? Wie früher in Staufenberg, sagte ich. Immer im März, wenn die Sonne scheint und die Wege sind trocken und hell. Das Leben ruft. Hell liegt die Erde vor uns. Warum können nicht alle Tage so sein? Und dann findet man einen Kirschkern! Meistens im Gehen. Große Schritte. Du hast ihn noch nicht gesehen und stößt schon mit dem Fuß daran. Ein Steinchen? Ein Lichtfleck? Ein Kirschkern? Hüpft nichts je so leicht vor dir her wie ein Kirschkern im März! Müssen ihn alle drei ansehen. Vom vorigen Jahr, sagte ich. Kirschen aus Griechenland, aus Italien, vom Bodensee, aus dem Schwarzwald, aus der Pfalz, aus dem Rheingau, vom Main, aus der Wetterau und vom Taunusrand – lauter Obstgegenden, bevor sie alles zugebaut haben. Hier in der Gegend, sagte ich, die besten Kirschen kommen aus Ockstadt bei Friedberg. Hat einer sich auf der Leipziger Straße an einem Obststand ein Pfund Kirschen gekauft. Eine kleine Tüte voll und darf auch ein bißchen mehr sein. Und ißt sie gleich auf dem Heimweg. Ein Sommertag. Spitze braune Papiertüten. Lieber gleich ein Kilo, sonst kommt man heim und hat keine mehr. Wer? fragt Carina. Jemand, den wir nicht kennen, sagte ich. Vielleicht Leute mit Kindern. Vielleicht sehen wir sie öfter beim Einkaufen, sagte ich. Auf den Tüten steht: Eßt mehr Obst! Welche Kinder? fragt Carina. Vielleicht Geschwister, sagte ich. Eine große Schwester und ein kleiner Bruder oder Eltern mit vielen Kindern. Oder die Kinder kennen sich aus einem Kinderladen. Vielleicht wir, sagte ich. Sind letzten Sommer oft hier gegangen, Sibylle und du und ich. Manchmal nach dem Kinderladen und oft auch noch andere Kinder mit. Der Marcel, die Meike, die Myriam. Ein Nachmittag in der Kirschenzeit. Die Kirschen im Gehen in der Sonne. Immer noch eine Kirsche in den Mund. Erst muß man sich Kirschen an jedes Ohr. Zwillingskirschen, die schönsten! Vielleicht ist der Kern auch von dir, sagte ich zu Edelgard. Jedenfalls aus dem vorigen Sommer. Den vorigen Sommer, den wißt ihr doch noch? Und hat sich seither herumgetrieben, der Kern. Immer an der Luft. Sonne, Wind, Regen. Ein Vagabundenleben. Und lang auch unter dem Schnee. Erst ein Regen- und dann ein Schneewinter, sagte ich, ihr wißt es ja selbst. Und jetzt so hell und so leicht der Kern. Ausgebleicht und verwittert, sie trocknen von innen aus, deshalb so leicht. Immer wenn man einen findet, jeden März oder alle paar Jahre, fallen einem alle früheren wieder ein. Und die Tage und Orte dazu. Und wer man gewesen ist und was man sich dabei gedacht hat. Die ersten warmen Tage. Barfuß im Sand, barfuß auf einem Holzbalken sitzen. Vielleicht doch, sagst du dir und erschrickst und mußt es dir noch öfter sagen. Vielleicht ja doch kommst du durch! Wenigstens bis zum Sommer. In den Sommer hinein. Und mit dir die Welt. Im Sommer heilt alles. In Böhmen, sagte ich, gibt es Kirschbaumalleen. Extra für die durstigen Wanderer. Und sah die Alleen gleich vor mir. Weiß im Mittagslicht und mit tiefen Schatten. Die Wanderer auch (der da geht, bist du selbst). Und in Staufenberg, sagte ich, wo dann noch einmal alles anfing. Erst alle Tage als Kinder das Obst gegessen und die Kerne weggespuckt, dann gesucht und wieder aufgehoben, betrachtet und eingegraben die Kerne. Nicht nur Kirschen, auch Pflaumen, Mirabellen, Aprikosen und Pfirsiche. Jedes Obst. Alle Kerne. Bei den Äpfeln extra die Äppelkrotzer manchmal nicht mitgegessen, obwohl es uns schwerfiel, darauf zu verzichten. Es heißt der Appelkrotze, aber die Äppelkrotzer! Manche sagen es falsch! Jeden Kern eingepflanzt. Und jetzt, sagte ich zu Edelgard und Carina, überall Obst! Jetzt ist die Erde voller Obstbäume. Und wird immer wieder Sommer. Erst Frühling, dann Sommer. Nicht nur in Staufenberg. Überall auf der Welt. Aber in Staufenberg hat es angefangen. Zuallererst in Tachau in Böhmen und dann in Staufenberg, sagte ich und konnte die Alleen in Böhmen vor mir sehen und das Staufenberger Kirschenwäldchen und gleich auch die Mirabellen, die Pflaumen, die Birnen. Die Nußbäume auch. Und jeden Apfelbaum, den ich in meinem Leben kannte. Noch besser, sagte ich, wenn man sie eine Weile im Mund behält und dann nochmal draufspuckt, bevor man die Kerne eingräbt. Aber sogar wenn man sie nur hinschmeißt, das reicht schon. In Böhmen die Kirschbaumalleen sind entstanden, weil die Wanderer unterwegs immer schnell viele Kirschen gegessen haben und die Kerne nach rechts und links gleichmäßig ausgespuckt. Und dabei den Horizont im Blick und mit großen Schritten. Mit Äpfein und Pflaumen genauso. Immer wieder den gleichen Weg. Vielleicht sind wir mehrere und die Alleen werden mit jedem Jahr länger. Einmal, sagte ich, im Januar 1969 von Paris nach Prag gefahren und am Rand vom Böhmerwald gleich hinter Domažlice im Schnee mit dem Auto an einen Baum, einen Pflaumenbaum. Im Schreck, weil ich jäh denken mußte, warum fährst du hier? Erzähl jetzt keine Autogeschichten, sagt Edelgard, und auch keine Schneegeschichten! Gibt es in Staufenberg wirklich Aprikosen und Pfirsiche? Klar! sagte ich. In den Hausgärten und Baumgärten. Im Banggarten, in den Borngärten und in den Scheunengärten. Zart und entschlossen die Bäumchen. Ich kann dir jeden einzelnen Baum herbeireden. Drei oder vier Sorten Aprikosen. Gelbe und weiße Pfirsiche. Bei den weißen Pfirsichen eine Sorte, die sehen wie Rosenknospen aus und riechen auch so. Sind klein, aber das sind die besten! Erzähl, sagt Carina, erzähl von dir als Kind! Wie du einmal als Kind ein Häschen geschenkt gekriegt hast. Und erzähl jetzt, wie es dann weiterging.
Stefan Zweig
Muß man sie nicht doch einmal schelten, die verbissenen Tadler der Eisenbahn, diese melancholischen Träumer verblichener Postwagenpoesie, diese heimlichen Biedermaier, die die Schönheit der Reise nur noch in den unmodischen Kostümen unseres alten Eichendorff verstehen wollen? Als ob nicht jede Zeit ihre Schönheit hätte, als ob nicht in dem großen Umschwung der Zeit neue und grandiose Linien der Betrachtung sich gezeichnet hätten. Gibt es denn ein lieblicheres Wunder als unsere Eisenbahn von heute? Besinne Dich nur an Deine vielen Sehnsuchtstage zum Frühling hin! Wochen hast du gewartet: wenn der Schnee, von einem linderen Wind gestreift, niederstäubte von den Bäumen, wenn die Dächer feucht in einer falben Sonne glänzten, wenn die Luft nur etwas wärmer wehte, war Dir schon, als sei ein Glück geschehen. Du glaubtest, ihn schon zu fühlen in Deinen Händen, wenn Du die mildere Luft streiftest, meintest, ihn schon zu trinken mit Deinem Atem, dachtest, ihn zu sehen in dem Flimmern der glänzenden Äste, ihn, dem Du entgegenbangtest mit all Deiner Sehnsucht: den Frühling. Und Wochen und Wochen so zwischen Hoffnung und Enttäuschung.
Und nun – sieh’ das Wunder – da ist ein Ding, das bringt Dir den Frühling oder bringt Dich zu ihm in einem Tag, in einer Nacht. Wie Du es willst: Du kannst Dich hinlegen und ihn fertig, blühend und warm des Morgens empfangen, oder Du kannst ihn aufblühen und werden sehen in einer einzigen Fahrt, kannst sein langsames Nahen, seine stets stärkere Gewalt mit immer neuen Schauern der Beglückung verspüren. Habt Ihr das bedacht, Ihr Tadler, die Ihr die Eisenbahn »unpoetisch« findet, weil sie eisern rasselt und schwarzen Qualm durch die Landschaft jagt?
Abends noch in Paris. Ein letzter Gang über die Boulevards: die Bäume sind kahl und grau, an manchen hängt noch, ganz schwach und zitternd, ein letztes falbes Blatt, das der Herbstwind zu nehmen vergessen. Mild und klar ist der Abend, aber – Du fühlst es – es fehlt ihm die Frische, der Duft. Es ist trotz Schnee und Stürmen abgelebte Luft; schmacklos und leer, denn sie hat nicht jenes Quellen der aufbrechenden Erde, wenn sie die Sonne fühlt, nicht den Pollenduft der vielen werdenden Blüten. Wochen und Wochen noch ist es bis zum Frühling. Nachts dann im Zuge. Durch Stunden nur Dunkelheit und das Gestampf der Räder durch unbekanntes Land. Morgens, ganz früh, wenn das Morgenrot noch wie ein ungeheurer Brand am Horizonte flammt, siehst Du hinaus. Leer liegen die Felder, brandrot und erdig, unbelaubt stehen die Bäume. Aber doch ist etwas in der Landschaft – Du weißt es nicht zu sagen, was es ist – das schon vom Frühling spricht, eine Ahnung, daß die Blüten schon ganz nahe am Bast pochen, daß die Saat schon mit den unterirdischen Halmen die letzte Schichte der Erde berührt. Das Zittern der Äste im Wind scheint Dir halb noch Bitte und halb schon erfüllte Seligkeit. Und hier – ja hier, sieh’ es nur, hier ist schon ein erstes Grün, das die Erde umflicht, ein helles, unsäglich zartes Grün. Und mehr und mehr: zwischen den leeren Bäumen hier und da solche, an denen schon die kleinen Schößlinge sprießen, manche schon mit großen, leuchtenden Blüten. Und immer mehr und mehr!
Jenen wundervollen Augenblick eines vielfältigen Geschehens fühlst Du, jene Tage und Wochen, in denen ein Frühling wird, zusammengepreßt in eine prächtige Stunde. Denn immer lebendiger wird das Bild, farbig belebt nun durch die ersten immergrünen Bäume, durch das steigende Licht, durch Wärme und Sonnenfeuer. Und mit dem Morgen bist Du in des Frühlings Land.
Hat der Frühling ein schöneres Land als die Provence? Kaum läßt es sich denken, wenn man sieht, wie in den Rahmen der Fensterscheibe sich in buntem Wechsel die blühenden Bilder stellen. Und denke der provenzalischen Lieder. Ist denn das nicht unendlich frühlingshaft, dieses zarte Minnen der Ritter um die geliebte Dame, die Pagenlieder und Aventiuren, dieser Eindruck, den wir aus Lied und Geschichte von dem blühenden Lande haben? Und so wunderbar eint sich dies alles: kaum staunte man, würde man auf weißem Zelter einen schmucken Ritter durch diese milde, sonnige Landschaft traben sehen. Er ist hier sanft und doch groß, der Frühling, groß auch ohne jenes ungeheuere Geschehen seiner Leidenschaft, ohne den Mistral, jenen furchtbaren Föhn, der im Lande wühlt, der wie Fieber in das Blut schießt und wie Gottes Zorn in den Bäumen wettert. Norden und Süden eint sich hier wie in flüchtigem Kuß. Neben den immergrünen Sträuchern und Bäumen, die ohne Blüte und Frucht nur als Wächter der Schönheit im Lande warten, stehen friedlich jene Kulturen des Nordens, manche noch nackt und frierend, manche in dünnem Farbenflor. Und so weiß der Frühling hier doch noch zu beglücken, so gütig dem Anblicke auch der Winter ist.
Helle, freundliche Städte, Valence, Nîmes, Orange – in welcher wollte man nicht rasten? Aber der Zug wettert und eilt. Doch hier mußt Du bleiben, in dieser Stadt, die so wunderbar weiß leuchtet wie ein Traumschloß, die so breit und groß sich um die Rhone schmiegt, in Avignon, der Stadt der Päpste. Linien, wie mit lässiger Künstlerhand in das weite Gelände eingezeichnet, fesseln Deinen Blick: die weißen Straßen, flimmernder, glühender Kalk, und dazwischen jener blaue, flutende Streifen des Stromes, zweimal durchquert, einmal von der weißen Brücke, das andere Mal von den Überresten jenes stolzen Bogens, mit dem Papst Benezet die Umschließung der Stadt vollkommen zu machen hoffte. Ein grandioser, düsterer Anblick muß es an Herbsttagen sein, diese hohe, herrische Papstburg, die wie ein geharnischtes Haupt hoch über der niederen Stadt droht, und die Festungswälle, mit denen diese Gewaltigen gleichsam wie mit gespreiteten, geschienten Armen den ganzen Umkreis festhielten. Aber der Frühling nimmt sacht alles Tragische dieser Zwingburg: weiß glänzen ihre Kalkmauern ins Land, scharf in den tiefblauen Himmel eingeschnitten, ein edler Anblick ohne Strenge: Wer denkt an die Folterkammern, wer will sich daran erinnern, daß von jenem viereckigen Turme im Revolutionsjahre die Opfer in die entsetzliche Tiefe hinabgeschleudert wurden, wer will sich dessen entsinnen, wenn die Sonne so sanft und zärtlich ist? Jetzt sind grüne Gärten mit schönen Gängen zwischen den herben Mauern, und von blühenden Terrassen sieht man in das Land hinab. Und Frühling, Frühling überall.
Weiter mit dem eilenden Zuge. Vorbei an kleinen, reizenden Städtchen, vorbei an Tarascon – bonjour, monsieur Tartarin! –
Thomas Mann
Das geschah, als auf den in ewig eintönigem Rhythmus anrollenden Meereswogen der Zeit Ostern herangetrieben war und auf »Berghof« begangen wurde, wie man alle Etappen und Einschnitte dort aufmerksam beging, um ein ungegliedertes Einerlei zu vermeiden. Beim ersten Frühstück fand jeder Gast neben seinem Gedecke ein Veilchensträußchen, beim zweiten Frühstück erhielt jedermann ein gefärbtes Ei, und die festliche Mittagstafel war mit Häschen geschmückt aus Zucker und Schokolade.
»Haben Sie je eine Schiffsreise gemacht, Tenente, oder Sie, Ingenieur?« fragte Herr Settembrini, als er nach Tische in der Halle mit seinem Zahnstocher an das Tischchen der Vettern herantrat … Wie die Mehrzahl der Gäste kürzten sie heute den Hauptliegedienst um eine Viertelstunde, indem sie sich hier zu einem Kaffee mit Kognak niedergelassen hatten. »Ich bin erinnert durch diese Häschen, diese gefärbten Eier an das Leben auf so einem großen Dampfer, bei leerem Horizont seit Wochen, in salziger Wüstenei, unter Umständen, deren vollkommene Bequemlichkeit ihre Ungeheuerlichkeit nur oberflächlich vergessen läßt, während in den tieferen Gegenden des Gemütes das Bewußtsein davon als ein geheimes Grauen leise fortnagt … Ich erkenne den Geist wieder, in dem man an Bord einer solchen Arche die Feste der terraferma pietätvoll andeutet. Es ist das Gedenken von Außerweltlichen, empfindsame Erinnerung nach dem Kalender … Auf dem Festlande wäre heut Ostern, nicht wahr? Auf dem Festlande begeht man heut Königs Geburtstag, – und wir tun es auch, so gut wir können, wir sind auch Menschen … Ist es nicht so?«
Die Vettern stimmten zu. Wahrhaftig, so sei es. Hans Castorp, gerührt von der Anrede und vom schlechten Gewissen gespornt, lobte die Äußerung in hohen Tönen, fand sie geistreich, vorzüglich und schriftstellerisch und redete Herrn Settembrini aus allen Kräften nach dem Munde. Gewiß, nur oberflächlich, ganz wie Herr Settembrini es so plastisch gesagt habe, lasse der Komfort auf dem Ozean-Steamer die Umstände und ihre Gewagtheit vergessen, und es liege, wenn er auf eigene Hand das hinzufügen dürfe, sogar eine gewisse Frivolität und Herausforderung in diesem vollendeten Komfort, etwas dem ähnliches, was die Alten Hybris genannt hätten (sogar die Alten zitierte er aus Gefallsucht), oder dergleichen, wie »Ich bin der König von Babylon!«, kurz Frevelhaftes. Auf der anderen Seite aber involviere (»involviere«!) der Luxus an Bord doch auch einen großen Triumph des Menschengeistes und der Menschenehre, – indem er diesen Luxus und Komfort auf die salzigen Schäume hinaustrage und dort kühnlich aufrecht erhalte, setze der Mensch gleichsam den Elementen den Fuß auf den Nacken, den wilden Gewalten, und das involviere den Sieg der menschlichen Zivilisation über das Chaos, wenn er auf eigene Hand diesen Ausdruck gebrauchen dürfe …
Herr Settembrini hörte ihm aufmerksam zu, die Füße gekreuzt und die Arme ebenfalls, wobei er sich auf zierliche Art mit dem Zahnstocher den geschwungenen Schnurrbart strich.
»Es ist bemerkenswert«, sagte er. »Der Mensch tut keine nur einigermaßen gesammelte Äußerung allgemeiner Natur, ohne sich ganz zu verraten, unversehens sein ganzes Ich hineinzulegen, das Grundthema und Urproblem seines Lebens irgendwie im Gleichnis darzustellen. So ist es Ihnen soeben ergangen, Ingenieur. Was Sie da sagten, kam in der Tat aus dem Grunde Ihrer Persönlichkeit, und auch den zeitlichen Zustand dieser Persönlichkeit drückte es auf dichterische Weise aus: es ist immer noch der Zustand des Experimentes …«
»Placet experiri!« sagte Hans Castorp nickend und lachend, mit italienischem c.
»Sicuro, – wenn es sich dabei um die respektable Leidenschaft der Welterprobung handelt und nicht um Liederlichkeit. Sie sprachen von ›Hybris‹, Sie bedienten sich dieses Ausdrucks. Aber die Hybris der Vernunft gegen die dunklen Gewalten ist höchste Menschlichkeit, und beschwört sie die Rache neidischer Götter herauf, per esempio, indem die Luxusarche scheitert und senkrecht in die Tiefe geht, so ist das ein Untergang in Ehren. Auch die Tat des Prometheus war Hybris, und seine Qual am skythischen Felsen gilt uns als heiligstes Martyrium. Wie steht es dagegen um jene andere Hybris, um den Untergang im buhlerischen Experiment mit den Mächten der Widervernunft und der Feindschaft gegen das Menschengeschlecht? Hat das Ehre? Kann das Ehre haben? Sì o no!«
Hans Castorp rührte in seinem Täßchen, obgleich nichts mehr darin war.
»Ingenieur, Ingenieur,« sagte der Italiener mit dem Kopfe nickend, und seine schwarzen Augen hatten sich sinnend »festgesehen«, »fürchten Sie nicht den Wirbelsturm des zweiten Höllenkreises, der die Fleischessünder prellt und schwenkt, die Unseligen, die die Vernunft der Lust zum Opfer brachten? Gran Dio, wenn ich mir einbilde, wie Sie kopfüber, kopfunter umhergepustet flattern werden, so möchte ich vor Kummer umfallen wie eine Leiche fällt …«
Sie lachten, froh, daß er scherzte und Poetisches redete. Aber Settembrini setzte hinzu:
»Am Faschingsabend beim Wein, Sie erinnern sich, Ingenieur, nahmen Sie gewissermaßen Abschied von mir, doch, es war etwas dem ähnliches. Nun, heute bin ich an der Reihe. Wie Sie mich hier sehen, meine Herren, bin ich im Begriff, Ihnen Lebewohl zu sagen. Ich verlasse dies Haus.«
Beide verwunderten sich aufs höchste.
»Nicht möglich! Das ist nur Scherz!« rief Hans Castorp, wie er bei anderer Gelegenheit auch gerufen hatte. Er war fast ebenso erschrocken wie damals. Aber auch Settembrini erwiderte:
»Durchaus nicht. Es ist, wie ich Ihnen sage. Und übrigens trifft Sie diese Nachricht nicht unvorbereitet. Ich habe Ihnen erklärt, daß in dem Augenblick, wo sich meine Hoffnung, in irgendwie absehbarer Zeit in die Welt der Arbeit zurückkehren zu können, als unhaltbar erweisen werde, ich hier meine Zelte abzubrechen und irgendwo im Orte mich für die Dauer einzurichten entschlossen sei. Was wollen Sie nun, – dieser Augenblick ist eingetreten. Ich kann nicht genesen, es ist ausgemacht. Ich kann mein Leben fristen, aber nur hier. Das Urteil, das endgültige Urteil, lautet auf lebenslänglich, – mit der ihm eigenen Aufgeräumtheit hat Hofrat Behrens es mir verkündet. Gut denn, ich ziehe die Folgerungen. Ein Logis ist gemietet, ich bin im Begriffe, meine geringe irdische Habe, mein literarisches Handwerkszeug dorthin zu schaffen … Es ist nicht einmal weit von hier, in ›Dorf‹, wir werden einander begegnen, gewiß, ich werde Sie nicht aus den Augen verlieren, als Hausgenosse aber habe ich die Ehre, mich von Ihnen zu verabschieden.«
So Settembrinis Eröffnung am Ostersonntag. Die Vettern hatten sich außerordentlich bewegt darüber gezeigt. Des längeren noch, und wiederholt, hatten sie mit dem Literaten über seinen Entschluß gesprochen: darüber, wie er auch privatim den Kurdienst weiter werde ausüben können, über die Mitnahme und Fortführung ferner der weitläufigen enzyklopädischen Arbeit, die er auf sich genommen, jener Übersicht aller schöngeistigen Meisterwerke, unter dem Gesichtspunkt der Leidenskonflikte und ihrer Ausmerzung; endlich auch über sein zukünftiges Quartier im Hause eines »Gewürzkrämers«, wie Herr Settembrini sich ausdrückte. Der Gewürzkrämer, berichtete er, habe den oberen Teil seines Eigentums an einen böhmischen Damenschneider vermietet, der seinerseits Aftermieter aufnehme … Diese Gespräche also lagen zurück. Die Zeit schritt fort, und mehr als eine Veränderung hatte sie bereits gezeitigt. Settembrini wohnte wirklich nicht mehr im internationalen Sanatorium »Berghof«, sondern bei Lukaček, dem Damenschneider, – schon seit einigen Wochen. Nicht in Form einer Schlittenabreise hatte sein Auszug sich abgespielt, sondern zu Fuß, in kurzem, gelbem Paletot, der am Kragen und an den Ärmeln ein wenig mit Pelz besetzt war, und begleitet von einem Mann, der auf einem Schubkarren das literarische und das irdische Handgepäck des Schriftstellers beförderte, hatte man ihn stockschwingend davongehen sehen, nachdem er noch unterm Portal eine Saaltochter mit den Rücken zweier Finger in die Wange gezwickt … Der April, wie wir sagten, lag schon zu einem guten Teil, zu drei Vierteln, im Schatten der Vergangenheit, noch war es tiefer Winter, gewiß, im Zimmer hatte man knappe sechs Wärmegrade am Morgen, draußen war neungradige Kälte, die Tinte im Glase, wenn man es in der Loggia ließ, gefror über Nacht noch immer zu einem Eisklumpen, einem Stück Steinkohle. Aber der Frühling nahte, das wußte man; am Tage, wenn die Sonne schien, spürte man hie und da bereits eine ganz leise, ganz zarte Ahnung von ihm in der Luft; die Periode der Schneeschmelze stand in naher Aussicht, und damit hingen die Veränderungen zusammen, die sich auf »Berghof« unaufhaltsam vollzogen, – nicht aufzuhalten selbst durch die Autorität, das lebendige Wort des Hofrats, der in Zimmer und Saal, bei jeder Untersuchung, jeder Visite, jeder Mahlzeit das populäre Vorurteil gegen die Schneeschmelze bekämpfte.
Ob es Wintersportsleute seien, fragte er, mit denen er es zu tun habe, oder Kranke, Patienten? Wozu in aller Welt sie denn Schnee, gefrorenen Schnee brauchten? Eine ungünstige Zeit, – die Schneeschmelze? Die allergünstigste sei es! Nachweislich gäbe es im ganzen Tal um diese Zeit verhältnismäßig weniger Bettlägrige, als irgendwann sonst im Jahre! Überall in der weiten Welt seien die Wetterbedingungen für Lungenkranke zu dieser Frist schlechter als gerade hier! Wer einen Funken Verstand habe, der harre aus und nutze die abhärtende Wirkung der hiesigen Witterungsverhältnisse. Danach dann sei er fest gegen Hieb und Stich, gefeit gegen jedes Klima der Welt, vorausgesetzt nur, daß der volle Eintritt der Heilung abgewartet worden sei – und so fort. Aber der Hofrat hatte gut reden, – die Voreingenommenheit gegen die Schneeschmelze saß fest in den Köpfen, der Kurort leerte sich; wohl möglich, daß es der sich nähernde Frühling war, der den Leuten im Leibe rumorte und seßhafte Leute unruhig und veränderungssüchtig machte, – jedenfalls mehrten die »wilden« und »falschen« Abreisen sich auch im Hause Berghof bis zur Bedenklichkeit. Frau Salomon aus Amsterdam zum Beispiel, trotz dem Vergnügen, das die Untersuchungen und das damit verbundene Zurschaustellen feinster Spitzenwäsche ihr bereiteten, reiste vollständig wilder- und falscherweise ab, ohne jede Erlaubnis und nicht, weil es ihr besser, sondern weil es ihr immer schlechter ging. Ihr Aufenthalt hier oben verlor sich weit zurück hinter Hans Castorps Ankunft; länger als ein Jahr war es her, daß sie eingetroffen war, – mit einer ganz leichten Affektion, für die ihr drei Monate zudiktiert worden waren. Nach vier Monaten hatte sie »in vier Wochen sicher gesund« sein sollen, aber sechs Wochen später hatte von Heilung überhaupt nicht die Rede sein können: sie müsse, hatte es geheißen, mindestens noch vier Monate bleiben. So war es fortgegangen, und es war ja kein Bagno und kein sibirisches Bergwerk hier, – Frau Salomon war geblieben und hatte feinstes Unterzeug an den Tag gelegt. Da sie nun aber nach der letzten Untersuchung, im Angesicht der Schneeschmelze, eine neue Zulage von fünf Monaten erhalten hatte, wegen Pfeifens links oben und unverkennbarer Mißtöne unter der linken Achsel, war ihr die Geduld gerissen, und mit Protest, unter Schmähungen auf »Dorf« und »Platz«, auf die berühmte Luft, das internationale Haus Berghof und die Ärzte reiste sie ab, nach Hause, nach Amsterdam, einer zugigen Wasserstadt.
War das klug gehandelt? Hofrat Behrens hob Schultern und Arme auf und ließ die letzteren geräuschvoll gegen die Schenkel zurückfallen. Spätestens im Herbst, sagte er, werde Frau Salomon wieder da sein, – dann aber auf immer. Würde er recht behalten? Wir werden sehen, wir sind noch auf längere Erdenzeit an diesen Lustort gebunden. Aber der Fall Salomon war also durchaus nicht der einzige seiner Art. Die Zeit zeitigte Veränderungen, – sie hatte das ja immer getan, aber allmählicher, nicht so auffallend. Der Speisesaal wies Lücken auf, Lücken an allen sieben Tischen, am Guten Russentisch wie am Schlechten, an den längs- wie an den querstehenden. Nicht gerade, daß dies von der Frequenz des Hauses ein zuverlässiges Bild gegeben hätte; auch Ankünfte, wie jederzeit, hatten stattgefunden; die Zimmer mochten besetzt sein, aber da handelte es sich eben um Gäste, die durch finalen Zustand in ihrer Freizügigkeit eingeschränkt waren. Im Speisesaal, wie wir sagten, fehlte manch einer dank noch bestehender Freizügigkeit; manch einer aber tat es sogar auf eine besonders tiefe und hohle Weise, wie Dr. Blumenkohl, der tot war. Immer stärker hatte sein Gesicht den Ausdruck angenommen, als habe er etwas schlecht Schmeckendes im Munde; dann war er dauernd bettlägrig geworden und dann gestorben, – niemand wußte genau zu sagen, wann; mit aller gewohnten Rücksicht und Diskretion war die Sache behandelt worden. Eine Lücke. Frau Stöhr saß neben der Lücke, und sie graute sich vor ihr. Darum siedelte sie an des jungen Ziemßen andere Seite über, an den Platz Miß Robinsons, die als geheilt entlassen worden, gegenüber der Lehrerin, Hans Castorps linksseitiger Nachbarin, die fest auf ihrem Posten geblieben war. Ganz allein saß sie derzeit an dieser Tischseite, die übrigen drei Plätze waren frei. Student Rasmussen, der täglich dümmer und schlaffer geworden, war bettlägrig und galt für moribund; und die Großtante war mit ihrer Nichte und der hochbrüstigen Marusja verreist, – wir sagen »verreist«, wie alle es sagten, weil ihre Rückkehr in naher Zeit eine ausgemachte Sache war. Zum Herbst schon würden sie wieder eintreffen, – war das eine Abreise zu nennen? Wie nah war nicht Sommersonnenwende, wenn erst einmal Pfingsten gewesen war, das vor der Türe stand; und kam der längste Tag, so gings ja rapide bergab, auf den Winter zu, – kurzum, die Großtante und Marusja waren beinahe schon wieder da, und das war gut, denn die lachlustige Marusja war keineswegs ausgeheilt und entgiftet; die Lehrerin wußte etwas von tuberkulösen Geschwüren, die die braunäugige Marusja an ihrer üppigen Brust haben sollte, und die schon mehrmals hatten operiert werden müssen. Hans Castorp hatte, als die Lehrerin davon sprach, hastig auf Joachim geblickt, der sein fleckig gewordenes Gesicht über seinen Teller geneigt hatte.
Die muntere Großtante hatte den Tischgenossen, also den Vettern, der Lehrerin und Frau Stöhr ein Abschiedssouper im Restaurant gegeben, eine Schmauserei mit Kaviar, Champagner und Likören, bei der Joachim sich sehr still verhalten, ja, nur einzelnes mit fast tonloser Stimme gesprochen hatte, so daß die Großtante in ihrer Menschenfreundlichkeit ihm Mut zugesprochen und ihn dabei, unter Ausschaltung zivilisierter Sittengesetze, sogar geduzt hatte. »Hat nichts auf sich, Väterchen, mach dir nichts draus, sondern trink, iß und sprich, wir kommen bald wieder!« hatte sie gesagt. »Wollen wir alle essen, trinken und schwatzen und den Gram – Gram sein lassen, Gott läßt Herbst werden, eh wirs gedacht, urteile selbst, ob Grund ist zum Kummer!« Am nächsten Morgen hatte sie zur Erinnerung bunte Schachteln mit »Konfäktchen« an fast alle Besucher des Speisesaales verteilt und war dann mit ihren beiden jungen Mädchen etwas verreist.
Und Joachim, wie stand es um ihn? War er befreit und erleichtert seitdem, oder litt seine Seele schwere Entbehrung angesichts der leeren Tischseite? Hing seine ungewohnte und empörerische Ungeduld, seine Drohung, wilde Abreise halten zu wollen, wenn man ihn länger an der Nase führe, mit der Abreise Marusjas zusammen? Oder war vielmehr die Tatsache, daß er vorderhand eben doch noch nicht reiste, sondern der hofrätlichen Verherrlichung der Schneeschmelze sein Ohr lieh, auf jene andere zurückzuführen, daß die hochbusige Marusja nicht ernstlich abgereist, sondern nur etwas verreist war und in fünf kleinsten Teileinheiten hiesiger Zeit wieder eintreffen würde? Ach, das war wohl alles auf einmal der Fall, alles in gleichem Maße; Hans Castorp konnte es sich denken, auch ohne je mit Joachim über die Sache zu sprechen. Denn dessen enthielt er sich ebenso streng, wie Joachim es vermied, den Namen einer anderen etwas Verreisten zu nennen.
Unterdessen aber, an Settembrinis Tisch, an des Italieners Platz – wer saß dort seit kurzem, in Gesellschaft holländischer Gäste, deren Appetit so ungeheuer war, daß jeder von ihnen sich zu Anfang des täglichen Fünf-Gänge-Diners, noch vor der Suppe, drei Spiegeleier servieren ließ? Es war Anton Karlowitsch Ferge, er, der das höllische Abenteuer des Pleura-Choks erprobt hatte! Ja, Herr Ferge war außer Bett; auch ohne Pneumothorax hatte sein Zustand sich so gebessert, daß er den größten Teil des Tages mobil und angekleidet verbrachte und mit seinem gutmütig-bauschigen Schnurrbart und seinem ebenfalls gutmütig wirkenden großen Kehlkopf an den Mahlzeiten teilnahm. Die Vettern plauderten manchmal mit ihm in Saal und Halle, und auch für die Dienstpromenaden taten sie sich dann und wann, wenn es sich eben so traf, mit ihm zusammen, Neigung im Herzen für den schlichten Dulder, der von hohen Dingen gar nichts zu verstehen erklärte und, dies vorausgesandt, überaus behaglich von Gummischuhfabrikation und fernen Gebieten des russischen Reiches, Samara, Georgien, erzählte, während sie im Nebel durch den Schneewasserbrei stapften.