Prolog
An mahnenden Worten hat es im vergangenen Jahr nicht gemangelt. »Vom Rechtsextremismus geht derzeit die größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland aus.« So die Feststellung des früheren Bundesinnenministers Horst Seehofer und des Verfassungsschutzpräsidenten Thomas Haldenwang. Das Thema ist auf der höchsten politischen Ebene angekommen, 89 Maßnahmen hat die Bundesregierung anlässlich der Einrichtung des Kabinettsausschusses »zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus« versprochen umzusetzen. Aber mahnende Worte alleine reichen nicht, und viele Ankündigungen blieben bisher folgenlos.
Das ist auch ein Grund für diesen Report. Wie entschlossen und ernsthaft die Institutionen des Rechtsstaats wirklich der wachsenden Gefahr von rechts entgegentreten – hier ist die wachsame Beobachtung durch die Zivilgesellschaft dringend nötig. Der Report greift damit auf, was die im Juli 2021 im Alter von 96 Jahren verstorbene Shoa-Überlebende Esther Bejarano formulierte: »Es gibt keine Gegenwart und keine Zukunft ohne die Vergangenheit. Ich bin besorgt, denn ich sehe gegenwärtig Parallelen zur damaligen Zeit. Damit sich so etwas niemals wiederholt, dürfen wir nicht schweigen, sondern müssen mit Mut zusammenstehen gegen Rassismus.«
Wie schon im ersten Report »Recht gegen rechts« 2020 verfolgen die Autor*innen dieses Jahrgangs deshalb akribisch und kritisch, wie sich die Institutionen des Rechts schlagen. Wie sie auf Neonazis reagieren – auch und gerade, wenn diese nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Wie sie, abseits schöner Worte, in der Praxis handeln. Auf wessen Seite sie sich stellen. Wie sie den Betroffenen von Rassismus, Antisemitismus und anderen Formen von Menschenfeindlichkeit beistehen. Und wie sie auch mit jenen Bedrohungen der Demokratie umgehen, die aus den Institutionen selbst kommen – etwa in Form von rechtsextremen Chatgruppen bei der Polizei.
Die beiden großen Koalitionen (2013–2021) haben ihrem Inlandsgeheimdienst, dem Verfassungsschutz, der im Kampf gegen rechts oft mehr Teil des Problems als Teil der Lösung gewesen ist, mehr Mittel und mehr Kompetenzen gegeben. Im Gegensatz dazu fehlt es an langfristigen Perspektiven für Projekte der politischen Bildung. Obwohl schon der NSU-Untersuchungsausschuss von 2013 sich »mit Nachdruck für eine Neuordnung der Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus« aussprach, um für Verlässlichkeit und Planungssicherheit zu sorgen, blieb es bei Ankündigungen. Bei mahnenden Worten.
Der Entwurf für ein Wehrhafte-Demokratie-Gesetz blieb in der Schublade. Und wenn er nun von der neuen Bundesregierung hoffentlich wieder aus der Schublade hervorgeholt wird, dann wird man ihn auch kritisch betrachten müssen. Denn darin vorgesehen war, ähnlich wie schon bei der Einführung früherer Extremismusklauseln, eine Überprüfung des zivilgesellschaftlichen Engagements durch den Staat. Solche Gesinnungsprüfungen sind ein zweischneidiges Schwert, ein Schlag nicht nur gegen die extreme Rechte. Die Erfahrung zeigt, dass sie vorrangig gegen Linke eingesetzt werden.
Richtig ist aber auch: Auf den starken Staat zu verzichten, muss man sich leisten können. Betroffene rechter Gewalt und diejenigen, die im Visier des Rechtsterrorismus stehen, sind auf den Schutz angewiesen, den der demokratische Rechtsstaat im Grundgesetz verspricht. Und bisher ist es nicht nachhaltig gelungen, die extrem rechten Kräfte alleine über die politische Auseinandersetzung zurückzudrängen. Die Diskussion, was hier zu tun ist und was hilft – und was nicht –, muss dringend weitergeführt werden. Auch mit diesem Report.
Manche der Verfahren, über die wir im Report 2020 berichtet haben, sind inzwischen vor Gericht weitergegangen. So ist der AfD-Bundestagsabgeordnete Thomas Seitz (siehe den Beitrag von Nils Kohlmeier und Tore Vetter im Report 2020, S. 181–187) endgültig aus seinem Beruf als Staatsanwalt des Landes Baden-Württemberg entfernt worden. Er habe »kontinuierlich beamtenrechtliche Kernpflichten, insbesondere die Pflichten zur Verfassungstreue sowie zu Neutralität und Mäßigung«, verletzt, entschied das Oberlandesgericht Stuttgart (Dienstgerichtshof für Richter bei dem Oberlandesgericht Stuttgart, Urteil v. 18.3.2021, DGH 2/19). Das Verfahren dürfte für die künftige Auseinandersetzung mit AfDlern und anderen rechten Akteur*innen in der Justiz von grundlegender Bedeutung sein.
Ein anderes Verfahren ging vor das Bundesverfassungsgericht. Ein Gießener Verwaltungsrichter hatte ein NPD-Plakat mit dem Argument verteidigt, die Aussage »Migration tötet« sei doch empirisch wahr (siehe den Beitrag von Dana Schmalz im Report 2020, S. 149–155). Derselbe Richter war auch für Asylprozesse zuständig. Ein Asylsuchender stellte deshalb einen Antrag, ihn für befangen zu erklären – und Karlsruhe stimmte diesem Antrag zu. Es sei offensichtlich, dass dieser Richter »Migration für ein grundlegendes, die Zukunft unseres Gemeinwesens bedrohendes Übel hält«, so das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschluss v. 1.7.2021, 2 BvR 890/20). Dass am Ende erst ein Machtwort aus Karlsruhe nötig war und nicht schon die Richter*innen unterer Instanzen ihren Kollegen aufgrund seiner eindeutigen rassistischen Aussagen für befangen erklärten, macht ein grundlegendes Problem in der Justiz deutlich.
Dieser aktuelle Report »Recht gegen rechts« wird ermöglicht durch die Großzügigkeit der Friedrich-Naumann-Stiftung, der ZEIT-Stiftung, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen und der Amadeu-Antonio-Stiftung, bei denen wir uns herzlich bedanken. Der großen politischen Vielfalt unserer Förderer*innen entspricht unsere Hoffnung, eine breite, offene und vielstimmige Diskussion über die so dringend anstehenden rechtsstaatlichen Fragen anzustoßen. Auch in diesem Jahr danken wir Eva Berié für das akribische Lektorat. Für die redaktionelle Unterstützung bedanken wir uns zudem bei Florian Nustede.
Entscheidend zu diesem Projekt beitragen können auch Sie, liebe Leser*innen: Wir laden wieder dazu ein, Hinweise auf Verfahren oder Entscheidungen, die eine kritische Beleuchtung verdienen, an recht_gegen_rechts@posteo.de zu schicken. Vielen Dank!
Die Herausgeber*innen
Zur Notwendigkeit einer wehrhaften Justiz
von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Schon einmal rollte eine Welle rassistischer, flüchtlingsfeindlicher Gewalt durch die Bundesrepublik, schon einmal wurde die fremdenfeindliche Haltung zur Asyldebatte in Teilen der Bevölkerung unübersehbar. Es waren die 1990er Jahre, die Akzeptanz rechtsradikaler Argumente stieg sprunghaft an bis hin zum Applaus bei Brandanschlägen, Hetzjagden und anderer hassgesteuerter Gewalt. Ich habe den Verlauf der Debatte sehr lebhaft in Erinnerung, weil ich damals Bundesjustizministerin war.
Es gab und gibt wohl kaum ein Thema, das sich so leicht instrumentalisieren lässt wie der Umgang mit Geflüchteten, und das so gezielt genutzt wird, um Ressentiments gegen Fremde zu schüren. Zunächst sind es die Worte: Es beginnt mit dem Schüren von Angst vor den und dem Fremden, vor dem Unbekannten, der als Bedrohung dargestellt wird. Die »Fremden« müssen dazu gar nicht physisch »da« sein, um als Gefährdung unseres Wohlstands und als Sündenböcke für soziale Schieflagen in Deutschland benannt zu werden. Es geht weiter mit dem Ruf nach Maßnahmen gegen die behaupteten Bedrohungen, mit zunehmender Aggressivität, mit sprachlicher Radikalisierung und Vergiftung des politischen Klimas.
Und es endet in Gewalt, wenn die zunehmend Aufgeputschten und Radikalisierten dann zur Tat schreiten. So war es, als zum Beispiel in Rostock-Lichtenhagen 1992 ein rechtsradikaler Mob die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Ausländerwohnheim mit Steinen und Brandsätzen angriff – und die »braven« Bürger auf der Wiese vor den Häusern standen und den Tätern auch noch Beifall klatschten. In Eberswalde, in Hoyerswerda, in Mölln, in Hünxe, in Magdeburg, in Solingen oder in Guben: Aus Worten waren Taten geworden. Es dauerte lange, bis diese angeblich zusammenhanglosen Einzeltaten als gesamtgesellschaftliche Gefährdung ernst genommen wurden.
In den vergangenen Jahren erlebten wir Ähnliches wieder: Seit 2015 bedienen islamfeindliche Zusammenschlüsse wie Pegida, neonazistische Organisationen, vernetzte Rechtsradikale, bekannte Rechtsextremisten innerhalb wie außerhalb der AfD mit fremdenfeindlicher Rhetorik die gleichen Ressentiments und finden Unterstützung, strafbewehrte Übergriffe werden häufig immer noch als Einzeltaten verharmlost. Die Bewertung des Münchner Anschlags auf das Olympia-Einkaufszentrum 2016 mit neun Toten als rassistisch und rechtsextremistisch motivierte Tat hat drei Jahre gedauert (siehe den Beitrag von Matthias Quent im Report 2020, S. 287–294).
Es sind meistens die gleichen Parolen, die gleichen Scheinargumente, das gleiche Schüren von Ängsten, das gleiche Aufbauen von Bedrohungsszenarien. Das Narrativ ist dasselbe: Wieder stehen »die Fremden« vor unseren Türen, bedrohen unsere Sicherheit, unseren Wohlstand, unser Volk. Und wieder schien die Angstmache zu verfangen, weil – ähnlich wie in den 1990er Jahren – weite Teile der Gesellschaft verunsichert waren und heute noch sind.
Die Asyldebatte traf Anfang der 1990er Jahre auf eine durch die aktuelle Lage (Mauerfall, Zusammenbruch des Ostblocks, wirtschaftliche und soziale Probleme in Ostdeutschland) verunsicherte Bevölkerung, die dies als Ventil für ihre Wut nutzte. Darauf bauten die rechtsradikalen Demagogen auf und sahen die Zeit für den ersehnten Umsturz des so verhassten »Systems« gekommen. 2015 traf die Flüchtlingsdebatte auf eine Gesellschaft, in der sich viele Menschen in Deutschland, unter anderem durch eine mangelnde Abstimmung der Flüchtlingspolitik in der Europäischen Union, überfordert fühlten. Es gelang rechten und rechtsextremen Kräften, diese Verunsicherung auszunutzen und sogar noch zu schüren. Und auch hier brach die Gewalt sich Bahn, und aus Worten wurden Taten. Im Jahr 2015 stieg die Zahl der Angriffe auf Asyl- und Flüchtlingsunterkünfte von 201 im Vorjahr auf 1051.
Der rechte Terror hat seit den 1990er Jahren keine Pause gemacht. Wir mussten eine »Nationale Bewegung« in Brandenburg erleben, einen deutschlandweit mordenden »Nationalsozialistischen Untergrund«, eine »Kameradschaft Freikorps« in Brandenburg. Und die Serie rechtsterroristischer Anschläge ebbte auch nicht mit der Zahl der Geflüchteten ab: Die Täter in München 2016, in Kassel und in Halle 2019 und in Hanau 2020 hatten alle einen rechtsextremen Hintergrund. Es gibt ernstzunehmende Stimmen, die in den hassmotivierten Angriffen auf Geflüchtete auch einen lange vorbereiteten Kampf rechtsradikaler politischer Kreise gegen das demokratische System sehen. Generalbundesanwalt Peter Frank hat zu Recht kürzlich in einem Interview darauf hingewiesen, dass vom Rechtsextremismus die größte Bedrohung für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung ausgeht. Der Rechtsextremismus habe in den letzten Jahren eine viel breitere ideologische Grundlage erfahren, von der klassischen NS-Ideologie über Verschwörungsmythen bis hin zu den »Reichsbürgern«. Manchmal kommt es einem vor wie der Kampf gegen die Hydra: Wo ein Kopf abgeschlagen wird, wachsen unmittelbar zwei neue nach. Und vor allem: Die Möglichkeiten der Rechtsradikalen, ihre Botschaften zu transportieren, um die Spirale aus Worten und Taten in Gang zu halten, sind mit den Instrumenten moderner Kommunikation exponentiell gestiegen.
Die Aufgabe, vor der der Rechtsstaat steht, ist riesig. Wir müssen alles tun, damit die staatlichen Organe ihr gewachsen sind. Die Aufklärung der Morde des »NSU«, die auf blanker Menschenfeindlichkeit, auf zielgerichtetem und unreflektiertem Hass auf Menschen fremder Abstammung beruhten, überforderte die Sicherheitsbehörden offensichtlich in Analyse und Motivermittlung, und eine Reihe von Fehleinschätzungen verzögerte die Aufklärung (siehe den Beitrag von Antonia von der Behrens im Report 2020, S. 271–279). Auch die xenophob motivierten Morde im Münchner Olympia-Einkaufszentrum passten für die Ermittler zunächst nicht in hergebrachte Erklärungsmuster. Und der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der wegen seiner humanitären Flüchtlingspolitik angefeindet wurde, zeigte ein weiteres Mal die Verrohung der rechtsradikalen Szene (siehe den Beitrag von Martín Steinhagen in diesem Report, S. 189ff.). Das sind große Herausforderungen.
Aber der demokratisch verfasste Rechtsstaat ist nicht wehrlos gegen die rechte Bedrohung – ganz im Gegenteil. Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder verfügen über eine Vielzahl von Befugnissen, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu beobachten, lange bevor aus Strömungen und Strukturen Taten entstehen. Zu oft ist das in der Vergangenheit nicht genutzt worden, zu oft hat sich der Verfassungsschutz wie im Fall der Terrorgruppe »NSU« zu wenig gegen rechtsextreme Tendenzen positioniert. Erfreulicherweise hat sich aber sowohl personell als auch inhaltlich der Verfassungsschutz auf Bundesebene inzwischen wieder so aufgestellt, dass Rechtsextremismus prioritär in den Fokus der Beobachtung gerückt ist.
Die Einstufungen des »Flügels« der AfD als Beobachtungsfall und als »erwiesen extremistische Bestrebung« im Jahr 2020 sind Beleg dafür, dass in den Sicherheitsbehörden der rechtsextreme Phänomenbereich ernst genommen wird. Auch die 2021 erfolgte, wenn auch durchaus fragwürdig kommunizierte Einstufung der gesamten AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall zeigt, dass sich demokratische Strukturen gegenüber der Verbreitung völkischer und extremistischer Ideologien wehrhaft zeigen.
Dennoch müssen die Sicherheitsbehörden und verschiedenen Expertenzentren beim Erkennen von Strukturen, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten, besser werden. Die Zunahme anitiislamischer und antisemitischer Vorfälle gibt zu großer Sorge Anlass. Sicherheitsbehörden müssen sich kompetent und eindeutig gegen diese Gefahren positionieren, sich um die berechtigten Belange der Betroffenen kümmern und notwendige strukturelle Verbesserungen in Angriff nehmen. Frühwarnsysteme müssen funktionieren und Ausstiegsprogramme zur Deradikalisierung und Aufklärungsprogramme zur besseren Prävention beitragen. Zur Unterstützung der Opfer rechter Gewalt gehört auch die finanzielle Sicherstellung der Arbeit von zivilen Opferberatungsstellen. Zur Prävention gehört genauso die Aufklärung über Rechtsextremismus, Antisemitismus und Islamophobie in allen Bildungseinrichtungen. Dazu bedarf es klarer Strukturen.
Ein ganz helles Licht sollte auch auf die eigenen Probleme der Sicherheitsbehörden mit dem Rechtsextremismus geworfen werden – ob Messenger-Chatgruppen, über die rechtsradikale Inhalte verteilt werden, oder rechtsextreme Verdachtsfälle in der Polizei. Aus einem Lagebericht zu Rechtsextremismus-Verdachtsfällen bei Polizei, Zoll und Geheimdiensten, der im Herbst 2020 vorgestellt wurde, ging hervor, dass jeder dritte Verdachtsfall mehr als eine Person betrifft. Auch wenn immer wieder beteuert wird, dass es keine rechtsextremen Netzwerke in den Sicherheitsbehörden gibt: Die Möglichkeiten zur Vernetzung waren noch nie so einfach und allgegenwärtig. Eine Untersuchung kann gerade pauschalen Bewertungen entgegenwirken. Ein konsequentes Vorgehen gegen Verdachtsfälle muss oberste Priorität haben, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in staatliche Institutionen wieder zu stärken.
Nur wer aufmerksam die Worte hört, kann auch die Taten verhindern.
Warum Rechtsextreme kein Anrecht auf Sendezeiten im Rundfunk haben
von Georg Restle
Es wirkte wie reine Routine, als der Landtag von Baden-Württemberg am 23. Juli 2020 seine Vertreter:innen in den Rundfunkrat des SWR entsandte – darunter, wie selbstverständlich, auch ein Abgeordneter der AfD. Allein über den Frauenanteil wurde noch diskutiert, nicht aber darüber, ob ein Abgeordneter einer im Kern rechtsextremen Partei, deren Funktionär:innen sich für die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einsetzen, einen Sitz im Rundfunkrat beanspruchen darf. Was in vielen Aufsichtsgremien landesweit mittlerweile üblich ist, wirft ganz grundsätzliche Fragen auf: Wie viel Extremismus darf’s denn sein im öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Oder muss das sogar sein: ein Vertretungsrecht für Rechtsextremisten der AfD, weil es die Verfassung und die Rundfunkordnung so verlangen? Zugegeben, keine ganz neue Frage, aber eine, die 2021 neue Aktualität erlangen wird angesichts einer Bundestagswahl, zu der mit der AfD eine Partei antritt, die jetzt in weiten Teilen vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft wird. Müssen ARD und ZDF die Partei bei Wahlsendungen dennoch gleichberechtigt berücksichtigen? Begründet der Grundsatz der Vielfaltsicherung ein Vertretungsrecht in Aufsichtsgremien oder ein Recht auf repräsentative Teilnahme an Talkshows oder anderen Formaten? Muss die AfD im Gesamtprogramm »angemessen zu Wort kommen«, weil sie im Bundestag und in vielen Landtagen die zahlenmäßig größte Oppositionspartei ist? Oder gibt es Grenzen der Ausgewogenheit? Gilt der Grundsatz der wehrhaften oder streitbaren Demokratie auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Und wie verhält es sich mit der Programmautonomie der Rundfunkanstalten?
Für Redaktionen und Programmverantwortliche im öffentlich-rechtlichen Rundfunk stellt sich diese Frage immer wieder aufs Neue: Gibt es eine Pflicht zum Proporz für die in den Parlamenten vertretenen Parteien, die sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dem Medienstaatsvertrag oder den Landesrundfunkgesetzen zwingend ergibt? Und gilt diese Pflicht auch für rechtsextreme Parteien und deren Vertreter:innen? In Politik und Medien wurde darüber in den letzten Jahren kontrovers diskutiert. Was daran erstaunt: Der rechtliche Rahmen spielte dabei oft eine untergeordnete Rolle. Die Debatte erschöpfte sich meist in Verweisen auf die Pflicht zur Meinungsvielfalt und einen angeblichen Gleichbehandlungsgrundsatz, der allen Parteien – auch der AfD – einen Anspruch zubillige, in den Gremien vertreten zu sein und im Programm angemessen zu Wort zu kommen. Eine Argumentation, die dem Wesen der Rundfunkfreiheit, ihren historischen Wurzeln und ihrer Funktion im Gesamtgefüge der verfassungsrechtlichen Werteordnung wohl kaum gerecht werden dürfte.
Schaut man auf das jüngste Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts von 2014, scheint die Antwort auf den ersten Blick klar. In Fortschreibung seiner Rechtsprechung zur Vielfaltsicherung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk garantiert Karlsruhe einen weiten Rahmen für alle relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen in Aufsichtsgremien und im Gesamtprogramm. Wörtlich heißt es: »Die Aufsichtsgremien sind vielmehr Sachwalter des Interesses der Allgemeinheit. Sie sollen die für die Programmgestaltung maßgeblichen Personen und Gremien darauf kontrollieren, dass alle bedeutsamen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Kräfte, deren Vielfalt durch ein gruppenplural zusammengesetztes Gremium auch bei ausgewogener Besetzung nie vollständig oder repräsentativ abgebildet werden kann, im Gesamtprogramm angemessen zu Wort kommen können.«
Die Frage lautet: Wo setzt das Bundesverfassungsgericht die Grenzen der Vielfalt? Bei präziser Betrachtung fallen zwei Einschränkungen ins Auge. Zunächst stellt das Urteil klar, dass eine vollständige oder repräsentative Abbildung aller relevanten »Kräfte« in den Aufsichtsgremien nicht verpflichtend sein kann. Damit überlässt es dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, ob und in welchem Ausmaß alle in den Parlamenten vertretenen Parteien ein Vertretungsrecht in den Gremien beanspruchen können und ob deren Vertreter:innen als »Sachwalter des Interesses der Allgemeinheit« anzusehen sind. Auch wenn sich diese Einschränkung nicht direkt aufs Programm bezieht, so dürfte sie doch im Grundsatz auch hier gelten. Dies erschließt sich schon aus der zweiten Einschränkung, wonach nur »bedeutsame« Kräfte im Gesamtprogramm angemessen zu Wort kommen können. Dass es sich hier um keine rein quantitative Betrachtung handeln dürfte, ergibt sich dabei wohl schon aus dem Wesen der Rundfunkfreiheit und seiner historischen Begründung, wonach der öffentlich-rechtliche Rundfunk als unabhängiges Bollwerk gegen alle Versuchungen etabliert wurde, in den staatlichen Totalitarismus der NS-Zeit zurückzugleiten. Auf diese Erfahrung stützen sich bis heute die wichtigsten Pfeiler der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Rundfunkordnung: die Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, seine Unabhängigkeit und Orientierung an den zentralen Grundwerten der Verfassung.
Rechtsextreme Gruppierungen oder Parteien, die einen homogenen völkischen Nationalismus vertreten und wesentlichen Grundrechten wie der Meinungs- und Rundfunkfreiheit, dem Diskriminierungsverbot oder der Religionsfreiheit offen feindlich gegenüberstehen, dürften demgemäß kaum als Sachwalter des Allgemeininteresses oder »bedeutsam« im Sinne einer Meinungsvielfalt anzusehen sein, die von ihnen selbst bekämpft wird. Immerhin handelt es sich bei der AfD um eine Partei, die sich die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks immer wieder auf die Fahnen geschrieben hat, deren Jugendverband und deren Landesverbände in Ostdeutschland als rechtsextremistische Verdachtsfälle gelten und deren vom Verfassungsschutz beobachteter »Flügel« faktisch nach wie vor einen maßgeblichen Einfluss auf die Gesamtpartei hat. Dies alles macht deutlich, dass die AfD hier vor allem ein Ziel im Auge hat: Ihren Einfluss in den Gremien und im Programm zu missbrauchen, um unter anderem auch die auf der Rundfunkfreiheit fußende Rundfunkordnung außer Kraft zu setzen, und mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk einen mächtigen Schutzwall dieser Demokratie aus dem Weg zu räumen. Kaum jemand hat dies klarer formuliert als der »neurechte« Vordenker der AfD, Götz Kubitschek, der einer »staatsfinanzierten Umerzählung des normalen Lebens«, einer »großen Beutegemeinschaft aus Parteien, ›Zivilgesellschaft‹, allem Öffentlichrechtlichen« den Kampf angesagt hat. Maßgebliche Funktionäre der AfD wie der stellvertretende Bundessprecher Stephan Brandner lassen keinen Zweifel daran, was das bedeutet. Demnach ist es das erklärte Ziel der AfD, »kontinuierlich« daran zu arbeiten, »das zwangsfinanzierte Staatsfernsehen abzuschaffen«.
Allein die formale Begründung, dass die AfD im Bundestag und einigen Landtagen die zahlenmäßig größte Oppositionsfraktion stellt, dürfte keinesfalls ausreichen, um daraus einen verfassungsrechtlich begründeten Rechtsanspruch abzuleiten, regelmäßig im Programm zu Wort zu kommen oder nach Proporzregeln in Gremien oder Talkshows vertreten zu sein – es sei denn, man möchte den Feinden dieser freiheitlich verfassten Demokratie ein Werkzeug zu deren Vernichtung überreichen.
Man mag es auch als Ausdruck des vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundgedankens einer wehrhaften oder streitbaren Demokratie ansehen, die den Feinden der Freiheit nicht alle Freiheiten gleichermaßen zugesteht. Und selbst wenn man einer solch robusten Idee von Demokratie aus rechtsstaatlichen Erwägungen skeptisch gegenübersteht, so wäre es in diesem Fall doch ein geradezu verhältnismäßiger Eingriff, der einer weitgehend verfassungsfeindlichen Partei diesseits eines Parteienverbots auf so geeignete wie erforderliche Weise ihre Grenzen aufzeigt. In diesem Sinne definiert Verfassungsfeindlichkeit die Grenze der Ausgewogenheit und der Vielfaltsicherung. So jedenfalls sind wohl auch die Regelungen einzelner Rundfunkgesetze zu verstehen, die die Bedeutung der grundgesetzlichen Werteordnung ins Zentrum ihres Selbstverständnisses rücken – und damit den im Medienstaatsvertrag festgelegten Programmgrundsätzen Ausdruck geben, wonach der öffentlich-rechtliche Rundfunk »die Würde des Menschen sowie die sittlichen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen anderer zu achten« und »auf ein diskriminierungsfreies Miteinander« hinzuwirken habe.
So wird in Paragraph 5 des WDR-Gesetzes der Vielfaltsicherung zwar eine ebenso große Bedeutung zugemessen wie in den Rundfunkurteilen des Bundesverfassungsgerichts, gleichzeitig werden ihr aber auch hier klare Grenzen gesetzt. Demnach gehört es zu den Programmgrundsätzen des WDR, die »demokratischen Freiheiten« zu »verteidigen«. Was hier geradezu als demokratischer Kampfauftrag formuliert wird, kann nur schwerlich mit einem Anspruch auf proportionale Präsenz für die Feinde ebendieser demokratischen Freiheiten in Einklang gebracht werden. Ähnliche Formulierungen finden sich im Bayerischen Rundfunkgesetz, wonach die »in der Verfassung festgelegten Grundrechte und Grundpflichten« als »Leitlinien der Programmgestaltung« gelten und »Sendungen verboten« sind, »die Vorurteile gegen Einzelne oder Gruppen wegen ihrer Rasse, ihres Volkstums, ihrer Religion oder Weltanschauung verursachen oder zu deren Herabsetzung Anlass geben können«. Auch diese Grundsätze dürften mit dem offenen Rassismus, der Islamfeindlichkeit oder der antidemokratischen Grundgesinnung weiter Teile der AfD kaum vereinbar sein. Und selbst wenn einzelne Vertreter:innen der Partei öffentlich als »bürgerlich« oder »konservativ« auftreten mögen, so dürfte doch die Gesamtbetrachtung der Partei mit ihren zahlreichen rechtsextremistischen Gliederungen schwerer ins Gewicht fallen als die offensichtlich wohlkalkulierte Strategie einer so bezeichneten »Selbstverharmlosung«, die die verfassungsfeindlichen Ziele der AfD nur zu kaschieren versucht.
Wo ein Rechtsanspruch auf Programmpräsenz aus dem Grundsatz der Vielfaltsicherung für die AfD also nicht begründet werden kann, bleibt es der Programmautonomie der Sender und der Redaktionen überlassen, wie sie mit den Vertreter:innen der AfD im Programm umgehen wollen. Diesen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2007 zuletzt deutlich hervorgehoben. Demnach steht »die Entscheidung über die zur Erfüllung des Funktionsauftrags als nötig angesehenen Inhalte und Formen des Programms (…) den Rundfunkanstalten zu«.
Die inhaltlichen Grenzen dieser Programmautonomie sind in den bereits zitierten Programmgrundsätzen festgelegt. Die darin beschriebene Verfassungsorientierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks setzt auch hier die Grenze der Ausgewogenheit dort, wo Funktionär:innen von Parteien das Wort überlassen wird, die die demokratischen Freiheiten attackieren oder rassistische Vorurteile verbreiten.
So klar der Medienstaatsvertrag und die Rundfunkgesetze die Grenzen formulieren, so verunsichert scheinen viele Programmverantwortliche mit der AfD umzugehen. Dabei geht es nicht darum, die Partei totzuschweigen oder sich nicht mit ihr auseinanderzusetzen. Einem kritischen Umgang mit der AfD steht nichts im Wege – im Gegenteil: Er ist angesichts der offenkundigen Gefahr, die diese Partei für das demokratische Gemeinwesen darstellt, sogar dringend geboten. Allen Versuchen von Vertreter:innen der Partei, deren völkisch-nationalistische und damit zutiefst rassistische Ideologie in die Mitte der Gesellschaft zu tragen, darf sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk jedoch nicht zur Verfügung stellen. Dafür hat er gute verfassungsrechtliche Argumente – und hoffentlich auch das nötige journalistische Selbstbewusstsein, um den Feinden von Freiheit und Demokratie entschlossen entgegenzutreten.
Verfahren: Landtag von Baden-Württemberg, 41. Sitzung des Ständigen Ausschusses vom 30. April 2020: Wahl des 6. Rundfunkrats des Südwestrundfunks (SWR); Bundesverfassungsgericht, Urteil des Ersten Senats vom 25. März 2014, BVerfGE 136, 9ff.; Bundesverfassungsgericht, Urteil des Ersten Senats vom 11. September 2007, BVerfGE 119, 181ff.
Literatur: Andreas Fischer-Lescano/Georg Restle, Kein Anspruch auf Sendezeit: Warum die Rundfunkfreiheit kein Einlassticket für rechte Parteien ist, Verfassungsblog vom 6. September 2021, abrufbar unter www.verfassungsblog.de; ARD-Magazin MONITOR vom 19. September 2019; Stephan Brandner, 09.1.2018, abrufbar unter www.brandner-im-bundestag.de/berlin/brandner-afd-zwangsfinanziertes-staatsfernsehen-abschaffen-statt-rundfunkgebuehren-erhoehen/page/31.htm; Götz Kubitschek, Sachsen: Zerrst Du noch oder fragst Du schon, Sezession vom 9.2.2021.