Silke Antelmann
Mein Pampaleben
Ohne dich ist alles DooRf
Band 1
FISCHER E-Books
Silke Antelmann wurde 1972 in Brühl geboren, ging auf eine Grundschule, klaute einen Apfel. Sie mochte Brausebonbons, war verliebt in Jens und David und besprach das mit ihrer Freundin Daniela. Nach dem Abi ging sie ein halbes Jahr nach Irland und studierte im Anschluss Grafikdesign. Irgendwann fragte sie sich: Was ist denn mit Schreiben? Seitdem schreibt sie Bücher für Kinder und Jugendliche und arbeitet als freiberufliche Grafikerin in Düsseldorf.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
Die dreizehnjährige Fiona muss aufs Land ziehen, in die Pampa! Nur weil ihre Mutter sich in den Wollmützen-Bio-Hipster Phil verknallt hat und jetzt im Gemüsebeet »entschleunigen« will. Das heißt für Fiona: Keine Demos mehr mit ihrer besten Freundin Charly! Soll sie Charly etwa nur noch in den Ferien sehen?! Katastrophe! Protest! Auf Instagram posten die beiden von nun an Selfies von Fiona vor öden Dorfstraßen und Misthaufen. Doch während Charly in der Stadt eine Free-Fiona-Aktion organisiert, entdeckt Fiona auf dem Dorf neue Freunde und beginnt die Sommertage am See zu genießen. Als Charlys Demo in der Pampa ankommt, schlägt die Stunde der Wahrheit. Muss Fiona sich entscheiden?
Der zweite Band, Mein Pampaleben – Eine Pfütze macht noch keinen Regenbogen, erscheint im Herbst 2022.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2022 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstrasse 114, D-60385 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Maria Seidel, www.atelier-seidel.de
Coverfotos: ©suschaa/Photocase; iStockphoto/lowkick; ayutaka
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0471-4
Gleich würde mir Mama etwas Schlimmes sagen. Das war immer so, wenn sie fragte: »Fiona? Können wir kurz reden?« Als ich den Satz zum ersten Mal gehört hatte, war Fluffi tot. Mein Hase. Eingeschläfert bei der Tierärztin. Beim zweiten Mal hatte ich erfahren, dass meine Eltern sich scheiden ließen. Beim dritten Mal hatte mir Mama ihren neuen Freund vorgestellt. Jetzt hörte ich die Frage zum vierten Mal, und wieder konnte sie nicht harmlos sein. Bei harmlosen Fragen sagte meine Mutter immer sofort, worum es ging. »Kommst du essen?« »Machst du das Licht aus?« »Bringst du den Müll runter?« Sauer war sie auch nicht. Wenn ich etwas gemacht hatte, worüber sie sich ärgerte, rief sie: »Komm bitte mal her!« Das alles war in Ordnung. »Fiona? Können wir kurz reden?« hingegen war ganz mies.
»Setz dich doch!« Meine Mutter hockte am Küchentisch und deutete auf den Stuhl neben ihr. Ich blieb stehen, lehnte mich gegen den Kühlschrank und sah Mama dabei zu, wie sie sich anstrengte. Sie lächelte, strich sich die Haare aus dem Gesicht und gab sich alle Mühe, zuversichtlich auszusehen. Sätze wie »Ich weiß, das ist alles nicht so einfach …« und »Bestimmt wird es viel besser, als du denkst!« klatschten an meine Ohren wie Wellen. Oder war es Brandung? Gab es da einen Unterschied? Ich musste Charly fragen. Natürlich könnten wir bei Google nachsehen. Aber erst, nachdem wir laut nachgedacht hatten, was es mit den Wellen und der Brandung auf sich hat. Ich würde vorschlagen, dass in der Brandung Feuerquallen schwammen, weil sie es dort schön warm hatten. Charly würde nicht lachen oder »Versteh ich nicht!« sagen. Ihre Antwort wäre, dass sowohl Feuerqualle als auch Brandung super Namen für eine Band waren. Etwas brummte. Es war der Kühlschrank, an dem ich immer noch lehnte. Mama redete inzwischen von Hühnern.
»Auch ein neuer Hase wäre kein Problem!«
Sie sah mich aufmunternd an. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte keinen zweiten Fluffi. Mama nickte und sagte: »Du entscheidest.« Sie sah gleichzeitig glücklich und unglücklich aus, und ich überlegte, ob der Unterschied zwischen Wellen und Brandung vielleicht darin bestand, dass eine Welle glücklich und die Brandung unglücklich war. Aber das spielte keine Rolle. Wir zogen aufs Land. Da gab es weder Brandung noch Wellen.
»Ich muss gehen«, sagte ich.
»Bist du bei Charly?«
Ich antwortete nicht. Wo sollte ich sonst sein?
»Land? Was für ein Land?«, fragte Charly.
»Nicht EIN Land! AUFS Land!«, erwiderte ich.
»Auf was für ein Land denn?«
Die Sache war klar: Charly wollte nicht kapieren, was ich ihr seit zwei Minuten erklärte. Das war ungewöhnlich. Charly war schlau und verstand mich immer. Meistens sogar ohne Worte. Doch wenn sie etwas hörte, was ihr nicht in den Kram passte, legte ihr Gehirn einen Hebel um und schaltete auf doof.
»Spanien, oder was?«, rief sie gerade.
Ich sprang auf. Es knallte, als der Stuhl umkippte, auf dem ich gesessen hatte. Er war alt und bestand aus dunklem, verschnörkeltem Holz. Charly hockte auf ihm, wenn sie ihre Hausaufgaben machte, etwas plante oder laut nachdachte. Ich lag meistens auf ihrem Bett oder saß in dem riesigen Sessel, der vor ihrem Fenster stand und von dem man bis zu den Nachbargärten blicken konnte. Doch heute war es Charly, die auf dem Bett lag. Sie hatte das Kinn in die Hände gestützt und wippte mit ihren Füßen auf und ab. Ich hatte mich auf den schweren Holzstuhl gesetzt und meine Finger fest um seine Armlehnen geschlossen. Wenn man seiner Freundin eine schlimme Nachricht überbrachte, war es gut, sich an etwas festzuhalten. Aber nun konnte ich nicht mehr still sitzen. Ich lief in Charlys Zimmer umher und warf meine Hände in die Luft.
»Kapier das endlich: Meine Mutter will, dass ich mit ihr und ihrem Freund AUFS LAND ziehe! WEG aus Köln! In die PAMPA! Dahin, wo sie immer TRECKER FAHREN!«
»Trecker wäre ein guter Name für eine Band«, murmelte Charly, doch sie blinzelte bereits heftig; ein sicheres Zeichen, dass ihr Gehirn wieder auf »schlau« umschaltete. Sie gab ein Geräusch von sich, das wie »urgh« klang und riss die Augen so weit auf, dass sie an zwei Spiegeleier mit braunem Dotter erinnerten. Schließlich rief sie: »DU MUSST MIT DEINER MUTTER UND IHREM FREUND AUFS LAND ZIEHEN?«
»Jetzt hast du’s geschnallt.« Ich stellte den umgekippten Stuhl wieder hin und ließ mich erschöpft auf die Sitzfläche fallen.
»Ja, aber …«, stammelte Charly. »Was sollst du denn auf dem Land? Da gibt’s doch gar keine Demos!«
Dass Charly sofort an Demos dachte, überraschte mich nicht. Seit sie an ihrer ersten Aktion gegen den Klimawandel teilgenommen hatte, waren Demos für sie das Größte. Sie hatte den Spruch »Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt« auf ein T-Shirt (für Sommerdemos) und auf ein Sweatshirt (für Winterdemos) geschrieben. An unserer Schule machte sie beim »DOT« mit, dem Demonstrations-Organisations-Team. Und von ihrem Taschengeld hatte sie sich ein Klemmbrett gekauft. Wenn sie damit auf einer Demo herumlief, kapierte wirklich jeder, dass sie nicht zum Spaß dort war: Sie war diejenige mit den INFOS! Ich wusste also ganz genau, wie sehr Charly Demos mochte. Trotzdem gab es mir einen Stich, dass sie nicht zuallererst das Gleiche gedacht hatte wie ich: Wir würden uns nicht mehr sehen. Höchstens in den Ferien. Da fing Charly an zu weinen, und mein Ärger verflog. Ich hakte trotzdem nach. Zur Sicherheit.
»Heulst du wegen der Demos?«
»Quatsch! Wegen dir!«, schluchzte sie. »Das mit den Demos war doch nur ein Abwehrmechanismus und Übersprungsgedanke!«
Jetzt musste ich auch heulen. Weil niemand außer Charly Wörter wie »Abwehrmechanismus« und »Übersprungsgedanke« sagen konnte, ohne dass es peinlich war. Natürlich dachte sie dasselbe wie ich. Wir dachten immer dasselbe! Und ich heulte, weil ich nicht wusste, wie das gehen sollte, ohne Charly. Wir waren nonstop zusammen! Wenn Charly doch mal woanders war, fühlte es sich trotzdem so an, als ob sie neben mir saß. Ich war sicher, dass es daran lag, dass Charlys Aura bei mir blieb. Die Aura war laut Wikipedia die »Ausstrahlung einer Person« oder »der Name eines finnischen Käses«. Wahrscheinlich war es ein Käse, dessen Gestank noch lange bei einem blieb, genau wie die Aura. Nur dass Charlys Aura nicht stank. Aber bestimmt würde sich sogar Charlys Ausstrahlung weigern, mit mir aufs Land zu ziehen, und dann wäre ich dort vollkommen alleine. Vielleicht konnte ich ja MEINE Aura überreden, bei Charly zu bleiben. Das würde meiner Mutter und ihrem blöden Freund recht geschehen, dass sie mit einer auralosen Fiona auf ihr beknacktes Land ziehen mussten. Viel Spaß! Und weil ich das alles nicht in Worte fassen konnte, weil die Gedanken gleichzeitig durch meinen Kopf strömten, sich überlagerten und verknoteten, sagte ich nur: »Okay.« Auch das verstand Charly.
»Uns fällt schon etwas ein!«, war sie sicher.
Manifest stand in Großbuchstaben ganz oben auf dem Blatt, das Charly aus einem alten Schulheft gerissen hatte. »Ein Manifest ist eine öffentliche Erklärung von Zielen und Absichten, oftmals politischer Natur.« Diesmal hatten wir direkt im Internet nachgesehen.
HIERMIT ERKLÄREN WIR ÖFFENTLICH DAS ZIEL UND DIE ABSICHT, DASS FIONA ROTH, GEBOREN AM 9. MÄRZ, NICHT AUFS LAND ZIEHEN WIRD. SIE WIRD IN KÖLN BLEIBEN. WOHNEN KANN SIE BEI CHARLY KAMINSKI, GEBOREN AM 13. MAI.
WIRD FIONA (VOLLSTÄNDIGER NAME SIEHE WEITER OBEN) TROTZDEM GEGEN IHREN WILLEN IN DIE PAMPA VERSCHLEPPT, WERDEN CHARLY (VOLLSTÄNDIGER NAME SIEHE WEITER OBEN) UND IHRE ORGANISATION DIE SOFORTIGE BEFREIUNG VON FIONA BEWIRKEN.
Samstag, 12. Juni,
gezeichnet Charly Kaminski und Fiona Roth
Das war Plan A. Wer genau mit »die Organisation« gemeint war, würden wir gucken, wenn wir zu Plan B übergehen mussten.
»Was ist Plan B?«, fragte ich.
Charly saugte Spucke durch ihre Zahnspange.
»Ist doch egal. Den brauchen wir auf keinen Fall!«
Ihre Stimme klang so, als sei sie sich nicht sicher.
»Das klappt schon«, sagte sie schnell. »Deine Mutter ist doch voll verknallt in diesen Phil. Wahrscheinlich sind die sogar froh, wenn du nicht mitkommst.«
Ich schluckte. Die Vorstellung, dass meine Mutter mich loswerden wollte, gefiel mir wiederum auch nicht. Ich mochte meine Mutter. Charly sah mich prüfend an.
»Ja, das ist schwer«, sagte sie schließlich. »Aber es ist das kleinere Übel, oder nicht?« Sie hatte ihren schlauen Blick aufgesetzt. Dabei zog sie die Augenbrauen ein bisschen hoch. Und irgendetwas machte sie mit dem Mund, aber das war schwer zu erkennen. Es sah aus, als wäre sie kurz davor »ü« zu sagen. Ich hatte das heimlich vor dem Spiegel geübt. Bei mir funktionierte das nicht.
»Ja, das ist das kleinere Übel«, stimmte ich zu. Charly nickte verständnisvoll.
»Wir sollten noch aufschreiben, wie oft deine Mutter dich sehen kann. Damit das geregelt ist. Du weißt schon …, wie mit deinem Vater.«
»Ja, das ist gut.«
Charly schrieb Besuchsregelung in eine neue Zeile.
»Vielleicht jedes zweite Wochenende und die Hälfte der Ferien?«, schlug sie vor.
»Das ist echt wenig!«
»Aber jedes Wochenende wäre auch blöd. Dann können wir nichts zusammen machen. Du fährst ja schon einmal im Monat zu deinem Vater nach Frankfurt.«
Ich nickte. »Okay, zweimal im Monat. Und in den Ferien erst bei meiner Mutter, dann bei meinem Vater«, sagte ich fest.
»Aber jetzt in den Ferien solltest du besser ganz hierbleiben. Du weißt schon, zum Eingewöhnen. Sonst schaffen wir das alles nicht.«
Ich nickte noch einmal und merkte, dass ich anfing, mich auf mein neues Leben zu freuen. In zwei Wochen begannen die Sommerferien, und Charly und ich wollten mindestens jeden zweiten Tag ins Freibad. Außerdem hatten wir uns in der Kletterhalle angemeldet und würden vielleicht an so einem Workshop teilnehmen, bei dem man lernte, Videos für YouTube zu machen.
»Wir könnten meine Mutter auf dem Land besuchen und da zelten«, schlug ich vor.
»Super Idee!« Charly klatschte in die Hände. »Das wird gut!«
Wir entschieden, dass ich das Gartenzimmer bekommen würde. Der Raum wurde kaum von Charlys Eltern benutzt. Es standen nur ein paar Regale und ein Gästesofa herum, das konnte man alles leicht in den Keller räumen. Wir machten eine Zeichnung, wie wir meine Möbel aufstellen wollten. Das Bett kam in die Mitte des Raums, damit ich von dort in den Garten sehen konnte.
»Das magst du ja sehr«, sagte Charly. Ich hatte sie in diesem Moment so gerne, dass etwas Warmes in meinem Bauch angeknipst wurde. »Nur dein Schreibtisch passt nicht mehr rein«, fuhr Charly fort. Aber das machte nichts. Die Hausaufgaben würden wir zusammen in ihrem Zimmer oder am großen Tisch in der Küche machen. »Dabei trinken wir Tee, das ist super gemütlich, vor allem im Winter«, war sie sicher. Als ich ging, freute ich mich sehr auf mein neues Leben.
Das Manifest trug ich bei mir. Für Charly hatten wir im Arbeitszimmer ihrer Eltern eine Kopie gemacht, die wir beide unterschrieben.
»Das ist wichtig, damit das beglaubigt ist«, wusste Charly. »Jetzt müssen nur noch meine Eltern und deine Mutter unterschreiben, dann ist es offiziell.«
»Und wenn meine Mutter nicht will?«
»Dann dein Vater. Er ist ja erziehungsberechtigt.«
»Sonst machen wir Plan B, ja?«
»Klar! Aber den brauchen wir nicht, du wirst sehen!«
»Ach, Fiona …«, war alles, was meine Mutter sagte, als ich ihr das Manifest unter die Nase hielt. Dabei hatte ich mir große Mühe gegeben, ihr genau zu erklären, was Charly und ich vorhatten. Ich zeigte ihr sogar die Besuchsregelung und die Zeichnung, die wir von meinem neuen Zimmer gemacht hatten. Mama sollte sehen, dass unser Plan »gut durchdacht« war. Denn auf »gut Durchdachtes« fahren Erwachsene total ab.
»Ich kann vom Bett direkt in den Garten gucken!«, rief ich. »Das ist doch toll, oder?«
Mama sah mich mitleidig an und nickte. Es war kein zustimmendes Nicken, mit dem sie mir sagen wollte: »Okay, können wir so machen!« Ihr Nicken bedeutete nur, dass sie mich verstand. Unterschreiben wollte sie das Manifest trotzdem nicht.
»Du bist der wichtigste Mensch für mich«, rief sie übertrieben dramatisch. »Niemals würde ich ohne dich ein neues Leben beginnen!«
Das fand ich überwiegend mies. Aber ich war auch ein kleines bisschen erleichtert: Mama wollte mich nicht loswerden, um mit Phil in aller Ruhe zu knutschen. Charly, die immer recht behielt, hatte sich in diesem Punkt geirrt. Darüber war ich froh. Und das ergab keinen Sinn. Wie konnte ich zur selben Zeit erleichtert und wütend sein? Das ging überhaupt nicht! Genau so wenig, wie es ging, dass ich in Zukunft ohne Charly in der Pampa wohnen sollte!
ICH BRAUCHE GANZ DRINGEND DEINE HILFE! BITTE, BITTE!!!!!
So lautete die WhatsApp, die ich an Papa schrieb. Extra in Großbuchstaben und mit fünf Ausrufezeichen, damit er wusste, dass ich es ernst meinte. Kurz darauf kam seine Antwort.
Hallo, mein Schatz! Wollen wir telefonieren? Dann kannst du mir von deinen Sorgen erzählen. Du weißt ja, dass ich das mit den Kurzwaren etwas Scheinwerfer finde. Viele liebe Grüße, Papa
Eigentlich ist Papa normal. Komisch an ihm ist nur, dass er Smartphones hasst. Früher, als er noch bei Mama und mir in Köln gewohnt hat, benutzte er so ein altmodisches Handy. Zum Zuklappen! Ohne Internet! Doch als er nach Frankfurt zog, hat er sich ein Smartphone gekauft. Extra wegen mir! Damit wir uns ganz oft schreiben können. Voll lieb eigentlich. Leider schnallt Papa das mit WhatsApp nicht so richtig. Dass das kein Brief ist, bei dem man am Ende »viele liebe Grüße« schreiben muss. Oder dass »automatische Rechtschreibkorrektur« nicht bedeutet, dass alles automatisch richtig ist. Wenigstens weiß niemand, den ich kenne, wie Papa aussieht, wenn er mir eine WhatsApp schreibt: Wie ein Opa, der mit einem dicken Zeigefinger in Zeitlupe tippt. Dabei kommt nur Schwachsinn raus. Zum Beispiel, dass er »Kurzwaren etwas Scheinwerfer« findet. Normalerweise lachten Charly und ich uns über Papas Nachrichten tot. Doch normal war an meiner Situation gar nichts. Ich hatte einen Notfall! Und da versagte Papa komplett: Auch er wollte das Manifest nicht unterschreiben.
»Dann falle ich deiner Mutter ja in den Rücken, das wäre nicht fair«, sagte er, als ich ihn anrief. Und DAS ergab noch weniger Sinn!
»Nicht fair?«, rief ich. »Dass ICH in die Pampa ziehen muss, ist TAUSENDMAL unfairer!«
»Warte doch erst mal ab«, war seine bescheuerte Antwort. »Vielleicht gefällt es dir besser, als du denkst!«
Ich legte auf, ohne tschüs zu sagen, und schickte Charly eine Nachricht.
Wir brauchen ganz dringend Plan B!!!
Charlys Antwort kam nach elf Sekunden.
Kein Problem! Ich weiß jetzt, was wir machen! Plan B klappt bestimmt, du wirst sehen!
Charly und ich standen vor dem Haus und sahen dabei zu, wie die restlichen Kartons von dem riesigen Umzugswagen verschluckt wurden. Bis zuletzt hatten wir gehofft, meine Mutter umstimmen zu können. Charly war fast jeden Tag bei uns gewesen und hatte wie verrückt auf Mama eingeredet. Das gehörte zu Plan B: Meine Mutter so lange mit Infos über die Nachteile des Landlebens zermürben, bis sie einsah, wie bescheuert ihre Idee in Wirklichkeit war. Charly hatte im Internet sogar einen Artikel gefunden, in dem stand, dass Kinder auf dem Land »schulisch benachteiligt« sind. Damit versuchte sie, Mama herumzukriegen.
»Sie wollen bestimmt nicht, dass Fiona dumm wird, oder etwa doch, Frau Roth?« Charly hatte ihren schlauen Blick aufgesetzt und nannte Mama »Frau Roth«. Das machte sie sonst nie.
»Nun reicht es!«, rief meinte Mutter und setzte ihren strengen Blick auf. »Fiona wird auf eine ganz normale Schule gehen. Die ist ein bisschen weiter weg, da muss sie mit dem Bus hinfahren. Aber mit dem Bus fahrt ihr ja jetzt auch, oder etwa nicht, Charleen?«
Danach war Charly still. Nicht weil Mama streng geguckt hat, sondern weil sie »Charleen« gesagt hat. »Charleen« bedeutet immer Ärger.
»Gleich geht es los«, keuchte Mama, als sie an uns vorbeilief. In den Händen hielt sie eine Palme. Die hatte bei uns im Wohnzimmer vor dem Fenster gestanden. Schon immer. Nun wurde sie in einen Umzugswagen gestopft und aufs Land verschleppt. Garantiert überlebte sie das nicht! Was sollte eine Palme zwischen Kühen?
Einer der Umzugsmänner schloss die Ladeklappe des Lkws. Erst jetzt konnten Charly und ich lesen, was auf der Rückseite des Wagens stand: Zack-Zack-Umzüge. Normalerweise hätten wir uns über den bescheuerten Namen totgelacht, und Charly hätte gerufen: »Kein guter Name für eine Band.« Heute standen wir einfach nur da.
Mama sagte: »Ihr solltet euch verabschieden.«
Charly kramte in dem Beutel, der über ihrer Schulter hing.
»Hier, für dich.«
Sie drückte mir etwas Hellblaues in die Hand. Ich erkannte es sofort. Es war das Sweatshirt, mit dem sie mich mal gerettet hatte. Am Morgen nach meinem letzten Geburtstag. Kurz vor der Mathearbeit. Jonas Bergmann hatte mein Federmäppchen vom Tisch geschlagen. Das machte er ständig, und es nervte, weil jedes Mal mindestens ein Stift draufging. Aber das war normal für Jonas Bergmann, der machte immer alles kaputt. Als ich mich bückte, um das Mäppchen aufzuheben, ist meine Hose gerissen. Genau am Hintern. Ich hatte sie erst einen Tag vorher zu meinem dreizehnten Geburtstag bekommen. Sie war dunkelblau und ziemlich eng. Ganz deutlich hatte ich das Krrrrrrtzsch hören können. Charly hörte es auch, zum Glück sonst niemand. Ich hatte mich schnell hingesetzt, wusste nicht, was ich machen sollte. Die Mathearbeit fing gleich an, ich konnte auf keinen Fall zu Herrn Lechner gehen und sagen, dass ich nach Hause musste, weil meine Hose gerissen war. Der hätte sich einen riesigen Spaß daraus gemacht, alle hätten es mitbekommen. Da hat Charly mir ihr Sweatshirt gegeben, obwohl es März und noch ziemlich kalt war. Ich hatte es so um meinen Bauch geknotet, dass niemand den Riss in meiner Hose sehen konnte. Charly hatte während der ganzen Mathearbeit in ihrem T-Shirt neben mir gesessen. Wegen »Spickzettelgefahr« durften wir unsere Jacken nicht anziehen. Charly hatte behauptet, das mache ihr nichts aus, ihr sei warm. Aber das stimmte nicht. Ich konnte die Gänsehaut auf ihren Armen sehen. Seit dem Tag hieß das Sweatshirt »Rettungsshirt«. Charly trug es, wenn etwas unbedingt klappen sollte. Und manchmal, wenn ich Rettung nötig hatte, lieh sie es mir. So wie jetzt.
»Also, ist geschenkt, nicht geliehen, oder so«, sagte Charly gerade. Ich sah sie an. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und tat, als ob sie dringend nach dem Wetter gucken musste. Ich bekam trotzdem mit, dass sie wie verrückt blinzelte. Dabei hatten wir vorher genau besprochen: Auf keinen Fall heulen! Dass das nicht klappte, war schon mal ein schlechtes Zeichen. Zum Glück wurde auch Mama ganz weinerlich. Die stand plötzlich neben uns und sagte mit belegter Stimme: »Ach, ihr beiden …«
Das war natürlich total bescheuert. Sie war ja schuld an unserer Traurigkeit! Sie und Phil! Da wurden Charly und ich wütend und konnten mit dem Heulen wieder aufhören. Charly sah Mama böse an, nickte mir zu und ging. Ich kletterte auf den Beifahrersitz von Mamas Auto und öffnete den Reißverschluss meines kleinen, blauen Rucksacks. Er war ziemlich voll, das Rettungsshirt passte nicht mehr hinein. Aber ich hielt es sowieso lieber in der Hand. Ich kramte meine Kopfhörer aus dem Rucksack und setzte sie auf. Musik hören wollte ich nicht, dann hätte ich sofort wieder geheult. Doch Mama sollte bloß nicht auf die Idee kommen, mit mir zu reden. Sie tat es trotzdem. »Ist dir nicht warm mit der Mütze?«
Ich antwortete nicht, guckte aus dem Fenster und sah dabei zu, wie die Straße, in der ich so lange gewohnt hatte, hinter mir verschwand. So unauffällig wie möglich wischte ich mit der Hand über meine Stirn. Natürlich war mir warm, schließlich hatten wir Sommer. Aber die Mütze war notwendig. Sie gehörte zu Plan C.
Irgendwann fuhren wir über eine Autobahn, dann über noch eine und bogen auf eine Landstraße, die nicht enden wollte. Ich starrte auf die Rückseite des Zack-Zack-Umzugswagens, der vor uns über den Asphalt schwankte und dachte an die Palme. Sie stand im Dunkeln. Ganz alleine. Hatten Palmen Gefühle? Konnten sie Angst haben? Bestimmt. Ich merkte, dass mein Kinn zitterte. Schnell drückte ich das Rettungsshirt an mich und konzentrierte mich darauf, wie es aussah. Es hatte hinten eine Kapuze, vorne eine große Tasche, in der man seine Hände vergraben konnte. Und es roch genau wie Charly: nach Waschpulver, Zimtschnecken und einem frisch geschälten Apfel. Ich schluckte. Natürlich hatte ich schon oft vor Mama geweint. Aber jetzt war das nicht drin!
»Das wäre strategisch ganz falsch«, hatte Charly mich ermahnt. »Du darfst während der ganzen Fahrt nicht weinen und nichts sagen, das ist voll wichtig!«
Ich presste die Lippen zusammen.
»Wie lieb von Charly, dass sie dir etwas geschenkt hat«, sagte Mama. »Kommt sie dich in den Sommerferien besuchen?«
Ich tat, als ob ich unter meinen Kopfhörern nichts hörte. Das war einfach, denn der Motor von Mamas Auto ist ziemlich laut. Es ist ein Sportwagen, in dem nur zwei Leute sitzen können, ein roter »Mazda MX-5«. Eigentlich steht Mama voll auf Bio und Radfahren. Doch als sie und Papa sich getrennt haben, hatte sie einen ihrer »Impulse«. Das bedeutet, dass sie etwas tut, was sie vorher noch nie getan hat. Sich ein schnelles Auto kaufen, zum Beispiel. Aber nun kroch der Sportwagen im Schneckentempo hinter dem Umzugswagen her. Bestimmt war er damit nicht einverstanden. Bestimmt wollte auch er die Stadt nicht verlassen. Was sollte ein MX-5 zwischen Hühnern? Das war ja gar nicht artgerecht … Was für ein bescheuerter Gedanke! Fast hätte ich gelacht. Aber das wäre strategisch noch viel falscher als Heulen! Zum Glück piepste mein Handy. Es war der WhatsApp-Ton. »Charly«, ging es mir durch den Sinn. Wir hatten vereinbart, dass ich mich zuerst meldete, sobald ich angekommen war. Trotzdem freute ich mich. Zu früh.
Hallo mein Schatz! Seid ihr noch unterwegs? Du wirst sehen: Nach ein paar Tagen ist karierter Fisch halb so schlimm. Ganz sicher findest du bald Aliens. Viele liebe Grüße, Papa
»Die ist von deinem Vater!« Mama lachte leise.
Ich starrte sie an. Guckte sie heimlich auf mein Handy, wenn ich eine Nachricht bekam?
»Ich habe nichts gesehen«, verteidigte sie sich so entrüstet, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte.
»Ich habe es gehört. Immer wenn dein Vater dir schreibt, fängst du an zu schnaufen.«
Fast hätte ich mein Schweigen gebrochen und entgegnet, dass ich ganz bestimmt nicht schnaufte. Doch Mama rief: »Wir sind da!«
Ich blickte aus dem Fenster. Außer Büschen, Zäunen und vereinzelt herumstehenden Häusern war nichts zu sehen. Auch der Umzugswagen war spurlos verschwunden. Ich drehte meinen Kopf in alle Richtungen. Niemals konnten wir »da« sein. Wahrscheinlich hatte meine Mutter sich mal wieder verfahren.
»Sieh mal!« Mama deutete auf eine Frau, die aus einer Gartenpforte heraustrat und winkte. Meine Mutter fuhr die Fenster herunter. Fremde Luft strömte ins Auto. Sie roch nicht nach warmem Asphalt und den Linden, die unsere Straße auch im Sommer in Schatten getaucht hatten.
»Hallo!«, rief Mama und winkte zurück.
Die Frau trug eine schlabberige Strickjacke und stand auf einer Straße, die gar keine richtige Straße war. Es gab weder Ampeln noch Verkehrszeichen, nur ein Schild, auf dem »Sandweg 1–7« stand. Die Frau wackelte mit ihrem Kopf und rief unablässig: »Willkommen bei uns Deppen! Willkommen, bei uns Deppen!«
Ich überlegte, ob sie verrückt und vielleicht sogar gefährlich war. Doch Mama schien sie zu kennen und wirkte nicht besorgt.
»Vielen Dank für die nette Begrüßung, Frau Meckenstock! Das ist meine Tochter Fiona!«
»Oho!« Frau Meckenstock zwinkerte mir zu. »Du möchtest nicht so gerne bei den Deppen wohnen, habe ich gehört. Aber du wirst sehen, dass es hier sehr schön ist!«
»Wovon redet die Frau? Was für Deppen?«, platzte es aus mir heraus, als wir endlich weiterfuhren.
»Du sprichst ja wieder mit mir«, entgegnete Mama fröhlich.
»Was für Deppen?«, wiederholte ich lauter.
»Na ja …« Mama sah mich nervös an. »Okay«, sagte sie schließlich. »Du erfährst es ja sowieso.«
WAS würde ich sowieso erfahren?
»Dass das Dorf Eppen heißt, hast du mitbekommen, ja?«, fuhr sie fort.
Ich nickte. Nicken verstieß wahrscheinlich nur ein bisschen gegen die Strategie.
»Na ja …« Meine Mutter wischte sich unsichtbare Haare aus dem Gesicht. »Was reimt sich auf Eppen?«
Ich zuckte mit den Schultern. Steppen, rappen, …
»Deppen«, beantwortete Mama ihre eigene Frage. »Deswegen nennen sich die Leute hier so. Und …«, sie zögerte, »sie werden auch von anderen so genannt.«
Ich starrte Mama an.
»Das ist lustig gemeint!«, beteuerte sie. »Nicht böse! Alle lachen darüber, weil es sich nun mal reimt: Eppen und Deppen, verstehst du? Das ist nicht schlimm!«
Mein Mund klappte auf, ganz von alleine. Mama verschleppte mich nicht nur aufs Land, sondern ins Deppendorf. Alle würden über mich lachen! Am liebsten wäre ich aus dem Auto gesprungen und zurück nach Köln gerannt. Doch ich blieb sitzen und grub meine Finger in das Rettungsshirt. Charly und ich mussten mit Plan C starten. Sofort!
Ich blickte Mama kühl an, und als ich sprach, war meine Stimme so scharf, dass ich selbst erschrak.
»Ich will jetzt zu diesem Haus, in dem wir wohnen.«
Überrascht hob Mama den Kopf. »Natürlich, da vorne ist es.«
Die Straße machte einen kleinen Bogen, und nun sah ich den Umzugswagen. Er stand unter Bäumen vor einem schiefen Zaun, hinter dem ein rotes, genauso schiefes Haus lag. Die Zack-Zack-Männer waren schon dabei, Möbel und Kisten aus dem Inneren des Wagens zu zerren.
»Fiona, was machst du?«, rief Mama.
Ich hatte die Autotür aufgerissen, stolperte über die Straße und achtete nicht auf die Umzugsmänner, die »Hoppla, hoppla, junge Dame!« sagten. Alles, was ich sah, war die Palme. Sie stand neben einem Vorderreifen des LKW. Ich zog den Rucksack über meine Schultern, klemmte Charlys Sweatshirt unter den Arm, hielt die Palme mit dem anderen und rannte auf das rote Haus zu.
»Hier wohnen Fiona und Ellen Roth & Philip Lambert« stand auf einem kitschigen Schild über der Klingel. Direkt daneben lehnte Phil in der offenen Tür und grinste.
»Hey! Schicke Mütze!« Er sah aus, als ob er sich freute. Bestimmt dachte er, dass ich die Mütze wegen ihm trug, schließlich waren Mützen sein Markenzeichen. Er lag falsch. Doch das war jetzt nicht wichtig.
»Wo ist mein Zimmer?«
Mama hatte mir in den letzten Wochen oft angeboten, mir das Haus anzusehen und ein Zimmer auszusuchen. Ich hatte mich geweigert.
»Du hast es wohl eilig, was?«
Phil wartete einen Moment. Als ich nicht antwortete, lächelte er.
»Treppe hoch, letzte Tür ganz links.«
Er trat zur Seite.
»O mein Gott, na endlich! Wo hast du gesteckt? Ich warte schon ewig, weißt du das eigentlich?«, schimpfte Charly drauflos.
Ich hatte über WhatsApp einen Videoanruf gestartet, und es hatte genau einen Klingelton gedauert, bis Charlys Gesicht auf dem Display meines Handys erschien. Sie sah ziemlich sauer aus. Ihre Haare bauschten sich wie eine dunkle Gewitterwolke um ihren Kopf. Doch ich war so froh, sie zu sehen, dass mir das egal war.
»Der Umzugswagen war total lahm!« Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Was denn, was denn?« Charly hob spöttisch eine Augenbraue. »Zaaaack-Zaaaaack-Umzüge sind laaangsaaam?« Dabei zog sie die As übertrieben in die Länge. Wir konnten gar nicht mehr aufhören zu lachen. Ich wusste selber nicht, warum.
»Alles ist schrecklich!«, platzte es aus mir heraus. »Ich will hier sofort wieder weg!«
»Ruhig, ganz ruhig.« Charly hob beschwichtigend beide Hände. Sie saß auf ihrem alten Schreibtischstuhl, das Handy hatte sie vor sich aufgestellt. Normalerweise machten wir nie Videoanrufe. Wozu auch? Wir sahen uns ja ständig. Bis jetzt zumindest.
»Zeig erst mal, wie dein Zimmer so ist.«
Sie kam mit dem Gesicht ganz nah, als ob sie versuchen wollte, ihren Kopf durch das Display zu schieben. Ich drehte mein Smartphone und hielt es so, dass sie alles sehen konnte.