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Riley Sager

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Haus der bösen Schatten

Thriller

Deutsch von Christine Blum

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Riley Sager

Riley Sager ist ein Pseudonym. Der Autor, in Pennsylvania geboren, ist Schriftsteller, Zeitungsredakteur und Grafikdesigner und lebt in Princeton, New Jersey.

Über das Buch

Nach dem Tod ihres Vaters erbt Maggie das Haus ihrer Kindheit: Baneberry Hall. Vor vielen Jahren floh die ganze Familie eines Nachts aus dem Haus und kehrte nie wieder zurück. Maggies Vater Ewan schrieb später ein Buch über jene Nacht des Schreckens, das ein Bestseller wurde. Baneberry Hall war in seiner hundertjährigen Geschichte immer wieder Schauplatz grauenvoller Geschehnisse, böser Gedanken – und mehrerer Morde. Diese Vergangenheit hat sich dem Haus eingeprägt, so Ewans Theorie. Maggie selbst hat keine Erinnerung daran, was in jener unheimlichen Nacht geschah. Jetzt will sie das Haus von Grund auf renovieren und anschließend verkaufen. Aber kaum ist sie dort, geschehen unerklärliche und zutiefst schaurige Dinge. Und als sie sich immer tiefer in das Geheimnis des Hauses verstrickt, greift das Böse auch nach ihr.

Impressum

Deutsche Erstausgabe 2022

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2020 Todd Ritter

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

›Home Before Dark‹ (Dutton, New York 2021)

© 2022 der deutschsprachigen Ausgabe:

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotive: Trevillion Images/Nic Skerten;

Shutterstock/Dan Thornberg

 

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eBook-Herstellung: Greiner & Reichel, Köln (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-44022-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21988-4

ISBN (epub) 9783423440226

 

 

 

Für alle, die gern Geistergeschichten erzählen …

und diejenigen, die daran glauben.

 

 

 

Jedes Haus hat seine Geschichte und sein Geheimnis.

Unter der Esszimmertapete verbergen sich vielleicht noch Bleistiftstriche, mit denen einst die Größe der Kinder dokumentiert wurde, die vor Jahrzehnten dort wohnten. Unter dem sonnengebleichten Linoleum liegt vielleicht ein Holzboden, über den während des Revolutionskrieges Soldaten trampelten.

Häuser verändern sich unaufhörlich. Erhalten einen neuen Anstrich, neues Laminat, neuen Teppichboden. Darunter verbergen sich Geschichten und Geheimnisse, werden zum Schweigen gebracht, bis jemand kommt und sie wieder zum Vorschein bringt.

Ich bin so ein Jemand.

Mein Name ist Maggie Holt. Ich bin Innenarchitektin und in gewisser Weise Historikerin. Ich versuche jedem Haus seine Geschichte zu entlocken. Ich bin stolz auf meine Arbeit. Und gut darin.

Ich höre zu.

Ich schaue genau hin.

Ich nutze meine Erkenntnisse, um Räume so zu gestalten, dass sie sich, bei aller Modernität, immer auch auf die Vergangenheit des Hauses beziehen.

Jedes Haus hat eine Geschichte.

Die Geschichte unseres Hauses ist eine Geistergeschichte.

Und eine Lüge.

Und nun, da schon wieder ein Mensch in diesen Mauern gestorben ist, wird es Zeit, endlich die Wahrheit zu erzählen.

 

 

 

HAUS DER SCHRECKEN

Eine wahre Geschichte

von

Ewan Holt

Prolog

1. Juli

»Daddy, du musst noch schauen, ob Geister da sind.«

Ich blieb auf der Schwelle zum Zimmer meiner Tochter stehen, so verdattert, wie Eltern eben sind, wenn ihr Kind etwas Eigenartiges sagt. Gut, Maggie war fünf, da hätte ich vielleicht daran gewöhnt sein müssen. War ich aber nicht. Insbesondere nicht an eine absonderliche Bitte wie diese.

»Muss ich das?«

»Ja«, sagte Maggie bestimmt. »Ich will die nicht in meinem Zimmer haben.«

Dass meine Tochter wusste, was ein Geist war, war mir bis dahin gar nicht klar gewesen. Und schon gar nicht, dass sie Angst hatte, es könnte einer in ihrem Zimmer sein. Mehrere sogar. So hatte sie es ausgedrückt.

Die.

Es musste an dem Haus liegen.

Wir wohnten damals seit einer Woche in Baneberry Hall, lange genug, um seine Eigenheiten zu bemerken, aber noch nicht lange genug, um daran gewöhnt zu sein. Das plötzliche Knacken der Wände. Die Laute der Nacht draußen. Der Deckenventilator, der, wenn er auf höchster Stufe lief, ein Geräusch von sich gab, das wie klappernde Zähne klang.

Maggie, alterstypisch sensibel und fantasiebegabt, kam offensichtlich nur schwer damit zurecht. Beim Zubettgehen am Vorabend hatte sie mich gefragt, wann wir wieder in unser altes Heim ziehen würden, eine triste, düstere Dreizimmerwohnung in Burlington. Und jetzt kam sie mir mit Geistern.

Ich beschloss, darauf einzugehen. »Na gut, schadet sicher nicht. Wo soll ich zuerst schauen?«

»Unterm Bett.«

Das zumindest war typisch. In Maggies Alter hatte ich solche Ängste auch gehabt und war überzeugt gewesen, dass in der Dunkelheit nur einige Zentimeter unter mir etwas Grauenhaftes lauerte. Ich ließ mich auf alle viere nieder und warf einen raschen Blick unters Bett. Alles, was dort lauerte, waren eine feine Staubschicht und eine einzelne rosa Socke.

»Alles in Ordnung«, verkündete ich. »Und jetzt?«

»Im Wandschrank.«

Auch das hatte ich geahnt und mich schon in diese Richtung bewegt. Der Teil des Hauses, den wir »Maggies Flügel« nannten, weil er nicht nur ihr Schlafzimmer, sondern auch das Spielzimmer nebenan umfasste, lag im ersten Obergeschoss und hatte eine Dachschräge. Deshalb war eine der beiden Eichentüren des alten Wandschranks ebenfalls abgeschrägt. Als ich sie öffnete, musste ich an ein Märchenhaus denken – einer der Gründe, warum wir Maggie gerade dieses Zimmer gegeben hatten.

Übertrieben heftig zog ich an dem Kabel der Glühbirne, die im Schrank hing, und leuchtete zwischen den Kleiderbügeln mit ihren Sachen hindurch. »Hier ist nichts. Soll ich sonst noch irgendwo nachsehen?«

Mit zitterndem Finger zeigte Maggie auf den riesigen Kleiderschrank daneben. Ein merkwürdiges, etwa zwei Meter fünfzig hohes Relikt, das wir mit dem Haus übernommen hatten. Auf einem schmalen Sockel ruhend, erweiterte sich der Korpus zu einem eindrucksvollen Mittelteil, um nach oben hin wieder schmal zu werden. Bekrönt wurde das Prachtstück von einem geschnitzten Relief mit Engeln, Vögeln und Efeu, das sich an den Seiten hinaufrankte. Für mein Empfinden hatten beide Schränke etwas Magisches, und ich musste unweigerlich an die ›Chroniken von Narnia‹ denken.

Als ich mich daranmachte, die Doppeltür zu öffnen, sog Maggie den Atem ein, wie um sich gegen etwas Schreckliches zu wappnen.

Ich hielt inne. »Soll ich ihn lieber nicht aufmachen?«

»Lieber nicht.« Dann überlegte sie kurz und änderte ihre Meinung. »Doch, mach ihn auf.«

Ich zog die beiden Türflügel weit auf. Im Schrank hingen ein paar schicke Kleider, die meine Frau in der Hoffnung gekauft hatte, unsere jungenhafte Tochter würde sie vielleicht eines Tages tragen.

»Schau«, sagte ich. »Hier ist nichts.«

Vom Bett aus spähte Maggie in den Schrank und seufzte erleichtert.

»Du weißt schon, dass es keine Geister gibt?«, fragte ich.

Sie rutschte tiefer unter ihre Decke. »Doch, gibt es. Ich hab sie gesehen.«

Ich war verwundert, versuchte aber, es mir nicht anmerken zu lassen. Ich wusste um die lebhafte Fantasie meiner Tochter, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie derart lebhaft war – dass Maggie Dinge zu sehen glaubte, die gar nicht da waren.

Aber ja, sie glaubte daran. Das sah ich ihrem Blick an, den geweiteten Augen, die sich mit Tränen füllten. Sie glaubte daran und fürchtete sich zu Tode.

Ich setzte mich auf ihren Bettrand. »Mags, Geister gibt es nicht. Wenn du mir nicht glaubst, dann frag Mama. Sie wird dir das Gleiche sagen.«

»Gibt es doch«, beharrte sie. »Ich sehe sie die ganze Zeit. Und einer spricht mit mir. Der Schattenmann.«

Ich spürte, wie mir ein kalter Schauder über den Rücken lief. »Der Schattenmann?«

Ein kleines, furchtsames Nicken.

»Und was sagt der Schattenmann?«

»Er sagt –« Maggie schluckte mühsam, um die Tränen zurückzuhalten. »Er sagt, wir werden hier sterben.«

1

Schon als ich das Büro betrete, weiß ich, wie es laufen wird. Wie immer. Jedes Mal ein bisschen anders, aber das Ergebnis ist immer gleich. Spätestens, als in den Augen der Empfangsdame Erkennen aufblitzt und sie mir ein wissendes Lächeln schenkt, weiß ich: Sie kennt das Buch.

Den größten Segen unserer Familie.

Und ihren größten Fluch.

»Maggie Holt«, sage ich. »Ich habe einen Termin bei Arthur Rosenfeld.«

»Natürlich, Miss Holt.« Sie mustert mich kurz von oben bis unten, versucht, das kleine Mädchen, von dem sie gelesen hat, in Einklang zu bringen mit der Frau in den abgewetzten Stiefeln, der grünen Cargohose und dem sägemehlbestäubten Flanellhemd, die vor ihr steht. »Mr. Rosenfeld telefoniert gerade. Wenn Sie einen Moment warten möchten?« Die Empfangsdame – laut dem Namensschild auf dem Empfangstresen Wendy Davenport – zeigt auf einen Stuhl an der Wand.

Ich setze mich. Sie schielt immer wieder zu mir herüber. Ich nehme an, es ist die Narbe auf meiner linken Wange, die ihren Blick anzieht, ein heller, über zwei Zentimeter langer Strich. Eine der bekannteren Narben dieser Welt.

Schließlich spricht sie das Offensichtliche aus. »Ich habe Ihr Buch gelesen.«

Ich muss sie berichtigen. »Sie meinen das Buch meines Vaters.«

Obwohl mein Vater als einziger Autor genannt ist, glauben viele, wir alle hätten zu dem Buch beigetragen. Für meine Mutter mag das vielleicht stimmen, aber ich habe absolut nichts damit zu tun, außer dass ich eine der Protagonistinnen bin.

»Ich fand es toll«, sagt Wendy. »Wenn ich mich nicht gerade zu Tode gegruselt habe.« Sie hält inne, und mir zieht sich alles zusammen, weil ich weiß, was jetzt kommt. Es kommt jedes verdammte Mal.

Sie beugt sich so weit vor, dass ihr üppiger Busen gegen den Tresen gequetscht wird. »Wie war es wirklich, in diesem Haus zu wohnen?«

Schon früh war mir klar, dass ich eine Standardantwort auf diese Frage brauchte. Ich habe sie stets zur Hand, wie ein Werkzeug.

»Ich kann mich so gut wie gar nicht an diese Zeit erinnern.«

Wendy zieht eine viel zu dünn gezupfte Augenbraue hoch. »Überhaupt nicht?«

»Ich war fünf«, sage ich. »Wie gut können Sie sich noch an die Zeit erinnern, als Sie fünf waren?«

Erfahrungsgemäß ist das Gespräch in fünfzig Prozent der Fälle damit beendet. Wer einfach nur ein bisschen neugierig ist, kapiert den Wink und wechselt das Thema. Nur die krankhaft Interessierten geben nicht so leicht auf. Ich hätte Wendy Davenport mit ihren rosigen Apfelwangen und dem Outfit von Banana Republic der ersten Gruppe zugerechnet. Offensichtlich habe ich mich geirrt.

»Wirklich nicht? So schrecklich, wie es für Sie und Ihre Eltern gewesen sein muss?«, sagt sie. »Da muss man sich doch wenigstens an etwas erinnern.«

Es gibt verschiedene Arten, wie ich mit diesem Satz umgehe. Auf einer Party, nach ein paar Drinks entspannt und großzügig drauf, würde ich vielleicht ein Auge zudrücken und sagen: »Ich weiß nur noch, dass ich die ganze Zeit Angst hatte, ohne zu wissen, warum.«

Oder: »Ich vermute, es war so beängstigend, dass ich es verdrängt habe.«

Oder, immer wieder beliebt: »Manche Dinge sind so schlimm, dass man sich gar nicht erinnern will.«

Aber ich bin auf keiner Party. Und weder entspannt noch großzügig drauf. Ich bin in einer Anwaltskanzlei, um den Nachlass meines kürzlich verstorbenen Vaters in Besitz zu nehmen. Ich kann nur unhöflich sein.

»Diese Geschichte ist nie passiert«, sage ich. »Mein Vater hat sie sich nur ausgedacht. Und das heißt, wirklich alles. Das ganze Buch ist von vorn bis hinten erfunden.«

Wendys großäugige Neugier verwandelt sich in etwas Härteres, Dunkleres. Ich habe sie enttäuscht, auch wenn sie mir eigentlich dankbar sein müsste, dass ich ehrlich zu ihr war.

Mein Vater hielt das nie für nötig. Seine Version der Wahrheit unterschied sich stark von meiner, wobei auch er eine Standardantwort hatte. Sie lautete immer gleich, egal, wen er vor sich hatte.

»Ich habe in meinem Leben viel Blödsinn erzählt«, hätte er charmestrahlend zu Wendy gesagt. »Aber was in Baneberry Hall passiert ist, gehört nicht dazu. Jedes Wort in diesem Buch ist wahr. Das schwöre ich beim Allmächtigen.«

Das passt zur offiziellen Version der Ereignisse, die ungefähr so lautet: Vor fünfundzwanzig Jahren wohnten meine Eltern und ich in einem Haus namens Baneberry Hall gleich außerhalb des Dörfchens Bartleby, Vermont.

Am 26. Juni zogen wir ein.

Am 15. Juli verließen wir das Haus fluchtartig bei Nacht und Nebel.

Zwanzig Tage.

So lange lebten wir in diesem Haus, bis wir es vor Angst und Schrecken nicht mehr aushielten.

Man sei seines Lebens dort nicht sicher, sagte mein Vater der Polizei. Mit Baneberry Hall stimme etwas nicht. Unsägliche Dinge hätten sich dort abgespielt. Gefährliche Dinge.

In dem Haus, gab er widerwillig zu, spuke ein böser Geist.

Wir schworen uns, nie wieder dorthin zurückzukehren.

Niemals.

Seine Aussage, die im offiziellen Polizeiprotokoll nachzulesen war, zog die Aufmerksamkeit eines Reporters der Lokalzeitung auf sich, ein besseres Käseblatt namens ›Bartleby Gazette‹. Der Artikel, den er schrieb, enthielt eine Menge Zitate meines Vaters. Er wurde schnell von der staatlichen Presseagentur aufgegriffen und fand den Weg in die Zeitungen größerer Städte der Umgebung – Burlington, Essex, Colchester. Von dort breitete er sich wie ein bösartiges Virus im ganzen Land aus. Etwa zwei Wochen nach unserer Flucht rief ein New Yorker Verlag an mit dem Angebot, unsere Geschichte als Roman herauszugeben.

Da wir zu jener Zeit in einem Motelzimmer lebten, das nach kaltem Rauch und Zitronen-Lufterfrischer stank, überlegte mein Vater nicht zweimal. Binnen eines Monats schrieb er in dem winzigen Badezimmer, das er zum Büro umfunktioniert hatte, das Buch. In einer meiner frühesten Erinnerungen sehe ich ihn seitlich auf dem zugeklappten Klodeckel sitzen und auf die Schreibmaschine auf dem Waschtisch einhämmern.

Der Rest ist Literaturgeschichte.

Das Buch schlug ein wie eine Bombe.

Weltweit.

Der beliebteste »Tatsachenbericht« über das Paranormale seit ›The Amityville Horror‹.

Eine Zeitlang war Baneberry Hall das berühmteste Haus ganz Amerikas. In Zeitschriften und Nachrichtensendungen wurde darüber berichtet. Touristen standen vor dem schmiedeeisernen Tor des Anwesens Schlange, um einen Blick auf ein Stück Dach oder das Aufblitzen einer Fensterscheibe im Sonnenlicht zu erhaschen. Sogar in den ›New Yorker‹ fand es seinen Weg: als Cartoon, der zwei Monate nach Erscheinen des Buchs gedruckt wurde. Darauf sieht man ein Paar und einen Makler vor einem heruntergekommenen Landhaus stehen. »Es ist toll«, sagt die Frau. »Aber spukt es darin auch wirklich so, dass ein Buchvertrag dabei rausspringt?«

Was mich und meine Eltern betraf, nun, auch wir waren überall. In der Zeitschrift ›People‹, samt Foto von uns mit ernstem Blick vor dem Haus, das wir nicht mehr zu betreten wagten. In der ›Time‹, mein Vater halb im Schatten sitzend, was ihn ausnehmend gruselig aussehen ließ. Und im Fernsehen, wo meine Eltern je nach Interviewer entweder hofiert oder frontal angegangen wurden.

Selbst jetzt noch ist auf YouTube ein Clip zu sehen, wie wir im Magazin ›60 Minutes‹ interviewt werden. Da sitzen wir, eine Familie wie aus dem Bilderbuch. Mein Vater, auf raue Art gutaussehend, mit einem Bart, wie er erst zehn Jahre später wieder in Mode kommen würde. Meine Mutter, auch hübsch, aber etwas streng wirkend, um die Mundwinkel einen straffen Zug, der verrät, dass sie nicht ganz glücklich mit der Situation ist. Und ich. Süßes blaues Kleidchen. Lackschuhe. Schwarzer Haarreif und fürchterlicher Pony.

Ich habe nicht viel zu dem Interview beigetragen. Nur genickt oder den Kopf geschüttelt oder mich schüchtern an meine Mutter geschmiegt. Ich glaube, meine einzigen Worte während der gesamten Sendezeit waren »Ich hatte Angst«, obwohl ich mich nicht erinnere, dass ich Angst hatte. Von den zwanzig Tagen in Baneberry Hall erinnere ich mich an gar nichts. Was ich zu wissen glaube, ist durch das Buch beeinflusst. Statt Erinnerungen habe ich Textpassagen. Es ist wie das Foto eines Fotos: Die Perspektive stimmt nicht. Die Farben sind trüb, das Bild düster.

Nebelverhangen.

Das beschreibt unsere Zeit in Baneberry Hall ganz gut.

Verständlicherweise wird die Geschichte meines Vaters von vielen angezweifelt. Sicher, es gibt Menschen wie Wendy Davenport, die jede Silbe für bare Münze nehmen. Die glauben – oder glauben wollen –, dass sich in Baneberry Hall alles genau so abgespielt hat, wie es geschrieben steht. Tausende andere wiederum sind der Überzeugung, dass die Geschichte von vorne bis hinten erlogen ist.

Ich habe sämtliche Websites und ›Reddit‹-Threads gelesen, die das Buch sezieren. Ich kenne alle Theorien. Die meisten gehen davon aus, dass meine Eltern schnell erkannten, dass sie sich finanziell übernommen hatten, und eine Ausrede brauchten, warum sie so schnell wieder auszogen. Andere stellen meine Eltern als Trickbetrüger dar, die absichtlich ein Haus mit tragischer Vergangenheit kauften, um daraus Kapital zu schlagen.

Eine dritte Theorie, die ich für noch weniger wahrscheinlich halte, ist, dass meine Eltern von vornherein wussten, dass sie sich ein Fass ohne Boden zugelegt hatten, und den Wert des Hauses für den Wiederverkauf in die Höhe treiben wollten. Statt ein Vermögen für Renovierungsarbeiten auszugeben, beschlossen sie, Baneberry Hall etwas anderes zu geben: einen Ruf. Aber so einfach ist es nicht. Häuser, in denen es angeblich spukt, verlieren normalerweise an Wert. Entweder, weil potenzielle Käufer sich dort tatsächlich nicht wohlfühlen, oder, weil sie ganz einfach keine Lust haben, an einem Ort zu wohnen, der die Aufmerksamkeit gewisser Kreise auf sich zieht.

Den wahren Grund, warum wir damals Hals über Kopf aus dem Haus flohen, kenne ich bis heute nicht. Meine Eltern weigerten sich, ihn zu nennen. Vielleicht hatten sie wirklich Angst. Vielleicht fürchteten sie tatsächlich um ihr Leben. Aber bestimmt nicht deshalb, weil es in Baneberry Hall spukte – das weiß ich genau. Denn Geister gibt es nun mal nicht.

Gut, eine Menge Leute glauben an Geister, aber die Leute glauben an alles Mögliche. An den Weihnachtsmann. Dass die Mondlandung ein Fake war. Dass Michael Jackson noch lebt und in Las Vegas Blackjack spielt.

Ich glaube an die Wissenschaft. Und die ist zu dem Schluss gekommen: Wenn wir sterben, sterben wir. Unsere Seelen bleiben nicht zurück und streunen wie Katzen durch die Gegend, bis jemand sie bemerkt. Wir werden nicht zu schattenhaften Versionen unserer selbst. Wir spuken nicht.

Ein weiterer Grund, warum ich das Buch für erlogen halte, ist, dass ich mich nicht an Baneberry Hall erinnere. Wendy Davenport hat recht: Eine Zeit, die derart schrecklich war, sollte wenigstens einen düsteren Schatten im Gedächtnis hinterlassen. Man sollte annehmen, dass ich mich daran erinnern würde, wenn ich von einer unsichtbaren Kraft an die Decke geschleudert worden wäre, wie es im Buch behauptet wird. Oder wenn mich etwas so fest gewürgt hätte, dass an meinem Hals hinterher Handabdrücke zu sehen gewesen wären.

Und an den Schattenmann.

Dass mir nichts davon im Gedächtnis geblieben ist, kann nur eines bedeuten: Es ist nie passiert.

Trotzdem verfolgt mich das Buch, seit ich denken kann. Ich war immer die schräge Tusse, die in einem Spukhaus gewohnt hat. In der Grundschule wollte niemand etwas mit mir zu tun haben. Auch in der Highschool war ich Außenseiterin, aber jetzt fand man das irgendwie cool, weshalb ich ganz unfreiwillig zu den Beliebten in meiner Klasse zählte. Als ich aufs College ging, dachte ich, die Dinge würden sich ändern. Weil ich nicht mehr bei meinen Eltern wohnte, schien plötzlich auch das Buch weit weg. Aber auch dort galt ich als Kuriosum. Man mied mich nicht unbedingt, freundete sich aber nur vorsichtig mit mir an oder blieb auf Abstand.

Mit den Jungs lief es überhaupt nicht. Die meisten waren von vornherein abgeschreckt. Die, die sich mir näherten, waren größtenteils Fans von ›Haus der Schrecken‹ und weniger an mir als an Baneberry Hall interessiert. Zeigte der Möchtegernfreund auch nur einen Hauch von Begeisterung bei der Aussicht, meinen Vater kennenzulernen, war sofort alles klar.

Heute bin ich potenziellen Freundschaften oder Beziehungen gegenüber höchst skeptisch. Kein Wunder, wenn man früher bei Übernachtungsbesuchen von Freunden ständig ein Ouija-Brett vorgelegt bekam oder wenn Dates auf einem Friedhof endeten und man gefragt wurde, ob man Geister sehen könnte. Einen Großteil meiner Freunde kenne ich schon ewig, und die meisten verlieren kein Wort über das Buch. Sollte der eine oder andere doch wissen wollen, was damals in Baneberry Hall passiert ist, ist er klug genug, mich nicht danach zu fragen.

Nach all den Jahren eilt mir mein Ruf immer noch voraus. Ich halte mich nicht für berühmt, eher für eine Projektionsfigur. Ich bekomme Mails von Unbekannten, die meinen Dad als Lügner beschimpfen oder mir versprechen, für mich zu beten, oder mich fragen, wie sie das Gespenst loswerden, von dem sie glauben, es ginge in ihrem Keller um. Gelegentlich werde ich für einen Podcast zu übernatürlichen Themen angefragt oder für ein Interview in einer dieser Geisterjagd-Sendungen. Kürzlich wurde ich auf eine Horror-Convention eingeladen, um gemeinsam mit einem der Kids aus Amityville ein Meet-and-Greet zu geben. Ich habe abgelehnt. Ich hoffe, das Amityville-Kid auch.

Jetzt sitze ich auf einem quietschenden Stuhl hier in dieser Kanzlei in Beacon Hill, immer noch ganz durcheinander, obwohl der Tod meines Vaters schon Wochen zurückliegt. Im Moment empfinde ich ein Drittel Trauer und, dank Wendy Davenport, zwei Drittel Ärger. Der Nachlassverwalter hinter dem Schreibtisch erklärt mir ausführlich, auf welch vielfältige Weise mein Dad bis zuletzt von seinem Buch profitiert hat. Es verkauft sich nach wie vor gut, vor allem in den Wochen vor Halloween. Immer mal wieder hatte sich Hollywood bei meinem Vater gemeldet, zuletzt mit dem Vorschlag (von dem er mir nie erzählt hatte), die Geschichte als Serie zu verfilmen.

»Ihr Vater konnte sehr gut mit Geld umgehen«, sagt Arthur Rosenfeld.

Bei dem Wort »konnte« übermannt mich plötzlich die Trauer. Die Vergangenheitsform macht mir wieder einmal bewusst, dass mein Vater nicht auf eine längere Reise, sondern unwiederbringlich gegangen ist. Trauer ist so perfide. Sie kann sich stundenlang zurückziehen, als wäre nichts geschehen. Und dann, wenn man sich gut fühlt und verwundbar ist, springt sie einen an wie ein Geisterbahnskelett, und all der Schmerz, den man überwunden zu haben glaubte, kehrt mit voller Macht zurück. So war es gestern, als plötzlich im Radio der Lieblingssong meines Vaters gespielt wurde. Und so ist es jetzt, als der Anwalt mir eröffnet, dass ich als Alleinerbin meines Vaters etwa vierhunderttausend Dollar bekommen werde.

Die Summe überrascht mich nicht. Mein Vater hat sie mir Wochen vor seinem Tod bereits genannt. Es war ein unbehagliches, aber dringend nötiges Gespräch gewesen, das nicht einfacher wurde durch die Tatsache, dass meine Mutter bei der Scheidung beschlossen hatte, auf ihren Anteil an den Tantiemen zu verzichten. Mein Vater flehte sie damals an, ihre Meinung zu ändern, und beharrte darauf, dass ihr die Hälfte zustand. Meine Mutter lehnte ab. »Ich will damit nichts zu tun haben«, hatte sie während einer der vielen Diskussionen über dieses Thema gefaucht. »Wollte ich schon von Anfang an nicht.«

Also bekomme ich alles. Das Geld. Die Rechte an dem Buch. Den dubiosen Ruf. Wie meine Mutter frage auch ich mich, ob es nicht besser wäre, darauf zu verzichten.

»Und dann ist da natürlich das Haus«, sagt Arthur Rosenfeld.

»Haus? Mein Vater hatte doch nur eine Wohnung.«

»Nun, Baneberry Hall.«

Überrascht schrecke ich auf. Der Stuhl unter mir quietscht. »Baneberry Hall gehörte meinem Vater?«

»Ja.«

»Er hat es wieder zurückgekauft? Wann?«

Arthur legt auf der Schreibtischplatte die Finger aneinander. »Soviel ich weiß, hat er es nie verkauft.«

Ich sitze da wie erstarrt und lasse die Nachricht langsam sacken. Baneberry Hall, das Haus, das uns angeblich solche Angst eingejagt hatte, war die ganzen letzten fünfundzwanzig Jahre im Besitz meines Vaters gewesen.

Entweder gelang ihm der Verkauf nicht – was angesichts seines Rufs durchaus möglich ist –, oder er wollte es nicht verkaufen. Wofür es verschiedene Gründe gegeben haben könnte, aber keiner erscheint mir logisch. Alles, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass mein Vater mir nie gesagt hat, dass er das Haus noch besitzt.

»Sind Sie sich wirklich sicher?«, frage ich in der Hoffnung, Arthur habe sich furchtbar geirrt.

»Ganz sicher. Baneberry Hall gehörte Ihrem Vater. Und das bedeutet, es gehört nun Ihnen. Vollumfänglich, wie man so schön sagt. Ich sollte Ihnen wohl die hier geben.«

Er legt einen Schlüsselbund auf den Tisch und schiebt ihn mir zu. Es sind zwei Schlüssel an einem einfachen Ring.

Ich starre sie an, unsicher, ob ich diesen Teil meines Erbes annehmen will. Von klein auf wurde mir Angst vor Baneberry Hall eingejagt, warum auch immer. Auch wenn ich die Geschichte, die mein Vater niedergeschrieben hat, nicht glaube, ist mir unwohl bei dem Gedanken, es zu besitzen.

Dann ist da noch das Gespräch mit meinem Vater an seinem Totenbett. Jetzt weiß ich, dass er mir bewusst verschwiegen hat, dass er das Haus noch besaß. Aber das, was er zu mir sagte, lässt mich in der Erinnerung erschauern.

Geh nie wieder dorthin. Du wärst dort nicht sicher.

Als ich die Schlüssel endlich nehme, kommen sie mir warm vor, als hätten sie auf einer Heizung gelegen. Ich schließe die Finger darum. Die Schlüsselbärte stechen mir in die Handfläche.

Mein Vater ist tot.

Er hat mir die Wahrheit über Baneberry Hall mein Leben lang vorenthalten.

Jetzt gehört das Haus mir. Mitsamt seinen Geistern, ob erfunden oder real.

20. Mai

Die Besichtigung

Wir hatten gewusst, was uns erwartete. Etwas anderes zu behaupten wäre gelogen. Schon bevor wir Baneberry Hall kauften, kannten wir seine Vergangenheit.

»Das Anwesen hat eine beeindruckende Geschichte, glauben Sie mir«, sagte unsere Maklerin, eine vogelartige Frau in schwarzem Powersuit namens Janie June Jones.

Wir saßen in Janie Junes silbernem Cadillac, mit dem sie durch die Landschaft pflügte wie mit einem Panzer. Jess, Maggie und ich waren ihrer Fahrweise völlig ausgeliefert und konnten uns nur festhalten und das Beste hoffen.

»Gut oder schlecht?«, fragte ich und prüfte, ob mein Sicherheitsgurt auch fest saß.

»Ein bisschen von beidem. Das Land gehörte William Garson, einem Holzhändler. Dem reichsten Mann im Ort. Er erbaute Baneberry Hall im Jahr 1875.«

Vom Rücksitz, wo sie die Arme schützend um unsere Tochter geschlungen hatte, fragte Jess: »Baneberry Hall, der Name ist ja ziemlich ungewöhnlich.«

»Mag sein.« Den Ortsausgang nahm Janie June mit derart ruckartigen Lenkbewegungen, dass der Wagen mehrmals nach links und rechts ausscherte. »Es ist nach der Pflanze benannt. Man sagt, als William Garson das Land kaufte, war der Hügel über und über mit den roten Beeren bedeckt. Wie mit Blut getränkt, so beschrieben es die Dorfbewohner.«

Ich schielte zu ihr, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich über das Lenkrad hinwegsehen konnte. »Sind Baneberrys nicht giftig?«

»Ja. Sowohl die roten als auch die weißen.«

»Also nicht der beste Ort für ein Kind.« Ich sah die schrecklich neugierige und immer hungrige Maggie vor mir, wie sie sich in einem unbeobachteten Moment eine Handvoll Beeren in den Mund steckte.

»Ach, dort sind schon Generationen von Kindern völlig unbeschadet aufgewachsen«, sagte Janie June. »Die komplette Garson-Sippe lebte dort bis zur Weltwirtschaftskrise – dann verlor sie ihr Vermögen wie alle anderen auch. Das Anwesen wurde von einem Hollywoodproduzenten gekauft, der es als Feriendomizil für sich und seine illustren Freunde nutzte. Clark Gable war mal dort zu Gast, und Carole Lombard auch.«

Sie bog von der Landstraße in einen Schotterweg ein, der zwischen zwei adretten Cottages hindurch in einen für Vermont typischen imposanten Wald führte. Die kleinen Landhäuser glichen einander in Form und Größe. Das linke war gelb mit roten Fensterläden und blauen Vorhängen, das rechte mit seiner tiefbraunen Verkleidung aus Zedernholz verschmolz optisch nahezu mit dem Wald.

»Die wurden auch von Mr. Garson gebaut«, erzählte Janie June. »Etwa ein Jahr, nachdem das Haupthaus fertig war. In dem einen sollte die Haushälterin wohnen und im anderen der Grundstücksverwalter. Das ist auch heute noch so, wobei keiner der beiden ausschließlich für das Anwesen arbeitet. Aber falls Sie nicht mehr weiterwissen sollten, können Sie sich an die beiden wenden.«

Wir brausten in den Wald aus Kiefern, Ahorn und dicken Eichen hinein. Erst als uns ein schmiedeeisernes Tor den Weg versperrte, trat Janie June auf die Bremse. Schlingernd kam der Cadillac zum Stehen. »Da wären wir«, sagte sie.

Hoch und gebieterisch ragte das Tor vor uns auf. Nach links und rechts erstreckte sich eine drei Meter hohe Mauer in den Wald hinein. Jess beäugte sie vom Rücksitz aus mit kaum verhohlener Besorgnis. »Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«, fragte sie. »Läuft diese Mauer ums gesamte Grundstück?«

Jamie June ließ den Schalthebel in Parkposition einrasten. »Ja. Glauben Sie mir, Sie werden noch froh darum sein.«

»Warum das?«

Janie June ging nicht auf die Frage ein. Stattdessen kramte sie in ihrer Handtasche, bis sie einen Schlüsselbund fand. Sie wandte sich mir zu. »Wären Sie so nett, einer alten Dame behilflich zu sein, Mr. Holt?«

Wir stiegen aus und öffneten gemeinsam das Tor – Janie June schloss auf, und ich zog die Torflügel auf, die in den rostigen Angeln knirschten. Bald saßen wir wieder im Auto, fuhren durchs Tor und den langen Zufahrtsweg entlang, der sich einen unerwartet steilen Hügel hinaufwand. Gelegentlich erhaschte ich durch die Bäume hindurch einen Blick auf ein Gebäude. Hier ein hohes Fenster, da ein Stück verzierter Dachfirst.

Baneberry Hall.

»Nach der Filmstar-Ära wurde das Haus zum Bed-and-Breakfast umgestaltet«, erklärte Janie June. »Und als es nach drei Jahrzehnten damit vorbei war, wechselte es noch einige Male den Besitzer. Die letzten Eigentümer wohnten knapp ein Jahr lang dort.«

»Warum so kurz?«, fragte ich.

Wieder blieb die Frage unbeantwortet. Ich hätte nachgehakt, hätten wir nicht in diesem Moment die Hügelkuppe erreicht und Baneberry Hall zum ersten Mal in voller Pracht erblickt.

Da thronte es mitten auf dem Hügel, dreistöckig, schwer und düster. Es war wunderschön anzusehen, ein majestätisches Bauwerk aus Naturstein, ein Haus, das einem den Atem raubte.

Es war riesig. Mehr, als wir gebraucht hätten oder uns unter normalen Umständen hätten leisten können. Ich hatte die letzten zehn Jahre für Zeitschriften geschrieben, erst als freier Journalist – damals war die Bezahlung noch gut gewesen –, dann als Mitherausgeber eines Magazins, das nach neunzehn Ausgaben eingestellt wurde. Danach war ich gezwungen, wieder freiberuflich zu arbeiten, nun allerdings für ein lausiges Honorar. Unsere mittlerweile fünfjährige Tochter Maggie wurde von Tag zu Tag größer, während unsere Wohnung zu schrumpfen schien. Jess’ und meine Methode, mit der Situation umzugehen, war, uns zu streiten. Hauptsächlich um Geld.

Und um die Zukunft.

Und wer von uns beiden unserem Kind die schlechteren Eigenschaften vererbt hatte.

Wir brauchten mehr Platz. Und eine Veränderung.

Die kam in vollem Galopp in Form zweier weltbewegender Ereignisse im Abstand von wenigen Wochen. Zuerst starb Jess’ Großvater, ein Bankier der alten Schule, der an seinem Schreibtisch Zigarren rauchte und seine Sekretärin »Honey« nannte. Er hinterließ ihr 250000 Dollar. Als Nächstes ergatterte Jess einen Job als Lehrerin an einer Privatschule bei Bartleby.

Wir beschlossen, das Geld ihres Großvaters in ein Eigenheim zu investieren. Dann konnte sie zur Arbeit gehen, und ich würde zu Hause bleiben, mich um Maggie kümmern und mich auf das Schreiben konzentrieren. Natürlich vor allem Artikel für Zeitschriften, aber auch Kurzgeschichten und vielleicht eines Tages meine Version eines großen amerikanischen Romans.

Ein Haus wie Baneberry Hall war nicht gerade das, was uns vorschwebte. Eigentlich wollten wir etwas Übersichtliches und Erschwingliches. Ein Haus, das leicht in Schuss zu halten war. In das wir hineinwachsen konnten.

Als Janie June uns Baneberry Hall vorschlug, hatte ich zunächst rundweg abgelehnt. Dann nannte sie uns den Preis. Der halb so hoch war wie der Schätzwert des Anwesens.

»Warum ist es so günstig?«, fragte ich.

»Weil es renovierungsbedürftig ist«, sagte Janie June. »Nichts Gravierendes, man muss sich nur ein bisschen darum kümmern.«

Jetzt, da ich Baneberry Hall vor Augen hatte, schien es mir eher vernachlässigt als renovierungsbedürftig. Die Bausubstanz schien in gutem Zustand zu sein, auch wenn das Gebäude ziemlich exzentrisch war. Dadurch, dass jedes Geschoss etwas schmaler war als das darunterliegende, ähnelte es einer kunstvoll abgestuften Hochzeitstorte. Die Bogenfenster im Erdgeschoss waren hoch und schmal, die im ersten Stock niedriger, wie die Etage selbst, aber immer noch eindrucksvoll. Das zweite Stockwerk wurde von dem spitzgiebeligen Dach beherrscht, weshalb die beiden Fenster dort sehr klein waren, wie Augen, die auf uns herabsahen.

Zwei Drittel des Hauses folgten einem strengen Raster, mit rechten Winkeln und klaren Linien. Das letzte Drittel war völlig anders, fast als wäre dem Architekten zwischendrin langweilig geworden. Statt kastenförmig abzuschließen, wölbte sich diese Ecke des Hauses als runder Turm nach außen, als hätte man einen gedrungenen Leuchtturm von der Küste von Maine hierhergebracht und ins Haus integriert. Quadratische Fenster waren in unregelmäßigen Abständen darin eingelassen, obenauf saß ein spitzer Hexenhut als Dach.

Beim Anblick des Hauses konnte ich sein Unbehagen spüren. Stille schien darüber zu liegen, ein Heim, plötzlich geräumt von seinen Bewohnern. Ein Hauch von Verlassenheit umgab die Mauern wie Efeu.

»Warum meinten Sie, wir würden noch froh um die Mauer sein?«, wiederholte Jess ihre Frage. Sie streckte den Kopf zwischen den Vordersitzen hindurch, um besser sehen zu können. »Wurde hier eingebrochen?«

»Nein, überhaupt nicht«, sagte Janie June und klang dabei wenig überzeugend. »Nur Neugierige, die ab und zu hier herumschleichen, das ist alles. Weil es eben so alt und geschichtsträchtig ist. Also, nicht Leute aus dem Ort, denen ist das Haus egal. Auswärtige. Vor allem Jugendliche. Manchmal sind welche über die Mauer gestiegen.«

»Was haben sie dann angestellt?«, wollte Jess wissen.

»Ach, was Jugendliche so machen. Im Wald Bier trinken. Rumknutschen. Nichts Kriminelles oder Besorgniserregendes, das versichere ich Ihnen. So, lassen Sie uns reingehen. Ich garantiere Ihnen, es wird Ihnen gefallen.«

Wir sammelten uns auf der Vortreppe. Janie June nahm den Schlüssel aus dem Schlüsseltresor am Türknauf. Dann holte sie tief Luft – ihre gepolsterten Schultern hoben und senkten sich. Ehe sie aufschloss, bekreuzigte sie sich kurz.

Wir folgten ihr ins Haus. Als ich über die Schwelle trat, wehte mich ein eisiger Hauch an, fast als wären wir von einer Klimazone in eine andere übergewechselt. Ich hielt es damals schlicht für einen Luftzug, einen dieser seltsamen, unerklärlichen Eindrücke, wie man sie in Häusern eines gewissen Alters wohl immer hat.

Der kalte Lufthauch dauerte nicht lange an. Nur die wenigen Schritte von dem schmucken Eingangsflur in eine Art Wohnhalle, die sich weit ins Haus hinein erstreckte. An die sieben Meter hoch, in der Höhe von freiliegenden Balken gestützt, erinnerte sie an die Lobby eines Prachthotels. Nicht weniger großartig war die anmutig geschwungene Treppe, die ins Obergeschoss führte.

Über uns hing ein massiver Messinglüster von der Decke herab, mit langen Armen wie Tintenfischtentakel und funkelnd behängt mit Kristallen, das Ganze in zwei Etagen. Den Abschluss jedes Arms bildete eine Kugel aus Rauchglas. Während wir den Lüster bewunderten, bemerkte ich, dass er kaum merklich hin- und herschwang, als ginge jemand durch das darüberliegende Zimmer.

»Ist außer uns noch jemand im Haus?«, fragte ich.

»Natürlich nicht«, sagte Janie June. »Wie kommen Sie darauf?«

Ich zeigte auf den schaukelnden Lüster.

Zur Antwort zuckte sie mit den Schultern. »Das war wahrscheinlich nur der Luftzug von der Eingangstür.«

Je eine Hand fest auf meinem und Jess’ Rücken, führte sie uns tiefer in die Wohnhalle hinein. Die Wand rechts wurde von einem gewaltigen offenen Kamin eingenommen – ein Bonus während der eiskalten Winter in Vermont.

»Auf der anderen Seite der Wand gibt es auch einen«, sagte Janie June. »Im Indigozimmer.«

Mich interessierte momentan eher das Gemälde über dem Kamin: das Porträt eines Mannes in der Kleidung der Jahrhundertwende. Er hatte harte Gesichtszüge. Eine schmale, spitze Nase. Wangenknochen, scharf wie Springmesser. Dunkle Augen unter schweren Lidern und ebenso weiße und buschige Augenbrauen wie sein Bart.

»William Garson«, sagte Janie June. »Der Bauherr des Hauses.«

Fasziniert von der detaillierten, lebensechten Arbeit des Künstlers, betrachtete ich das Porträt. Die angedeuteten Lachfältchen um die Augen, die feinen Härchen der erhobenen Brauen, die leicht hochgezogenen Mundwinkel. Statt eines würdevollen Patriarchen sah mir ein hochmütiger, ja fast verächtlich dreinblickender Mann entgegen. Als hätte Mr. Garson den Künstler spöttisch belächelt. Was wiederum den Eindruck erweckte, als belächelte er auch mich.

Maggie, die schon die ganze Zeit an meiner Hand klebte, stellte sich auf die Zehenspitzen, um das Bild besser sehen zu können. »Der macht mir Angst«, flüsterte sie.

Ich musste ihr zustimmen. Zumindest so, wie der Maler ihn eingefangen hatte, sah William Garson aus wie jemand, dem man so ziemlich alles zutraut.

Auch Jess betrachtete das Porträt. Sie rieb sich das Kinn. »Also, wenn wir das Haus kaufen, kommt das hier weg.«

»Ich weiß nicht, ob das möglich ist«, sagte Janie June. Sie reckte sich und tippte die untere Ecke des Rahmens an – den einzigen Punkt, den sie erreichen konnte. »Es ist direkt auf den Stein gemalt.«

Ich sah genauer hin – und erkannte, dass das stimmte. Das rechteckige Stück Wand mit dem Gemälde darauf war aus Backstein statt Naturstein gemauert, um dem Maler eine glattere Oberfläche zu bieten.

»Also ist es genau genommen ein Wandgemälde«, sagte ich.

Janie June nickte. »Der Rahmen ist nur Attrappe.«

»Aber warum?«

»Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass William Garson für immer Teil von Baneberry Hall sein wollte. Nach allem, was man weiß, war er ziemlich besitzergreifend. Ich nehme an, Sie könnten die Farbe entfernen lassen, aber wahrscheinlich würde das unverhältnismäßig hohe Kosten verursachen.«

»Meinen Sie, das dürften wir überhaupt?«, fragte Jess. »Ein so altes und historisch bedeutsames Haus steht doch sicher unter Denkmalschutz.«

»Keine Sorge, mit diesem Haus will die Gesellschaft für Denkmalschutz nichts zu tun haben.«

»Warum?«, fragte ich.

»Da müssen Sie sie selbst fragen.«

Nach hinten hinaus mündete die Wohnhalle in ein repräsentatives Speisezimmer, das für eine viel größere Familie als die unsrige gedacht war. Zwischen Wohnhalle und Esszimmer führte eine Treppe zur Küche hinunter. Wie ein überlanges schmales Handtuch nahm sie das gesamte Souterrain ein, nicht ganz Wohnbereich, aber auch nicht wirklich Keller. Diese unbehagliche Zwischenstellung spiegelte sich in ihrer Einrichtung wider. Nach vorn, zur Treppe hin, wirkte sie recht elegant, mit hohen Schränken, grün gestrichenen Wänden und einem Farmhaus-Spülbecken, in dem Maggie hätte baden können. An einer Wand hingen in spiralförmigen eisernen Haltern kleine Glocken. Ich zählte vierundzwanzig in zwei Reihen zu je zwölf. Über jeder war ein Schildchen angebracht, das den zugehörigen Raum bezeichnete. Manche trugen nur Nummern – wahrscheinlich aus der Zeit, als Baneberry Hall ein Bed-and-Breakfast gewesen war. Auf anderen standen vornehmere Bezeichnungen: Salon. Master Suite. Indigozimmer.

»Diese Glocken wurden sicher schon Jahrzehnte nicht mehr geläutet«, sagte Janie June.

Weiter hinten war die Einrichtung gröber, profaner. Es gab einen langen Hackblock, dessen Oberfläche Kerben und dunkle Flecken aus längst vergangenen Zeiten aufwies. Die Küchenschränke wichen zunehmend der nackten Wand. Am Ende war der Raum schon nicht mehr Küche, sondern mündete in einen gemauerten Durchgang zu einer bröckelig aussehenden Treppe, die nach unten führte.

»Hat was von einer Höhle«, sagte Jess.

»Im Prinzip ist das hier schon Teil des Kellers«, erklärte Janie June. »Sicher, es ist ein bisschen grobschlächtig, aber man könnte hier hervorragend Wein lagern.«

»Ich trinke keinen Alkohol«, sagte Jess.

»Und ich lieber Bier«, sagte ich.

Janie Junes Lächeln wurde breiter. »Gut, dass es noch eine Menge anderer toller Möglichkeiten gibt, wie man den Raum nutzen kann.«

Ihre verzweifelte Fröhlichkeit verriet, dass das nicht die erste Besichtigung war, die sie in Baneberry Hall durchführte. Ich stellte mir junge Paare wie Jess und mich vor, deren Erwartungen mit jedem Zimmer, das sie sahen, ein Stück mehr enttäuscht wurden.

Doch bei mir war es genau andersherum. Jedes absonderliche Detail des Hauses bestärkte nur mein Interesse. Mein Leben lang hatte ich mich zum Exzentrischen hingezogen gefühlt. Als mir meine Eltern mit sechs Jahren endlich erlaubt hatten, einen Hund zu halten, ließ ich die geschniegelten Rassehunde im Tiergeschäft links liegen und ging geradewegs auf einen zottigen Mischling zu. Nach all den Jahren in einer Wohnung, die so unscheinbar war, dass sie mir fast schon unsichtbar vorkam, sehnte ich mich nach etwas anderem. Etwas mit Charakter.

Im Anschluss an die Küchenbesichtigung gingen wir nach oben und zurück durch die Wohnhalle – wo der große Lüster im Eingangsbereich nun hell strahlte.

»Der war vorhin doch noch nicht an, oder?«, fragte ich.

Über Janie Junes Gesicht ging ein nervöses Lächeln. »Doch, ich glaube schon.«

»Und ich bin mir sicher, dass er ausgeschaltet war. Gibt es hier Probleme mit der Elektroinstallation?«

»Eigentlich nicht, aber ich prüfe das noch mal.«

Mit einem letzten bangen Blick auf den Lüster führte sie uns rasch in ein Zimmer gleich rechts des Eingangsflurs. »Der Salon«, sagte sie, als wir den runden Raum betraten. Er wirkte in jeder Hinsicht muffig. Die Tapete war rosa und verblichen, die Möbel mit staubigen Schutzhüllen überzogen. Eine war heruntergerutscht und gab den Blick auf einen monumentalen Sekretär aus Kirschholz frei.

Jess, deren Vater mit Antiquitäten gehandelt hatte, eilte darauf zu. »Das Ding ist mindestens hundert Jahre alt.«

»Wahrscheinlich älter«, sagte Janie June. »Viele der Möbel stammen noch von der Familie Garson – sie wurden mit dem Haus weitervererbt. Im Kaufpreis ist alles eingeschlossen. Auch die Einrichtung. Sie können behalten, was Ihnen gefällt, und den Rest verkaufen.«

Geistesabwesend strich Jess über das glatte Kirschholz. »Die Vorbesitzer wollen gar nichts behalten?«

Janie June schüttelte betrübt den Kopf. »Kein einziges Stück. Ich kann’s verstehen.«

Von hier aus ging es ins Indigozimmer, das in Wirklichkeit grün gestrichen war.

»Verwunderlich, ich weiß«, sagte sie. »Möglicherweise waren die Wände früher einmal indigoblau, aber das bezweifle ich. Tatsächlich wurde es nicht nach der Farbe benannt, sondern nach William Garsons Tochter.« Sie zeigte auf den Kamin, der nicht weniger riesig war als der in der Wohnhalle. Darüber prangte, ebenfalls auf einem glatten Backsteinrechteck, das Porträt eines jungen Mädchens in einem violetten Spitzenkleid. Auf dem Schoß hielt sie zärtlich ein weißes Kaninchen zwischen den behandschuhten Händen.

»Indigo Garson«, sagte Janie June.

Es war eindeutig das Werk desselben Künstlers, der auch den Bauherrn porträtiert hatte. Der Stil war identisch – die zarten Pinselstriche, die penibel ausgeführten Details. Doch während William Garson hochmütig und hart wirkte, erschien seine Tochter wie der Inbegriff jugendlichen Liebreizes. Seidig zarte Haut und weiche Linien. So licht und klar, dass sich um ihre goldenen Locken ein ganz schwacher Glorienschein andeutete. Es hätte mich nicht überrascht, zu erfahren, dass der Künstler, wer immer es gewesen war, sich während des Malens ein wenig in Indigo verliebt hatte.

»Die Garsons waren eine große Familie«, erläuterte Janie June. »William und seine Frau hatten vier Söhne, die ihrerseits eine große Familie gründeten. Indigo war die einzige Tochter. Sie starb mit sechzehn.«

Ich trat einen Schritt auf das Bild zu. Mein Blick wurde von dem Kaninchen in Indigos Händen angezogen. Hier war das Bild leicht beschädigt: genau das Fleckchen Farbe, mit dem das Auge des Tiers ausgeführt war, war abgesprungen, sodass es den Anschein hatte, als wäre die Augenhöhle leer.

»Woran starb sie?«, erkundigte ich mich.

»Das weiß ich nicht«, sagte Janie June auf eine Art, die in mir den Verdacht weckte, dass sie es sehr wohl wusste.

Ohne sich für dieses zweite Gemälde zu interessieren, das wir nicht loswerden würden, marschierte Jess quer durchs Zimmer auf ein anderes Bild zu, das unter einer verrutschten Möbelschutzhülle hervorsah. Sie nahm es heraus. Es war die gerahmte Fotografie einer Familie vor Baneberry Hall. Sie bestand aus drei Personen, genau wie wir: Vater, Mutter und Tochter.

Das Mädchen war etwa sechs Jahre alt und ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Dadurch, dass beide die gleiche Frisur hatten – langes, mit einem Haarreif zurückgehaltenes Haar – und ähnliche weiße Kleider trugen, wurde die Ähnlichkeit noch betont. Hand in Hand posierten sie dicht nebeneinander und lächelten in die Kamera.

Der Vater stand ein wenig abseits, als hätte man ihn angewiesen, Abstand zu halten. Er trug einen etwas zu weiten, zerknitterten Anzug und blickte ziemlich finster drein. Abgesehen davon sah er wirklich gut aus. Richtig filmstarmäßig, weshalb ich zuerst dachte, es handele sich um Besucher aus der Zeit, als Hollywoodgrößen hier ein und aus gingen. Dann fiel mir auf, wie modern ihre Kleidung war. Das trug man momentan überall in Amerika. Das einzig Altmodische war die Brille der Frau – eine runde Nickelbrille, mit der sie ein bisschen an Benjamin Franklin erinnerte.

»Wer ist das?«, wollte Jess wissen. Janie June studierte das Foto mit zusammengekniffenen Augen – wieder so, als wüsste sie es nicht genau, obwohl deutlich zu erkennen war, dass sie es sehr wohl wusste. Nach ausgiebigem Studieren sagte sie: »Ich glaube, das müssten die Vorbesitzer gewesen sein. Die Carvers.«

Mit einem auffordernden Nicken signalisierte sie Jess, es wieder an seinen Platz zu legen. Dann scheuchte sie uns weiter – immer hastiger, sodass ich den Eindruck gewann, als wollte sie weitere Fragen verhindern. Im Eiltempo zeigte sie uns das Musikzimmer, das von einem Flügel mit einem wackelnden Fuß beherrscht wurde, und einen Wintergarten voller Pflanzen in verschiedenen Stadien des Verfalls. »Ich hoffe, einer von Ihnen hat einen grünen Daumen«, sagte sie munter.

Über eine bescheidene Dienstbotentreppe zwischen Speisezimmer und Wintergarten führte sie uns ins erste Obergeschoss. Hier befanden sich hauptsächlich Schlafzimmer und am Ende des Flurs ein geräumiges Badezimmer.

Jess, die jahrelang über die Enge unserer Wohnung in Burlington gestöhnt hatte, konnte sich gar nicht von der Schlafzimmersuite mit Ankleide- und Badezimmer trennen, die sich im Rund des Turms befand.

Mich hingegen faszinierte vor allem das Zimmer am anderen Ende des Flurs. Mit der Dachschräge und dem riesigen Schrank darin kam es mir perfekt für Maggie vor. Vermutlich lag das an dem Himmelbett, das genau die richtige Größe für ein Kind ihres Alters hatte.

»Der Schrank ist ein absolutes Einzelstück«, sagte Janie June. »William Garson ließ ihn als Geschenk für seine Tochter anfertigen. Das hier war ihr Zimmer.«

Mit dem kundigen Blick, den sie von ihrem Vater geerbt hatte, musterte Jess den Schrank und ließ die Hand über die mit Engeln und Efeuranken verzierten Kanten gleiten. »Alles handgeschnitzt?«

»Natürlich. Äußerst ungewöhnlich und sicherlich sehr wertvoll.«

Maggie spähte vom Türrahmen aus in den Raum.

»Das Zimmer hier könntest du bekommen, Mags«, sagte ich zu ihr. »Was meinst du?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nö, will ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Es ist kalt.«

Ich hob die Hand, um die Temperatur zu fühlen. Sie schien mir normal. Eher etwas wärmer als im übrigen Haus. »Mit der Zeit wirst du es sicher toll finden.«