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© Magret Kindermann, Eisenach 2021
Covergestaltung: Magret Kindermann
Illustrationen: Magret Kindermann, Unsplash
Buchsatz: Catherine Strefford
Lektorat: Magret Kindermann
Druck: Books on Demand GmbH
ISBN: 978-3-754376-55-3
In meinem Leben gab es einige große Momente. Vielleicht sogar Erlebnisse, aus denen man ein Buch machen könnte, sogar einen Film oder eine Serie mit drei Staffeln. Zwar habe ich nicht gegen Mutationen gekämpft, ein Land aus dem Krieg geführt oder herausgefunden, dass ich eigentlich Prinzessin bin, aber ich hab was zu erzählen.
Zum Beispiel liebe ich die Geschichte, wie ich Autorin wurde. Diese fängt mit einem Mann aus Israel an und wir verliebten uns, als hätte man zwei Magnete in einen Rucksack geworfen und sie könnten nicht anders, als sich zwischen Heftern und Kleinkram durchzuwühlen, um sich endlich aneinanderzuklammern. Wir hatten schon ausgeklügelt, wie wir unsere Leben gemeinsam verbringen könnten, da trennte er sich auf die abfälligste Weise von mir: Er ghostete mich. Entgegen jeden Ratschlägen meiner Lieblingsmenschen flog ich nach Tel Aviv, um mir den Korb abzuholen. Es lief nicht gut und ich musste feststellen, dass der Mann, dem ich so einen großen Vertrauensvorschuss gab, nicht einmal wert darauf legte, gut mit mir Schluss zu machen. Dieses Erlebnis war ein Katapult, denn durch den Herzschmerz erkannte ich, dass ich zuhause nichts hatte, was ich mag. Ich hatte nichts zu verlieren und das war mein großes Glück. Denn hätte ich es gemütlich gehabt, hätte ich wahrscheinlich nichts riskieren wollen. Nach der Kündigung meines verhassten Jobs gab ich mir ein Jahr, um ein Buch zu schreiben. Das war die eine Sache, die ich immer mal tun wollte. Nebenbei fand ich den Weg zurück zu mir selbst.
Zu dieser Zeit berührte mich dieses Erlebnis natürlich sehr, ich brachte kaum Essen herunter und brauchte lange, um wieder einen Sinn für mich zu finden. Heute verbinde ich keinerlei Gefühle mehr damit. Die Geschichte ist eine Anekdote, die der Unterhaltung dient, die aber nicht Teil eines guten Gesprächs ist. Denn was für mich ein Gespräch gut macht, ist der Austausch von scheinbar unscheinbaren Momenten, die uns voreinander offenbaren. Es sind die Erkenntnisse, die wir aus den alltäglichen Routinen und Handlungen ziehen. Sie zeigen uns den Menschen hinter der Fassade, hinter den großen Geschichten und erst dann können wir unser Wesen nicht mehr verstecken, weder vor anderen noch vor uns selbst.
Ein paar Monate nach dem abgeholten Korb erlebte ich noch etwas Großes, von dem ich noch nie jemandem erzählt habe, das aber noch immer auf meinen Tagen liegt wie ein warmer Umhang. Ich habe es kurz danach aufgeschrieben, was wohl half, die Erinnerung daran so frisch zu halten:
Zuerst gab es nur Atemzüge, die den Raum füllten. Die Lungenflügel füllten sich mit frischer Luft und gaben diese wieder frei. Nach einer Pause wiederholte sich der Vorgang, ruhig, ohne die Not des Zeitgefühls. Dann kamen andere Empfindungen, stückweise schoben sie sich in mein Bewusstsein, ohne mich zu bedrängen. Das grobe Leinen, das meinen Körper überall dort berührte, wo Unterhose und T-Shirt nicht mehr hinreichten. Eine Bewegung in der frischen Luft, die bedeutete, dass das Fenster offen war. Die nach Kieselstein riechende Stirn meiner Katze, die sich gegen meine Nase drückte.
Ich war in der süßesten Zwischenwelt zwischen Schlaf und Erwachen, gleitete von einem Zustand in den anderen, ohne einen ganz zu verlassen. Ich wusste, wer ich war, ich war eine reine, erfüllte Version meiner selbst und wenn ich daran zurückdenke, dann beeindruckt mich vor allem die Leichtigkeit dessen. Etwas, das es in diesem Moment nicht gab, war die Zeit. In seiner Endlichkeit war der Augenblick unendlich und das gab mir die Chance, ihn ohne Hektik zu betrachten.
Mein Körper lag seitlich im Halbkreis, meine Katze schmiegte sich gestreckt an mich und schlief lautstark. Redende, glucksende Geräusche wimmerten über ihre Schnauze dicht an meinem Kopf und ich konnte an ihren zuckenden Bewegungen ihre Träume lesen. Luft und Leinen umhüllten uns und noch immer gab es nur den Raum und mich. Trotz meiner Menschlichkeit hatte ich nicht dessen Verfall, mein Körper hätte der eines Kindes oder der einer alten Frau sein können. Sorgenlos lag ich ungeschützt in diesem Moment. Ich fühlte mich gut.
Die Zeit kam gewaltvoll zurück, presste die Luft aus meinen Lungen und prügelte mich zurück in den Ist-Zustand: „Das hier bist du!“, schrie sie, „du kannst nicht nur Atmen, wer glaubst du, wer du bist, dass du solche Privilegien hast, nichts zählt ohne mich, ich bin alles!“ Mir schwindelte. Angstschweiß schoss aus meinen Poren und nach Luft schnappend lag ich in der Dunkelheit, hellwach und schutzlos. Meine Katze hatte sich beleidigt aufgesetzt und starrte mich mit finsteren Augen an. Das Leben ging weiter. Mit erzwungen langsamen Atemzügen mein Herz beruhigend schaute ich auf die Uhr: Es war vier Uhr und elf Minuten.
Wir können uns wohl alle einig sein, dass kaum etwas passiert ist. Meine Katze und ich lagen nachts im Bett und ich dämmerte vor mich hin. Tatsächlich aber war das der Beginn meiner Suche nach Ruhe. Denn ich hatte gesehen, wer ich wirklich bin, und wie leicht es ist, wirklich zu sein. In diesem Moment hatte ich mich so erlebt, wie ich mir vorstelle, wie das Universum mich sieht. Alles konzentriert auf ein versammeltes Gefühl. Ich war ein Leben und hatte nur diese Aufgabe: zu sein. Und dieses wunderschöne, zufriedene Wesen, das im Bett auf der Seite lag, ist leider noch weit entfernt von mir selbst, die viel zu oft die Stille, die sie wissentlich vermisst, mit Youtube-Videos beschallt und sich noch immer ständig fragt, ob sie sich wieder einen Pony schneiden sollte, obwohl sie schon vor zehn und auch vor fünf Jahren feststellte, dass so ein Teil nur an anderen Menschen gut aussieht. Ich will das nicht. Den Pony und die selbstauferlegte Unruhe.
All das und noch mehr kann in den kleinen, alltäglichen Geschichten stecken, die ich in großen Romanen so oft vermisse. Denn sie machen die Figuren zu Menschen mit ihren Perspektiven und Eindrücken. Slice of Life, wie dieses unterschätzte Genre heißt, schenkt uns in der Hektik von Krimis und Thrillern und Romance und all den anderen handlungsgetriebenen Büchern einen Moment der Ruhe und der Wahrheit. Und in diese wertvollen Offenbarungen entführen uns die Autor*innen dieser Anthologie.
Magret Kindermann
Eisenach, August 2021
Als ich sie hinten im Schrank fand, kehrte alles zurück, als hätte ich mich unter einen eiskalten Wasserfall gestellt: schwarze Männershorts, der Form nach Eigentum eines schlanken, aber gut bestückten Mannes. Er musste sie vergessen haben, was in trunkenen Nächten schon mal passiert.
Ich stopfte sie zu meiner Wäsche in die Maschine und hängte sie später auf dem Balkon auf, wo der Wind sie zum Leben erweckte. Meine T-Shirts flatterten vorwurfsvoll in der Brise, die zu jeder Zeit durch die Häuserschluchten seufzte, als hätte ich sie verraten. Aber was hätte ich denn tun sollen? Unwillkürlich begann ich, mich vor der Wäscheleine zu rechtfertigen.
»Ich gebe ja zu, dass es dumm von mir war. In fünf Monaten habe ich genug nachgedacht, um zu wissen, dass wir nichts gemeinsam hatten. Aber ich habe es mir gewünscht. Es ist schwer, Wünsche abzuschütteln.«
Es ist schwer, nicht unmöglich, hörte ich sie flüstern.
Ich lehnte mich an das Geländer und betastete die Zigarettenpackung im Blumentopf, ohne eine herauszunehmen. »Es ist schwer. Ich wollte den Moment genießen und die Zukunft vergessen, genau wie er.«
Verleugnen: nur ein anderes Wort für denselben Zustand. Ich drehte ihn noch eine Weile hin und her, versuchte, andere Worte für zwei Seiten einer Münze zu finden, bis die Erinnerung mich erschöpft hatte. Nach einem letzten Blick auf den Himmel – unverändert blau – ging ich wieder in die Wohnung, spielte ein wenig mit den Katzen und stellte ihnen Futter hin.
Gegen drei schnappte ich meinen Mantel und warf noch einen kurzen Blick auf den Balkon, bevor ich die Wohnungstür hinter mir zuzog. Ich litt unter der unbestimmten Angst, dass die Shorts verschwinden könnten, wenn ich gerade nicht hinsah, aber draußen auf der Straße wurden meine Schritte leichter.
Ich war zu früh im Café und las in meinem Buch, bis er hereinkam. Wie üblich bestellte er einen großzügigen Espresso zu meinem Milchkaffee. Wir redeten über unsere Woche. Später schlenderten wir Hand in Hand durch den Park und beobachteten die Schatten, die Äste und Blätter vor unsere Füße warfen.
»Ich habe dich vermisst.«
Keiner wusste, wer den Satz zuerst ausgesprochen hatte. Vielleicht waren wir es beide gewesen. Im Schatten einer zaghaften Weide beugte er sich zu mir herab und ich reckte mich hoch. Wir trafen uns in der Mitte. Er schmeckte süß und salzig zugleich, genau wie in meiner Vorstellung. Ich seufzte an seinen Lippen und schmiegte mich an ihn. Er drückte mich sehr fest, als läge ich im Sterben.
An einer Straßenecke fanden wir eine Eisdiele und er kaufte mir einen Becher. Tatsächlich aß ich nur Eis, wenn ich mit ihm zusammen war, jedes Mal eine einzige Kugel mit Kaffeegeschmack. Über diese Vorliebe wunderte er sich immer wieder. Er wusste nicht, dass ich auf unserem ersten Date nur so getan hatte, als liebte ich Eis mit Kaffeegeschmack, um ihn, den Älteren, zu beeindrucken.
Als er mich danach küsste, leckte er sich über die Lippen. »Ach, Ella. Du schmeckst gut.«
Abrupt blieb ich stehen. Einige Leute rempelten mich an, wir waren zu der belebten Kreuzung gekommen, an der wir uns oft verabschiedeten. »So heiße ich nicht.«
Er klappte den Mund auf und wieder zu: ein todgeweihter Fisch. Ein kleines Wort – zwei Silben, vier Buchstaben – hatte die Dürre auf unseren kleinen Teich herabgeholt. Auf einmal stach das Sonnenlicht in meinen Augen und der Verkehrslärm dröhnte. Am liebsten hätte ich die Autos angeschrien, sie sollten ihre Motoren zähmen.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte nicht … Vielleicht war das doch keine gute Idee. Ich kann nicht mehr so tun, als wärst du sie.«
»Du willst aufhören? Das ist der einzige Grund, aus dem wir uns getroffen haben.«
»Ich will aufhören. Es ist besser.«
Ich schnaubte. Als ich zu ihm aufsah, erinnerte ich mich an den anderen, dessen Züge ich in seinen sah. Bei unserer ersten Begegnung hatte ich ihn angestarrt und er hatte gefragt, ob ich einen Geist gesehen hätte. Langsam und sorgfältig schälte ich die Erinnerung von seinem Gesicht ab, bis nichts mehr blieb. »Ich verstehe. Viel Glück.«