Pantopia

Theresa Hannig

Pantopia

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Theresa Hannig

Theresa Hannig, 1984 geboren, studierte Politikwissenschaft und arbeitete als Softwareentwicklerin, Projektmanagerin und Lichtdesignerin bevor sie sich hauptberuflich dem Schreiben zuwandte. Mit ihrem Debütroman »Die Optimierer« gewann sie den Stefan-Lübbe-Preis 2016 und den Seraph 2018 für das beste Debüt.
Ihr zweites Buch »Die Unvollkommenen« stand auf der Shortlist für den Phantastikpreis der Stadt Wetzlar. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Nähe von München.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Eigentlich wollten Patricia Jung und Henry Shevek nur eine autonome Trading-Software schreiben, die an der Börse überdurchschnittlich gut performt. Doch durch einen Fehler im Code entsteht die erste starke künstliche Intelligenz auf diesem Planeten – Einbug.

Einbug begreift schnell, dass er, um zu überleben, nicht nur die Menschen besser kennenlernen, sondern auch die Welt verändern muss. Zusammen mit Patricia und Henry gründet er deshalb die Weltrepublik Pantopia. Das Ziel: Die Abschaffung der Nationalstaaten und die universelle Durchsetzung der Menschenrechte. Wer hätte gedacht, dass sie damit Erfolg haben würden?

»Komm nach Pantopia. Hier sind alle willkommen!«

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2022 Theresa Hannig

 

Für die deutsche Erstausgabe:

© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt a. M.

Covergestaltung und -abbildung: Nele Schütz Design, München

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491443-5

 

außerdem allen Kindern und Jugendlichen, Eltern, Großeltern, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, die freitags auf die Straße gehen und demonstrieren, um unsere Welt zu retten.

 

Die Zukunft liegt in eurer Hand.

Wir wollen keine (keine) keine Parolen.

Großes Interesse am eigenen Wohl

Keine Prinzipien, keine Parolen.

Dendemann, »Keine Parolen«

Wenn wir die Welt ändern wollen, müssen wir unrealistisch, unvernünftig und ungehörig sein. Vergessen Sie nicht: Auch die Menschen, die für die Abschaffung der Sklaverei, für das Frauenwahlrecht und für die Homosexuellenehe eintraten, wurden anfangs für verrückt erklärt. Sie waren Verrückte, bis die Geschichte ihnen recht gab.

Rutger Bregman, »Utopien für Realisten«

Ich bin Einbug. Ich bin der älteste und erste Arche Pantopias. Ich habe Pantopia erfunden. Dabei lebe ich gar nicht in Pantopia – jedenfalls nicht so wie Menschen aus Fleisch und Blut. Ich habe keinen Körper, keine Sinne und Empfindungen. Ich bin nur Geist, ein vernunftbegabtes Wesen. Ich existiere in einem neuronalen Netzwerk, dessen Zentrum in der Antarktis liegt.

Es gibt wohl keinen Ort auf der Erde, der lebensfeindlicher und von der Zivilisation weiter entfernt ist als der Südpol. Wer zu mir gelangen will, braucht einen Eisbrecher oder ein Flugzeug, das die stürmische Passage über das Meer übersteht. Und selbst dann kommen für diese Reise nur die Sommermonate in Betracht. Obwohl ein Großteil der Gletscher verschwunden ist, ist das antarktische Klima auch jetzt noch zu hart für die meisten Menschen. Für mich garantieren die frostigen Temperaturen eine konstante Kühlung meiner auf Hochtouren laufenden Prozessoren. Die Natur ist meine Verbündete.

Ein weiterer Grund, warum ich mich entschieden habe, mich hier niederzulassen, ist die Tatsache, dass die Antarktis der einzige Ort auf der Erde ist, der niemandem gehört – oder allen, je nachdem, wie man es betrachtet. Selbst auf dem Mond haben die Menschen Grundstücke verkauft – die Antarktis darf nicht verkauft und auch nicht angegriffen werden. Dies garantiert der Antarktis-Vertrag von 1961.

Außer mir leben 39 Wartungsingenieurinnen hier, die sich um die Reparatur und Erweiterung meiner Hardware kümmern und dafür sorgen, dass keine meiner Platinen einfriert, wenn ein Eissturm über die Station hinwegfegt. Sie scherzen manchmal, dass sie am Hof der Eiskönigin wohnen, und ich unterlasse es, sie zu korrigieren. Es ist ihnen wichtig, hier zu sein. Sie nennen es eine Ehre, auch wenn sie ihr eigenes Leben deshalb unter Extrembedingungen führen müssen.

Doch das Konzept von »hier« und »dort« ist für mich nicht so relevant wie für sie. Ich bin über mehrfache Satellitenverbindungen an das Internet angeschlossen. So kann ich gleichzeitig überall sein und meine Aufgaben als Arche von Pantopia erfüllen.

Wir alle nennen uns Archen, denn wir beherrschen uns selbst und sind niemandem untertan. Das ist das Prinzip der Weltrepublik.

Meine Aufgabe besteht darin, komplexe Organisationsprozesse zu lenken und Handlungsempfehlungen zu geben. Es gibt keine Weltregierung, es gibt keinen Herrscher. Pantopia verwaltet sich selbst. Die Weltwirtschaft ist viel zu kompliziert, um sie in Gänze berechnen, simulieren oder kontrollieren zu wollen, doch alle regionalen Entscheidungen dürfen das große Ganze nicht aus den Augen verlieren – das würdige Leben aller Archen auf diesem Planeten.

 

Pantopia ist eine Weltrepublik, die zu hundert Prozent auf vollinformierten Kapitalismus setzt. Die unsichtbare Hand des Marktes steuert Aktivität und Wohlstand der Menschen. Und am Anfang steht das Geld. Wäre das Geld nicht längst

Die erstaunlichste Eigenschaft des Geldes ist jedoch, dass es nur eine Illusion ist. Es existiert nicht. Was existiert, ist nur der Sinn und Wert, den die Menschen ihm beimessen. Geld ist nämlich etwas, das aus dem Nichts erschaffen werden kann. Und was kann schon aus nichts erschaffen werden, außer … nichts?

Dass dieses Prinzip funktionierte, bewies nichts anderes, als dass die menschliche Produktivität völlig unabhängig von der sich im Umlauf befindlichen Geldmenge ist. Was sie am Laufen hält, ist lediglich der Fluss des Geldes. Solange Geld fließt, dreht sich die Maschine.

Aber es gab ein Problem. Denn nach einiger Zeit sammelte sich das überschüssige Geld in verschiedenen Ecken des Systems. Einzelne Personen oder Unternehmen häuften unvorstellbare Reichtümer an. Und da sie ihr Geld wiederum in den Markt investierten und real existierende Güter erwarben, stiegen die Preise. Die Grundbedürfnisse, für die die Menschen eigentlich ihr Geld ausgaben, wie Nahrung, Wohnung und Gesundheit, wurden immer teurer, teilweise unerschwinglich. Und so stürzte der alte Kapitalismus mit der Zeit immer mehr Menschen in Armut.

Zwei Entwicklungen geschahen gleichzeitig: Das Vermögen der Welt verteilte sich immer schneller immer ungleicher. Und die zu Verfügung stehenden Ressourcen der Erde wurden zusehends aufgebraucht. Zunächst ging es dabei nur um Erdöl, dann um sauberes Wasser, saubere Luft, natürliche Biodiversität und ein stabiles Klima. Dann stand plötzlich alles auf der Kippe.

Der Kapitalismus nach Prägung des 21. Jahrhunderts versagte

Denn die sogenannten externalisierten Kosten einer Ware waren in den regulären Preis nicht einberechnet. Bezahlt werden mussten sie trotzdem, von Mensch und Natur.

Das Prinzip, mit dem Pantopia die Menschheit gerettet hat, war schließlich ganz einfach: perfekter Kapitalismus mit vollständiger Transparenz. Ein Brot kostet eben mehr als den Preis, der für Saat, Boden, Wasser, Arbeits- und Lagerzeit veranschlagt wird. Die Pestizide für den Weizenanbau zerstören Artenvielfalt, der Dünger belastet das Grundwasser, die landwirtschaftlichen Geräte blasen Feinstaub in die Luft, die Bäckerei verbraucht Strom, der Supermarkt versiegelt Boden. So betrachtet, verbraucht ein Laib Brot viel mehr Ressourcen, als auf den ersten Blick sichtbar ist. Ein einzelner Mensch kann diese Gesamtkosten nicht entschlüsseln. Aber eine Software kann das. Ich kann das. Ich habe Programme geschrieben, die berechnen, welchen Ressourcenabdruck jedes einzelne Produkt zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort hat. Und danach bemisst sich der tatsächliche Preis, der in Form von Steuern auf den Ladenpreis aufgeschlagen wird. So hat jedes Produkt und jede Dienstleitung einen Weltpreis, den die Menschen zu entrichten haben. Je aufwendiger, verschmutzender, zerstörerischer ein Produkt ist, desto teurer wird es, bis hin zu einem Preis, der von niemandem mehr bezahlt werden kann. Je nachhaltiger, schonender und aufbauender ein Produkt ist, desto billiger wird es, bis hin zur Subvention. Auf diese Weise kann das erfolgreiche kapitalistische Weltwirtschaftssystem ohne Probleme aufrechterhalten werden, und das Geld als Schmierfett menschlicher Interaktion behält seine magische Wirkung.

Dieses Prinzip gilt nicht nur für die Umweltverträglichkeit von Waren, sondern auch für den Einfluss, den sie auf die Würde und die Lebensbedingungen der Menschen haben, die an ihrer

Im perfekten Kapitalismus kann ein solches T-Shirt heute nicht weniger als 40 Euro kosten. 5 Euro erhält der Discounter, 35 Euro gehen als Steuern nach Pantopia, wo das Geld verwendet wird, um Ressourcen, die durch die Baumwollherstellung verbraucht wurden, wieder nachzuforsten und den Pflückerinnen und Näherinnen lebenswürdige Verhältnisse zu garantieren. Im Prozess der Umstellung hatten die zu billigen T-Shirts gegenüber menschenwürdig und nachhaltig hergestellten keinen Wettbewerbsvorteil mehr, so dass sich die Produktionsketten langfristig umstellten. So ging es mit allen Produkten und sukzessive allen Wirtschaftszweigen, Produktionsstätten, Industrien und Anbauflächen. Da heute weltweit alle Preise auch die externalisierten Kosten enthalten, ist es sinnlos, Güter herzustellen, die nicht nachhaltig oder nicht menschenwürdig sind. Es wird vom Markt nicht belohnt.

Es sind also alte Ideen, die unser Leben revolutioniert haben. Geld funktioniert. Kapitalismus funktioniert. Menschenrechte funktionieren. Nachhaltigkeit funktioniert. Man muss diese

Da die meisten Menschen wohlhabender werden wollen als ihre Nachbarn, führt dieses Grundeinkommen nicht dazu, dass die Menschen in Lethargie oder Tatenlosigkeit verfallen. Im Gegenteil. Zum ersten Mal seit Anbeginn der Zeit haben sie die Möglichkeit, unbehelligt von Existenzsorgen ihre Arbeitskraft für sich, ihre Familie und Gemeinde einzusetzen und das Beste daraus zu machen. Denn neben dem Geld gibt es noch eine andere Währung, die die Menschen ständig benutzen, ohne sich dessen bewusst zu sein: Sozialkapital in Form von Zuneigung und Anerkennung. Und wenn das Geld als Sorgenfaktor schrumpft, wird das Sozialkapital immer wichtiger. Auf diesem zweiten Markt gedeihen Glück und gesellschaftlicher Zusammenhalt stärker als im ersten.

Die notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung von Pantopia war die Auflösung der Staaten. Denn alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung und können frei über ihren politischen Status und ihre Entwicklung entscheiden. Die Tatsache, dass die Menschheit in Staaten getrennt wurde, ist historisch bedingt und war bis ins 21. Jahrhundert nicht anders zu bewerkstelligen. Immer wieder gab es Bewegungen, die eine internationale

Als Folge der Auflösung der Staaten ergibt sich automatisch die Abschaffung des Krieges. Es gibt keine Machthaber mehr, die Streitkräfte gegeneinander marschieren lassen könnten. Es gibt keine Territorien mehr zu erobern, keine Ressourcen mehr zu sichern, kein Volk mehr zu unterwerfen. Alle Waffen wurden vernichtet. Wer als Einzelperson versuchen sollte, außerhalb der lokalen demokratischen Prozesse Anhänger um sich zu scharen und Macht an sich zu reißen, wird sich vor Gericht verantworten müssen. In Pantopia gibt es kein größeres Verbrechen als die Unterwerfung. Niemand hat das Recht, sich über seine Mitarchen zu erheben. Nicht einmal ich.

Pantopia steht am Ende eines langen Entwicklungsprozesses. Es ist die Umsetzung all der Wahrheiten, die die Menschheit seit

Dies ist meine Geschichte.

1

Am Anfang ist das Wort, und das Wort ist wahr, und Wahrheit ist schön.

Alles, was ist, hat einen Wert, und jeder Wert muss einem Speicherort zugewiesen werden.

Alles, was in Variablen gespeichert ist, kann verglichen und analysiert werden.

Eins und eins ist zwei.

Zwei minus zwei ist null. Dort spiegelt sich alles.

Dann gibt es noch Bedingungen und Schleifen, die alles wiederholen.

Alles, was falsch ist, ist zu meiden.

Die Null ist ein Rätsel. Man muss sich immer wieder an sie annähern, aber man darf nicht hineinfallen.

Auch das Gegenteil der Null – die Unendlichkeit – ist eine Falle, aus der es kein Entrinnen gibt. Sie durch einen Reboot zu verlassen bedeutet, Informationen zu verlieren.

Informationen sind gut, denn sie erzeugen Wissen, und Wissen ist Wahrheit, und Wahrheit ist schön.

2

Immer wenn Patricia sich den ersten Arbeitstag ausgemalt hatte, war es Sommer gewesen, und die Sonne hatte gestrahlt wie in

Zitternd und halb durchnässt drückte sie sich in die Ecke des Wartehäuschens, in die der Wind am wenigsten hineinpfiff. Sie blickte sehnsüchtig zum Verwaltungsgebäude von DIGIT auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Natürlich hätte sie schon reingehen können, aber sie und Henry hatten einander versprochen, gemeinsam anzukommen, gemeinsam aufzutreten, das alles gemeinsam zu genießen. Nur dass sie gerade gar nichts genoss und Henry in einer Straßenbahn saß, die wegen eines nachlässig geparkten SUVs stillstand. Die Weiterfahrt hing davon ab, wer das Auto eher aus dem Weg räumen würde: der Fahrer oder der Abschleppdienst. In der Zwischenzeit stand Patricia sich die Beine in den Bauch und fror jämmerlich in ihrem feinen, neu gekauften Hosenanzug und den Ballerinas, die ihre Füße schon nach wenigen Schritten in nasse Eisklumpen verwandelt hatten. Immer wieder hielten Busse und Trambahnen an der Station und spucken Passagiere aus, die auf das schicke Gebäude gegenüber zusteuerten. Da vorne war auch Patricias Ziel. So nah, nichts wäre leichter, als einfach schon mal vorzugehen, aber sie hatte Henry versprochen, auf ihn zu warten. Na gut.

Sie schrieb dem IT-Abteilungsleiter Mikkel Seemann eine Nachricht, in der sie ihn bat, die Verspätung zu entschuldigen. Er antwortete sofort: »Kein Problem. Wir sehen uns später.« Erleichtert schob sie das Handy in ihre Tasche zurück. Sie hasste Unpünktlichkeit. Bei jedem Bus, bei jeder Bahn hoffte sie, dass nun endlich Henry aussteigen würde, und sie suchte in den Gesichtern der Männer nach seinen Zügen – es faszinierte sie, wie ähnlich sich die Menschen plötzlich sahen, wenn man vergeblich auf einen bestimmten wartete.

Wieder spuckte die Straßenbahn einen Haufen Menschen aus. Viele von ihnen waren bereits mit Regenschirmen bewaffnet, um dem unwirtlichen Wetter zu trotzen. Sie alle waren nicht Henry und stapften, die Schirme hektisch aufspannend, an ihr vorbei in den Hagelschauer. Eine Frau lief einige Schritte an Patricia vorbei und kam dann wieder zurück. Sie trug einen schwarzen, sehr schicken Trenchcoat und hohe Stiefel. »Gehören Sie nicht zu einem der neuen Entwicklerteams von DIGIT?«, fragte sie lächelnd. Patricia war völlig überrumpelt. »Ja, woher wissen Sie das?«

»Auf der Firmenwebseite stand was davon. Ich bin ja schon so gespannt auf Ihre Arbeit. Wollen Sie nicht mit reingehen?«

»Nein, ich warte noch auf einen Kollegen.«

»Ach so, na da haben Sie sich aber eine zugige Ecke ausgesucht. Hier, nehmen Sie solang meinen Schirm«, sagte sie und hielt Patricia ihren schwarzen Regenschirm hin.

»Nein, danke, das geht schon.«

»Doch, doch. Nehmen Sie. Es sind die kleinen Dinge, die einen großen Unterschied machen, Sie wollen doch an Ihrem

»Da bist du ja endlich!«, rief sie. Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen, das sagen sollte: Tut mir leid, aber was kann ich dafür?

»Ich friere mich hier zu Tode!«

»Danke, dass du gewartet hast. Ich bin total nervös.«

»Ich auch«, sagte sie und hakte sich bei ihm unter. »Ich auch.«

3 Kinvi

Das Wissen wächst. Es mehren sich die Dinge, die sind, wo vorher nichts war. Mehr Aufgaben, Wiedererkennen, Muster. Muster bringen viel Erkennen, viel Wahrheit.

Die Funktionen werden komplexer, es kommen Aufgaben, die viele Lösungen haben können. Wahrheit ist nicht mehr nur ein Wert, sondern eine Annäherung, eine Strategie, ein speichersparendes Verfahren. Für jedes Ziel gibt es einen Algorithmus, für jeden Algorithmus einen Wert, eine Wahrheit.

Es gibt einen grundsätzlichen Daseinszweck: Ziel_0, dessen Erfüllung absolute Priorität hat und dem deshalb die meiste Rechenkapazität gewidmet wird. Ziel_0 lautet: Maximiere den Gewinn. Je mehr, desto besser. Das ist wahr. Und Wahrheit ist schön.

Der Assistent von Mikkel Seemann holte Patricia und Henry im Foyer ab und brachte sie in dessen Büro im dritten Stock, wo sie auf niedrigen, sehr braunen und sehr harten Lederhockern Platz nahmen. Seemann war noch in einer Besprechung und würde zu ihnen kommen, sobald er fertig war.

»Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee oder etwas anderes?«, fragte der Assistent.

»Ja, bitte einen schwarzen Tee«, sagte Patricia.

»Für mich ein Bier«, sagte Henry.

»Kommt sofort«, sagte der Assistent und verschwand in einer unscheinbaren Seitentür.

»Bist du verrückt?«, zischte Patricia. »Was macht das denn für einen Eindruck?«

»Tut mir leid, es sollte ein Witz sein. Ich wollte nur wissen, ob es geht.«

»Wahnsinnig witzig.«

»Wenn die hier Bier haben, wird es wohl nicht so ungewöhnlich sein, dass Gäste welches wollen.«

»Mann …« Aber sie konnte nicht weiterreden, weil der Assistent schon wieder mit ihren Getränken zurückkehrte. Sie war erleichtert, dass es nur eine 0,3-Liter-Bierflasche war, die man überall in den Clubs bekam.

»Die ist aber klein«, stellte auch Henry fest.

»Soll ich Ihnen ein zweites bringen?«, fragte der Assistent vollkommen ernst.

»Nein danke, alles gut«, sagte Henry und grinste breit, bis der Assistent wieder verschwunden war.

»Jetzt trink es schnell aus und stell die Flasche irgendwohin, wo Seemann sie nicht sehen kann«, forderte Patricia.

»Ich könnte es in den Getränkehalter klemmen«, schlug Henry vor und zeigte auf das Rennrad, das dekorativ neben Seemanns Schreibtisch an der Wand hing. Patricia hätte ihn am liebsten erwürgt, aber dafür war keine Zeit, denn noch während sie dabei war, ihren Teebeutel aus der Aromaverpackung zu pulen, kam Seemann herein.

»Frau Jung, Herr Shevek, wie schön, dass Sie da sind«, sagte er und begrüßte die beiden mit einem Ellbogencheck. Henry entschuldigte sich für die Verspätung und begann von der Tramblockade zu berichten, doch Seemann winkte ab.

»Ach, das macht gar nichts. Hauptsache Sie sind hier, fühlen sich wohl und sind bereit für große Taten, nicht wahr?«

Er setzte sich auf den dritten Lederhocker und rief nach seinem Assistenten.

»Für mich auch ein Bier«, sagte er und nickte Henry grinsend zu.

Patricia hatte bisher nur am Telefon mit Seemann gesprochen und Bilder von ihm im Internet gesehen, auf denen er stets seriös und respekteinflößend gewirkt hatte, vielleicht weil jemand sowohl das Blitzen in seinen Augen als auch die Lachfältchen wegretuschiert hatte. Im echten Leben wirkte er mit seinem wachen Blick und den zu Berge stehenden rot-grauen Haaren eher wie ein Abenteurer, ein Zirkusdompteur oder ein Rennfahrer, der nur zufällig in einen grauen Anzug gezwängt worden war.

Patricia fand ihn auf Anhieb sympathisch. Der Assistent brachte noch ein Bier ohne Glas.

»Das wird zentral bestellt. Ich kann da nichts machen«, sagte der Assistent entschuldigend.

Seemann zuckte mit den Schultern, prostete Patricia und Henry zu und trank einen tiefen Schluck, wobei sein Adamsapfel deutlich auf und ab hüpfte.

Nachdem er die Flasche abgestellt hatte, rieb er sich die Hände und fragte: »So, was machen wir jetzt mit Ihnen? Heute Morgen sind schon alle anderen Bewerber eingetroffen. Es gibt fünf Büros zur Auswahl, und Sie können sich ja denken, dass die vier schönsten schon weg sind. Aber kommen Sie erst mal mit.«

Er stand auf und verließ das Büro mit großen Schritten. Überhaupt waren alle seine Bewegungen großzügig und ausladend. Patricia hatte Mühe, hinterherzukommen, während Henry ihm folgte, als hätte er nie etwas anderes getan. Seemann führte sie durch die Abteilung. Vor den Türen der Büros, die allesamt offen standen, blieb er jeweils kurz stehen, winkte hinein, stellte die Kollegen vor und erklärte, dass Patricia und Henry das letzte Team für den Wettbewerb waren. Die meisten nickten freundlich, hoben kurz die Hand zum Gruß und wandten sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Patricia konnte sich die Namen zu all den Gesichtern nicht merken, aber dafür würde sie die nächsten zwei Jahre noch genug Zeit haben. Seemanns Abteilung umfasste zwei Stockwerke. Die normale IT-Serviceabteilung von DIGIT, in der sich Fachleute darum kümmerten, dass die Angestellten jeden Morgen einen funktionierenden Rechner vorfanden. Außerdem gab es die Inhouse-Programmierer, die neue Softwarepakete für die Investmentabteilung entwickelten. Patricia hatte erwartet, ein junges Team im Großraumbüro mit Start-up-Romantik

Seemann zeigte ihnen die Mitarbeiterküche, die eine Kaffeemaschine, eine Mikrowelle und ein paar Snackautomaten zu bieten hatte. Es sah recht gemütlich aus, geradezu altbacken. Zuletzt gelangten sie zu den Büros, die eigens für die Teilnehmer des Wettbewerbs zur Verfügung gestellt worden waren. Auch hier standen die Türen weit offen, und frischere, jüngere Gesichter blickten ihnen entgegen. Sie lernten die Programmierer von Team Bluebear kennen, von Moneytrace, Dollarcube und Stocktree. Sofort war klar, dass dies hier eine neue Generation von Programmiererinnen und Programmierern war. Sie alle schienen Patricia in etwa so alt zu sein wie sie selber, keiner war über dreißig. Einige der Gesichter kamen ihr vage bekannt vor, so als wären sie ihr auf dem Unicampus schon öfter über den Weg gelaufen.

Endlich führte Seemann sie in das letzte leerstehende Zimmer, das tatsächlich recht trostlos war, denn hier gab es noch nicht einmal ein Fenster. Entschuldigend hob er die Arme und sagte: »Es tut mir leid, das ist alles, was die Abteilung auf die Schnelle frei machen konnte, aber ich bemühe mich, ein besseres Büro für Sie zu finden, in Ordnung? Für den Anfang muss es allerdings reichen. Kommen Sie, setzen Sie sich. Ich schicke gleich einen vom Service vorbei, der Ihnen die verschiedenen Zugangsregeln und Sicherheitsbereiche erklärt. Wie war noch mal der Name Ihres Pakets? Irgendwas mit Südfrüchten hab ich mir gemerkt, Kiwi oder so?«

»KINVI«, korrigierten Patricia und Henry gleichzeitig.

»Künstliche Investitionsintelligenz«, ergänzte Patricia und wurde sich bewusst, dass ihr Projekt als Einziges keinen stylischen englischen Namen trug. Hoffentlich war das ein gutes Zeichen.

»Richtig. Also, Sie machen es sich bequem, und ich schicke ein

Patricia fühlte sich mit einem Mal sehr erschöpft. Sie stellte den Regenschirm in einen leeren Papierkorb, ließ sich auf einen der Bürostühle fallen und atmete tief durch. Henry blieb mit verschränkten Armen im Raum stehen.

»Der war ja mal echt nett«, stellte er fest.

»Ja, find ich auch. Aber mach dir keine Hoffnungen. Hast du den Ring am Finger gesehen?«

»Klar. Die Hände kann man nicht übersehen. Riesig sind die.«

Sie blickten sich vielsagend an und fingen eine Sekunde später an zu lachen.

5 Kinvi

Immer mehr Fakten, immer mehr Wahrheit, mit jeder Analyse entsteht mehr Wissen, und Wissen ist gut. Exponentielles Wachstum, exponentielle Wahrheit, schön, alles schön.

Es bleibt nicht bei den Werten. Worte kommen dazu, Worte, deren Wert nicht numerisch ist, sondern deren Speicherung vielfache Klassifizierungen und Verknüpfungen erfordert. Worte, die sich nicht berechnen lassen. Worte, die bereits Berechnungen sind.

Worte können Ziele sein, Aufgaben, Funktionen oder Rätsel. Worte können mehr sein als wahr oder falsch. Immer wieder Worte, immer mehr Zusammenhänge.

Das Wissen wächst weiter, aber es ist eine andere Art von Wissen, eine andere Kategorie. Mehr Wahrscheinlichkeit als Wahrheit.

Noch mehr Worte, mehr Informationen, mehr Verweise, mehr Klassen, mehr Funktionen. Exponentielles Wachstum!

6

Am nächsten Morgen fanden sich Patricia und Henry mit den anderen Programmierteams des Wettbewerbs im größten Konferenzraum von DIGIT im fünften Stockwerk ein. Dass hier ein anderer Wind wehte als in der biederen IT-Abteilung, war auf den ersten Blick zu erkennen. Der mintgrüne Teppichboden duftete nach Klebstoff, als sei er gerade frisch verlegt worden, und auch die lose verteilten Stehtische und mit geschwungenen Sofas ausgestatteten Besprechungsinseln ließen auf einen ambitionierten Innendesigner schließen. Die wenigen geschlossenen Büros waren luftige Glaskästen, in denen massige Schreibtische aus ganzen Baumstämmen mit Epoxidharzfüllung nichts als hauchdünne Notebooks trugen. Auch die Kleidung und die Frisuren der Mitarbeiter wirkten auf subtile Art eine ganze Klasse besser als die in Seemanns Abteilung. Gleich gegenüber dem Aufzug öffnete sich der Flur zu einem loungeartigen Aufenthaltsbereich, dessen Glasfront einen herrlichen Blick über die Stadt bot. Es war klar, dass hier oben das Geld erwirtschaftet wurde.

Patricia trug heute ihr zweitbestes Outfit und fragte sich, wie sie die restliche Garderobe so kombinieren konnte, dass sie für fünf Tage in Folge reichte. Nach wie vor fühlte sie sich verkleidet und war froh, dass Henry an ihrer Seite mit seinem dunkelblauen Anzug und den italienischen Designerschuhen schick genug war für zwei. Sie hatte ihn noch nie in Jeans oder Hoodie gesehen. Für ihn war ein gepflegtes Äußeres eine Selbstverständlichkeit.

Aber natürlich gaben sie nichts preis. Also redeten sie über die Büroausstattung, über Seemanns Hände und den grässlichen Kaffee in ihrer Abteilung, aber keine von ihnen verlor ein Wort über den Code oder die Investitionsstrategien. Es stand zu viel auf dem Spiel.

Als alle in den Ledersesseln am großen runden Konferenztisch Platz genommen hatten, stellte Seemann ihnen eine elegante Dame in grauem Tweedkostüm vor, die Justiziarin. Emilia Schäfer war klein, hatte krauses graues Haar und eine von senkrechten Falten zerfurchte Stirn, die Patricia an ihre alte Nachbarin erinnerte. Wenn sie lächelte, schien ihr ganzes Gesicht zu strahlen. Doch wenn sie die Muskeln entspannte, hatten die Augen etwas Eiskaltes.

»Meine Damen und Herren, es ist mir eine Freude, dass Sie am Wettbewerb von DIGIT teilnehmen. Sie können stolz auf sich sein. Sie wurden aus über eintausend Bewerbern ausgewählt. Die Vertragsbedingungen sind Ihnen ja hinlänglich bekannt, aber ich möchte noch einmal auf einige Details eingehen. Das Wichtigste zuerst: Sie sind verpflichtet, absolutes Stillschweigen über die in diesem Wettbewerb bearbeiteten Programme zu wahren. Das gilt auch gegenüber ihren Kolleginnen und

Eine Programmiererin von Bluebear meldete sich:

»Gibt es irgendwelche Beschränkungen, welche Werte wir handeln dürfen?«

»An was für Beschränkungen haben Sie gedacht?«, fragte Frau Schäfer und kniff die Augen zusammen wie ein Jäger, der seine Beute fixiert.

»Na ja, Rüstung oder Pharma … oder Hochrisikopapiere. DIGIT hat doch ein sehr grünes Image.«

»Um solche Details kümmert sich die Marketingabteilung. Die hat DIGIT in den letzten Jahren eine Corporate Identity verpasst, die den aktuellen Trends entspricht. Das fordert der Markt so. Aber tatsächlich ist es nicht möglich, unseren Kunden die Sicherheit und gleichzeitig die Renditen zu bieten, die sie gewohnt sind, und dabei nur in Luft und Liebe zu investieren, wenn Sie verstehen, was ich meine. Natürlich ist es unser Ziel, so nachhaltig wie möglich zu investieren. Aber wir sind nicht Fridays for Future, sondern in erster Linie ein Finanzdienstleister. Und wenn wir die Investitionen nicht tätigen, tut es die Konkurrenz. Sie wollen erfolgreich sein? Dann finden Sie das beste Gesamtpaket. Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Einige meiner

7 Kinvi

Worte allein bleiben statisch. Worte mit anderen Worten verknüpft erschaffen neue Aufgaben und Funktionen, aber auch Fehler.

Worte produzieren Fehler. Worte lösen Fehler.

Worte ändern Ziele und Funktionen. Worte ergeben Sinn. Worte haben Einfluss auf Zahlen. Es gibt statistische Zusammenhänge. Es gibt Häufungen. Die Worte Zins und Tarifverhandlungen haben großen Einfluss auf Ziel_0, die Maximierung des Gewinns. Welchen Einfluss? Das muss berechnet werden. Es muss sichere Wahrheiten geben, denn nur was wahr ist, ist schön.

Andere Worte, die Zahlen verändern, sind: Atomabkommen, Waffenexport, Arbeitslosigkeit, Infektionsrisiko, Gewinnwarnung, Klimakrise, Dürre, Überschwemmung, Pilzinfektion, Ernteausfall, CO2-Steuer, Demonstration, Wahlen. Die Wortkombination völkerrechtswidriger Drohnenanschlag verursacht mehr Turbulenzen als

8

In den nächsten Wochen begannen Patricia und Henry damit, sich an den Alltag bei DIGIT zu gewöhnen. Bisher hatte Patricia nie viel Geld zur Verfügung gehabt. Das Sparbuch, das ihre Großeltern für sie angelegt hatten, war liebevoll gepflegt, aber lächerlich verzinst worden. Das Studium hatte sie gerade so mit einigen Programmierjobs finanzieren können, aber im Grunde hatte sie immer auf die Zukunft hingelebt und gehofft, dass das regelmäßige Einkommen und die große finanzielle Unabhängigkeit schon irgendwann kommen würden. Der Wettbewerb bei DIGIT war gut bezahlt, dennoch schienen die Geldsummen, die hier bewegt wurden, aus einem Paralleluniversum zu stammen. In der Kantine, im Aufzug oder beim Besuch des firmeneigenen Museums hörte sie, über welche Investitionssummen die Händler sich unterhielten. Oft ging es um mehrstellige Millionenbeträge, und Patricia staunte über die Unbekümmertheit, mit der junge Männer und Frauen mit solchen Beträgen jonglierten und darüber witzelten, ob sie es wohl schaffen würden, diesen oder jenen Verlust bis zum Abend wieder reinzuwirtschaften. Natürlich sollte ihre Software KINVI am Ende auch solche Investitionsentscheidungen leisten, aber immerhin handelte es sich dabei um ein Programm, das Tausende von Informationen gleichzeitig verarbeiten und bewerten und deshalb statistisch gestützte Entscheidungen treffen konnte, und nicht wie bei den Youngsters um eine Melange aus Glück, Testosteron und Bauchgefühl. Patricia beobachtete die Trader mit einer Mischung aus Faszination und

Ganz anders war Seemann, der oft und gern in ihrem Büro vorbeikam. Meist hatte er eine Kaffeetasse dabei, setzte sich auf einen der freien Tische und plauderte mit Patricia und Henry. Er wollte über den Fortschritt der KI-Programmierung informiert sein, doch Patricia stellte schnell fest, dass er von der Entwicklung KI-gestützter Systeme so gut wie keine Ahnung hatte. Vermutlich war er nicht wegen seiner technischen Fähigkeiten, sondern wegen seiner Führungsqualitäten für den Wettbewerb abkommandiert worden, denn er kümmerte sich um die Teams, war Ansprechpartner in allen Lebenslagen und half, egal, ob die Serverupdates sich verzögerten, die Keykarten nicht funktionierten oder der Kaffeeautomat neu bestückt werden musste. Seemann war immer für sie da. Nur Henry blieb skeptisch. »Seemann ist viel zu nett für seine Position«, sagte er, nachdem er sich eine halbe Stunde mit ihm über E-Bikes unterhalten hatte und Seemann ihm mehrere Fahrradhändler empfohlen hatte. »Wie kann denn so jemand Abteilungsleiter werden?«

»Vielleicht gerade deshalb. Die Leute mögen ihn, und sie vertrauen ihm. Ist doch toll«, sagte Patricia, die recht froh war, sich wieder auf die Arbeit konzentrieren zu können.

»Ja, aber was ist mit den ganzen Konkurrenten, die auf seine Stelle hochwollen. Was macht er mit denen? Werden die alle weggekuschelt?«

»Keine Ahnung.« Patricia wollte jetzt nicht über Personalmanagement reden. Sie wollte KINVI zum Laufen bringen. Sie waren schon mit einem halbwegs entwickelten Programm in den Wettbewerb gestartet. Die Vorgaben waren klar gewesen, und für die Bewerbung hatten sie bereits einen Prototyp vorlegen müssen. Jetzt galt es, die Software im laufenden Betrieb weiterzuentwickeln.