RHEINPROVINZ
Dokumente und Darstellungen
zur Geschichte der rheinischen Provinzialverwaltung
und des Landschaftsverbandes Rheinland
Band 18
Herausgegeben vom
LANDSCHAFTSVERBAND RHEINLAND
LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum
Redaktion: Wolfgang Schaffer
ANDREAS KINAST
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
3. Auflage 2014
2. Auflage 2011 und
1. Auflage 2010: sh Verlag, Köln
© 4., überarbeitete Auflage 2021 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe
(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)
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Umschlagabbildung:
Gebäude der ehem. Kinderfachabteilung Waldniel, 2004, Foto: A. Kinast; Stempel aus Bundesarchiv Berlin, Provenienz Kanzlei des Führers, Akte Bouhler
Einbandgestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: Walburga Fichtner, Köln
EPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-412-52313-8
GRUSSWORT ZUR NEUAUFLAGE DER PUBLIKATION VON ANDREAS KINAST „‚DAS KIND IST NICHT ABRICHTFäHIG‘. ‚EUTHANASIE‘ IN DER KINDERFACHABTEILUNG WALDNIEL 1941–1943“
VORWORT: ZEHN JAHRE DANACH
EINLEITUNG: EIGENTLICH WOLLTE ICH NUR EIN BUCH LESEN
1.„MELDUNG GEMäSS RUNDERLASS …“
2.VOM „ST. JOSEFSHEIM“ WALDNIEL ZUR „KINDERFACHABTEILUNG“ – DIE VERäNDERUNGEN AB 1933 AM BEISPIEL EGIDIUS S.
3.DIE „KINDERFACHABTEILUNG“ WALDNIEL
Die Einrichtung der Kinderfachabteilung 1941
Der erste Todesfall für Hermann Wesse als Arzt in Waldniel
Die Bedeutung der Waldnieler Abteilung im Vergleich
Die Einweisung der Kinder
Auflösung der Waldnieler Abteilung
Das weitere Schicksal der Waldnieler Reichsausschusskinder
Tötungen nach Kriegsende ?
4.DIE ANSTALTSÄRZTE
Dr. med. Georg Renno
Dr. med. Hildegard Wesse
Hermann Wesse
5.OPFER UND ANGEHÖRIGE
Die „Euthanasie“ und die Haltung von Eltern und Angehörigen – vier Fallbeispiele
Anneliese B. – „Ally“
Else H. – „Els’chen“
6.DAS PFLEGEPERSONAL
Die leitenden Pflegerinnen der Kinderfachabteilung Anna Wrona und Luise Müllender
Alltag in der Kinderfachabteilung
Ein Gegenbeispiel: Wilma P.
Mord und Pflege „Tür an Tür“?
7.„FORSCHUNG“ UND EXPERIMENTE
8.DER „GUTE TOD“?
9.DIE VORGESETZTEN UND IHRE KONKRETEN VERSTRICKUNGEN IN DIE KINDER-„EUTHANASIE“ IN WALDNIEL, DIE STRAFVERFOLGUNG
Heinrich („Heinz“) Haake
Prof. Dr. Walter Creutz
Dr. med. Wilhelm Kleine
Dr. med. habil. Hans Aloys Schmitz
10. HERMANN WESSE – TRAGIK EINES KINDERMÖRDERS?
„Doktor“ Hermann Wesse
Die Partei und der „Sonderauftrag“
Der Strafvollzug
11. VERGRABEN UND VERGESSEN
EPILOG
STUMME ZEUGEN – DER ORT DES GESCHEHENS GESTERN UND HEUTE
ANHANG
Archivverzeichnis
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweise
Meiner Frau Sabine und meiner Tochter Alina, die mich bei den langen Recherchen zu diesem Buch stets unterstützt und bestärkt haben.
GRUSSWORT ZUR NEUAUFLAGE DER PUBLIKATION VON ANDREAS KINAST „‚DAS KIND IST NICHT ABRICHTFÄHIG‘. ‚EUTHANASIE‘ IN DER KINDERFACHABTEILUNG WALDNIEL 1941–1943“
Im Jahr 2010 erschien erstmals die Veröffentlichung von Andreas Kinast über die Kindertötungen in der Kinderfachabteilung Waldniel in den Jahren 1941 bis 1943. Die Geschehnisse im „Dritten Reich“ um die systematische Erfassung und menschenverachtende „Behandlung“ von fast 100 Kindern und Jugendlichen mit gezieltem tödlichem Ausgang machen noch heute betroffen. Hier zeigt sich eine weitere grausame Facette der „Gesundheitspolitik“ eines Regimes, welches Schwache, Kranke und Behinderte marginalisierte und als „unnütze Esser“ disqualifizierte. Für Hunderttausende psychisch Kranker und Behinderter führte der Weg zwischen 1940 und 1945 reichsweit in den Tod, in zeitgenössischer Diktion beschönigend mit dem Begriff „Euthanasie“ umschrieben.
Wie die vorliegende Studie in eindringlicher Weise deutlich macht, schlossen die „Euthanasie“-Maßnahmen auch Kinder und Jugendliche keineswegs aus. In Waldniel befand sich während des Krieges eine Außenstelle der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Süchteln, der heutigen LVR-Klinik Viersen. Die in dieser Außenstelle zeitweise bestehende Kinderfachabteilung ist ein Teil der systematisch organisierten Kindermorde des NS-Regimes gewesen. Während die Ermordung erwachsener Euthanasieopfer aus der Rheinprovinz grundsätzlich im Anschluss an spezielle Verlegungstransporte außerhalb dieser Provinz stattfand, war die Kinderfachabteilung Waldniel zwischen 1941 und 1943 unmittelbarer Ort konsequenter Schwächung und Tötung der Kinder und Jugendlichen durch gezielte „medizinische“ Maßnahmen.
Der Landschaftsverband Rheinland fühlt sich in der Nachfolge der ehemaligen Rheinischen Provinzialverwaltung, deren Aufgaben er zu einem großen Teil 1953 übernommen hat, verpflichtet, sich auch seiner eigenen Vergangenheit zu stellen und dabei auch seine Vorgängerorganisation miteinzubeziehen. Seit dem Ende der 1980er Jahre und konsequent bis in die Gegenwart sucht er den Anspruch „Der LVR stellt sich seiner Geschichte“ durch Vorträge, Ausstellungen und Publikationen vielfältig umzusetzen. Hierzu gehört seit Jahren auch die Aufarbeitung der Geschichte seiner Einrichtungen und speziell auch der Morde an Kranken und Behinderten. Der LVR bekennt sich zu einer aktiv betriebenen Erinnerungskultur, die nicht nur ein Vergessen verhindern, sondern in einer demokratischen Gesellschaft Zustände und Geschehnisse der Vergangenheit durchaus auch mit einem didaktischen Akzent mahnend und aufklärend gegenwärtig halten will.
In Waldniel ist im Jahr 2018 unter maßgeblicher Beteiligung des LVR und in Ergänzung eines intensiven bürgerschaftlichen Engagements vor Ort eine Gedenkstätte entstanden, die der Aufarbeitung und dem Erinnern an die zahlreichen kranken und behinderten Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen, die in der „Abteilung Waldniel“ verstarben, verpflichtet ist. Auch die Publikation von Andreas Kinast ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Erinnerungskultur. Die Tatsache, dass diese Studie nunmehr sogar in einer vierten Auflage erscheinen soll, erfüllt mich mit Freude, belegt sie doch das ungebrochene Interesse der Öffentlichkeit und die Sinnhaftigkeit und Erfordernis eines fortwährenden Gedenkens an die dunkelsten Kapitel unserer Vergangenheit.
Milena Karabaic
LVR-Dezernentin für Kultur und Landschaftliche Kulturpflege
ZEHN JAHRE DANACH
Als die erste Auflage dieses Buches im Dezember 2010 erschien, glaubte ich am Ende eines langen Weges angekommen zu sein. Fast sieben Jahre lang hatte ich nahezu jede freie Minute mit diesem Thema verbracht, unzählige Telefonate geführt, war von einem Staatsarchiv zum nächsten durch das Land gereist und hatte praktisch jeden Stein umgedreht, unter dem ich irgendwelche weiterführenden Informationen zum Thema vermutete.
Meine Familie hatte mit bewundernswerter Duldsamkeit die immensen Zeitanteile akzeptiert, die ich mit diesem Thema verbrachte, sich mit der diffusen Erkenntnis begnügend, dass „der Papa das machen muss“, weil es „irgendwie wichtig“ ist. Nun war es endlich soweit. Das Buch war fertig, die Vorlage bei der Druckerei. Es gab nichts mehr zu ändern, nichts mehr zu tun und ich dachte, es würde jetzt sicher etwas Resonanz in der Regionalpresse geben. Danach wäre das Thema aber wohl bald für mich abgeschlossen.
Und dann geschah das, womit niemand gerechnet hatte. Die beim sh-Verlag erschienene erste Auflage in einer für die Bände der Schriftenreihe „Rheinprovinz“ des LVR üblichen Größenordnung war nach weniger als zehn Wochen vergriffen. Eine, im April 2011 produzierte zweite Auflage war nach zwei Jahren ebenfalls vergriffen. Beim Böhlau Verlag erschien schließlich 2014 die erste, bearbeitete Neuauflage, die, trotz eines weiteren Nachdrucks im Jahr 2017, heute, während ich diese Zeilen schreibe, auch komplett ausverkauft ist.
So kann ich heute feststellen, dass der Dezember 2010 nicht das Ende, sondern der Anfang eines Weges gewesen ist, den dauerhaft und mit offenem Ende weiter zu gehen, für mich mittlerweile selbstverständlich geworden ist. In diesen zehn Jahren bin ich zu zahlreichen Vortragsveranstaltungen eingeladen worden in denen ich den Menschen das Thema näher bringen und gleichzeitig umfangreiche Kontakte zu Angehörigen bzw. Nachkommen der Opfer und Täter, anderen Historikern, Autoren und Forschern knüpfen konnte, wodurch sich auch für das vorliegende Buch immer wieder Zusatzinformationen, Korrekturen und Ergänzungen ergaben, die ich bei jeder neuen Auflage sorgsam eingepflegt habe. So konnte ich z. B. den Leidensweg des Kindes Nikolaus A., durch die freundliche Unterstützung von Thomas Schnitzler aus Trier, bis zum Ende verfolgen und ihn im Gegenzug mit Details zu dessen Vorgeschichte bei seiner Forschungsarbeit unterstützen. Dass ein faires, kollegiales „Geben und Nehmen“ unter Historikern durchaus nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf, zählt wiederum zu den schmerzlicheren Erkenntnissen, die ich in diesen Jahren gewonnen habe.
Unvergesslich ist mir die erste Buchpräsentation in der damaligen Bücherei am Markt in Waldniel, bei der der Andrang so überwältigend war, dass trotz zusätzlicher, aus dem Rathaus geholter Sitzreihen, die Teilnehmer auf dem Boden und auf den Kinderstühlchen der Spielecke saßen. Die Verleihung des „Rheinlandtalers“ im Jahr 2014 hat mich mit Stolz erfüllt, ebenso zahlreiche, durchweg positive, Rezensionen aus dem In- und Ausland. Eine davon sogar aus Italien, die ich mir zunächst mal übersetzen lassen musste.
Besonders gefreut haben mich die Dinge, die durch dieses Buch in Bewegung gesetzt wurden und ohne mein Zutun eine Eigendynamik entwickelt haben, die ich niemals erwartet hätte und die ich selbst nie hätte stemmen können. Hierzu zählen mehrere, inzwischen verlegte, so genannte „Stolpersteine“ für Opfer, deren Akten ich seinerzeit im verstaubten Süchtelner Aktenkeller aus den Regalen gezogen habe, die Rettung und wissenschaftliche Verfügbar-Machung dieses gesamten Aktenbestandes durch dessen Übernahme in den Aktenbestand des Archivberatungs- und Fortbildungszentrums des Landschaftsverbandes Rheinland in Pulheim-Brauweiler, die von dort geleistete Aufbereitung des Themas für Schüler und junge Menschen mit der DVD und dem dazugehörigen Arbeitsheft „Kinder müssen schlafen nachts“ und nicht zuletzt die in die Dauerausstellung der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf aufgenommenen Exponate zu „Ally“ dem ersten Opfer, dem ich durch meine Recherchen ein Gesicht geben konnte.
Dass die Gedenkstätte in Waldniel auf Veranlassung des LVR im Jahr 2018 aufwändig künstlerisch neu gestaltet wurde und als Ort der Begegnung, des Gedenkens und der Information ein vollkommen neues Gesicht erhalten hat, ist zwar unmittelbar auf den Appell des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation aus dem Jahr 2012 zurückzuführen. Dieser Appell war allerdings die konkrete Folge der Begehung der Anstaltsruine in Waldniel und der dort am Vortag seines Entstehens von Peter Zöhren und mir gehaltenen Vorträge.
So kann ich heute auf zehn erfolgreiche Jahre und viel Erreichtes in puncto Aufklärung und Gedenken an die Opfer der Waldnieler Kinder-„Euthanasie“ zurückblicken und darf auf die nächsten Jahre gespannt sein, denn bis heute vergeht eigentlich kein Monat, in dem mich nicht mindestens eine Anfrage von Familienangehörigen, Historikern, Pädagogen, Heimatforschern o.ä. zu diesem Thema erreicht.
Ich habe mal in einem Interview mit dem WDR gesagt, dass meine Intention bei der Arbeit an diesem Buch stets war: „Wenn es hinterher auch nur einer liest, dann hat sich die Arbeit gelohnt.“
Dazu stehe ich heute noch. Ich bin ungemein froh darüber, wie viele Menschen dieses Buch gelesen haben und immer noch lesen und trotzdem: Auch wenn es nur eine Person getan hätte. Die Arbeit hat sich gelohnt!
Kempen im April 2021
Andreas Kinast
Gedenkstätte Waldniel Hostert, November 2020
Abb. 1: „Diagnose“ auf einem Krankenblatt der Kinderfachabteilung Waldniel, 10.04.1943
Abb. 2: „Das Kind ist nicht dressierfähig.“ Handschriftlicher Eintrag des Arztes Hermann Wesse in einer Krankenakte der Kinderfachabteilung Waldniel, 27.01.1943
EIGENTLICH WOLLTE ICH NUR EIN BUCH LESEN
Im Oktober 2002 wurde mir von meinem Arbeitgeber die Leitung einer Zweigstelle in Waldniel übertragen. Diese Versetzung kam für mich überraschend. Zwar hatte ich mich zuvor auf eine entsprechende Position beworben, dabei aber niemals den Ort Waldniel in meine Überlegungen einbezogen. Über Waldniel wusste ich damals lediglich, dass es irgendwo kurz vor der Grenze zu den Niederlanden liegt und über eine etwas überdimensionierte Kirche verfügt, die im Volksmund liebevoll als „Schwalmtal-Dom“ bezeichnet wird. Die Umstände des Arbeitsplatzwechsels brachten es mit sich, dass ich in den ersten Monaten regelmäßig zwischen Waldniel und meinem früheren Arbeitsplatz in Krefeld hin- und her pendelte. Dabei kam ich auf dem Weg zur Autobahn immer an „Hostert“ vorbei. Unübersehbar liegen dort am Weg die Gebäude des früheren St. Josefsheims der Franziskanerbrüder, deren düstere und marode Kulisse von Anfang an eine gewisse Faszination auf mich ausübte. Nach dem Gebäude befragt antwortete mir eine Kollegin: „Ja, das steht schon ein paar Jahre leer. Früher waren dort die Engländer“, um gleich darauf hinzuzufügen: „Das Gebäude hat aber auch noch eine dunkle Vergangenheit. Irgendetwas war da während der Nazi-Zeit“. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich sicherlich nicht vor, mich einmal mit der Aufarbeitung der Waldnieler Euthanasieverbrechen zu beschäftigen. Eigentlich wollte ich nur ein Buch lesen. Davon, dass in Waldniel während der NS-Zeit „etwas war“, hatte ich vorher irgendwann schon einmal gehört. Den meisten Waldnielern ist dies heute, wenn überhaupt, aber eben nur gerüchteweise bekannt. Manchmal ist die Rede davon, dass es in Waldniel ein „KZ“ gegeben habe, wahrscheinlich weil dieser Begriff für viele das Synonym für NS-Verbrechen schlechthin darstellt. Besser Informierte wissen, dass es etwas mit Geisteskranken zu tun hatte, was sich in dem Gebäudekomplex – der heute so genannten „Kent-School“ – der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Waldniel, abgespielt hat. Dabei gehen die meisten davon aus, dass hier Vergasungen stattgefunden haben, so wie in den Anstalten Grafeneck oder Hadamar.
Eine Tafel am Eingang des ehemaligen Anstaltsfriedhofs, der heute Gedenkstätte ist, enthält bereits einige Informationen. Darüber hinaus hat die Gemeinde Schwalmtal in Zusammenarbeit mit der Europaschule eine Broschüre herausgegeben, die über die Geschichte der Einrichtung berichtet und im groben Umriss auch die NS-Zeit behandelt.
Nun bin ich jemand, der so etwas genau wissen will – vor allem dann, wenn es sich in meiner unmittelbaren Umgebung abgespielt hat. Und da es im Allgemeinen zu geschichtlichen Ereignissen von solcher Tragweite ein gut recherchiertes Buch gibt, in dem man alles darüber nachlesen kann, machte ich mich auf die Suche danach. Nachforschungen in Bibliotheksverzeichnissen und im Internet führten mich alsbald zu der Erkenntnis, dass es ein solches Buch nicht gab. Sollte denn wirklich niemand diese Sache einmal bis ins Detail aufgearbeitet haben? Über einzelne Aufsätze im Schrifttum des Landschaftsverbandes Rheinland und die erwähnte Broschüre gelangte ich zur Dokumentationsreihe „Justiz- und NS-Verbrechen“, in der die Gerichtsurteile aus den Düsseldorfer Euthanasie-Prozessen veröffentlicht sind.1 An dieser Stelle war ich beim Thema Waldniel an den Punkt gelangt, an dem jeder Autor bisher angehalten hatte. Tiefer war niemand in den Sachverhalt eingestiegen. Die Gerichtsurteile waren zwar aufschlussreich, gingen aber kaum auf die Opfer und deren Angehörige ein. Außerdem fußten sie letztlich immer auf der subjektiven Interpretation dessen, was das urteilende Gericht zum jeweiligen
Abb. 3: Luftaufnahme des Areals zu Zeiten der Nutzung als „Kent-School“ durch die Engländer, ca. 1970
Zeitpunkt vom verhandelten Sachverhalt hielt. Zudem gelang es mir in einem nächsten Schritt, staatsanwaltliche Kommentare zu den Urteilen ausfindig zu machen, die den Sachverhalt gänzlich anders interpretierten und die gefällten Urteile zum Teil scharf kritisierten. So fand ich mich plötzlich am Anfang eines gigantischen Puzzles wieder, bei dem man erst dann weiß, wie viele Teile fehlen, wenn man es zusammengesetzt hat.
Triebfeder war lediglich meine ganz persönliche Neugier. Ich wollte wissen, was damals hier passiert war. Ich wollte Namen, Daten, Fakten erfahren, irgendwie den Versuch unternehmen, die damaligen Vorgänge zu begreifen. Zwei Dinge machten dieses Unterfangen schwierig: Einerseits der Mangel an Wissen darüber, wo man denn mit der Suche beginnen sollte. Gab es überhaupt Unterlagen aus dieser Zeit, und wo befanden sie sich? Andererseits wurden Recherchen von vornherein dadurch erschwert, dass alle amtlichen Stellen immer zuerst den „Forschungszweck“ meiner Nachfragen belegt haben wollten und ein allgemeines Unverständnis darüber herrschte, dass jemand sich für dergleichen Dinge interessierte, ohne an einer Dissertation zu arbeiten oder von entsprechender Stelle damit beauftragt worden zu sein.
Ich begann zunächst damit, die Quellenverweise der einschlägigen Fachliteratur zu durchforsten. In den Fußnoten fand sich eine Vielzahl von Hinweisen darauf, woher der jeweilige Autor seine Informationen hatte. So fand ich heraus, dass die Todesbescheinigungen der Ermordeten sich im Kreisarchiv in meiner Heimatstadt Kempen befanden und im alten Archiv der Rheinischen Klinik Viersen-Süchteln noch Krankenakten vorhanden waren. Gleichzeitig stolperte ich über die ersten Fehler und Widersprüche in den vorhandenen Publikationen. Waldniel sollte dort angeblich unmittelbar „bei Andernach“ liegen, einer Stadt, die in Wirklichkeit etwa 150 Kilometer von Waldniel entfernt ist. Andernorts hieß es, Waldniel läge irgendwo in Rheinland-Pfalz. Vom groß angelegten „Widerstand“ in der Rheinprovinz war die Rede, sogar von einer über die Grenzen der Rheinprovinz hinausgehenden „Abwehrfront“ gegen die Krankenmorde. Außer von einer ganz kleinen Gruppe von Mördern, zwei Ärzten, einer Ärztin und zwei Schwestern, war die „Aktion“ angeblich von allen sabotiert und verzögert worden: Zwar hatten alle in irgendeiner Form bei der Aktion mitgemacht, aber stets nur um Leben zu retten, da ja ansonsten andere in ihre Positionen nachgerückt wären, die alles noch viel schlimmer gemacht hätten. Wenn nun alle sich tatsächlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit aller Kraft gegen die Maßnahmen des NS-Regimes gestemmt hatten, wie konnte es dann geschehen, dass annähernd 2.000 Menschen aus der Rheinprovinz den Gastod gestorben sind und fast 100 Kinder hier in Waldniel in der Kinderfachabteilung starben?
Hier stimmte etwas nicht, und je mehr ich darüber las, desto weniger schien zu stimmen. So wühlte ich mich über mehrere Jahre hinweg immer tiefer in den Sachverhalt hinein und begann das Puzzle zusammenzusetzen, wohl wissend, dass es niemals vollständig werden würde. Neben Skepsis und Unverständnis begegnete ich nun erstmals Menschen, die meine Recherchen unterstützten. Allen voran Dr. Wolfgang Werner vom Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland beim LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum in Pulheim-Brauweiler, dessen beiläufige Anmerkung „ich bin dann schon mal sehr gespannt auf Ihr Buch …“ mich erstmals auf den Gedanken brachte, aus meinen Erkenntnissen mehr zu machen, als nur eine private Sammlung von Informationen. Prof. Dr. Tögel aus Magdeburg begab sich eigens in das Archiv der Klinik Uchtspringe, um mir dort eine Personalakte herauszusuchen und zu kopieren. Bei der Zentralstelle des Bundesarchivs in Ludwigsburg, wo man zunächst recht hartnäckig auf meinem persönlichen Erscheinen bestanden hatte, fand ich in Frau Wehr eine geduldige Helferin, die mir Kopien der dort verwahrten Vernehmungsprotokolle erstellte. Ferner bin ich Dr. Pöppe und seiner Sekretärin Frau Hölter, die mir den Zugang zu den Waldnieler Krankenakten eröffneten und mich bei der Recherche nach diversen Personalakten unterstützten, zu besonderem Dank verpflichtet. Weitere Unterstützung erhielt ich von Linda Orth, Rheinische Kliniken Bonn, Herrn Meissner vom Bundesarchiv Berlin, Herrn Spahr vom Stadtarchiv Düsseldorf und Herrn Lamers vom Stadtarchiv Mönchengladbach, um nur einige zu nennen. Immer dann, wenn ich gerade der Ansicht war, nun seien alle Quellen ausgeschöpft und alle Informationen gesammelt, taten sich neue Perspektiven auf. So förderte z. B. die Deutsche Dienststelle in Berlin unerwartet ergiebiges Material zu Tage, während im ehemaligen Berlin Document Center (von dem ich weitaus mehr erhofft hatte) nur einige dürftige Karteikarten vorhanden waren. Manche Stellen hatten jede Kleinigkeit akribisch archiviert und aufbewahrt, während andernorts entscheidende Unterlagen wie z. B. Personalakten bedenkenlos vernichtet worden waren. Die Suche nach noch lebenden Zeitzeugen erschien aufgrund der verstrichenen Zeit eigentlich von vornherein aussichtslos. Umso überraschter war ich, als es mir gelang eine Pflegerin ausfindig zu machen, die in Waldniel gearbeitet hatte, und ich herausfand, dass auch die ehemalige Sekretärin der Kinderfachabteilung noch lebte. Beide fanden sich bereit, mich mit ihren Erinnerungen bei dieser Arbeit zu unterstützen und beantworteten geduldig meine Fragen. Äußerst freundlich und hilfsbereit waren auch die Angehörigen der getöteten Kinder Else H. und Anneliese B., die mir Fotografien der Opfer zur Verfügung stellten und verschiedene Begebenheiten aus den Erzählungen ihrer Eltern bzw. Großeltern beisteuerten.
Die Nachkommen der Täter waren verständlicherweise deutlich zurückhaltender. Die Angehörigen der Pflegerin Luise Müllender, die sofort bereit waren sich dem schwierigen Thema zu stellen und mich nach besten Kräften unterstützten, stellten hier eine positive Ausnahme dar. So wurde diese „Detektivarbeit in Sachen Geschichte“ zu einer wechselhaften Kette von Erfolgserlebnissen und Enttäuschungen.
Die Ergebnisse dieser Arbeit sind in diesem Buch zusammengetragen und beinhalten die Resultate einer mehr als sechsjährigen Forschungstätigkeit. Die Ereignisse der Jahre 1941 bis 1943 in Waldniel werden umfassend und auf möglichst breiter Basis beschrieben. Hierbei hatte ich den Anspruch, ein klares Bild der Täter und ihrer Vorgesetzten zu zeichnen und das Leid der Opfer und deren Angehöriger zu veranschaulichen. Handelte es sich bei den Tätern wirklich um skrupellose Mörder, die sofort freiwillig und mit Begeisterung die Aufgabe übernahmen, kleine Kinder umzubringen? Waren die Eltern – wie immer wieder behauptet wurde – tatsächlich insgeheim mit der Tötung ihrer Kinder einverstanden? Oder gab es welche, die den Mut hatten zu protestieren? Mussten die Schwestern und Pflegerinnen gezwungen werden diese Aufgabe zu übernehmen oder taten sie dies freiwillig? Gab es überhaupt eine Chance sich zu weigern, oder musste man tatsächlich damit rechnen im Falle einer Weigerung hart bestraft zu werden? Fragen über Fragen, die sich sicherlich mancher vor mir schon gestellt hatte, die im Zusammenhang mit der Kinderfachabteilung Waldniel jedoch bislang nie beantwortet wurden.
Die Organisation des Kindermordes, ausgehend von der „Kanzlei des Führers“ in Berlin, ist in der Fachliteratur bereits ausführlich behandelt worden. Deshalb wird sie in diesem Buch nur soweit umrissen, wie zum Verständnis des Sachverhalts unbedingt erforderlich ist oder soweit sie im unmittelbaren Zusammenhang mit den Ereignissen in Waldniel steht. Gleiches gilt für die Aktion gegen die erwachsenen Geisteskranken, die nur am Rande Bestandteil dieser Arbeit sein kann. In Bezug auf die Waldnieler Hauptverantwortlichen wurden deren Vorgeschichte, die Karriere während der NS-Zeit und der Lebensweg nach dem Krieg möglichst detailliert recherchiert und nachgezeichnet. Hierbei wurde ebenfalls der Hauptschwerpunkt auf die Tätigkeit in Waldniel und den Zeitraum 1941 bis 1943 gelegt. Ernst Klee, Autor des Buches „Euthanasie im NS-Staat“, das inzwischen berechtigterweise als Standardwerk zu diesem Themenkomplex gilt, bezeichnete Waldniel und die gesamte Rheinprovinz im Gespräch mit mir als ein „schwarzes Loch“, aus dem bisher kaum verwertbare Informationen zu Tage gefördert werden konnten. Wenn es mir gelungen ist, ein wenig Licht in dieses Dunkel zu bringen und dem Leser eine Vorstellung von dem zu vermitteln, was sich in dieser Zeit hier abgespielt hat, dann habe ich mehr erreicht als ich selbst jemals erwartet hätte. Sollte dieses Buch überdies noch einen Beitrag dazu leisten können, dass mehr Menschen sich an diese Verbrechen erinnern, dann zollen wir heute den Opfern zumindest ein wenig von dem Respekt, den man damals vor dem Wert ihres Lebens nicht hatte.
1Zitate aus dieser Sammlung in Klee 1985; Zöhren 1988; Orth 1989. Literaturhinweise werden in den Fußnoten in Kurztiteln angegeben, die vollständigen Nachweise finden sich im Literaturverzeichnis.
1. „MELDUNG GEMÄSS RUNDERLASS …“
Meldung gemäß Runderlaß des Reichsministers des Inneren vom 18.8.1939 ist erfolgt.“ Dieser wenig aussagekräftige Satz steht unter einer Vielzahl von Untersuchungsberichten der Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie in Bonn, die sich in den erhaltenen Akten der Kinderfachabteilung Waldniel befinden.2 Die Folgen dieser unverfänglich anmutenden Formulierung waren allerdings alles andere als harmlos. Durch diese Meldung wurden behinderte Kinder während der Zeit des NS-Regimes dem so genannten „Reichsausschuss-Verfahren“ zugeführt, einem Verfahren, nach dem behinderte Kinder, sofern man sie als unheilbar bzw.„nicht bildungsfähig“ ansah, in eigens dafür geschaffenen „Kinderfachabteilungen“ getötet wurden.
Ursprung und unmittelbarer Anlass dieser „Kinder-Euthanasie“ bildete der Fall des so genannten „Knauer“–Kindes. Knauer war der Name, an den Hans Hefelmann (Leiter des Amtes IIb in der „Kanzlei des Führers“ und damit Hauptverantwortlicher für die Organisation der Kindermorde) sich zu erinnern glaubte.3 Hitlers Leibarzt Karl Brandt hatte bereits 1947 beim Nürnberger Ärzteprozess einen derartigen Fall erwähnt, allerdings keine Angaben in Bezug auf den Namen des Kindes gemacht. Verschiedene Historiker haben Nachforschungen angestellt, um den wirklichen Namen und die Herkunft dieses Kindes zu ermitteln.4 Bis 2008 galt die durch Udo Benzenhöfer im Jahr 2000 veröffentlichte Identifikation des Kindes als eines aus Pomßen bei Leipzig stammenden Jungen5 als allgemein anerkannt. Auch diese Darstellung musste zwischenzeitlich revidiert werden, nachdem aus dem Familienkreis des besagten Jungen bestätigt wurde, dass das Kind normal entwickelt war und seinerzeit eines natürlichen Todes gestorben ist.6 Die genaue Identität des „Knauer-Kindes“ bleibt somit bis heute unklar.
Wichtig und für den weiteren Verlauf der Geschichte entscheidend waren auch vielmehr die weiteren Ereignisse, die durch den Präzedenzfall des „Knauer-Kindes“ ausgelöst wurden. Die „Kanzlei des Führers“ („KdF“ – nicht zu verwechseln mit der identisch abgekürzten NS-Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“) war Hitlers Privatkanzlei innerhalb der NSDAP und für die persönlichen Belange des „Führers“ zuständig. Das Amt IIb, dem Hans Hefelmann vorstand, hatte die Zuständigkeit für die Bearbeitung von Gnadengesuchen, die aus der Bevölkerung direkt an Hitler gerichtet wurden. Vermutlich im März 1938 − der genaue Zeitpunkt ist nicht mehr zu verifizieren − ging bei Hefelmann das Gesuch eines Mannes ein, der Hitler um die Genehmigung zur Tötung seines schwer missgebildeten Sohnes bat. Dieses Gesuch wurde bislang nicht gefunden und ist sehr wahrscheinlich gegen Kriegsende mit den Akten der „Kanzlei des Führers“ vernichtet worden. Die folgende Darstellung basiert auf den Angaben von Hefelmann und Brandt.
Abb. 4: Hans Hefelmann, 1964
Nach Aussage von Hitlers Leibarzt war dieses Kind blind, ihm fehlten ein Bein und der linke Unterarm. Professor Werner Catel, Leiter der Universitätskinderklinik Leipzig, traf die Feststellung, dass das Kind zudem geistig zurückgeblieben sei und „niemals normal sein würde“. Daraufhin bat der Vater ihn um die Einschläferung seines Sohnes. Da Catel dies aufgrund der bestehenden Gesetze ablehnen musste, empfahl er dem Vater, einen Brief an Hitler zu schreiben und diesen um die Erlaubnis zur „Erlösung“ des Kindes zu bitten.7 Glaubt man der Aussage von Hefelmanns Stellvertreter Richard von Hegener, dann gingen zu dieser Zeit häufiger derartige Gesuche ein:
„Schon etwa ein halbes Jahr vor Ausbruch des Krieges liefen immer öfter Gesuche von unheilbaren Kranken oder besonders schwer verletzten Menschen ein, die um Erlösung von ihren für sie unerträglichen Leiden baten. Diese Gesuche waren besonders tragisch, da auf Grund der bestehenden Gesetze ein Arzt solchen Wünschen nicht Rechnung tragen durfte. Da die Dienststelle, wie uns immer wieder vorgehalten wurde, auf Befehl Hitlers gerade solche Fälle bearbeiten sollte, die gesetzmäßig nicht zu lösen waren, fühlten sich Dr. Hefelmann und auch ich für verpflichtet, nach einiger Zeit eine Anzahl solcher Gesuche dem Leibarzt Hitlers, damals Oberarzt Dr. Brandt, vorzulegen und eine Entscheidung Hitlers einzuholen, was mit solchen Gesuchen geschehen solle. Dr. Brandt teilte dann bald darauf mit, dass nach seinem Vortrag Hitler entschieden habe, derartigen Gesuchen stattzugeben, sofern von dem behandelnden Arzt des Kranken als auch einer neu zu bildenden Ärztekommission die tatsächliche Unheilbarkeit des Leidens erwiesen sei.“8
Hitler muss sich sehr für diesen Fall interessiert haben, denn er schickte daraufhin seinen Leibarzt persönlich nach Leipzig, um das Kind zu untersuchen. Nachdem Brandt ihm das Ergebnis seiner Untersuchung mitgeteilt hatte, stimmte Hitler dem „Gnadentod“ zu. Das Kind wurde daraufhin durch Catel „eingeschläfert“. Brandt wies ausdrücklich darauf hin, dass Hitler nicht wünschte, dass sich die Eltern für den Tod des Kindes verantwortlich fühlen sollten. Gerade an diesem Fall wird deutlich, wie Hitler sich selbst als Staatsoberhaupt über die bestehenden Gesetze stellte und die Rolle des „Herren über Leben und Tod“ ohne zu zögern übernahm. Mit dieser Einzelfallentscheidung wurde der Grundstein für den organisierten Massenmord gelegt, der in den folgenden fünf Jahren ein erschreckendes Ausmaß annehmen sollte. Erste Opfer dieses organisierten Mordes wurden die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft: Hilflose, geistig und körperlich behinderte Kinder.
Abb. 5: Philipp Bouhler, 1938
Abb. 6: Karl Brandt, 1948
Hitler erteilte anschließend dem Leiter seiner Kanzlei, Philipp Bouhler, und seinem Leibarzt Karl Brandt die Genehmigung, zukünftig in ähnlich gelagerten Fällen analog des Falles „Knauer“ zu verfahren.
Eine gesetzliche Grundlage für diese Morde zu schaffen lehnte Hitler stets ab. Damit sie den zu erwartenden Widerständen und Fragen der betroffenen Stellen gegenüber legitimiert auftreten konnten, stellte er Bouhler und Brandt einen Erlass aus, der erhalten geblieben ist, weil der damalige Justizminister Dr. Gürtner eine Kopie davon in seinen Unterlagen aufbewahrte:
Abb. 7: Der „Gnadentoderlass“ von 1939
„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“ − Darunter die handschriftliche Notiz des Justizministers: „Von Bouhler mir übergeben am 27.8.40 – Dr. Gürtner“.
Abb. 8: Justizminister Dr. Franz Gürtner, ca. 1935
Dieser eine Satz genügte, um Justiz und Ärzteschaft zum Schweigen zu bringen und tausenden geistig behinderter Patienten zwangsweise den „Gnadentod zu gewähren“. Gürtner hätte als Justizmminister energisch gegen die Krankenmorde einschreiten müssen, denn auch nach dem 1940 geltendem Recht war die Tötung von Geisteskranken Mord.9 Nachdem er zunächst lange gezögert hatte, pochte er bei einer Besprechung mit dem Chef der Reichskanzlei, Dr. Lammers, darauf, dass Hitler ein Gesetz erlassen müsse, um die Krankentötungen juristisch zu legitimieren. Andernfalls müsste die Aktion sofort eingestellt werden:„ […] wie Sie mir gestern mitgeteilt haben, hat der Führer es abgelehnt, ein Gesetz zu erlassen. Daraus ergibt sich nach meiner Überzeugung die Notwendigkeit, die heimliche Tötung von Geisteskranken sofort einzustellen. Das heutige Verfahren ist nicht zuletzt durch die versuchte Tarnung rasch und weithin bekannt geworden. […] Der Standpunkt, die Reichsjustizverwaltung wisse von dem ganzen Verfahren nichts, ist den eigenen Behörden gegenüber unmöglich“.10 − Anstelle eines Gesetzes legte Bouhler ihm am 27. August 1940 die oben abgebildete „Rechtsgrundlage“ der Krankentötungen vor. Diese „Ermächtigung“, auf Hitlers privatem Briefbogen geschrieben, besaß formal niemals Gesetzeskraft. Trotzdem akzeptierte Gürtner, dass „der Wille des Führers zu erfüllen“ sei. Fortan war er bemüht Verfahrensregelungen zu finden, mit denen die Justiz den zu erwartenden Beschwerden und Anzeigen begegnen konnte.
Während die Aktion gegen die erwachsenen Geisteskranken in der Fachliteratur bereits intensiv beleuchtet wurde, ist über die „Kindereuthanasie“ bisher relativ wenig bekannt. Unter der Tarnbezeichnung „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ wurde das Programm zur Auslöschung missgebildeter und geistig behinderter Kinder organisiert. Die Petition des „Knauer“Vaters war natürlich nicht die einzige, die die „Kanzlei des Führers“ von deutschen Eltern seit 1933 erhielt. Hans Hefelmann berichtete, dass jeden Tag 2.000 Bittschriften zu verschiedenen Themen die KdF erreichten. Darunter auch solche, in denen um die „Erlösung“ von kranken Angehörigen gebeten wurde.11
Nachdem die rassenhygienische Propaganda geisteskranke und behinderte Menschen als „Ballastexistenzen im deutschen Volkskörper“ gebrandmarkt hatte und deren Ausmerzung, wenn auch zunächst nur durch Ausschluss von der Fortpflanzung und damit Verhinderung weiterer Nachkommen, befürwortete, nahm die Anzahl ähnlich gearteter Gesuche weiter zu. Seit der Verabschiedung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde die deutsche Bevölkerung mit diffamierenden und teilweise an Geschmacklosigkeit nicht mehr zu überbietenden Bildern auf die bevorstehenden Maßnahmen eingestimmt:
Abb. 9: NS-Propagandbild, 1933
Es ist denkbar, dass gerade der Fall des Knauer-Kindes die Aufmerksamkeit der KdFBeamten erweckte, weil ihnen aufgrund der schweren geistigen und körperlichen Behinderung des Jungen bewusst war, dass dieser Fall sehr gut als Musterfall dienen konnte. Karl Brandt kommt in der Initiative zur „Kindereuthanasie“ eine Schlüsselrolle zu. Nach der Aussage Richard von Hegeners war es kein Mitarbeiter der KdF, sondern Brandt selbst, der die Gnadengesuche der Eltern in Form eines Vortrages an Hitler weiterleitete.
Abb. 10: Karl Brandt in SS-Uniform als „Begleitarzt des Führers“, 1937
Die Schwere des Falles wiederum ermöglichte es den Mitarbeitern der Kanzlei, der Problematik die nötige Bedeutung zukommen zu lassen und Brandt dafür zu interessieren. Der Vortrag bei Hitler muss nach den Aussagen der Beteiligten zwischen März und Mai 1939 stattgefunden haben. Damit sicherte sich Brandt eine Vormachtstellung im Bereich der „Euthanasie“ zu einem äußerst günstigen Zeitpunkt. Nach dem überraschenden Tod des Ärzteführers Gerhard Wagner Ende März 1939 war die NS-Gesundheitsführung von einem akuten Machtvakuum betroffen, in das unterschiedliche Interessengruppen vorzudringen versuchten. Dies führte zu einer Reihe von Spannungen um die mittel- und langfristige Vorherrschaft im Bereich der deutschen Medizinalverwaltung. Nachfolger Wagners wurde der Staatssekretär im Innenministerium, Leonardo Conti, dessen machtpolitischer Einfluss jedoch von Anfang an aufgrund seiner mangelnden Nähe zur NS-Führungsspitze beschränkt blieb.
Abb. 11: Dr. Leonardo Conti, ca. 1940
Dadurch waren die Vertreter der KdF in der Lage, eine Führungsrolle in dem zu erwartenden „Euthanasie“-Programm zu beanspruchen. Die Beseitigung behinderter Kinder und Erwachsener war bereits seit den 1920er Jahren ein fester Bestandteil der NS-Ideologie, und Hitler hatte zwischen 1933 und 1935 seinem engsten Kreis die Absicht anvertraut, im Falle eines Krieges diese Frage anzupacken.12 Bereits wenige Wochen nach dem Tod des Kindes Knauer wurde die streng vertrauliche Registrierung aller schwer behinderten Neugeborenen eingeführt. Dies begann mit dem eingangs erwähnten Runderlass des Reichsministers des Inneren vom 18.8.1939. Einleitend hieß es darin, dass zur „Klärung wissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiete der angeborenen Missbildung und der geistigen Unterentwicklung“ eine „möglichst frühzeitige Erfassung der einschlägigen Fälle“ erforderlich sei. Es wurde angeordnet, dass Hebammen, Ärzte in Entbindungsanstalten und geburtshilflichen Abteilungen von Krankenhäusern sowie Allgemeinärzte alle Kinder an das Gesundheitsamt zu melden hatten, die mit folgenden „schweren angeborenen Leiden behaftet“ waren:
1)Idiotie und Mongolismus (besonders Fälle verbunden mit Blindheit und Taubheit)
2)Mikrocephalie
3)Hydrocephalus (sogenannter „Wasserkopf“)
4)Missbildungen jeder Art, besonders das Fehlen von Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule usw.
5)Lähmungen einschl. Littlescher Erkrankung (spastische Lähmung)
Abb. 12: Auszug aus dem geheimen Runderlass von 1939
Gemeldet werden sollten Kinder bis zum dritten Lebensjahr. Diese Altersgrenze wurde später auf bis zu 16 Jahre erhöht. Eine Abschrift des Erlasses ging an die Amtsärzte. Diese sollten die Hebammen und Ärzte ihres Bezirks instruieren und ihnen einen auszugsweisen Abdruck des Erlasses sowie einen Meldebogen übergeben. In diesen Meldebögen wurde u. a. nach der „voraussichtlichen Lebensdauer“ und nach „Besserungsaussichten“ gefragt. Der Amtsarzt oder ein Vertreter sollte sich von der Richtigkeit der Meldung überzeugen. Meldebogen und Befundbericht mussten dann an den hier erstmals offiziell erwähnten Reichsausschuss geschickt werden.
Verantwortlich für die Runderlasse zeichnete der Reichsminister des Inneren, Dr. Wilhelm Frick. Frick hat für die nationalsozialistische Staatsführung eine gewaltige Arbeitsleistung vollbracht. Es gab kaum ein Gebiet, auf dem er nicht im ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft Gesetzesentwürfe ausarbeiten ließ. Frick berief im Mai 1933 einen Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassepolitik ein, der zunächst die Sterilisationsgesetze ausarbeitete und in den folgenden Jahren mehrmals zusammentrat. In diesem Beirat befanden sich führende Rasseforscher und Staatsbeamte wie Ministerialrat Dr. Linden, die später in der „Euthanasie“ wichtige Schlüsselpositionen besetzen sollten.
Abb. 13: Hitler mit Dr. Wilhelm Frick, ca. 1938/39
Was nach der erfolgten Meldung weiter mit den Kindern geschehen sollte, wurde im Runderlass von 1939 noch nicht beschrieben. Erst in einem Erlass des Innenministeriums vom 1.7.1940 heißt es, dass in Görden in Brandenburg eine „Jugend-Psychiatrische Fachabeilung“ zur „Behandlung“ der gemeldeten Kinder eingerichtet worden sei und dass die Errichtung weiterer Fachabteilungen zur „besseren Behandlung“ der Kinder beabsichtigt sei.13 Unterzeichnet wurden die Erlasse vom bereits erwähnten „Reichsärzteführer“ und Chef des zivilen Gesundheitswesens im Reichsministerium des Inneren, Staatssekretär Dr. Leonardo Conti. Einige Hinweise deuten darauf hin, dass Hitler die „Kindereuthanasie“ seiner Privatkanzlei überlassen wollte, für die Durchführung der Erwachsenentötungen jedoch einen Auftrag an Conti und den Leiter der Reichskanzlei vergab. Daraufhin scheint sich ein regelrechter Kampf um die Zuständigkeit für den Mordauftrag abgespielt zu haben, der letztlich mit Hitlers Entscheidung endete, die gesamte „Euthanasie“Aktion in die Hände der KdF zu legen. Angeblich verlangte Lammers (möglicherweise nach der oben erwähnten Besprechung mit Gürtner) eine klare juristische Regelung auf gesetzlicher Grundlage, was Hitler veranlasste, den Auftrag in die Hände des ergebenen und mit weniger Skrupeln behafteten Bouhler zu legen.
Paradoxerweise enthält die Veröffentlichung des Erlasses IV b 2140/40-1079 Mi vom 1.7.1940 den Hinweis darauf, dass der Erlass, den es hier durchzuführen galt, selbst nicht veröffentlicht wurde – ein Widerspruch in sich:
„Der Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden hat zur Behandlung der nach dem Ministerial-Erlaß vom 18.8.1939 – IV b 3088/39-1079 Mi (nicht veröffentlicht) von den Ärzten und Hebammen zu meldenden mißgestalteten usw. Kinder nunmehr in der Landesanstalt Görden bei Brandenburg a. H. eine jugendpsychiatrische Fachabteilung eingerichtet, die unter fachärztlicher Leitung sämtliche therapeutischen Möglichkeiten, die auf Grund letzter wissenschaftlicher Erkenntnisse vorliegen, wahrnimmt. Es ist beabsichtigt, außer dieser Abteilung noch weitere Anstalten und Fachabteilungen einzurichten. Der Reichsausschuß wird in der Folgezeit an die Amtsärzte, in deren Bezirk das jeweilige zur Einweisung in Frage kommende Kind wohnt, herantreten und ihnen mitteilen, in welcher Anstalt das Kind Aufnahme finden kann. Sache der Amtsärzte ist es, die Eltern des in Rede stehenden Kindes von der sich in der näher bezeichneten Anstalt bzw. Abteilung bietenden Behandlungsmöglichkeit in Kenntnis zu setzen und sie gleichzeitig zu einer beschleunigten Einweisung des Kindes zu veranlassen. Den Eltern wird hierbei zu eröffnen sein, daß durch die Behandlung bei einzelnen Erkrankungen eine Möglichkeit bestehen kann, auch in Fällen, die bisher als hoffnungslos gelten mußten, gewisse Heilerfolge zu erzielen.“
Den Eltern wurde vorgetäuscht, man verfüge über neuartige Behandlungsmethoden und Therapien, die sowohl die Besserung des Zustandes, als auch eventuell die vollständige Heilung des Kindes erreichen könnten. In den Anfängen der „Kindereuthanasie“ wird man die Eltern auf diese Weise vielfach erfolgreich getäuscht haben. Spätere Aussagen und Vernehmungsprotokolle zeigen aber, dass die Geheimhaltung bei der Tötung der Kinder ebenso wenig funktionierte wie bei der Aktion gegen die erwachsenen Geisteskranken, und die Eltern sich der Gefahr, in der ihre Kinder schwebten, vielfach bewusst waren. Hauptamtsleiter des Amtes II der „Kanzlei des Führers“ und damit Leiter sowohl der Kinder- als auch der Erwachsenen-„Euthanasie“ war Viktor Brack. Er behauptete später in Nürnberg, dass „auf den Reichsausschuß-Stationen […] jede irgendwie erdenkliche Möglichkeit über den Rahmen einer normalen ärztlichen Betreuung angewandt wurde, um ein solches Kind lebensfähig zu erhalten, wie schwerste, oft lebensgefährliche Operationen“.14 Soviel bisher über die Kinderfachabteilungen bekannt ist, hat keiner der dort beschäftigten Ärzte über eine Ausbildung in Chirurgie, geschweige denn in Neurochirurgie verfügt. Es wäre also rein handwerklich überhaupt niemand fähig gewesen, derartige Operationen durchzuführen. Bracks Angaben werden dadurch als reine Schutzbehauptung bzw. klare Lüge entlarvt.
Abb. 14: Viktor Brack, 1948
Nach Aussage von Professor Heyde, welcher selbst als Obergutachter an entscheidender Position in die „Euthanasie“ verstrickt war, war Brack ein sehr beeinflussbarer Mann, der seine Unsicherheit oft durch autokratisches Auftreten wettzumachen suchte. Er reiste oft und besichtigte die Anstalten, wobei er gerne verschwommene Reden über „persönliche Sauberkeit“, „charakterliche Anständigkeit“ und eine „innere Haltung, die der Euthanasie wert sei“ hielt. Den Widerspenstigen drohte er mit den schlimmsten Strafen; er benutzte gerne das Wort „Sabotage“ und warnte vor Schwächlichkeit.
Abb. 15: Viktor Brack beim Nürnberger Ärzteprozess
Die in Görden entstehende „Muster-Kinderfachabteilung“ des Reichsausschusses, von Hans Hefelmann als „Reichsschulstation“ bezeichnet, wurde geleitet von Professor Hans Heinze. Heinze stieg im Dritten Reich zum führenden Kinder- und Jugendpsychiater auf. Seine Karriere begann in der Brandenburgischen Landesanstalt Potsdam, in der mehr als tausend Epileptiker, geistig behinderte Kinder und Fürsorgezöglinge untergebracht waren. Hans Heinze erhielt dort am 1.5.1934, ein Jahr nach seinem Eintritt in die NSDAP, im Alter von 38 Jahren die Leitung. Als Heinze im November 1938 die Landesanstalt Görden übernahm, waren bereits 118 Kinder und Jugendliche als „Forschungsmaterial“ für die Forschungen des Professor Hallervorden zu den „anatomischen Grundlagen der Idiotie und des Schwachsinns bei Kindern“ in Görden untergebracht. Ab Frühjahr 1939 wurde Heinze bei der Planung der „Kindereuthanasie“ hinzugezogen. Er avancierte zum Obergutachter beim Kindermord und gehörte zu den ersten Gutachtern bei den Vergasungen. In Heinzes Kinderfachabteilung wurden andere Ärzte „in die Art und die Durchführung des Verfahrens“ eingeführt; unter anderem auch der für die Kinderfachabteilung Waldniel vorgesehene Arzt Hermann Wesse.
Abb. 16: Prof. Dr. Hans Heinze, ca. 1938
Die sowjetischen Soldaten nahmen Heinze im Oktober 1945 fest. Im März 1946 wurde er von einem Militärtribunal zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Laut seiner Aussage machte man ihm das Angebot, auf der Krim eine gleichartige Anstalt einzurichten, wie er sie in Görden hatte. Nachdem er dies abgelehnt habe, sei er von der NKWD verhaftet und wegen des Vorwurfs der „antisowjetischen Propaganda“ bestraft worden. Ende 1952 kam Heinze in den Westen und wurde Assistenzarzt an der Landesheilanstalt Mariental bei Münster/Westfalen. Ein Jahr später erhielt er eine Stelle als Leiter der Jugendpsychiatrischen Klinik beim Niedersächsischen Landeskrankenhaus in Wunstorf. Nebenamtlich arbeitete er für die Jugendpsychiatrische Beratungsstelle des städtischen Gesundheitsamtes Hannover. Ende 1961 begann sich die Justiz für Heinze zu interessieren. Am 18.1.1962 stellte die Staatsanwaltschaft den Antrag, die Voruntersuchung zu eröffnen. Heinze entzog sich dem Zugriff, wie viele andere vor ihm, durch „Verhandlungsunfähigkeit“. Ein amtsärztliches Gutachten vom 4.9.1962 bescheinigte ihm, „seelisch schwer beeinträchtigt“ zu sein. Seine seelischen Depressionen seien die „Reaktion auf wiederholte zahlreiche polizeiliche und gerichtliche Untersuchungen der letzten Jahre“. Es folgten weitere Gutachten am 15.10.1963 und 28.4.1964, die Heinze allesamt Vernehmungs- und Verhandlungsunfähigkeit attestierten. Am 30. Dezember 1964 wurde das Ermittlungsverfahren „vorläufig“ eingestellt. Nachdem ein letztes amtsärztliches Gutachten am 30. September 1965 bescheinigt hatte, dass Heinze „psychisch ein Wrack“ und „auf Dauer als verhandlungsunfähig anzusehen“ sei, wurde das Verfahren am 4.3.1966 endgültig eingestellt.
Abb. 17: Hans Heinze, ca. 1980
Der „primus inter pares“ unter den Kindermördern war der Justiz endgültig entkommen. Hans Heinze entwickelte in der Folge eine überraschende Zähigkeit, denn das „psychische Wrack“ lebte nach der Einstellung des Verfahrens noch weitere 17 Jahre. Als er 1983 verstarb, hatte er das stattliche Alter von 87 Jahren erreicht. Das niedersächsische Landeskrankenhaus Wunstorf veröffentlichte eine Traueranzeige mit dem Text: „Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren“.
Am 25. November 1960 wurde auch Hermann Wesse, jener Arzt, der ab September 1942 die Kinderfachabteilung in Waldniel leitete und von dem in diesem Buch noch häufig die Rede sein wird, im Rahmen der Ermittlungen gegen Heinze zu seiner Zeit in Görden vernommen. Wesse, zu diesem Zeitpunkt bereits seit 13 Jahren in Haft, hatte die glimpflich verlaufenden Prozesse gegen andere „Euthanasie“-Täter mitverfolgt. Nach mehreren abgewiesenen Gnadengesuchen hoffte er 1960 gerade darauf, dass ein neues Gesuch, welches seine Cousine für ihn an den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten gerichtet hatte, endlich positiv entschieden würde. Er hatte sicherlich kein Interesse daran, sich selbst mit Tötungen aus Görden zu belasten. Also sagte er zwangsläufig auch zu Gunsten von Heinze aus:
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