Johannes Hofinger
Nasca-Healing
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
*
Impressum neobooks
225 n.Chr. in Cahuachi/Peru
Es war noch dunkel. Kurz vor dem erwarteten Erscheinen der Sonne. Zwölf Männer schritten stumm, mit Kienspänen oder Öllampen den Hügel bergauf. Oben wurden sie schon erwartet.
Junge Männer hatten einen Kreis aus weißen Steinen in den grünbraunen Boden gezeichnet. Unterteilt in 12 Sektoren, zu welchen sich die 12 Männer begaben, ihre Hände gegen Osten streckten und einen tiefen, beschwörenden Gesang intonierten.
Anschließend legten sie sich in ihrem Sektor auf den Rücken, die Füße zur Mitte. Der Kreis war großzügig gestaltet, sodass im Mittelpunkt Platz war für einen kleineren Steinkreis, in dessen Mitte sechs weißgekleidete Mädchen in einer Feuerschale Glut und Flammen hüteten. Neben ihnen steckten auf hölzernen Ständern 6 Blasrohre.
Ein alter Mann trat in die Mitte zu der Feuerschale, zupfte umständlich verschiedene Kräuter, Pilze und kleine Holzstücke aus seiner Umhängetasche, warf diese ins Feuer, wedelte mit einem Fächer aus bunten Federn das Feuer zur dampfenden Wolke und verschwand wieder im Dunkel des sich ankündigenden Morgens.
„Cazana, Cazana“.
Ein Ruf, eher ein Aufschrei. Inzwischen hatte sich der Hügel mit hunderten Menschen gefüllt. Sie lagen auf dem Bauch, sie knieten, sie streckten ihre Hände gen Himmel.
„Cazana, Cazana“
Ein, wie ein Paradiesvogel bekleideter, offensichtlich sehr alter Mann trat auf den Platz und bedeutete den Menschen mit einer eindeutigen Handbewegung zu schweigen.
„Gott hat mich beglückt. Solana sprach zu mir. Dies sei die Zeit der aufgehenden Cazana. Sie werde unsere nächste Zeitspanne begleiten. Unsere Ernte beobachten, unsere Früchte schützen und uns segnen, wenn wir ihr Abbild heiligen.
Deshalb sind wir heute hier. Unsere zwölf Seher werden uns Anleitung geben und wir werden Cazanas Abbild in die geheiligte Erde pflanzen, auf dass sie uns Segen bringe, immer wenn sie ihr Abbild sehe. Solana hat gesprochen. Durch mich, seinen Priester.“
Nachdem der Jubel verebbt war, nahmen die 6 Mädchen ihre Blasrohre, richteten sie auf den aufsteigenden Rauch, sogen diesen ein, drehten sich zu den Sehern und bliesen ihnen den Rauch ins Gesicht. Dies wiederholte sich rhythmisch in einem unhörbaren Takt stummer Musik.
Die Seher atmeten gierig den durch die Kräuter und Pilze durchwirkten Rauch ein, einige begannen zu zucken, andere zu singen und wieder andere zu beten.
Urplötzlich herrschte Stille. Die Seher weiteten ihre Augen, streckten ihre Hände zur Seite, berühren mit den Fingerspitzen einander und bildeten so das Göttliche Rad.
Etwa eine Stunde dauerte das Ritual. Die Seher lagen auf dem Boden, die Hände zueinander gestreckt, miteinander verbunden. Bisweilen ging ein Wogen durch den Kreis der Seher, dann wieder absolute Regungslosigkeit, gefolgt von kurzen, unverständlichen Rufen.
Und dann war es vorbei. Die Seher blieben erst regungslos liegen, atmeten schwer, keuchten den Rauch aus den Lungen und setzten sich schließlich auf.
Dann schleppten junge Männer eine große Holzschale, gefüllt mit weißem Sand in die Mitte des Kreises. Die Seher begaben sich zu diesem Sand und begannen eine Landschaft zu modellieren. Sie bauten jenen Landschaftszug, in welchem das Abbild der Göttin Cazana in die Erde geritzt werden sollte. Eine Gegend, welche noch niemand von oben gesehen hatte, ein Hügelwerk, das nur von den Göttern gesehen werden konnte.
In dieses Relief zeichneten nun nacheinander die 12 Seher verschiedene Punkte und Striche und Kurven. In kürzester Zeit war die Gestalt einer Katze im Gelände sichtbar.
Durch die Rauchschwaden in Trance gesetzt hatten sich die Seher in die Höhe geschwungen und das Gelände von oben betrachtet und die Katzengöttin ins Gelände gezeichnet. Dabei hatten sie Anhaltspunkt durch die geraden Linien, welche sie, und Generationen vor ihnen, schnurgerade in die Landschaft gezeichnet hatten. Wie Linien auf einem Rasterblock.
Wenn in einigen Monaten die neuen Linien und Kurven und Kreise in den Erdboden geritzt worden sind, dann wird Cazana lächeln. Und Segen bringen. Und die Ernte wird wieder gut werden. Nicht so, wie die letzten sieben Jahre. Solana wird sie unterstützen. Gott ist groß.
2002 n.Chr. in Innsbruck/Tirol
OP 3. Saal 3 von insgesamt 6 OP-Sälen. Die Operation war an einem kritischen Punkt angelangt. Die Bypässe waren gelegt, der Stent implantiert, die Herzkranzgefäße folglich wieder offen. Aber das Herz wollte nicht wieder anspringen. Die Herz- Lungenmaschine musste weiterhin dessen Arbeit tun.
Micheal schaute interessiert zu, wie die Grüngekleideten an ihm herumfuhrwerkten, Infusionen anhängten, Spritzen verabreichten und alle paar Sekunden auf den Monitor schielten, der seine Kurven immer mehr einer Geraden anzugleichen schien. Von Sinus keine Spur.
Micheal sah an sich herab und erschrak. Auf einem Schrank sitzen, den es nicht gibt? Auf einer unsichtbaren Bank schweben? Ohne das eigene Gewicht wahrzunehmen? Schwerelos? Was, wenn ich jetzt aufwache und auf den gekachelten Fußboden krache? Aber ich schlafe ja gar nicht. Ich schaue mich mal um. Da hinten ist seltsamerweise eine offene Türe. Offen? Im OP? Drehe ich jetzt durch?
Er geht, schwebt, segelt zur Türe. Auf der anderen Seite sieht er nichts. Es blendet. Irgendwie unangenehm, findet er. Als er sich ein wenig an die Helligkeit gewöhnt hat erkennt er einen langen Gang. Ein weißer Gang. Endlos.
Plötzlich erscheinen an den Seitenwänden rote Warnschilder. Wie blinkende Notausgangleuchten. Kein Durchgang, steht da. Ein roter Pfeil bedeutet Umkehren.
Micheal denkt sich zurück auf seinen unsichtbaren Schrank und augenblicklich sitzt er wieder auf seinem Platz. Die grüne, gerade Linie auf dem Monitor beult sich ganz leicht aus, beginnt sich zu verändern.
Wer bist denn du?
Ich habe dich hier sitzen sehen und dachte, ich leiste dir Gesellschaft. Eron. Ich bin Eron. Manche nannten mich Magier Eron.
Weißt du, was hier vor sich geht?
Ach, nichts Besonderes. Die Leute basteln an uns herum und wir sehen zu. Das ist alles.
An uns? Ich sehe da nur mich.
Ja, ich komme aus Saal 2. Meine Leute sind schon fertig. Die haben kapituliert. Aber bei dir tut sich noch einiges. Ich glaube, die schaffen das.
Und du? Was machst du jetzt?
Bin schon so gut wie weg. Ich gehe jetzt den langen Gang entlang. Spürst du auch den Sog?
Nein, ich spüre nichts.
Dann musst du noch eine Runde weitermachen. Mir reicht´s. Ich gehe. Mach´s gut und bis bald!
Und Eron verschwand.
Micheal fiel auf, dass er überhaupt keine Angst verspürte. Ob die grünen Menschen seinen Monitor wieder auf Sinuskurs bringen würden oder ob die langweilige Linie überhaupt verschwinden würde. Es war ihm egal.
Ihn faszinierte der Blick von oben. So hatte er die Welt noch nie gesehen. Oder doch?
Ja, ich erinnere mich. Vor langer Zeit, da hatte ich ein ähnliches Erlebnis. Damals, als ich meinem Volk half, die Konturen einer Katze in ein nicht einsehbares Gelände zu skizzieren.
Micheal konnte nach drei Wochen die Klinik verlassen und kam in die REHA. Vier Wochen Rehabilitation erlaubte die Krankenkasse. Er ließ keine Trainingsstunde aus, er wollte so rasch als möglich wieder fit werden.
Seit der Operation verfolgten ihn Albträume. Jeden Morgen ein schweißnasses Bett, beim Aufwachen Herzrasen, das erst nach der Morgengymnastik wieder in akzeptablen Rhythmus überging. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nie an seine Träume erinnern. Einzig ein nicht beschreibbares Gefühl von Panik und Angst, ohne konkrete Ereignisse damit verbinden zu können, blieb zurück.
Er meldete sich bei der Psychologin Regina A. zu einer Therapiestunde an. Regina hatte einen guten Ruf in der Rehastätte, war allseits beliebt und geachtet. Regina bat Micheal, am überdimensionierten Ohrensessel Platz zu nehmen. Er rutschte hin und her, fühlte sich ziemlich verloren in diesem riesigen Trumm. Erst, als es ihm gelang, die Füße angewinkelt auf dem Sessel unterzubringen, sich darauf zu setzen und die Hände hinter dem Kopf verschränkte, konnte er sich entspannen. Regina schaltete ihre Stereoanlage ein, schob eine CD in den Schacht und angenehm entspannende Musik erfüllte den Raum, während Regina auf Micheal einredete, ohne dass dieser die Worte zu deuten vermochte. Mehr beruhigende Töne, als logische Sätze drangen in ihn. Bis er einschlief.
Die Stunde war vorbei, Regina holte ihre große Klangschale vom Beistelltisch und strich sanft mit dem hölzernen Schlegel über den Rand des glänzenden Messings. Ein tiefer, warmer Ton erfüllte den Raum und Micheal öffnete die Augen.
„Scheiße, ich kann die Zukunft sehen“ waren seine erstaunt anstatt, wie man erwartet hätte, stolz klingenden Worte.
„Das besprechen wir nächste Woche. Wie gewohnt, Montag neunuhrdreißig. Ja?“
„Elf Uhr.“
„Tut mir leid, aber da habe ich schon jemand eingetragen. Geht neunuhrdreißig nicht?“
„Bei mir schon.“
„Na also, dann bis nächste Woche.“
Micheal verabschiedete sich, ging auf den Gang, um den nächsten Kunden einzulassen und setzte sich auf den frei gewordenen Stuhl. Scheiße, scheiße, scheiße. Das ist ja völlig verrückt. Habe ich das jetzt geträumt? Hat mir die jetzt etwas gegeben?
Stift Zwettl in Niederösterreich. November, 7h morgens.
Es war ein typischer, kalter, trüber Novembermorgen. Michael stellt sein Auto auf dem leeren Parkplatz ab, schlendert, die Nikon schussbereit in den Rechten, den Anorak hochgeschlossen bis zum Kinn, Richtung Kirche.
Zum stattlichen, spätromanischen Prachtbau kommt man nicht, wie bei Kirchen meist üblich, indem man zu ihm emporwandert, sondern hier muss man nach unten. Zahlreiche Stufen führen nach unten zum Portal.
Michael geht nicht die Stufen nach unten, er geht nach links in den verblühten Rosengarten, zwischen ersten Schneeflecken knistert und schreit der kalte Kies unter den Wanderschuhen. Am Ende des Gartens, ein rostiger Rosenbogen weist den Weg, führen uralte Steinstufen nach unten zum Friedhof.
Die ersten Strahlen vom Himmel zwängen sich zwischen Wolkennebeln den Weg. Er setzt sein 14-30er Weitwinkel auf die Nikon und versucht, die Stimmung einzufangen.
Ein kalter Windstoß greift nach seinen Füßen, gefolgt von tiefem Nebel, der ihn abtastet, wohl eher begutachtet und taxiert.
Michael vergisst seine Kamera, setzt sich auf die oberste Steinstufe, verfolgt, wie der weiße Rauch an ihm vorbei nach unten streicht, die Stufen entlang bis zu den alten Gräbern der Stiftsverstorben- und vergessenen.
Kälte Nässe und Angst. Ja, Angst. Michael zittert, während der Nebel immer schneller nach unten zieht siegen die ersten Sonnenstrahlen gegen die Dunkelheit.
Er geht die Stufen nach unten, versucht die Inschriften auf den steinumrahmten Grabkreuzen zu entziffern. Äbte, Monsignore, Hochwürdige und andere Priester. Diener des Herrn. Manche vielleicht auch Diener der Mitmenschen. Aber dies steht nicht geschrieben.
Als er auf dieser eiskalten Steinstufe saß, die weißen Fetzen an ihm vorbei nach unten schossen, eisiger Wind sein Gesicht streifte, da glaubte er, in die Hölle zu blicken und fühlte sich angezogen wie eine Ameise im Abflussstrudel der Badewanne.
Nein, noch wollte er dem Sog nicht nachgeben. Er hatte noch etwas vor in diesem Leben. Ich komme im Frühling wieder. Oder im Sommer. Wenn die Rosen blühen, wenn die Vögel singen und von unten, von der Kirche die Orgel eine Messe feiert.
Michael geht zurück zu seinem Auto, nicht, ohne auf dem Weg ein paar Aufnahmen von nebelverweichten Stiftsgebäuden zu machen. Früher, geht ihm durch den Kopf, früher, hat man Vaseline auf das Objektiv geschmiert, um weiche, verschwommene, geheimnisvolle Fotos zu machen. Oder Filme. Wie „Zärtliche Cousinen“. Der Kameramann muss da wohl kiloweise Vaseline verpatzt haben. Wegen der Zensur. Oder vielleicht doch aus künstlerischem Anspruch? Oder beides?
Seltsame Gedanken. Softporno gegen Stiftskirche. Vaseline gegen Nebel.
Im geheizten Hybrid – man muss ja irgendwie sein Umweltgewissen beruhigen – geht die Fahrt Richtung Pöllau, dem eigentlichen Ziel der Reise. Michael ist auf der Suche nach den Spuren seiner Vorfahren. Sein Onkel hatte ihm diese Laus in den Kopf gesetzt. Da kommen wir her, hat er gesagt, von dort sind unsere Vorfahren hierher gezogen. Nach Tirol. Vom Waldviertel. Vermutlich stammen sie aus dem Osten. Oder auch nicht. Keine Ahnung. Aber interessant wäre es schon. Meinst du nicht?
Nein, Michael meinte eigentlich nicht. Aber Zeit hatte er, dem Onkel war die Suche nach einem ansehnlichen und auf die Hauswand malbaren Stammbaum oder gar eines Wappens einiges wert und so hatte er beschlossen, Urlaub im Waldviertel zu machen.
Zuvor hatte er im Landesarchiv in digitalisierten Archiven gestöbert und hatte einiges gefunden, das auch seinem Onkel unbekannt war.
Die frühesten Hinweise, welche er finden konnte, zeigten, dass die Familie aus dem Waldviertel stammte. Soweit nichts Neues. Ein Vorfahre war zu Ende des 16. Jahrhunderts nach Frankenfeld gezogen. Vermutlich aus dem Osten kommend.
Den Ort Frankenfeld gab es aber nicht mehr, aber die Gegend, wo dieser Ort gewesen war, ließ sich gut dokumentieren. In der Nähe von Zwettl. Und einer der Vorfahren hatte diesem Stift Zwettl einst einen nicht unbeträchtlichen Grund übereignet. Warum? Verkauft? Verschenkt? Dies ließ sich nicht eruieren.
Michael beschloss, in der Gegend eine Ferienwohnung zu mieten.
Es war Anfang November, als er in einem völlig unbekannten Nest namens Kamles die gebuchte Ferienwohnung bezog. Schon die Anreise war nicht gerade einladend. Ein eisiger Wind fegte Schnee über die endlose, bügelbrettglatte Landschaft, überzog streckenweise die Landesstraße mit einer weißen, durchscheinenden Decke. Wie fliehende, weiße Geister entschwanden die Gestalten beim Anblick der Scheinwerfer und versteckten sich in der endlosen Weiße der Landschaft um im Rückspiegel als lachende Tänzer höhnisch zurückzuwinken.
Er hatte gut geschlafen und nachdem er das nächtliche Eis von der Windschutzscheibe gekratzt hatte beschloss er, die nähere Umgebung zu erkunden. Der Wind hatte nicht nachgelassen, ein leichter Schneefall fütterte die Windböen mit frischer Munition, welche quer über die Straße zu schleudern sie offensichtlich teuflischen Spaß hatten.
Michael war auch begeisterter Fotograf und als solcher war er immer schussbereit. So auch heute. Die Kamera lag am Beifahrersitz, bestückt mit langem Teleobjektiv, einem 120-400er Zoom, da er mit Rehen oder Hasen in diesen weiten, waldreichen Ebenen rechnete.
Und plötzlich war es so weit. Vielleicht 200 Meter vor ihm auf einer glatten Schneewechte war eine Schar von Krähen und dazwischen ein riesiger Greifvogel zu sehen. Er hielt das Auto an, öffnete das Seitenfenster und griff zur Kamera. Ein geübter Dreh am Einstellring für die Verschlusszeit, Autofokus auf manuell und Auslöser auf Serienbilder. Das musste ein Habicht sein. Oder Bussard? Wer war größer? Doch der Habicht, oder? Völlig egal. Jedenfalls kämpfte die Vogelschar um irgendein Aas. Ein großes Stück Aas. Aber wegen der Schneewechte konnte er es nicht erkennen. War ja auch nicht so wichtig. Hauptsache der Greifvogel war scharf abgebildet, dies mussten sensationell gute Fotos werden, dachte er. Jetzt, einfach geil, der Kerl reißt ein großes Stück aus dem Aas, obwohl er mit der anderen Kralle schon etwas festkrallt, halb in der Luft, halb am Fleisch, jetzt reißt der Faden, beide Krallen halten Beute und der Vogel hebt mit kraftvollen Schwingen ab wie ein schwer überladener russischer Transporthubschrauber. Die Nikon rattert wie ein Sturmgewehr. Zehn Aufnahmen pro Sekunde müssten bei dieser Einstellung möglich sein, also draufbleiben am Drücker und den Vogel verfolgen, bis er im nahen Wald zwischen den Bäumen verschwindet.
Michael ist zufrieden. Solche Aufnahmen kannst du normalerweise nur im Alpenzoo schießen, denkt er und beschließt, zurück in die Ferienwohnung zu fahren, um die Aufnahmen abzuspeichern und zu sichten.
Nikon an Laptop angeschlossen. Transfer beginnt. Es dauert nur wenige Minuten, und die Bilder sind am Laptop zu sehen. Geil, einfach geil, findet es Michael.
Er beginnt, die Bilder zu vergrößern, zu zoomen. Was hat denn nun dieser Riesenvogel da an den Krallen? Zu unscharf. Das nächste Bild. Gestochen scharf, das ist ja der reine Wahnsinn. An der einen Kralle hängen irgendwelche Hautfetzten oder Sehnen oder Muskelfasern und an deren Ende ganz eindeutig ein Auge. O Gott, der Vogel hat dem Aas ein Auge ausgerissen, das kann doch nicht wahr sein. Aber es ist eindeutig ein Augapfel. Und dieses tote Auge starrt glasklar und scharf aus dem Laptop und schaut ihn an. Keine Ahnung, was das einmal für ein Tier war. Hase? Keine Ahnung. Aber was ist das an der anderen Kralle? Zu unscharf. Mal sehen, ob diese zweite, hintere Kralle auf einem anderen Bild deutlicher zu sehen ist. Er wischt von Foto zu Foto weiter, bis tatsächlich die Kralle scharf zu sehen ist. Und jetzt wird ihm unheimlich!
Michael greift zum Handy und ruft den Polizeinotruf. Kein Netz. Also muss ich selber nachsehen. Er steigt ins Auto und fährt zu der Stelle, wo er die Aufnahmen gemacht hat. Er versucht es nochmal mit dem Notruf. Kein Netz. Er fährt ein paar hundert Meter vor, kein Netz, er dreht um, einen Kilometer zurück, leider kein Netz, ja was ist denn das hier für eine Scheißgegend?
Nur keine Panik. Es ist noch heller Tag, also alles roger, ganz ruhig bleiben. Wenn nur dieser Scheißwind nicht wäre. Er nimmt dir jede klare Sicht. Dennoch. Ich muss jetzt wissen, was das ist. Zurück zum Aas. Aussteigen? Ja, natürlich aussteigen, du kannst ja nicht auf die Wiese fahren. Er wechselt das Objektiv an der Nikon, setzt ein Universalzoom 24-70 an und stapft gegen die Böen kämpfend in Richtung der Stelle, wo eben noch eine Gruppe von Krähen mit einem Greifvogel eine grausige Schlacht ums eisigkalte Buffet ausgetragen hat. Aber da ist nichts mehr.
Ja, sicher ist es dieselbe Stelle, bin ja nicht blöd, genau da hatte ich geparkt und hier war das Aas, aber da ist nichts. Der Wind? Hat der Wind während der wenigen Minuten den Schnee über den Kadaver geweht und alles zugedeckt? Kann wohl nicht anders sein.
Am nächsten Morgen. Polizei? Ja, was kann ich für sie tun?
Finger? Sie haben einen Vogel mit einem Auge und mit einem Finger in den Krallen gesehen?
Mehrere Finger? Zwei oder drei Finger?
Ja, vielleicht auch vier, der dritte ist schon von den zwei ersten etwas verdeckt, aber vielleicht sind es auch vier aber das spielt doch keine Rolle.
Ob sie einen oder vier Finger an der Kralle eines Vogels gesehen haben, das spielt sehr wohl eine Rolle. Können sie bei uns vorbeikommen?
Wozu? Ich kann ihnen nicht mehr dazu sagen. Das ist alles. Und wenn sie mehr darüber erfahren wollen, dann müssen schon sie hierherkommen und nicht ich zu ihnen, ist doch logisch, oder?
Wann haben sie das beobachtet?
Gestern.
Und rufen erst heute an?
Wegen dem Netz. Genauer gesagt, wegen dem fehlenden Netz.
Ich verstehe sie nicht.
Eben.
Was heißt „eben“?
Eben wegen dem Netz. Hier fällt andauernd das Netz aus und ohne Netz kann man bekannterweise nicht telefonieren.
Michael überlegte kurz. Eigentlich gehen diesen Typen meine Personalien einen Dreck an. Aber, angenommen, es tauchen irgendwann weitere Leichenteile auf, dann könnte er beweisen, dass er seine Wahrnehmung rechtzeitig der Polizei gemeldet hatte. Also gab er Name und Adresse bekannt und legte grußlos auf.