Über das Buch
Wie gestaltete sich in der Residenzstadt Berlin im 18. Jahrhundert – der Epoche der Säkularisierung und der Entstehung einer bürgerlichen Kultur – das Handeln lutherischer Geistlicher zwischen Gemeinde und Obrigkeit? Auf breitem Quellenfundament veranschaulicht Florian Grumbach die pastorale Praxis und die Routinen der Amtsarbeit der Geistlichen, etwa ihre Predigten und ihr Publikationsverhalten. Als Akteure im frühneuzeitlichen öffentlichen Leben speisten Pfarrer ihr Standesbewusstsein aus der Rolle als religiöse Experten, Lehrer und dem geistlichen Amt. Die pastorale Praxis dagegen unterlag nicht allein ihrem Zugriff, sondern ebenso den Einflüssen der Gemeindemitglieder und des landesherrlichen Kirchenregiments, die oftmals von der lutherischen Theologie abgekoppelte Erwartungen hegten.
Vita
Florian Grumbach ist Historiker.
Vorwort
I.Einleitung
1.Fragestellung
2.Aufbau der Arbeit und verwendete Quellen
3.Forschungsstand
II.Lutherische Kirche im Berlin des 18. Jahrhunderts
1.Die lutherische »Kirchenlandschaft« im Berlin des 18. Jahrhunderts
2.Weltliche, ökonomische und normative Hierarchien in der Kirchengemeinde
3.Die Kirchenadministration in Berlin und der Kurmark
4.Die geistlichen Amtsträger
5.Rekrutierung und Karrieren – Geistliche Elite in Berlin?
6.Zwischenrésumé
III.Die Kirchengemeinde als Repräsentationsraum
1.»wann der Struensee die Pfarr Stelle bekäm…« – Die Wahl von Pfarrern
2.Die Inklusivität und die Exklusivität der Abendmahlsgemeinschaft
3.Die Kirchenzucht in lutherischen Gemeinden. Ausschluss als Sanktion
4.Repräsentation von Herrschaft und Legitimität im sakralen Raum
5.Zwischenrésumé
IV.Konjunkturen der Religionspolitik
1.Die Folgen der Bikonfessionalität und die reformierte Konfessionspolitik
2.»Verbesserungen« des Religionswesens und Verdichtungen im Kirchenregiment
3.Phasen und Schwerpunkte. Pietismus, Aufklärung und Restauration
4.Zwischenrésumé
V.Publizieren als pastorale Praktik. Berliner Pfarrer als Schriftsteller
1.Konturen und Verteilungen des Publikationsverhaltens
2.Gelehrte Nischen
3.Kontexte des theologischen Publizierens
4.Predigten, Erbauungsliteratur und Gelegenheitsschriften
5.Zwischenrésumé
VI.Predigen in eigener Sache. Die Selbstrepräsentation der Berliner Pfarrerschaft
1.Die Rechtfertigung von Amt und Autorität
2.Die Einbettung von Gelegenheitspredigten in Gottesdienste
3.Exemplifizierung. Pfarrer als sittliche Vorbilder
4.Die andere Seite der Medaille. Die Logik von Schmähungen und Invektiven
5.Zwischenrésumé
VII.Die Horizonte pastoraler Praxis und die pastoralen Schlüsselpraktiken
1.Zielsetzungen pastoraler Praxis zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung. Erbauung als Metapher
2.»Sich nicht gemein machen« – Die Dialektik zwischen seelsorgerischer Nähe und ständischer Distanz
3.Konfessionelle Repräsentationen – Beichte und Gesang
4.Die Predigt als zentrales Kommunikationsmedium
5.Die Katechisation als Popularisierung theologischen Wissens
6.Schwache Sanktionen. Observanz- und Interventionspraktiken
7.Zwischenrésumé
VIII.Erosionen, Devianzen und Pluralisierungen des religiösen Lebens
1.Krisenwahrnehmungen
2.Deviante Frömmigkeit und Konventikel
3.Eigensinn. Die Vermeidung von Sanktionen
4.Erosion durch die theologische Aufklärung?
5.Zwischenrésumé
IX. Résumé
Abkürzungen
Quellen und Literatur
1.Quellen
Archivquellen
Brandenburgisches Landeshauptarchiv:
Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin:
Geheimes Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz
Landesarchiv Berlin:
Staatsbibliothek zu Berlin:
Gedruckte Quellen
2.Literatur
Monografien
Sammelbände
Einzelne Aufsätze aus Sammelbänden, Zeitschriften und Lexika
Digitale Ressourcen
Florian Grumbach
Predigt, Publikum und Seelenheil
Lutherische Pfarrpraxis im Berlin des 18. Jahrhunderts
Campus Verlag Frankfurt /
New York
Bei diesem Buch handelt es sich um meine leicht überarbeitete Dissertation, die ich im Januar 2021 am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht und im Mai desselben Jahres verteidigt habe. Dass die Studie über die Jahre gedieh, habe ich verschiedenen Fügungen und Glücksfällen, vor allem aber zahlreichen Helfer:innen zu verdanken.
Die Beschäftigung mit lutherischen Pfarrern in der Frühen Neuzeit ergab sich für mich nicht biografisch, sondern geht in erster Instanz auf ein Seminar Prof. Dr. Wolfgang Neugebauers zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Brandenburg-Preußens zurück. Der Entschluss, aus den kleinen, religionsgeschichtlichen Studienarbeiten ein größeres Forschungsprojekt zu machen, reifte anschließend im Diskussionsraum seines Kolloquiums. Prof. Dr. Monika Wienfort danke ich zuvorderst und sehr herzlich für ihre geduldige Betreuung der Dissertation und die zahlreichen, hilfreichen Ratschläge, die sie mir über die Jahre gab. Prof. Dr. Matthias Pohlig danke ich ebenso für Rat, Tat und sein pointiertes Zweitgutachten.
Studium und Forschung sind von materiellen Grundlagen abhängig. Das ist besonders für jene Doktorand:innen weit mehr als ein Ärgernis, denen der sprichwörtliche silberne Löffel fehlt. Ich bin daher der Studienstiftung des deutschen Volkes zu besonderem Dank verpflichtet, die mich sowohl im Studium als auch in der Promotionszeit förderte. Die Humboldt Graduate School finanzierte mir eine sechsmonatige Exposéphase. Diese Stipendien haben mir die konzentrierte Arbeit an meiner Dissertation erst ermöglicht und mich in vielfacher Hinsicht privilegiert.
Lebendige Resonanz ist unabdingbar für die wissenschaftliche Arbeit. Ich danke deswegen Prof. Dr. Marian Füssel, Prof. Dr. Frank Göse, Prof. Dr. Matthias Pohlig, Prof. Dr. Alexander Schunka, Prof. Dr. Xenia von Tippelskirch und Prof. Dr. Dorothea Wendebourg für die Gelegenheit, meine Arbeitsergebnisse in ihren Kolloquien vorzustellen. Aber auch den Teilnehmer:innen dieser Runden, den Berliner Mitdoktorand:innen, den Kolleg:innen der Potsdamer Leibniz-Edition und meinen Freund:innen sei ebenfalls hier für die ungezählten Anregungen, Hinweise und Stichworte gedankt, die den zuweilen engen Kreis meiner eigenen Gedankengänge durchbrachen.
Schließlich gilt mein Dank den Herausgeber:innen von Religion und Moderne, Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger, Prof. Dr. Thomas Großbölting, Prof. Dr. Detlef Pollack und Prof. Dr. Ulrich Willems für die Aufnahme in ihre Schriftenreihe. Die großzügige Bereitschaft der Geschwister-Boehringer-Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und der Wissenschaftspreis des Vereins für die Geschichte Berlins gegr. 1865 halfen mir dabei, die Druckkosten zu schultern.
Heute wirken die Berliner Pfarrer des 18. Jahrhunderts auf mich vertraut und fremd zugleich. Im aufgeklärten Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Königlich Preußischen Landen (Berlin 1781, bei Mylius) hieß es in Lied Nr. 308: »Nichts hilft mein banges Sorgen vom Abend bis am Morgen, nichts meine Ungeduld.« Diese Forderung nach Gelassenheit erscheint trivial, ist aber schwer in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen – vielleicht umso schwerer für die prekär Promovierenden der Gegenwart. Glücklicherweise konnten die Arbeit zwischen den Rebstöcken meiner Eltern und das eine oder andere Glas ihres Weins so manche intellektuelle Verkrampfung lösen. Nichtsdestoweniger mussten andere meine bangen Sorgen und meine Ungeduld ertragen: Meine Frau Luise Hausweiler war in sorgenvollen und zweifelnden, arbeitsreichen und eifrigen Stunden immer mit endloser Geduld und bewundernswertem, munterem Gleichmut an meiner Seite. Ihr gilt meine tiefste Dankbarkeit.
München, Januar 2022
Florian Grumbach
Im Morgengrauen des 11. Januars 1710 schlich sich der Kürschnergeselle Erdmann Briesemann in das Zimmer seines Meisters, des Hof-Kürschners Martin Heinrichs, und erschlug den ruhig Schlafenden brutal mit einem Schlegel aus der Werkstatt. Die Wellen, die das Verbrechen nach sich zog, sollten sich bis auf die Kanzeln der Berliner Stadtkirchen ausbreiten und schließlich in einem öffentlichen Zerwürfnis zweier Berliner Pfarrer gipfeln.1 Und auch wenn es nicht die Absicht dieser Arbeit sein kann, die Geschichte des religiösen Lebens und der pastoralen Praxis im Berlin des 18. Jahrhunderts als histoire scandaleuse zu erzählen,2 bietet es sich an, mit den Vorgängen des Jahres 1710 zu beginnen.
Also zurück ins Haus Martin Heinrichs in der Königstraße,3 wo die Dienstmagd Katharina Mecklenburger den übel zugerichteten, leblosen Körper des Hausvaters fand. Sie alarmierte die städtische Obrigkeit: Zunächst ging man von einem Raubmord aus, denn Briesemann hatte Geld und Silber aus dem Haushalt verschwinden lassen.4 Die Magd Mecklenburger enthüllte jedoch Intimes: Der Geselle Briesemann habe ein ehebrecherisches Verhältnis mit der Gattin – nun Witwe – seines Meisters. Sogar belegen konnte sie diese Beschuldigung, denn Briefe der beiden waren im Haus versteckt. Natürlich fiel der Verdacht vor diesem Hintergrund sogleich auf den Gesellen und die Witwe, die darauf den Ehebruch eingestanden, den Mord aber hartnäckig leugneten. Briesemann ließ sich auch unter der Folter nicht zu einem Geständnis zwingen. Wogegen die Witwe Heinrich schließlich Pläne einräumte, ihren Gatten mit Alaun und Bittermandelöl zu vergiften, und letztlich ihren Geliebten zur Tat angestiftet zu haben.5
Die Beziehungstat hatte großes Aufsehen erregt und sich wohl schnell herumgesprochen. Der Prediger Heinrich Kahmann (1676–1736) von der St. Marienkirche, der Heimatgemeinde des Erschlagenen, behandelte die Tat schließlich auf der Kanzel. Dies stellte keine Seltenheit dar, wenn Kapitalverbrechen Aufmerksamkeit erregt hatten.6 In seiner Predigt ersparte er seinen Zuhörerinnen und Zuhörern keine grausigen Details, weder das Resultat der außergewöhnlichen Gewalt, die Briesemann aufwendete (»die Hirn Schaale zerschmettert und in Stücke zersprungen«), noch die letzten Todesregungen des Opfers (»O wie erbärmlich mögen die Beine gezappelt und die Hände gerungen haben«). Der Prediger erzeugte Abscheu und Erschütterung. Danach betonte er seine persönliche emotionale Involvierung: »Bedenke ichs recht, so gehet mir ein Schauer über die Haut […] und ich werde genöthiget [die Predigt] abzubrechen.« Rhetorisch betrachtet stellte Kahmann so eine emotionale Kohärenz zwischen sich und seiner Gemeinde her. Danach widmete er sich den Fragen, die er bei seinen Gemeindemitgliedern vermutete und die er mit Grundsätzlichem verquickte:
»Ob auch der gute Herr Heinrich habe seelig sterben können, da er so plötzlich, so schnell und unvermuthet das Leben eingebüsset und den bittern Tod geschmecket? da er wol so viel zeit und Raum in der Stunde seines schmerzhaften Todes nicht gehabt, daß er einen Seuffzer zu GOTT gethan und seine Seele in die Hände des Himmlichen Vaters hat befehlen können?«
Und schließlich erläuterte er auch die an die Theodizee anschließende Frage, warum einem frommen Mann wie Martin Heinrich ein solches Unglück geschehen konnte.7 Die Hoffnungen auf einen guten und bewussten Tod waren sozusagen exemplarisch am Kürschnermeister enttäuscht worden, denn »ein böser und plötzlicher Tod« sei mangels religiöser Vorbereitungen »niemahls ein seeliger«. Kahmann konnte und wollte die Zweifel nicht ausräumen, stellte jedoch klar: »non potuit male mori« – der Rechtgläubige könne nicht unselig gestorben sein.8
Dennoch endete die Episode nicht an dieser Stelle, nicht für die Schuldigen und auch nicht für die Prediger des Berlinischen Stadtkerns: Weil Briesemann seine Mordtat nicht gestand, wurden er und die Witwe Heinrich nicht, wie eigentlich geurteilt, hingerichtet, sondern unter allgemeinem Aufsehen in Festungshaft nach Peitz überstellt. Der König befahl sogar, in den Kirchen ein Gebet zu verlesen, »um GOtt zu bitten, daß er« den Täter »offenbahre«.9 Das nicht abschließend geklärte Verbrechen stellte ein öffentliches und religiöses Problem dar. Denn blieben Verbrechen ohne angemessene Sühne, so konnte der strafende Zorn Gottes jene Gemeinschaften zur Gänze treffen, die es versäumten, für Gerechtigkeit zu sorgen.10
Briesemann gestand sein Verbrechen erst fünf Jahre später und wurde gemeinsam mit der Witwe Heinrich 1716 hingerichtet. Er hatte jedoch, wie nun bekannt wurde, seinem Beichtvater, Andreas Schmidt (1672–1745) von der St. Nikolai-Kirche, sein Verbrechen vor längerer Zeit gestanden. Schmidt sah sich gezwungen, über den Fall zu berichten, um sich zu rechtfertigen: Er hatte den Kontakt zu Briesemann auch in der Haft aufrechterhalten und sah sich für ihn verantwortlich. Er stellte den Delinquenten als zutiefst menschlichen, von Gewissensskrupeln und Glaubenszweifeln gequälten Menschen dar, der innerlich mit sich gerungen und Reue empfunden habe: »Da merckte ich abermahl, daß eine Arbeit in seiner Seelen vorging«, so Schmidt, nachdem Briesemann zwar ein Geständnis verfasst, dieses aber wieder verbrannt hatte.11 Im Rahmen seiner seelsorgerischen Beziehung gab Schmidt sein Wissen über das Geständnis und die Täterschaft nicht weiter, denn er zog es vor, zunächst den inneren Konflikt Briesemanns zu lösen. Auch die Tat selbst sei unter Skrupeln geschehen. Denn der Mörder habe erst zuschlagen können, als das Opfer kurz erwacht sei und »Jesu!« ausgerufen habe.12 So habe der Täter seinem Opfer zumindest in Bezug auf sein Seelenheil noch die Gelegenheit zu einem letzten Stoßgebet gelassen. Zudem rechtfertigte er das Beichtgeheimnis, auf das er sich selbst konsequent berief.13
An der Causa Briesemann hatte sich ein öffentlicher Streit entzündet: Kahmann, immerhin ein Kollege Schmidts, leugnete, dass das Sigillum Confessionis bei Mord gelte, attackierte Schmidt scharf und deutete sogar seine Verdammung an. Er bezeichnete ihn als den »Prediger und Haußhalter, der stumm gewesen, da er hätte reden, und blind, da er hätte wachen sollen« und bekundete ironisch, er wolle nicht wissen, wie es ebenjenem Prediger »vor dem Richter alles Fleisches« ergehen möge.14 In einer handschriftlichen, frühen Berliner Zeitung wusste man sogar, wie Schmidt den Brief Briesemanns erhalten hatte und dass der Prediger Johann Lysius (1675–1716) in das Geständnis eingeweiht worden sei.15 Obwohl Schmidt unter Druck geriet, wurde sein Beharren auf dem Beichtgeheimnis nicht beanstandet – zumindest nicht von der städtischen und landesherrlichen Obrigkeit. Der öffentliche Streit der beiden Prediger jedoch konnte nicht toleriert werden. Besonders Kahmann hatte sich bereits durch seine Kompromisslosigkeit einen Namen gemacht und war vom Magistrat der Stadt gerügt worden, nachdem er einen verstorbenen Gerber namens Schön wegen seines unchristlichen Lebenswandels in einer Predigt unter die Verdammten gerechnet hatte – zum Kummer und zur Empörung der Witwe und Nachkommen Schöns. Diese sahen sich der geistlichen Verurteilung nicht hilflos ausgesetzt, sondern reichten wohl mit der Unterstützung eines Advokaten Beschwerde beim Magistrat ein.16 Schließlich war der Streit der beiden Prediger um das Beichtgeheimnis nicht nur stadtbekannt geworden, sondern wurde auch in Periodika aufgegriffen, wie in den Unschuldigen Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen, die in Leipzig erschienen.17
Zur Vermeidung von Unruhe und weiteren Verwerfungen mussten sich Schmidt und Kahmann öffentlich vor der Gemeinde entschuldigen. Ihre Streitschriften wurden verboten.18 Schmidt erklärte dabei, die Sache sei »gottlob! Unter uns beiden abgethan«, »ehe wir einmal im Gerichte vorgestellet«, wogegen Kahmann erklärte, wegen des »harten Schrifftwechsels« nach königlichem Willen »öffentlich Abbitte« zu leisten.19 Doch Kahmanns Stellung in Berlin war nun gefährdet. Ursprünglich als außerordentlicher Prediger nur zur Vertretung auf eine niedere Pfarrstelle voziert,20 hatte er wohl eine Grenze überschritten. Bereits eine Woche nach seiner Entschuldigung schrieb er eine Supplik an den König und versuchte seine Versetzung nach Fahrland zu verhindern: Er »verstehe […] die Oeconomie auff dem Lande nicht“ und »werde mit den [S]einigen crepieren«, so Kahmann über sein zukünftiges Schicksal als ackerbauender Landpfarrer.21 Schmidt dagegen behielt seine Stelle, wohl, weil er »die große Liebe bey seiner Gemeinde« habe, wie die Geschriebenen Zeitungen kolportierten.22 Zwar versammelten sich wohl auch für Kahmann im Amt Unterstützer am Schloss und forderten dessen Verbleib, dies trug allerdings keinen Erfolg.23
Es lohnt sich, diese histoire scandaleuse genauer zu betrachten: Gleich drei Normbrüche waren geschehen. Zunächst hatte Briesemann in denkbar grausamer Weise gegen das Tötungsverbot verstoßen. Schließlich hatte Schmidt das Beichtgeheimnis eingehalten, wo er es – zumindest in den Augen Kahmanns – hätte brechen müssen. Und zuletzt hatte der öffentliche Streit der Prediger die Grenzen der Contenance hinter sich gelassen, sodass sich das Kirchenregiment zum Einschreiten genötigt sah. Die Geschehnisse verdeutlichen viel über Muster im lutherischen religiösen Leben und der Pfarrpraxis im Berlin des frühen 18. Jahrhunderts. Besonders klar tritt hervor, dass sich die Pfarrer einer Vielzahl an unterschiedlich gearteten sozialen Handlungserwartungen gegenübersahen.
Diesem Problemfeld, dem pastoralen Handeln im von Gemeinde, Obrigkeit und Pfarrern beeinflussten Spannungsraum des religiösen Lebens, widmet sich die folgende Arbeit. Sie begreift die pastorale Praxis als Ergebnis einer Aushandlung und erzählt die Geschichte der lutherischen Pfarrer Berlins entlang der beschriebenen Beziehung, aus welcher typische Praktiken, Handlungsformen und Diskurse entstanden. Dazu werden gesellschafts-, kultur- und ideengeschichtliche Perspektiven konsequent miteinander verknüpft und ein neues und differenzierteres Bild der frühneuzeitlichen lutherischen Pfarrerschaft gezeichnet, das die Geistlichen nicht monoperspektivisch entweder auf ihre Theologie, ihren Anteil an der bürgerlichen Modernisierung oder die Trägerschaft ihrer spezifischen Konfessionskultur reduziert. Schließlich können an vielen Punkten veraltete Ergebnisse und Sichtweisen der brandenburgisch-preußischen Kirchengeschichte revidiert, ergänzt und präzisiert werden. Als Gegenstand der historischen Forschung sind die pastorale Praxis und Pfarrer immer noch relevant, denn sie stellten ein einflussreiches Rollenmodell in Bezug auf soziale Arbeit und popularisierende Wissensvermittlung in einer vormodernen Öffentlichkeit dar. Gerade im 18. Jahrhundert und den sich abzeichnenden Wandlungsprozessen entstand zudem eine langanhaltende Spannung zwischen einer Abnahme der Bedeutung von Religion in der Gesellschaft, der Traditionalität pastoraler und kirchlicher Praktiken – beispielsweise der Liturgie – und den Versuchen der Geistlichen, sich an diese Entwicklungen anzupassen.
Um Mord und Totschlag, wie im Fall Briesemanns, wird es dabei nur selten gehen. Wurde jedoch ein solcher Fall publik, bezogen sich Geistliche darauf, indem sie die Verbrechen in einem christlich-moralischen Horizont deuteten. Sie warnten vor den Ursachen und eröffneten gegebenenfalls den Rahmen für den religiösen Trost der Angehörigen. Aber vor allem zeigten sich am Punkt des Konflikts Aspekte des religiösen Lebens, die sonst in relativer Verborgenheit blieben. Einerseits zog erst der Konfliktfall selbst die Produktion von Quellen nach sich. Die pastorale Praxis an sich war eine eher verbale Kultur – so wird man urteilen müssen – die vor allem bei Skandalen und Unregelmäßigkeiten schriftliche Quellen erzeugte. Sieht man von Predigten, Erbauungsbüchern und Theologica ab, produzierten Beichtgespräche, Gottesdienste und die allgemeine Seelsorge kaum Protokolle, Akten und Berichte. Es sei denn, ein Konfliktfall führte dazu, dass sich Beteiligte rechtfertigten mussten. Andererseits zeigten gerade die Konfliktfälle und Meinungsverschiedenheiten, wie Pfarrer sich gegenseitig beurteilten und um gemeinsame Normen rangen, am beschriebenen Beispiel um die so wichtigen Schlüsselpraktiken Predigt und Beichte.
Am Beginn – noch vor der Mordtat – stand die Beichtvater-Beziehung zwischen Schmidt und Briesemann. In Schmidts Lebensbeschreibung von Briesemann legte er besonderen Wert darauf, detailreich seine Seelsorgearbeit mit dem Mörder darzulegen und dessen hohen Bildungsgrad, seine gute Erziehung und die tiefe Religiosität seines Beichtkindes zu beschreiben. Durch die einfühlsame und respektvolle Charakterisierung erschien er trotz seines brutalen Verbrechens menschlich. Zudem legte die Detailkenntnis Schmidts dessen sorgfältige, zeitintensive Beschäftigung mit dem Inhaftierten und ein persönliches Vertrauensverhältnis nahe.24 Dies tat Schmidt nicht, um den Mord, die Schuld des Mörders zu relativieren oder seine Anwendung des Beichtgeheimnisses zu rechtfertigten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er seine Beziehung zu dem Kürschnergesellen idealisierte, um seinen Anteil am schlussendlichen Geständnis und damit seine Fähigkeiten als Seelsorger hervorzuheben. Seine Arbeit mit dem Inhaftierten hatte dessen Seelenheil zum Ziel. Sie begleitete den Gewissenskampf, der schließlich zu Reue und öffentlicher Buße führte. Die Pflicht des Pfarrers und Ziel seiner pastoralen Praxis war nicht zuletzt das Seelenheil des Individuums und ihr Mittel war eine persönliche Beziehung, die auch im lutherischen Berliner Kontext oft als Beziehung zwischen einem Gemeindemitglied und einem »Beichtvater« bezeichnet wurde.
Darüber hinaus musste die Pfarrpraxis auf die Gemeinde als Ganzes ausgerichtet sein.25 Das Kollektiv der Kirchengemeinde war durch die Parochialgrenzen lose umzäunt, durch die Versammlungen im Kirchengebäude erhielt es ein Zentrum. Ordentliche Geistliche übernahmen Führung und Betreuung. Im beschriebenen Fall reagierten die beiden Prediger auf den Mord, der innerhalb der Gemeinden zu Aufmerksamkeit und Verunsicherung führte. In ihren Predigten gaben sie zunächst allgemeine Nachricht von den Geschehnissen, die sie schließlich im Rahmen eines lutherisch-christlichen Deutungsrahmens interpretierten. Auch als Schmidt sich vor der Hinrichtung Briesemanns dafür einsetzte, eine vom Delinquenten selbst verfasste Fürbitte in der Kirche abzulesen und ihn dadurch wieder mit der Gemeinde zu versöhnen,26 vermittelte er zwischen sich, Briesemann und dem Gemeindekollektiv im Sinne einer christlichen Versöhnung. Nicht selten äußerte die Gemeinde explizit oder implizit Anforderungen und Wünsche an die amtierenden Pfarrer, sah sie sich doch als Auftraggeberin der geistlichen Amtsträger. Dies nahm Kahmann vorweg, indem er den katechetischen Teil seiner Predigt damit einleitete, dass er die Frage nach der Seligkeit im Angesicht eines unvorbereiteten Todes ansprach, das »bedencken«, das »ohne Zweifel […] vorkommen möchte«.27
Objekte pastoraler Praxis waren also gleichermaßen Einzelpersonen und Kollektive. Dies zeigte sich auch in den beiden Schlüsselpraktiken, die im Beispiel eine zentrale Rolle spielten: die vieräugige Beichte und die Predigt. Nicht umsonst besteht das Bild von Pfarrern als manipulativen Akteuren, die bestimmte Praktiken nutzten, um als religiöse Expertenfiguren28 Einfluss auf Gemeinde und einzelne Menschen zu nehmen. Michel Foucault sprach in diesem Sinne von der Leitmetapher von Hirte und Herde: Aus der dem Christentum eigenen Vorstellung, dass bestimmte Personen die Kompetenz besäßen, anderen Menschen religiös zu dienen und sie zugleich religiös zu führen, ergab sich für Foucault eine »ganz eigentümliche Form der Macht«.29 Diese Pastoralmacht sei, so fasste der Soziologe Ulrich Bröckling jüngst zusammen, angewiesen auf die Bereitschaft der Herde, geführt zu werden,30 sie sei »nomadisch«, arbeite ohne Zwang, erzeuge ein Kollektiv, sei »sorgend und wohltätig« und schließlich »individualisierend«. Sie sei also erstens nicht an einen Ort der Machtausübung gebunden, zweitens schaffe sie jene Herde, über die der pastorale Hirte gebiete, begründe sich drittens im kollektiven Wohlergehen und richte sich – viertens – immer sowohl an das Kollektiv als Ganzes als auch an die einzelnen Individuen.31 Schließlich gehe aus der Pastoralmacht eine »fundamentale Ungleichheit« zwischen Herde und Hirten hervor, die jedoch nicht zu »gewaltsamer Unterwerfung und Ausbeutung« führe, sondern zur »Sorge«, was eine Verknüpfung von der Autorität des Hirten und dem Wohlergehen seiner Herde nach sich zöge.32
Doch die klare Gegenüberstellung der Foucault’schen Analyse, die eine starre Einteilung in handelnde Subjekte und erleidende Objekte konstruiert, greift hier zu kurz. Daraus ergibt sich eine Reduktion der pastoralen Arbeit auf die zwar fürsorgliche, aber doch manipulative Machtausübung, die letztlich im Kontext einer sozialen Disziplinierung zu sehen wäre. Selbstredend kann die Absicht von Pfarrern nicht geleugnet werden, christliche Normen- und Wertesysteme zu vermitteln und zu gesellschaftlicher Geltung zu bringen.33 Ein Disziplinierungsparadigma, besonders eines, das einem Top-Down-Modell folgt, verkennt jedoch die Einbettung der Akteure. Zur Leitkategorie bei der Deutung pastoraler Praxis taugt es daher nicht: Pfarrer waren in ihrer Arbeit stark in die sozialen und herrschaftlichen Verhältnisse an ihren Wirkstätten eingebettet. Sie standen auf der einen Seite einer Gemeinde gegenüber, die eigene Erwartungshaltungen trug, zuweilen formulierte und nicht selten einforderte, wie Kahmann bei der posthumen Schmähung des Gerbers Schön feststellen musste. Darüber hinaus sah das landesherrliche Kirchenregiment die Geistlichen als Staatsdiener, die seinen Maßgaben zu folgen hatten. Für lutherische Amtsträger in Berlin bedeutete dies, Untergebene eines reformierten Regenten und seiner Beamten zu sein. Es müsste also zunächst geklärt werden, wer wen diszipliniert und auf Grundlage welcher Normen, und ob nicht viel eher ein ständiger, zugegebenermaßen asymmetrischer Prozess der Aushandlung bestand.
Der Geistliche verfocht den Anspruch, seine eigenen Normen und Werte in einem hohen Maße selbstständig standesintern zu auszuhandeln. Das zeigte sich am Beispiel der kleinen kontroverstheologischen Debatte um das Sigillum Confessionis, die sich zwischen Kahmann und Schmidt entfaltete. Denn als Grundlage kam in protestantischer Tradition nur das Sola Scriptura in Frage, das eine umfangreiche akademisch-theologische Auslegungsarbeit erforderte, um pastoraltheologisches Wissen zu generieren. Dieses musste den geistlichen Aspiranten zunächst vermittelt werden, bevor es zum tatsächlichen Einsatz kam. Dabei kam es besonders seit dem Aufbrechen der lutherischen Orthodoxie am Ende des 17. Jahrhunderts vermehrt zu Kontroversen zwischen theologischen Strömungen, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzten und vielfach in Streitigkeiten gerieten. Dies alles geschah vor dem Hintergrund, dass die Theologie des 18. Jahrhunderts nicht nur auf den Lehrstühlen, sondern auch aus der Pfarramtsträgerschaft heraus gebildet wurde.34 Gerade an den Berliner Verhältnissen lässt sich allerdings ablesen, dass nur wenige, vor allem höherrangige Amtsträger sich in theologische Diskurse involvierten, während das Gros der lutherischen Pfarrer in dieser Hinsicht kaum in Erscheinung trat.
Damit sieht sich eine Studie über pastorale Praxis mit dem Problem konfrontiert, dass sich die Arbeit von Pfarrern in einem komplexen Gemenge vollzog, das sich kaum in ein einfaches Modell überführen lässt. So verführerisch stark schematisierte Perspektiven der Soziologie – wie Foucaults Perspektive auf die Hirtenmetapher35 – oder ein klassischer, staatszentrierter Blickwinkel auf die Verquickung von Religion und Staatsbildung sein mögen, so wenig werden sie den vielfältigen Verhältnissen in den Kirchengemeinden gerecht, die die Mikroperspektive offen legen. Es erscheint in dieser Hinsicht angemessen, auf funktionalistische Religionsbegriffe zu rekurrieren. Diese verweisen unter anderem darauf, dass Gesellschaften Institutionen oder Subsysteme ausbilden, die der Kulturerhaltung, respektive der Vermittlung von Wissen und Normen dienen. Im Durkheim’schen Sinne kann gar davon gesprochen werden, dass Religion Vergesellschaftung bezweckte.36 Es muss davon ausgegangen werden, dass diese Funktionen der Kirche als institutionalisierter Religion nicht als reiner Disziplinierungsprozess vonstattengingen, der von Geistlichen und Obrigkeit allein intendiert war. Er war nur durch die Unterstützung und Einforderung der Gemeinden möglich, seine Ausgestaltung folgte nicht selten komplexen Aushandlungsprozessen. Diese vollzogen sich im 18. Jahrhundert zunehmend vor dem Hintergrund einer langfristigen Abnahme der typischen frühneuzeitlich Akzeptanz von Widersprüchen und Ambiguitäten, die von der wachsenden Forderung nach normativer Eindeutigkeit abgelöst wurde.37
Daneben stellt sich die Frage der Technik, also die Frage nach dem historischen »Wie« und den Mitteln pastoraler Praxis. Die Antwort ergab sich für die Geistlichen des 18. Jahrhunderts nur ansatzweise aus der Bibel. Auf eine eigenständige Teildisziplin der Theologie konnte vor der Herausbildung der praktischen Theologie noch nicht systematisch zurückgegriffen werden.38 Dies wurde erst möglich, nachdem Friedrich Schleiermacher im protestantischen Bereich den Startpunkt gesetzt hatte.39 Darüber hinaus muss abgeschätzt werden, inwieweit eine einheitliche Konfessionskultur den Rahmen der geistlichen Arbeit vorgab und welche Handlungsspielräume die theologisch geschulten und sozialisierten Pfarrer tatsächlich bei der Vermittlung ihrer Ideen hatten. Dies führt nicht minder zu dem großen Problem der Wirksamkeit und Durchdringung von intellektuellen Ideen auf und in die Breite der akademisch nicht gebildeten Bevölkerung.
Damit verfolgt diese Arbeit einen anderen Zugriff auf Religion als die Kirchengeschichte.40 Diese ist besonders stark von der Theologie-, bzw. Dogmengeschichte beeinflusst und setzt tendenziell ein Primat der theologischen Lehre voraus, ohne nach der sozialen und kulturellen Basis zu fragen. Es ist nicht die Antwort dieser Arbeit, diesen Blickwinkel radikal zu drehen und die Basis als alleiniges Explanans für die Theologie heranzuziehen. Auch darf ein säkularhistorischer Ansatz sich nicht auf eine religiöse Institutionengeschichte beschränken.41 Ein zeitgemäßer Ansatz der Religionsgeschichte42 muss sowohl den Einfluss von theologischen Ideen – akademisch-theologischem und religiösem Wissen – anerkennen, als auch die kulturelle und soziale Bedingtheit von Frömmigkeit, Religiosität und Kirche berücksichtigen.
So gehört es nach wie vor zu den inhaltlichen Problemen der Kirchengeschichte, dass sie das 18. Jahrhundert und die angrenzenden Dezennien als Abfolge theologischer Strömungen auffasst – Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung, etwas später auch Supranaturalismus. Diese Begriffe stehen dann simultan für zeitliche Perioden, theologische Denkstile,43 personelle Netzwerke und nicht zuletzt Strukturen und Institutionen in der Forschung der Gegenwart. Sie umschließen damit ein disparates Bündel von Phänomen wie eine Klammer. Zudem besteht der Eindruck eines Zeitraumes, in dem nach Reformation, Konfessionsbildung und Orthodoxie verschiedene theologische Programme nebeneinander bestanden und damit das Bild der Pluralisierung und die Auffächerung des europäischen Protestantismus entstanden. Diese Pluralisierung wird aber nur selten zum Kennzeichen des 18. Jahrhunderts erklärt, sodass die Vorstellung vermeintlich homogener Konfessionsgruppen den Blick auf vielfältigeren Verhältnisse verstellt.44
Diese Etiketten, die der Systematisierung und Periodisierung der Theologiegeschichte entstammen, taugen daher vielfach nicht als maßgebliche, analytische Werkzeuge für die in den Quellen gezeichneten Verhältnisse. Diese waren vielfältig und komplex, woraus mitunter Trägheit und Resilienz gegen Veränderungen folgten. Natürlich kann nicht »der Pietismus« oder »die theologische Aufklärung« geleugnet werden, aber nichtsdestoweniger sind viele Berliner Pfarrer keineswegs einer theologischen Strömung zuzurechnen. Oder in den Gemeindearchiven fehlt jede Spur von Zäsuren, wenn orthodoxe Pfarrer durch pietistische Kollegen abgelöst wurden. Und das, obwohl wiederholt für Brandenburg-Preußen vertreten wurde, dass erst pietistische und später aufklärerische Pfarrer besonders gefördert wurden.45 Für eine Religionsgeschichte, die nicht in erster Linie an den akademischen Diskursen zwischen den großen Vordenkern der Theologie interessiert ist, eignen sich die Begrifflichkeiten daher nur mit gewissen Einschränkungen.
Darüber hinaus stellt die auch institutionell in der Forschung verfestigte Unterscheidung zwischen den verschiedenen Themenfeldern Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung ein Problem dar. Denn es wäre stärker gefordert, das Verhältnis der Strömungen zueinander zu beschreiben, wenn das 18. Jahrhundert nicht in voneinander unabhängige Phasen zerteilt werden soll. Gerade diese Verhältnisse sind es aber, die noch heute zu Schwierig- und Uneindeutigkeiten führen. Dies ist sowohl am Verhältnis zwischen Orthodoxie46 und Pietismus,47 als auch am Verhältnis zwischen Pietismus und Aufklärung48 spürbar. Betont wird, dass es sich um einander entgegengesetzte theologische Positionen handelte, die natürlicherweise in Konflikt miteinander traten. Im Detail folgte dem allerdings oftmals eine Nivellierung der Unterschiede und der Verweis auf Gemeinsamkeiten.49 Besonders in Bezug auf den Pietismus und die Aufklärung wurde das Problem der Bezüge zwischen den Phänomenen thematisiert, und Albrecht Beutel diagnostizierte eine Vielzahl von Begriffen, mit der gleichzeitig die Feindschaft der theologischen Schulen, aber auch ihre Verbindungen betont werden sollten.50 Speziell für Berlin hatte die immer noch maßgebliche, wenngleich veraltete Kirchengeschichte Walter Wendlands selbst die Frage gestellt, warum »es zu keinem scharfen Kampfe zwischen […] Pietismus und Aufklärung gekommen« sei. Wendland simplifizierte die Antwort auf diese Frage mit der zeitlichen und personellen Transformation des Pietismus in Aufklärung, also damit, dass »die Pietisten selber Aufklärer wurden.«51 Damit wäre selbstredend wenig erklärt und auch noch die neuere Forschung tut sich schwer, ambige Figuren wie den Berliner Propst Johann Gustav Reinbeck (1683–1741) zu kategorisieren. Dieser war zugleich irenisch, konfessionell durchaus dogmatisch und orthodox, aber auch befreundet mit dem pietistischen Propst Johann Porst, dessen Wohnung er lange teilte. Philosophisch war Reinbeck nichtsdestoweniger Wolffianer und Apologet des exilierten Professors.52
Auch der immerhin selten anzutreffende Begriff der »Übergangstheologie« löst dieses heuristische Problem nicht.53 Neben der Gefahr, eine Teleologie zwischen orthodoxer Theologie und Neologie vorauszusetzen, liefern diese Einteilungen keine Potentiale für die Beschreibung der theologiegeschichtlichen Dynamiken und Verflechtungen – von den säkular-religionsgeschichtlichen Entwicklungen ganz abzusehen.54 Am überzeugendsten ist daher kein theologiegeschichtlicher, sondern der medien- und kommunikationshistorische Ansatz Martin Gierls. Dieser macht Pietismus und Frühaufklärung als konflikthafte Auseinandersetzungen handhabbar, die sich unter Gelehrten in einer von der »religiösen« zur »qualitativen« sich wandelnden Öffentlichkeit vollzogen. Schließlich habe besonders der Pietismus den »orthodoxen Elenchus«, den Mechanismus des »Wahrheitsschutzes« unterlaufen.55 Dies ist vielleicht als eine Bedingung der Möglichkeit einer Pluralisierung aufzufassen, die im 18. Jahrhundert allmählich zum Tragen kam.
Die vorliegende Arbeit versucht daher nicht, die pastorale Praxis unter dem Primat einer theologiegeschichtlichen Fragestellung zu untersuchen und eine »Geschichte pietistischer« oder »aufgeklärter Seelsorge« zu erarbeiten. So kategorisch angewandt wären dies die falschen Begrifflichkeiten für eine Beziehungsgeschichte zwischen Pfarrern und Gemeinden. Es wird daher versucht, der Einbettung des Religiösen in soziale und politische Kontexte sowie in die Vielfalt der Einflussfaktoren, die auf die Amtsträger wirkten, Rechnung zu tragen. Daher gehört natürlich auch die theologische Prägung des geistlichen Personals, der jedoch Grenzen gesetzt waren. Diese Studie versteht sich daher als Beitrag zu einer säkularen Religionsgeschichte.
Die folgende Schrift befasst sich mit der lutherischen pastoralen Arbeit und ihren amtsmäßigen Akteuren, evangelischen Pfarrern, die sie im Berlin des 18. Jahrhunderts ausübten. Sie beabsichtigt nicht, eine Geschichte der Pastoraltheologie zu erzählen, sondern versteht die pastorale Arbeit als soziale Praxis, denn natürlich kann sich die pastorale Arbeit nur auf Menschen beziehen. Pfarrer sind dabei die verantwortlichen, aber nicht die alleinigen handelnden Akteure. Pastorale Praxis richtete sich also letztlich von einer akademisch ausgebildeten Amtsträgerschaft an die frühneuzeitliche Bevölkerung, hier die lutherische Stadtbevölkerung der Doppelstadt Berlin-Cölln. Die Geistlichen des Untersuchungszeitraumes sahen sich zudem in einer grundsätzlich eigentümlichen sozialen Stellung, die einerseits an den Gelehrtenstand angrenzte, andererseits aber mit der Popularisierung katechetischen und theologischen Wissens zusammenhing. Nichtsdestoweniger war die gelehrte Wissensproduktion nicht Hauptaugenmerk, sondern die Amtstätigkeit als Pfarrer.
Wie das Eingangsbeispiel illustrierte, war pastorale Praxis eingebettet in Rahmenbedingungen, welche die Handlungsspielräume der geistlichen Amtsträger stark eingrenzten. Dementsprechend möchte die vorliegende Arbeit eine Beziehungsgeschichte ernst nehmen: Eine Beziehungsgeschichte, die sich maßgeblich zwischen den geistlichen Funktionsträgern und den lutherischen Berliner Stadtgemeinden zugetragen hat. Sie fragt nach dem Verhältnis und der pastoralen Praxis der Prediger zu den ihnen anvertrauten Gemeinden. Dies bedeutet, die Strukturen in den Blick zu nehmen, in die die Pfarrpraxis eingebettet war; die Praktiken zu untersuchen, die den Kirchenalltag formierten; und die Sozialtechniken, die aus den pastoraltheologischen Zielsetzungen und Selbstbildern des geistlichen Standes entwickelt wurden, näher zu beleuchten.
Der Überlieferungs- und Quellensituation entsprechend lässt es sich nicht vermeiden, diese Beziehungsgeschichte entlang des Archivmaterials zu erzählen, das vornehmlich von den Geistlichen selbst produziert wurde oder der Gattung normativer Quellen zuzuordnen ist. Sie rücken gewissermaßen dadurch in den Fokus des textuellen Brennglases, dass die pastorale Amtstätigkeit den Großteil des einschlägigen Aktenmaterials generierte. Diesem steht nur eine kleine Textproduktion und -Überlieferung durch einfache Gemeindemitglieder entgegen. Zudem zogen die gelehrte Selbstreflexivität und die pastoraltheologischen Diskurse56 des geistlichen Standes die Motivation für die Pfarrer nach sich, über die eigene Tätigkeit zu schreiben und in gedruckter Form zu kommunizieren. Dieses Ungleichgewicht in der Quellenproduktion ist bereits ein Beleg für die öffentliche Rolle, die Pfarrer wie kaum eine andere Gruppe der vormodernen Gesellschaft einnahmen. Hier zeigte sich ihre Neigung zu literarisch-gelehrten Kommunikationsformen und ein relativ freies, vielfältiges Handlungsfeld, das einen Gegensatz zu den eng durch Traditionen und Handlungserwartungen strukturierten Amtsverrichtungen bildete.
Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die konkrete Pfarrpraxis als Aushandlungsprozess zu sehen ist, der von den Geistlichen als gelehrten Akteuren in einem sozialen Rahmen vollzogen wurde. Die in der Reformationszeit kanonisierten, grundlegenden Bestimmungen der Confessio Augustana,57 die nach der Herausbildung des Landeskirchenregiments die normative Grundlage für die pastorale Arbeit legten, waren denkbar kondensiert und auf theologische Kerninhalte beschränkt: Sie sahen das Predigtamt als von Gott ermöglichte Institution zur Förderung des Glaubens, verlangten, dass ordentlich berufene Personen predigten und die Sakramente reichten und dass die Überzeugung zum Glauben durch das Wort, das heißt ohne physische Gewalt, zu erfolgen hatte.58 Dies führte dazu, dass es einen knappen und denkbar groben Kanon von Leitsätzen für die pastorale Praxis gab, der allgemeiner Konsens war und auf den konfessionellen Schriften und – in Brandenburg-Preußen – dem Kleinen Katechismus Luthers beruhte. Hinzu kamen die historisch gewachsenen Traditionen und Konkretisierungen der Kirchenordnungen aus dem 16. Jahrhundert. Über diese recht minimalen Bestimmungen hinaus bestand ein immenser Spielraum für die Aushandlung dessen, was konkret in den Stadtkirchen geboten werden sollte.
Für die Geistlichen bedeutete dies, dass sie sich als religiöse Dienstleister an drei Polen orientieren mussten: Erstens richteten sie ihre pastorale Praxis auf die Erwartungshaltung der Gemeinden aus, die sich selbst als Finanziers und kollektive Auftraggeber sahen – dies verdeutlichte schon die Wahl der Geistlichen durch die Gemeindemitglieder, die im Berlin des 18. Jahrhunderts üblich war. Oftmals verlangte die Gemeinde konsequent nach dem Grundgerüst der religiösen und sakramentalen Dienstleistungen (Taufe, Ehe, Eucharistie), sowie einem verlässlichen religiösen Unterricht (Predigt, Katechismusunterricht). Nicht selten kollidierten aber auch die religiösen und moralischen Handlungserwartungen der Geistlichen mit den Gewohnheiten der Gemeindemitglieder, sodass es zu Konflikten mit den Predigern kam. Im diachronen Vergleich des Anfangs und des Endes des 18. Jahrhunderts zeigt sich zudem eine subtile, aber unleugbare Interessenabnahme an bestimmten Angeboten des religiösen Lebens.
Zweitens übte das landesherrliche Kirchenregiment eine formale und judikative Hoheit über das Kirchenleben aus. Es interpretierte die Richtlinien der Kirchenordnung und der Augsburgischen Konfession, regulierte die Ausbildung und Berufung der Amtsträger und versuchte nicht zuletzt im bikonfessionellen Brandenburg-Preußen eine pro-reformierte Konfessionspolitik umzusetzen. Dabei betrachtete es die lutherischen Amtsträger de facto als weisungsabhängige Staatsdiener – eine Perspektive, die unter den Geistlichen teilweise auf Ablehnung stieß. Tatsächlich führte das Kirchenregiment im 18. Jahrhundert zu einer Vielzahl von formalisierten Regelungen, die der geistlichen Arbeit einen Rahmen gaben, aber noch unter vormodernen Vorzeichen im Lokalen modifiziert oder gar ignoriert werden konnten. Nicht zuletzt zeigt sich die Amtsträgerschaft Berlins sehr heterogen gegenüber der herrschaftlichen Involvierung; während einige Geistliche sich proaktiv an der Verdichtung des Kirchenregiments beteiligten, standen andere in sichtbarer Distanz zu König, Hof und Beamten. Obwohl die brandenburgisch-preußische Landesherrschaft wegen des bikonfessionellen Gegensatzes einen starken Zugriff auf lutherische Pfarrer und Kirche intendierte, blieb das vormoderne Kirchenregiment relativ durchsetzungsschwach. Dies lag auch an der ständischen und mentalen Eigenständigkeit der Geistlichen, die trotz aller lutherischer Obrigkeitsfreundlichkeit eine völlige Identifikation mit den reformierten Landesherren verhinderte.
Drittens definierten die theologische Programmatik und der individuelle Schwerpunkt, denen Geistliche anhingen, ihre Herangehensweise an die pastorale Arbeit. Nach den großen vereinheitlichenden Konfessionalisierungsprozessen der Reformationszeit und der Herausbildung einer lutherischen Orthodoxie stand das 18. Jahrhundert zudem unter dem Zeichen einer sich verbreiternden Strömungslandschaft innerhalb des Protestantismus. Die Ausprägung und Wirkung von Netzwerken dieser Theologien »à la mode« waren in der herrschaftsnahen Residenzstadt groß, denn die Wege zum Hof und dem Konsistorium sowie zu den Palais einflussreicher Gönner waren kurz und das königliche Patronatsrecht über zahlreiche Kirchen ermöglichte eine geistliche Personalpolitik.59 So waren phasenweise pietistische und aufklärerische Netzwerke besonders einflussreich bei der Vermittlung von Kandidaten in landesherrliche Pfarrstellen. Damit gingen auch spezifische Sichtweisen auf Frömmigkeit, Seelsorge, Liturgie und Normen einher.
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