Hannah Reynolds: The Summer of Lost Letters

Abbys Sommerferien drohen eine echte Katastrophe zu werden: Ihr erster Freund hat mit ihr Schluss gemacht und ihre Freundinnen sind alle irgendwo in der Welt unterwegs. Doch dann stößt Abby auf eine Kiste mit alten Liebesbriefen an ihre gerade verstorbene Großmutter. Kurzentschlossen reist sie auf die Insel Nantucket, von wo die Briefe vor langer Zeit abgeschickt wurden – und erlebt den Sommer ihres Lebens. Denn schon bald trifft sie hier auf Noah, den charmanten Enkel des Briefeschreibers – und interessiert sich plötzlich für sehr viel mehr als nur für ihre Familiengeschichte ...

Wohin soll es gehen?

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  Vita

 

Für meine Eltern,

die unerschütterlich an mich glauben –

und daran, dass sie Vorbild für sämtliche Elternfiguren

in meinen Büchern sind.

Ersteres bedeutet mir mehr, als ich sagen kann;

Letzteres – okay, damit liegt Ihr diesmal

vermutlich gar nicht so falsch.

Der neue Koloss

VON EMMA LAZARUS

Nicht wie der Griechen eherner Koloss

Die Feinde mit der Waffe unterdrückt;

An unser meerumspültes Tor gerückt

Steht eine mächt’ge Frau, die Mutter der Migranten,

den Blitz als Fackel in der starken Hand,

ein Leuchtturm, der zwei Städte überbrückt.

Sie ruft: »Behaltet den berühmten Tand

Und euren Pomp an euren alten Küsten.

Schickt mir stattdessen eure Mittellosen,

die Heimatlosen, hoffnungslos Zerlumpten,

vom Sturm Gebeutelten, die Abgestumpften,

die Müden, die trotzdem nach Freiheit dürsten.

Den Abschaum schickt vom übervollen Strand.

Am Goldnen Tor erheb ich meine Hand.»

1.

6. April 1958

Ich werde versuchen, Dir alles zu erklären.

Ich bin nicht sicher, ob ich es kann. Ich bin es nicht gewohnt, Dir Dinge zu erklären, vielleicht weil wir einander für gewöhnlich so gut verstehen. Ich stelle mir uns vor wie zwei Rosen am selben Stock, wir beide gegen den Rest der Welt, umgeben von Dornen, die jeden anderen stechen, der uns zu nahe kommt.

Allerdings ist mir klar geworden, dass wir auf einige Dinge stets eine unterschiedliche Sicht haben werden, da wir sie von unterschiedlichen Standpunkten betrachten. Du siehst Familie so anders als ich, weil Du aus einer heileren, glücklicheren Welt stammst. Manchmal ertrinke ich im Neid darauf, als wie selbstverständlich Du Deine Familie betrachtest.

Ich liebe Dich. Leidenschaftlich. Von ganzem Herzen. Meine Liebe zu Dir ist an manchen Tagen das Einzige gewesen, das mich über Wasser hielt.

Aber romantische Liebe ist nur eine Form der Liebe – und nicht die wichtigste. (Ich sehe, wie Du an dieser Stelle den Kopf schüttelst, aber … lass es. Selbst wenn Du anderer Meinung bist, mach Dir bewusst, dass das meine Überzeugung ist. Ich schätze andere Arten von Liebe ebenso hoch wie das Verliebtsein.) Du bist kein Ritter und ich bin nicht Deine Lady, wir leben nicht im Mittelalter und die Welt dreht sich nicht allein um uns. Ich liebe Dich und ich will Dich, aber was ich will und was richtig ist, decken sich nicht immer. Über diesen Unterschied hast Du kaum je nachdenken müssen (das weiß ich mit Sicherheit), aber ich bitte Dich, es jetzt zu tun. Ich treffe die richtige Wahl.

Ich liebe Dich.

Aber ich werde meine Meinung nicht ändern.

Als ich klein war, hatte meine Mom eine merkwürdige Vorliebe für »Hättest du lieber …?«-Spielchen. Sie fing damit an, wenn sie mich von einer meiner Freundinnen abholte – von Niko, deren Mutter Mochi-Kuchen backte, oder von Haley, deren Mutter Schals strickte. Hättest du lieber Nikos Mutter, fragte Mom dann, oder mich? Hättest du lieber Haleys Mom – oder mich?

Sogar mitten im schlimmsten Streit zwischen uns nahm ich mich stets davor in Acht, diese Linie zu übertreten. Unsere Auseinandersetzungen wuchsen sich beinahe zu einer eigenen Kunstform aus: Ich wusste genau, wo jeder Schlag und jede Parade landen würden und wie ich mit meinen Angriffen über oder unter die Gürtellinie zielen konnte. Doch selbst wenn wir einander mit Worten bewusst verletzten, versetzte ich ihr diesen einen Stoß nie. Er träfe das weiche Gewebe hinter der Schädeldecke, wäre wie Wasser für die böse Hexe des Westens, wie ein Stich in Achilles’ ungeschützte Ferse. Es wäre der Todesstoß.

»Dich«, antwortete ich also jedes Mal, wenn wir Nikos perfekt manikürten Rasen hinter uns ließen oder Haleys Veranda mit der Flagge in Rot, Weiß und Blau. »Ich hätte lieber dich.«

Die Türklingel schellte mitten im Sturm.

Regen trommelte auf den Dachvorsprung und ertränkte das Geräusch beinahe. Wasser stürzte in Strömen die gläsernen Balkontüren im Wohnzimmer hinunter und verzerrte den Garten und den Wald dahinter zu wabernden grünbraunen Schemen. Der März mochte auch in Neuengland offiziell zum Frühling zählen, doch tatsächlich war er stets kühl und nass und dunkel.

Ich hatte es mir auf dem Sofa gemütlich gemacht und las Rebecca von Daphne du Maurier. Die Kombination aus Schauerroman und Schauerwetter bescherte mir eine Gänsehaut, gegen die auch die hellen Zimmerlampen und meine dampfende Tasse Pfefferminztee nichts auszurichten vermochten. Es würde noch Stunden dauern, bis Mom und Dad wieder zu Hause wären; sie waren zu einem Bürgerforum gegangen, was nach ihrem Verständnis in etwa einem Date gleichkam. Mein Bruder Dave übernachtete bei seinem besten Kumpel. Mom hatte sich noch Sorgen darum gemacht, mich allein daheim zu lassen, doch ich hatte sie und Dad förmlich aus der Tür gescheucht – meine Eltern hatten sich einen kinderfreien Abend verdient. Außerdem hatte ich ganz gern das Haus einmal für mich.

Meistens.

Wieder schrillte die Klingel, während ich wie erstarrt auf der Couch hockte und mit beiden Händen fest das Buch umklammerte. Mein Herz raste. Niemand hatte mir je vorgeworfen, allzu rational zu sein (»Du hast eine minimal zu lebhafte Fantasie«, meinte Dad des Öfteren und hielt dabei Daumen und Zeigefinger millimeterbreit auseinander) – aber im Ernst, wem ginge nicht zumindest der Gedanke durch den Kopf, dass ein Türklingeln inmitten des übelsten Sturms einen Serienmörder ankündigen könnte?

Tja, dann sollte ich es meinem künftigen Mörder wohl besser nicht zu leicht machen, indem ich als wehrloses Opfer auf der Couch kauerte. Ich tappte durch das Haus zur Eingangstür, presste den Rücken gegen die Wand und verrenkte mir den Hals, um aus dem Fenster zu spähen.

Ein USPS-Truck stand mit laufendem Motor in der Einfahrt, seine Scheinwerfer durchschnitten den Regen, und eine Gestalt hechtete nun wieder auf das Führerhaus zu und sprang hinein. Der Wagen rollte rückwärts und brauste in die Dunkelheit davon.

Oh. Alles klar.

Meine Angst verflüchtigte sich und ich öffnete die Innentür zu unserem Vorraum – einem kleinen, zugigen Bereich voller Regenschirme und Stiefel. Meine Zehen krümmten sich reflexartig zusammen, als ich die Füße auf den kalten Steinboden setzte. Rasch sperrte ich die Haustür auf, und sofort peitschte mir feuchter Wind entgegen. Die Bäume im Vorgarten bogen sich unter den Böen. Auf der Eingangsstufe lag ein regenbesprenkeltes Päckchen. Ich schnappte es mir und huschte wieder hinein, verriegelte beide Türen und nahm den Karton mit ins Wohnzimmer.

Dr. Karen Cohen, 85 Oak Road, South Hadley, Massachusetts stand darauf. Mom. Und als Absender: Cedarwood House.

Das ergab Sinn. Die Mitarbeiter von Omas Pflegeheim hatten uns angekündigt, dass sie eine Kiste mit ihrem Kram schicken würden – Dingen, die aufgetaucht waren, als kürzlich ihr Schrank ausgeräumt wurde. Nun konnte ich einfach warten, bis Mom wieder da war, und mit ihr gemeinsam auspacken. Was eine weniger neugierige, respektvollere Tochter auch sicher tun würde.

Oder …

Das Paket mit Omas Zeug ist da!, textete ich. Falls Goldbarren drin sind, gebe ich dir Bescheid.

Ich schlitzte mit einem Schlüssel aus der Krimskramsschublade in der Küche das Packband auf. Der Karton klappte auf und gab den Blick frei auf eine flüchtige Notiz des Pflegeheims und ein in braunes Kraftpapier eingeschlagenes Bündel. Nun zögerte ich doch. Das hier hatte Oma gehört – dieses mit einer Schnur verknotete Bündel, etwas, das sie offenbar vor so langer Zeit weggepackt hatte, dass es vergessen worden war. Behutsam zupfte ich an der spröden Schleife, bis sie sich löste, und entfaltete dann das braune Papier. Der Schatz ruhte in der Mitte: ein Stapel Umschläge, allesamt adressiert an Ruth Goldman. Omas Mädchenname.

Brennende Neugier durchfuhr mich. Darin konnte sich alles Mögliche verbergen. Wir wussten so wenig über Omas Leben – besonders aus der Zeit, bevor sie Opa kennengelernt hatte. Bevor Ruth Goldman zu Ruth Cohen geworden war. Wer war sie zuvor gewesen?

Ich kniete mich auf den Wohnzimmerboden und breitete die Briefumschläge fächerförmig vor mir aus, staunte über das dicke pergamentartige Papier und darüber, wie die Tinte in die feine Struktur eingezogen war. Gut fünfzig Umschläge, mit einer Adresse in der Lower East Side.

Einen Absender fand ich auf keinem.

Ich griff nach dem ersten Umschlag und fingerte den Brief heraus. Eine ordentliche, leicht geneigte Handschrift füllte die komplette Seite. Meine liebste Ruth, las ich. Ich kann noch immer nicht fassen, dass Du fort bist. Wieder und wieder sehe ich aus dem Fenster und rechne damit, dass das Auto vorfährt und Du aussteigst und sagst, alles sei ein riesengroßer Fehler gewesen. Bitte komm bald nach Hause.

Opa, dachte ich, obwohl das nicht im Entferntesten nach meinem brummigen, witzigen deutschen Großvater klang. Meine Augen schielten nach dem Datum in der oberen rechten Ecke: 1. Juni 1952. Damals war Oma achtzehn gewesen. Ein Jahr älter als ich jetzt.

Ich drehte den Brief um, suchte nach einer Unterschrift. In Liebe – E.

Opas Name war Max gewesen.

Ich überflog den nächsten Brief.

Meine liebe Ruth,

so lange ist es nun schon her, dass ich Dich zuletzt gesehen habe. Gestern bin ich durch den Garten gegangen und habe auf dem Rankgitter einen Rotkardinal entdeckt – da kamen mir all unsere heimlichen Küsse wieder in den Sinn. Ich kann nicht einmal zur Dachterrasse hochschauen, ohne daran zu denken, wie Du dort immer auf- und abgelaufen bist …

Wow. Der romantischste Brief, den ich je erhalten hatte, war letztes Jahr eine Textnachricht von Matt gewesen. Inhalt: Abschlussball: Ja/Nein?

Kein Wunder, dass unsere Beziehung nicht lange gehalten hatte.

Ich schickte Mom ein Foto des letzten Briefs, dazu einige schnell getippte Zeilen:

Ich:

Da schau an – in dem Päckchen sind LIEBESBRIEFE.

Von einem Typen namens E.

Glaubst du, Oma hatte eine Liebesaffäre, bevor sie Opa getroffen hat???

Mom musste das Vibrieren ihres Handys gespürt haben, denn sie schrieb sofort zurück.

Mom:

Wie meinst du das, Liebesbriefe?

Ich:

Na, so richtig schmalzige Liebesprosa.

Adressiert sind sie an MEINE LIEBSTE RUTH.

»So lange ist es nun schon her, dass ich Dich zuletzt gesehen habe.«

!!!

Mom:

Dann solltest du sie vielleicht besser nicht lesen?

Ich:

Hahahaha!

Mom:

Warte auf mich!!!

Ich:

Sorry, nope.

Ich schicke dir die besten Auszüge.

Mom:

Von wem sind sie

Ernsthaft, Mom hatte nicht nur ein desaströses Leseverständnis, sondern auch erhebliche Defizite, was Zeichensetzung betraf. Wozu musste ich die Schulbank drücken, wenn Erwachsene nicht mal anständig schreiben konnten?

Ich:

Keine Ahnung, der Kerl unterschreibt mit E. Muss weiterlesen – viel Spaß noch bei euren Erwachsenenangelegenheiten.

Draußen pladderte der Regen vor sich hin. Drinnen versank ich in den Briefen. Dem, was E. schrieb, entnahm ich, dass Oma nach New York City gezogen war und sich dort pudelwohl fühlte, auch wenn ihm offenbar schleierhaft war, wie auch nur irgendjemand die Stadt toll finden konnte. An einzelnen Passagen blieben meine Augen hängen:

Was wir tun, braucht meine Mutter überhaupt nicht zu kümmern.

Eine Bäckerei, Ruth? Bist Du Dir da sicher?

Er erzählte ihr davon, dass er das Meer gemalt hatte: Mit Stolz vermelde ich: Mein Wandeln in den Fußspuren Monets wird immer ansehnlicher, wobei ich bezweifle, dass es mir je gelingen wird, das Licht auf der Wasseroberfläche wirklich einzufangen, selbst wenn ich für den Rest meines Lebens jeden Tag zum Pinsel greife. Doch keine Sorge – ich nehme die Herausforderung an. Der Speicher freut sich gewiss bereits darauf, mit meinen erbärmlichen Versuchen zugestellt zu werden.

Vor allem aber schrieb er davon, wie sehr sie ihm fehlte. Wie er sie im Garten vermisste, am Strand, in der Laube. Hunderte von Erinnerungen an sie schienen ihn zu quälen. Er schrieb: Nantucket ist nicht Nantucket ohne Dich.

Nantucket.

Der Ortsname zauberte mir das Bild einer winzigen Insel vor Cape Cod in den Kopf. Cape Cod war eine Halbinsel mit Küstenschutzgebiet und kleinen Städtchen, die als hakenförmiger Arm südöstlich von Boston in den Atlantik ragte. Doch obwohl die Gegend dort bei vielen Familien aus Massachusetts als Sommerurlaubsziel beliebt war, hatte Oma den Großteil ihres Lebens in New York verbracht. Wann war sie je auf Nantucket gewesen?

Ungeduldig sprang ich zum letzten Brief. (Ich war auch jemand, der gelegentlich das Ende eines Buchs zuerst las; dass ich sonderlich talentiert darin war, meine Neugier zu zügeln, konnte man mir wahrlich nicht nachsagen.) Er war kurz und beinahe sechs Jahre nach dem ersten verfasst – am 3. Mai 1958:

Ich werde Dir die Kette nicht schicken. Wenn Du sie willst, dann komm zurück nach Golden Doors und rede mit mir.

E.

Und verdammt noch mal, Ruth, wage es bloß nicht zu behaupten, dass es hier um irgendetwas anderes als Deinen verfluchten Stolz geht.

Das erwischte mich kalt. Was war passiert? Wann war aus den romantischen Briefen ein Streit auf Papier geworden?

Vermutlich die gerechte Strafe für mich, weil ich beim Lesen die Reihenfolge missachtet hatte. In der Hoffnung auf mehr Kontext öffnete ich den vorletzten Brief. Können wir uns persönlich darüber unterhalten? Der Telefonist weigert sich inzwischen sogar, mich durchzustellen. Du bist viel zu stolz, und das müsstest Du nicht sein.

Himmel, ein Telefonist. Was für eine Zeit.

Und der Brief davor:

Ruth,

das ist lächerlich. Ich nehme die nächste Fähre aufs Festland.

Tu nichts Dummes, ehe ich da bin. Ich liebe Dich.

Edward

Ein Schauder lief mir über den Rücken. Ich ließ den Brief sinken und starrte durch die Glastüren. Der Regen war schwächer geworden und verschleierte nicht mehr den Wald, der unseren Garten von allen Seiten zu verschlingen drohte. Hohe Eichen und Kiefern schossen in den Himmel, ihre Stämme schwarz vor Nässe. Wir hatten einen strengen Winter hinter uns, und sogar jetzt noch – Mitte März – konnte ich mir kaum vorstellen, dass es je wieder warm werden würde. Ebenso wenig, wie ich mir Oma als Achtzehnjährige vorzustellen vermochte. Du bist viel zu stolz, hatte der Briefeschreiber ihr vorgehalten. War Oma stolz gewesen? Elegant, ja. Intelligent, wissbegierig, ein wenig traurig, ein bisschen schwierig. Aber stolz?

Allerdings – was wusste ich schon? Ich hatte nicht einmal gewusst, dass Oma je auf Nantucket gewesen war. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wer dieser Edward war oder welche Kette Oma zurückhaben wollte – oder weshalb sie ihn überhaupt verlassen hatte.

Komm zurück nach Golden Doors, hatte Edward verlangt.

Ich klappte meinen Laptop auf und fing zu tippen an.

Stunden später schwang die Haustür auf und Moms Stimme hallte durch das Haus. »Abby?«

»Hier!«

Sie kam ins Wohnzimmer, warf ihren Mantel über eine Stuhllehne. Dad folgte ihr. Er würde den Mantel später aufhängen. »Du bist noch wach.«

»Wie war die Versammlung?«

»Ach, ganz gut. Und was treibst du?« Sie ließ sich neben mich auf die Couch fallen. Dad küsste mich auf den Scheitel und ging in die Küche, um Tee zu kochen.

»Ich glaube, ich habe das Rätsel gelöst.« Ich reichte ihr die Briefe. »Der Verfasser unterschreibt mit ›Edward‹, und er erwähnt Golden Doors – so heißt ein Haus auf Nantucket. Der jetzige Besitzer des Hauses ist ebenfalls ein Edward, und er muss 1952 zweiundzwanzig Jahre alt gewesen sein. Oma war achtzehn. Gut möglich, dass sie einen Sommer mit ihm auf Nantucket verbracht hat.«

»Auf Nantucket?« Mom blätterte durch die Briefe. »Sie hat nie erwähnt, dass sie mal dort war.«

Ich zog beide Augenbrauen hoch. »Hättest du nicht von jemandem erfahren sollen, der an ›meine liebste Ruth‹ schreibt?«

Sie stieß mich mit der Schulter an. »Als ob Töchter je nach dem Privatleben ihrer Mütter fragen.«

»Hey, das ist fies. Ich weiß, mit wem du in der Highschool zusammen warst, und auch von dem Typen, mit dem du nach dem College durch Ecuador gereist bist.« Ich deutete auf eine geöffnete Website auf meinem Laptopbildschirm. »Ich habe überlegt, eine Mail zu schreiben und zu versuchen, Kontakt zu ihm aufzunehmen.«

Sie spähte auf den Screen. »Er hat Verbindungen zu Barbanel?«

»Das sagt dir etwas?«

»Barbanel ist eines der großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen.«

»Ja, so viel hat das Internet mir auch verraten. Aber was genau machen Wirtschaftsprüfungsunternehmen?«

Sie lachte. »Sie kümmern sich um Vermögensberatung, Bilanzprüfungen, Steuern.«

»Also hat er keine Verbindungen zu Barbanel, sondern das Unternehmen gegründet. Es gehört ihm. Der Edward, von dem ich rede, ist Edward Barbanel.«

Nun schossen Moms Augenbrauen in die Höhe. »Tatsächlich? Ach. Na, das erklärt das Haus auf Nantucket.«

»Fändest du es in Ordnung, wenn ich versuche, ihn zu kontaktieren?«

Sie zögerte. »Wozu?«

»Wie meinst du das – wozu? Er kannte Oma, als sie jung war. Er könnte alles Mögliche wissen. Vielleicht weiß er mehr über ihre Familie.«

»Abby … Oma war so klein, als sie aus Deutschland geflohen ist. Sie wusste selbst kaum etwas über ihre Familie. Wie sollte da jemand anders im Bilde sein?«

»Weil die beiden ineinander verliebt waren! Und vielleicht hat sie früher über ihre Familie gesprochen. Vielleicht hat sie ihm in einem Brief etwas von ihrer Familie oder ihrer Heimatstadt erzählt.«

»Ich möchte nicht, dass du dir vergebliche Hoffnungen machst, irgendetwas über unsere Familiengeschichte aufzutun.«

»Okay, schön. Aber selbst wenn ich nichts in Erfahrung bringen kann – findest du es nicht komisch, dass sie auf Nantucket war und es nie erwähnt hat? Jedenfalls ist es doch seltsam, dass sie mit irgendeinem schicken reichen Kerl zusammen war, von dem wir nie etwas zu hören bekommen haben. Und wieso sollte ein reicher Typ eine Kette klauen?«

Ich kannte die Lebensgeschichte meiner Großmutter in groben Zügen: Mit vier Jahren war sie aus Deutschland fortgeschickt worden, zunächst nach Paris, anschließend mit dem Dampfschiff in die Staaten. Eine jüdische Familie im Norden New Yorks hatte sie bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr bei sich aufgenommen – dann war sie nach New York City gezogen. Sie hatte meinen Großvater geheiratet, der selbst ein deutscher Jude gewesen war, und die beiden waren wieder in den Norden des Bundesstaats umgesiedelt, hatten drei Kinder großgezogen und schließlich ihren Ruhestand in West Palm Beach verbracht. Mein Großvater war gestorben, Oma dement geworden und ins Pflegeheim gekommen. Hatte ihre Familie nicht mehr erkannt. Und dann war auch sie gestorben.

Ich hatte meine Mom nur ein einziges Mal im Leben weinen sehen: als wir den Anruf mit der Nachricht von Omas Tod bekommen hatten.

»Was tut das zur Sache?«, fragte Mom. »Hätte sie gewollt, dass wir über diesen Mann oder Nantucket Bescheid wissen, hätte sie uns davon erzählt.«

»Bullshit. Du bist bloß sauer, dass sie dir eben nicht davon erzählt hat, deshalb tust du jetzt so, als wäre es dir egal.«

Mom wirkte überrumpelt. Dann drückte sie mir einen Kuss auf die Schläfe. »Danke für Ihre Diagnose, Dr. Schoenberg.«

»Ich habe recht, und das weißt du. Also hast du nichts dagegen, dass ich ihn zu erreichen versuche?«

»Nur zu.«

In den folgenden Tagen vertiefte ich mich in Edward Barbanels Leben. Er hatte Barbanel von der erfolgreichen lokalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die in den 1950ern bereits auf eine einhundertfünfzigjährige Tradition zurückblicken konnte, zum gigantischen internationalen Konzern ausgebaut, der jedoch nach wie vor in privater Hand war. Laut einer Hochzeitsanzeige in der New York Times hatte Edward im selben Jahr geheiratet, in dem er seinen letzten Brief an Oma geschrieben hatte, mit den Worten Tu nichts Dummes, ehe ich da bin. Ich liebe Dich. An seinem achtzigsten Geburtstag hatte er die Leitung der Geschäfte in die Hände seines Sohnes gelegt.

Wie sich herausstellte, war es alles andere als leicht, mit dem Vorstandsvorsitzenden eines extrem wohlhabenden Unternehmens in Kontakt zu treten. Mails, Anrufe und Textnachrichten blieben ausnahmslos unbeantwortet. Nun ja. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

»Ich habe in der Bibliothek mit Ms Chowdhury gesprochen«, erzählte ich meinen Eltern beim Frühstück, zwei Wochen nachdem Omas Paket angekommen war. »Ihre Schwägerin hat einen Bekannten, der mit jemandem befreundet ist, dessen Tochter eine Buchhandlung auf Nantucket gehört. Sie meinte, sie könne mir dort eventuell einen Ferienjob für den Sommer besorgen.«

Mom prustete praktisch ihren Kaffee über den Tisch. »Was?«

»Das waren ja ganz schön viele Verbindungen«, stellte Dad fest. »Hast du sie dir alle gemerkt oder ein paar gerade erfunden?«

»Da ich Edward Barbanel anders nicht erreiche, habe ich mir überlegt, ich gehe einfach zu ihm.«

»Du fährst nicht für den kompletten Sommer nach Nantucket.«

Dad seufzte. »Mir hört mal wieder niemand zu.«

»Wieso nicht? Ich brauche ohnehin noch einen Ferienjob.«

»Aber nicht auf Nantucket.« Moms Stimme wurde um mehrere Dezibel lauter. »Findest du nicht, du übertreibst ein wenig? Was ist mit der Bibliothek? Du arbeitest doch gern dort!«

»Denk mal daran, wie gut das in einem Bewerbungsschreiben fürs College klingen würde. Du weißt, wie irre hoch die Ansprüche für ein Stipendium sind.« Und ich brauchte ein Vollstipendium, um mir eine Privatuni leisten zu können; meine Noten waren zwar nicht zu beanstanden, doch ein schlagkräftiger Essay konnte den Unterschied machen. Vor allem, wenn ich darin belegte: Ich war so fest entschlossen, Geschichte zu studieren, dass ich meinen gesamten Sommer damit zugebracht hatte, die Historie meiner Familie aus Primärquellen zu erforschen. Solches Engagement würde die Zulassungsbehörde hoffentlich mächtig beeindrucken – und, ganz ehrlich, das hatte ich nötig. Insbesondere für angehende Historiker wurden Stipendien nicht gerade mit vollen Händen verteilt.

»Liebling …«

Okay, schon möglich, dass ich am Ende so oder so kein Stipendium bekommen würde, doch das wollte ich jetzt nicht hören. »Niko und Haley und Brooke sind sowieso diesen Sommer nicht da. Wieso sollte ich dann hierbleiben?«

Moms Miene glättete sich, als hätte sie schlagartig begriffen. »Es geht eigentlich um Matt, nicht wahr? Abby, mir ist klar, dass dich das verletzt hat –«

»Oh mein Gott, Mom, nicht alles hat mit irgendeinem blöden Jungen zu tun.« Obwohl ich zugegebenermaßen Matt wirklich nicht sehen wollte, besonders nachdem er mich erst abserviert und dann so großzügig angeboten hatte, wir könnten »befreundet« bleiben.

Dad griff wohlweislich nach seiner Teetasse und zog sich in ein anderes Zimmer zurück.

»Bist du sicher? Du hast die Briefe zwei Wochen nach eurer Trennung gelesen. Du bist wie besessen davon. Man kann nicht vor allem davonlaufen, Abby.«

Mein Magen krampfte sich zusammen, krallte sich eng um den Schmerz in meiner Mitte. »Ich will nicht darüber reden.«

»Abby, Schatz –« Moms Gesichtszüge wurden weich und sie streckte die Arme nach mir aus.

Ich wich ihr aus. »Ich bin siebzehn. Ich bezahle die Reise selbst – und nächstes Jahr ziehe ich fürs Studium eh aus. Außerdem habe ich ja nichts Gefährliches vor.«

»Ich verstehe nicht, weshalb dir das so wichtig ist!«

»Und ich verstehe nicht, weshalb du das nicht kapierst! In Omas Leben klafft eine riesige Lücke.«

»Wie wäre es mit einem Kompromiss – wir fahren für ein Wochenende?«

»Mom, ich will diesen Sommer nicht hier sein!«

Sie erstarrte. Ihr nächstes Wort klang zart und klein. »Oh.«

Sofort wallte Reue in mir auf. Wir waren so eng miteinander verflochten, Mom und ich, wie emotionale Zwillinge: Was die eine fühlte, empfand sofort auch die andere. »Es tut mir leid. Es ist bloß – ich möchte mehr über Oma herausfinden. Du etwa nicht? Bist du denn kein bisschen neugierig?«

Sie zuckte mit einer Schulter, eine Geste, die mich an ihre Mutter erinnerte. »Sie hat mir nichts verraten, also wüsste ich nicht, weshalb es mich etwas angehen sollte.«

Diese Gleichgültigkeit kaufte ich ihr nicht ab. Du bist viel zu stolz, hatte E. geschrieben. Vielleicht war Oma da nicht die Einzige.

Mein ganzes Leben lang hatte ich mitangesehen, wie verletzt Mom reagierte, wenn Oma wieder einmal die Schotten dicht machte. Die Beziehung der beiden war belastet gewesen – auf eine Art und Weise, wie wir beide es nie erlebt hatten, voll angespanntem Schweigen und Ist doch egal und Das gehört sich nicht. Schon möglich, dass Mom das, was sie mir gegenüber behauptete, tatsächlich so meinte: Wenn Oma ihr etwas nicht hatte anvertrauen wollen, dann interessierte es sie auch nicht.

Aber ich glaubte nicht daran. Ich kannte meine Mutter; ich hatte den Ausdruck in ihren Augen gesehen, als wir gemeinsam die Briefe gelesen hatten. Oma war ihr so, so unendlich wichtig. Sie mochte zu stolz sein, um nach der Vergangenheit ihrer Mutter zu forschen, aber ich hatte keinen Grund, so zu tun, als wäre mir das alles einerlei. Ich konnte diese Aufgabe für sie übernehmen. Nach Nantucket fahren. Edward Barbanel finden. Omas Geschichte aufdecken.

Und was hatten meine Eltern dem letztendlich entgegenzusetzen? Einem netten Sommerjob in einer netten Buchhandlung in einer netten Stadt? Eine von Moms Kolleginnen hatte sogar eine Tante auf Nantucket, die ein Zimmer frei hatte (oder zumindest ein Bett in einem Zimmer, und ich hatte kein Problem damit, mir den Raum mit jemandem zu teilen). Also brachten meine Eltern mich nach Hyannis zur Fähre. (Dave kam auch mit, war aber die meiste Zeit mit Videospielen beschäftigt.) Mom fragte immer und immer wieder, ob ich meine Zahnbürste und die Vitamintabletten und die Aknecreme eingepackt hatte, bis ich herausplatzte, ich sei keine Idiotin, woraufhin sie furchtbar traurig dreinschaute und ich mir wie ein Ungeheuer vorkam. Sie standen am Kai und sahen mir nach. Dad schlang seinen Arm um Moms Schultern, und sie lehnte sich an ihn. Zum ersten Mal wirkten sie klein auf mich. Sie winkten und winkten und ich winkte zurück, unsicher, was passieren würde, wenn ich mich als Erste abwandte – ob es besser oder schlimmer wäre, das Band selbst zu kappen.