Julie Dubois entführt mit ihrem zweiten Roman um die deutsch-französische Kommissarin Marie Mercier in das zauberhafte Périgord, Frankreichs Feinschmeckerparadies Vier Schwestern und ein Todesfall auf einem geheimnisvollen Bauernhof. Es ist Frühling in Saint-André-du-Périgord, die Natur ringsum ein Blütenparadies. Vor kurzem hat Kommissarin Marie Mercier die Leitung des Kommissariats der Region übernommen und Paris Lebwohl gesagt. Sie liebt ihr neues Leben auf einem selbst renovierten Hof und genießt die Kochkünste ihrer rüstigen Großtante Léonie, die gleich nebenan wohnt. Da erhält Marie Nachricht von einem rätselhaften Fund – ein menschlicher Schädel, der bei Ausgrabungen für den Bau einer Ölmühle freigelegt wurde. Das Gelände mit den alten Walnussbäumen gehört zum Hof der vier Barthes-Schwestern, die der Kommissarin zunächst mit schroffer Zurückhaltung begegnen. Dafür gibt es gute Gründe, wie Marie bald herausfindet. Ist einer davon der geheimnisvolle Charmeur Romain Dubosc, der mit seinem besonderen Geschäftsmodell große Pläne für die Gegend hat? Farbenprächtige Atmosphäre, lebensechte Figuren, köstliche regionale Kulinarik und ein frischer Erzählton mit originellen Betrachtungen zum französischen Savoir-vivre – eine temperamentvolle Lektüre, die einen von der ersten Seite an in Urlaubsstimmung versetzt …
Julie Dubois ist eine deutsche Autorin mit französischen Wurzeln, die viele Jahre in Berlin zuhause war. Heute lebt sie zwischen Deutschland und dem Périgord, das sie zu dem stimmungsvollen Romansetting Saint André inspiriert hat. TRÜFFELGOLD ist der Auftakt einer Krimiserie um die deutsch-französische Kommissarin Marie Mercier.
KALTE
BLÜTEN
EIN PÉRIGORD-KRIMI
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dies ist ein Roman. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Originalausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Einband-/Umschlagmotiv: © www.buerosued.de
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-2077-9
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Georges R., der sich sehnlich gewünscht
hatte, dass wir sein geliebtes Périgord nie
vergessen.
»Il n’est si pas facile de se taire,
quand le silence est mensonge.«
»Es ist nicht so leicht zu schweigen,
wenn das Schweigen eine Lüge ist.«
Victor Hugo, »Les Misérables«
»Chaque pétale est comme une
paupière mauve
Que la clarté pénètre et réchauffe
en tremblant.«
»Jedes Blütenblatt ist wie ein
malvenfarbenes Augenlid,
durch das das Licht dringt und
es bebend wieder erwärmt.«
Émile Verhaeren, »Autour de ma maison«
Voller Wehmut dachte Pedro Martinez an die ausgedehnten Wälder seiner Heimat im Norden Portugals, als er die drei riesigen Walnussbäume betrachtete, die nun zersägt am Rande des Grundstücks lagen. Er schüttelte kurz den Kopf. Was soll’s? Menschen waren nun mal wichtiger als Bäume, und die hochmoderne Ölmühle, die an dieser Stelle errichtet werden sollte, würde vielen ein gutes Auskommen sichern.
Er steuerte seinen Bagger auf die letzte Baumwurzel zu, die er gleich mit der großen Schaufel aus dem Erdreich hieven würde. Alle anderen lagen bereits auf dem gigantischen Haufen aus Walnussholz. Früher hatte man die Stämme zu hohen Preisen als Material für Möbel verkauft, aber heute würden sie nur noch als Brennholz dienen.
Diese letzte Wurzel war die kleinste von allen. Das fiel ihm gleich auf, als die Schaufel seines Baggers sich langsam wieder hob. Auf einmal stutzte er. Da war etwas Helles im Erdreich, das die Baggerschaufel mit erfasst hatte. Sofort hielt er sie an und sprang von seinem Sitz.
Er trat vor den Bagger und betrachtete das blasse Objekt. Auf den ersten Blick sah es wie eine kleine, runde Schale aus. Aber dann entdeckte er etwas daran: zwei Reihen von Zähnen und einen blanken Unterkieferknochen.
»Meu Deus! Mein Gott, das ist ein Schädel, ein menschlicher Schädel!« Er riss sich seine Baseballkappe vom Kopf und taumelte entsetzt mehrere Schritte rückwärts.
Saint-André-du-Périgord, Montag, 22. März
Die Glocken von Saint-André-du-Périgord läuteten, aber noch lag das Dreihundertseelendorf im Tal der Vézère vollkommen still da. Kommissarin Marie Mercier schaute auf die Küchenuhr. Sieben in der Früh. Michel war schon vor einer Stunde losgefahren, denn er musste pünktlich im Polizeipräsidium von Bordeaux eintreffen, wo er das Rauschgiftdezernat leitete.
Michel Leblanc war der Mann, mit dem sie inzwischen eine Wochenendbeziehung führte. Marie hatte ihn im Lauf der Ermittlungen zu einem doppelten Kriminalfall kennengelernt. Er war der zuständige Kommissar, und sie hatte aus persönlichem Interesse Nachforschungen angestellt, obwohl sie das eigentlich gar nicht gedurft hätte.
Unwillkürlich legte sie eine Hand an ihren Hals. Narben hatte sie keine zurückbehalten, obwohl sie ihren Alleingang beinahe mit dem Leben bezahlt hätte. Während dieser Ermittlungen hatte sie sich in Michel verliebt. Und er sich in sie. Das war vor einem halben Jahr gewesen, sie befanden sich also noch am Anfang ihrer Beziehung und entdeckten einander jedes Wochenende ein Stückchen mehr.
So hatten sie auch die letzten zwei Tage genossen, lange Spaziergänge unternommen, in einem idyllisch gelegenen Landgasthof köstliches Wildschwein am Spieß gegessen und viel Zeit im Bett verbracht – wunderbare Momente der Zärtlichkeit …
Aber jetzt war nicht die Zeit, in wohligen Erinnerungen zu schwelgen. Schließlich stand eine neue Arbeitswoche an, und in zwanzig Minuten würde sie zum Präsidium aufbrechen müssen. Doch vorher wollte sie draußen in der Frühlingssonne noch einen Kaffee genießen. Sie goss den letzten Rest aus der Kanne in ihre Bol und schaute sich zufrieden in ihrer Küche um. Die Umbauarbeiten hatten sich gelohnt, auch wenn alles länger gedauert hatte als vorgesehen und zudem teurer geworden war. Sie hatte die Wand zwischen der ehemaligen Küche und dem Esszimmer einreißen lassen und stand jetzt in der geräumigen, hellen Wohnküche, von der sie immer geträumt hatte. Ein großer Holztisch mit bequemen Korbsesseln beherrschte die Mitte des Raumes, und eine mit grünem Samt bezogene Récamiere, neben der eine Designerstehlampe stand, bot einen gemütlichen Leseplatz. Das Licht, das durch die beiden Fenster fiel, spiegelte sich in einem großen, barock anmutenden Spiegel wider. Die helle Küchenzeile war schlicht und funktional, so wie Marie es mochte, aber ergänzt durch einen gusseisernen Herd mit Kupfergriffen, den sie im Internet gefunden hatte. Er sah uralt aus und vermittelte den Eindruck, als hätte er von Anfang an in diesem Haus gestanden. »Was für eine Schnapsidee, so ein altes Ding zu kaufen!«, hatte ihre Großtante Léonie angemerkt, die ebenfalls in einem Haus auf diesem Anwesen wohnte. Und Marie hatte entgegnet: »Von so einem Ofen habe ich schon immer geträumt. Außerdem finde ich diesen Mix aus Alt und Neu irgendwie belebend. Ein bisschen wie bei uns, oder?« Die Antwort hatte Léonie gefallen.
Insgesamt wirkt die Wohnküche nicht überdekoriert – und genau so muss es sein, dachte sie nun, nahm ihre Bol und ging zur Küchentür, die auf den Hof hinausführte. Ihr Blick fiel auf das gerahmte Foto neben dem Türrahmen. Darauf waren Maries Vater, Harald Keller, und ihre beiden Cousins Viktor und Moritz in Karnevalskostümen zu sehen, wie sie lachend vor dem Kölner Dom posierten. Sie lebten alle drei in unterschiedlichen Vierteln der Domstadt und trafen sich gern und regelmäßig. Die Söhne seiner Schwester waren für ihren Vater eine Art Kindersatz, da seine einzige Tochter so weit entfernt lebte. Als Marie das letzte Mal Karneval mit ihnen gefeiert hatte, war sie als Fliegenpilz mit einem riesigen roten Hut mit weißen Punkten durch die quirlige Kölner Altstadt gelaufen, was ihre Cousins dazu veranlasst hatte, sie als »Imi« zu bezeichnen, also als Zugereiste. »Echte« Kölsche Jecke gingen als Clowns, insbesondere wie sie als Lappenclowns oder in rot-weiß geringelten Hemden und Strümpfen mit einem schwarzen Sakko. Karneval sei nun mal eine ernste Angelegenheit. Maries Mutter, die ihrem Vater ins Rheinland gefolgt war, hatte sich nicht damit anfreunden können. Sie war lange nach der Trennung von Maries Vater vor ein paar Jahren von Paris nach Nizza gezogen. Auch in Nizza wurde Karneval gefeiert, doch dem bunten Treiben dort stand sie deutlich offener gegenüber – weil es an der Côte d’Azur, wie sie gern betonte, »viel stilvoller« zuginge. Allein aus diesem Grund würden ihre Eltern sich wohl niemals richtig versöhnen können …
Ihre Cousins hatten Marie die Karnevalsaufnahme kurz vor Weihnachten geschickt, nachdem sie erfahren hatten, dass Marie ihre Familie im Rheinland wegen der Probezeit in ihrem neuen Job für längere Zeit nicht würde besuchen können. Jetzt blieb sie vor dem Bild stehen und hob ihre Bol. »Tach, Jungs!« Dabei fiel ihr ein, dass ihr Vater heute Geburtstag hatte – sie durfte nicht vergessen, ihm später zu gratulieren.
Draußen hatte Gaston, der rot getigerte Kater, den besten Platz auf der Bank bereits in Beschlag genommen und ignorierte den Mischlingshund César, der an ihm herumschnupperte. Marie setzte sich zu den beiden Tieren, blinzelte in die frühe Morgensonne und dachte wieder an Michel, der inzwischen wohl den größten Teil der Strecke nach Bordeaux geschafft haben dürfte – es waren knapp zwei Stunden Autofahrt. Die Vögel, für die gerade die Paarungszeit begonnen hatte, zwitscherten wild durcheinander. Marie machte sich abermals bewusst, was für ein Glück sie hatte, in einer solch idyllischen Umgebung leben zu dürfen. Von der schweren Eichenbank, die seit vielen Jahrzehnten an genau dieser Stelle stand, blickte sie auf das Anwesen der Merciers, ihrer Familie mütterlicherseits. Ihr Zuhause! Die Pflastersteine des Hofes waren vermutlich so alt wie die Gebäude, die 1870 errichtet worden waren, wie das über die Eingangstür gemeißelte Datum bezeugte. Die ockerfarbenen Sandsteinmauern leuchteten im Licht der Sonne. Und gestern hatten die Rosenstöcke der Pergola, die ihre Eingangstür umrahmten, erste grüne Spitzen gezeigt.
Vor einem Dreivierteljahr war Marie aus Paris, wo sie bei der Brigade Criminelle gearbeitet hatte, ins südwestliche Périgord gezogen, nachdem sie das Haus von Mamie, ihrer geliebten Großmutter, geerbt hatte. Inzwischen fühlte es sich so an, als wäre seither eine halbe Ewigkeit vergangen. So viel war passiert, sie hätte sich nicht träumen lassen, dass das Leben auf dem Land so aufregend sein würde. Dabei hatte sie gedacht, von Paris einiges gewohnt zu sein. Ursprünglich hatte sie nur ein Sabbatical in Saint-André verbringen wollen. Aber nach reiflicher Überlegung hatte sie sich letzten Herbst auf die Stelle von Michel in Périgueux beworben, nachdem dieser nach Bordeaux befördert worden war. Sein frei gewordener Posten hatte sie vor eine Frage gestellt, die sie irgendwann nicht mehr ignorieren konnte: Wollte sie sich wirklich von ihrem Pariser Leben, von ihren Kollegen dort ganz verabschieden und ihre Wohnung auflösen, nach der sie einst so lange gesucht hatte? Wenn sie sich tatsächlich um die Stelle in Périgueux bewarb und sie auch erhielt, konnte sie keine halben Sachen machen. Aber das war ohnehin nicht ihre Art.
Eines Morgens beim Aufwachen war ihr ganz plötzlich bewusst geworden, dass sie das Leben in Saint-André und vor allem die Menschen hier, die ihr so sehr am Herzen lagen, nicht mehr missen wollte. Hier inmitten dieser malerischen Landschaft war ihre Heimat. Noch vor dem ersten Schluck Kaffee hatte sie den Computer eingeschaltet und ihre Bewerbung losgeschickt. Michel und ihre quirlige Großtante Léonie, die Schwester ihrer verstorbenen Großmutter, hatten sicherlich gehofft, dass sie die Stelle bekäme und sich im Périgord niederlassen würde. Ihre Pariser Kollegin und beste Freundin Pauline wünschte sich hingegen, dass ein anderer Kandidat bevorzugt und Marie endlich in die Hauptstadt zurückkehren würde. Wie auch immer, Marie wurde zur Kommissarin in Périgueux ernannt.
Die Nachricht hatte sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge aufgenommen. Sie liebte Paris, und diese Metropole würde für sie immer die schönste Stadt der Welt bleiben. Und Pauline, die ihr mit reichlich viel Dramatik »Verrat« vorgeworfen hatte, war auch nur schwer zu besänftigen gewesen. Aber mittlerweile hatte sie sich damit abgefunden, und sie beide hielten nach wie vor intensiven Kontakt. Marie hatte ihre Wohnung in Paris aufgelöst, ihr Sabbatical abgekürzt und vor ein paar Wochen den Dienst aufgenommen. Jetzt war sie wieder offiziell »Madame la Commissaire«. Und das gefiel ihr, wie sie sich eingestehen musste.
Eine vertraute Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf.
»Schau mal, was ich gerade unter den Apfelbäumen gefunden habe«, rief ihre Großtante, die mit ihren dünnen Beinchen aufgeregt den gemeinsamen Hof durchquerte. So wie sie strahlte, musste es etwas Essbares sein. Léonie war eine leidenschaftliche und begnadete Köchin.
»Was findet man Ende März unter Obstbäumen?«, entgegnete Marie verwundert.
»Ja, was denn wohl? Morcheln! Fünf schöne, feste Morcheln!« Stolz streckte die zierliche alte Dame Marie ihre geblümte Schürze wie ein improvisiertes Körbchen entgegen, um ihr die hellen Schlauchpilze mit den wabenartigen Köpfen darin zu zeigen.
»Die sind ja prächtig. Hmmm! Am liebsten esse ich sie mit Nudeln und einer Sahnesauce«, meinte Marie, die sich immer für gutes Essen begeistern konnte.
»Ein klassisches Gericht des Périgord wäre, sie mit Kalbsbries in Blätterteig zuzubereiten«, gab Léonie zu bedenken. »Aber ganz einfach mit Nudeln ist auch keine schlechte Idee.«
»Wie wäre es, wenn wir sie heute Abend gemeinsam in meiner Küche zubereiten?«, schlug Marie vor. Sie wusste, dass sie sich damit auf heikles Terrain begab. Für Léonie war es nicht einfach, sich darauf einzulassen, dass auf dem Hof der Merciers anderswo als in ihrer Küche gekocht werden sollte. Das hatte es früher nie gegeben. Aber wie so oft hatte sie genügend Herz und Verstand, um sich spontan auf Maries Bitte einzulassen.
»Natürlich. Dann können wir gleich ausprobieren, ob dein alter Herd auch was taugt!«
»Super, aber jetzt muss ich mich sputen. Ich will um halb neun im Büro sein. In der Mittagspause versuche ich, in Périgueux frische Nudeln zu finden.« Marie eilte ins Haus und winkte Léonie zum Abschied. »Bis heute Abend.«
»Ja, dir einen schönen Tag, ma chérie.«
Marie nahm ihre Tasche, die Autoschlüssel und verließ rasch das Haus. Draußen stolperte sie fast über die Schubkarre, die Georges vor sich herschob. Der eigenbrötlerische ehemalige Hofknecht lebte seit seiner Jugend in einem Nebengebäude des Anwesens und gehörte längst zur Familie. Er und Léonie waren ein besonderes und rührendes Gespann: Immer spielten sie ein bisschen Katz und Maus miteinander, waren dabei aber stets um das Wohlergehen des anderen bemüht.
»Upps!«
»Ach, Madame la Parisienne hat es wieder mal eilig«, stellte er lakonisch fest.
Der hagere Georges trug seine obligatorische Cordhose, in die er dreimal hineingepasst hätte, und einen Pullover mit kariertem Muster. Ein Zigarettenstummel hing in seinem linken Mundwinkel. Marie war sich nicht sicher, ob er ihn heute schon angezündet hatte. Hauptsache, die Zigarette steckte im Mund.
»Und wo spazierst du mit deiner Schubkarre hin?«, fragte sie und musste schmunzeln.
Er zeigte auf den Schuppen mit den Holzvorräten.
»Von irgendwas muss Léonies Ofen ja brennen.« Er glättete mit einer Hand eine widerspenstige weiße Haarsträhne und ging dann auf den Schuppen zu. Marie hörte ihn irgendetwas vor sich hin brummeln – Georges pflegte seine kauzige Art.
Marie eilte weiter. Doch gerade als sie den Hof durch das schwere Holztor verlassen wollte, sah sie die Nachbarin Rose schon erwartungsvoll an der gemeinsamen Mauer der beiden Grundstücke stehen. Rose war zwei Jahre jünger als Léonie, womit sie gern kokettierte, und die beiden Frauen hatten ihr Leben Tür an Tür verbracht. Die rüstige Rentnerin war in eine rosafarbene Strickjacke gehüllt. So weit war also alles normal. Rose trug stets rosafarbene Kleidung – um ihrem Namen Ehre zu machen. Nun, um einen kurzen Plausch würde Marie nicht herumkommen, wenn sie nicht unfreundlich erscheinen wollte.
»Bonjour, Rose.«
»Bonjour, Marie. Schau mal!« Die Begeisterung stand Rose ins Gesicht geschrieben, als sie auf einige eher unauffällige Pflänzchen in einem ihrer kunstvoll arrangierten Blumenbeete deutete. »Das sind meine Pfingstrosen! Mit Pferdemist gedüngt, die werden dieses Jahr besonders prächtig. Du wirst schon sehen!«
»Es werden mit Sicherheit die großartigsten Pfingstrosen im ganzen Périgord, ach, was sage ich, im gesamten Département Dordogne.« Das meinte Marie ehrlich. Ihre Nachbarin war eine ebenso begnadete wie ehrgeizige Gärtnerin und nahm mit Recht für sich in Anspruch, zumindest den schönsten Garten von Saint-André zu haben. Nun ja, Léonie, die ihren Garten ebenfalls liebte und pflegte, sah das ein bisschen anders. Die beiden alten Damen standen da, wenn auch unausgesprochen, etwas in Konkurrenz.
Rose nickte eifrig voller Vorfreude. Ihr Bilderbuchgarten war eine ihrer großen Leidenschaften. Die anderen waren Tratschen und TV-Serien.
»Sag mal, gestern hab ich im Fernsehen einen Krimi gesehen. Da hat einer gleich drei Männer auf einmal ermordet, und frag nicht, wie … Und da wollte ich wissen, wie ihr das so macht. Also da war …«
Marie wusste, wie gern Rose, die seit dem Tod ihrer Eltern vor vielen Jahren allein lebte, sich unterhielt, aber sie hatte jetzt wirklich keine Zeit.
»Tut mir leid, Rose, aber ich muss dringend ins Büro. Wir reden ein anderes Mal drüber.«
Sie übersah geflissentlich, wie sich der Mund ihrer Nachbarin zu einem Schmollen verzog, und rief noch »Versprochen!«, während sie in ihren zerbeulten orangefarbenen R5 stieg.
Sie startete den Motor und fuhr von ihrer kleinen, gepflasterten Gasse auf die Hauptstraße von Saint-André zu. An der Kreuzung hielt sie kurz an und schaute zunächst nach links: In dieser Richtung befanden sich das Café de la Place mit seiner einladenden Terrasse und die romanische Dorfkirche mit dem imposanten Steindach, und etwas weiter, am Ortseingang, standen die beiden jahrhundertealten, majestätischen Zedern. Dann blickte sie geradeaus, wo sich direkt vor ihr kleine verwinkelte Gassen auftaten, die viel zum pittoresken Charme des Dorfes beitrugen und durch die man schließlich zur alten Schlossruine gelangte. Jetzt aber bog Marie nach rechts ab, vorbei am Bürgermeisteramt mit der über dem Eingangsportal eingravierten Devise Liberté, Egalité, Fraternité – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, die aus der Zeit der Französischen Revolution stammte, und der flatternden Nationalflagge. Gleich danach tauchte die Grundschule auf, deren um diese frühe Uhrzeit noch unbelebter Hof von einer großen, schattenspendenden Linde beherrscht wurde.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich der Tante-Emma-Laden, neben dem Marie anhielt, weil sie sich noch eine Kleinigkeit zum Essen kaufen wollte. Das Geschäft wurde mit viel Liebe von Odile geführt, die bereits um sieben in der Früh öffnete. Ihr üppig mit kulinarischen Köstlichkeiten gefüllter Laden trug erheblich zur Dynamik und Lebensqualität des Dorfes bei, und dessen war Odile sich durchaus bewusst. Wie immer tummelten sich jetzt vor dem Schaufenster, auf dem mit geschwungener weißer Schrift groß Épicerie zu lesen war, schon ein paar Dorfbewohner, die einen Einkaufskorb oder bereits ein frisches Baguette mit sich führten. Unter ihnen waren einige Senioren, die sich wie Léonie an den alten Volksspruch hielten: La journée appartient à ceux qui se lèvent tôt – das französische Pendant zu »Morgenstund hat Gold im Mund«.
Marie grüßte die Runde durch das geöffnete Fahrerfenster.
»Bonjour, tout le monde!«
Sie erntete ein gemeinsames »Salut, Marie«. Im nächsten Augenblick sah sie ihren Jugendfreund Philippe, der mit einem Croissant in der Hand gerade den Laden verließ.
»Zweites Frühstück?«, fragte sie ihn.
»Ja, ich muss heute die langen Hecken hinter dem Friedhof schneiden, das geht ganz schön auf die Kondition.« Philippe war bei der Gemeinde angestellt und hatte immer alle Hände voll zu tun. Er hatte eine wichtige Rolle bei den Ermittlungen im letzten Jahr gespielt, aber daran wollte Marie jetzt nicht denken.
In Anbetracht der vielen Leute vor dem Laden entschied sie, dass sie hier zu lange würde warten müssen, und fuhr weiter. Nach kurzer Zeit erreichte sie das Dorfausgangsschild, auf dem der Name Saint-André-du-Périgord rot durchgestrichen war und eine kleine À-bientôt-Tafel darunter zum baldigen Wiedersehen einlud. Danach kam sie an großen Feldern und Weiden mit gemächlich grasenden Kühen vorbei. Alles wirkte so friedlich. Die Welt hier ist in Ordnung, dachte Marie mit einem zufriedenen Lächeln und schaltete den lokalen Radiosender France Bleu Périgord ein. Gerade lief ein alter, melodischer Gute-Laune-Ohrwurm: Le Sud von Nino Ferrer. Sie sang laut mit – ziemlich schief zwar, aber das bekam ja niemand mit:
On dirait le Sud
Le temps dure longtemps
Et la vie sûrement
Plus d’un million d’années
Et toujours en été
Es ist, als wäre man im Süden
Die Zeit dauert lange
und das Leben bestimmt
länger als eine Million Jahre
Und immer ist es Sommer
Saint-André, Montag, 22. März
Nachdem Léonie sich von Marie verabschiedet hatte, ging sie langsam über den Hof zu ihrem Haus zurück. Im Hintergrund startete ihre Großnichte gerade ihr Auto – die alte Knatterkiste war wirklich nicht zu überhören. Ihre Schwester Madeleine war eine Ewigkeit damit gefahren, bevor Marie den Wagen geerbt hatte. Er war bestimmt fast dreißig Jahre alt.
Marie sollte sich endlich mal ein vernünftiges Auto anschaffen, dachte Léonie. Aber sie war noch nicht so weit, um sich davon zu trennen – da war zu viel Trauer im Spiel. Es war das Auto ihrer über alles geliebten Großmutter, und das machte es zu etwas ganz Besonderem. Doch das würde sich mit der Zeit sicherlich ändern – das Leben ging ja schließlich weiter. Léonie hatte festgestellt, dass zumindest sie selbst den Tod ihrer älteren Schwester allmählich besser annehmen konnte. Madeleine hatte ein langes und erfülltes Leben gehabt. Was wollte man mehr?!
Léonie konnte immer noch nicht richtig glauben, dass Marie wirklich hier eingezogen war. Sie musste sich an diesen neuen Rhythmus gewöhnen, denn das hatte es hier auf dem Hof noch nie gegeben, dass jemand am Morgen zu festen Zeiten das Haus verließ und abends einigermaßen pünktlich Feierabend hatte. Madeleine und sie hatten – wie ihre Eltern zuvor – jahrein, jahraus, tagein, tagaus auf dem Hof gearbeitet und waren dem Rhythmus der Natur und der Jahreszeiten gefolgt. Sie hielt es allerdings für eine Fügung des Schicksals, dass für ihre Nichte eine Stelle in Périgueux frei geworden war. Nur schade, dass es die von dem so sympathischen Michel Leblanc gewesen war und er jetzt nur noch am Wochenende ins Périgord kam. Marie war sehr diskret, was ihre Beziehung zu dem Kommissar anbelangte, den sie letzten Sommer unter dramatischen Umständen kennengelernt hatte. Aber da ist eindeutig etwas zwischen ihnen, dachte Léonie – es sei denn, er schläft im Gästezimmer, wenn er über Nacht bleibt.
Auch an diesem Morgen hatte sie gehört, wie er um sechs Uhr losfuhr. Aufgrund ihrer Lebensumstände hatte Léonie nicht heiraten können, aber das bedeutete ja nicht, dass sie keine Ahnung von der Liebe hatte. Zum Glück! Wie auch immer, ihren Segen hatten die beiden jedenfalls. Allerdings hätte es sie beruhigt, wenn Michel, den sie als besonnen einschätzte, in Maries Nähe geblieben wäre. Ihre Großnichte hatte sich in ihrer Berufslaufbahn schon mehrmals in Gefahr gebracht, und beim letzten Mal war sie dem Tod erst in letzter Sekunde von der Schippe gesprungen. Léonie erschauerte bei dem Gedanken. Doch eines hatte sie inzwischen begriffen: Marie ertrug es nicht, wenn man nachfragte – da machte sie gleich die Schotten dicht. Léonie erkannte darin einen »Wehret den Anfängen«-Reflex, und das konnte sie im Grunde gut verstehen. Mit ihren fünfunddreißig Jahren wollte Marie ihre Privatsphäre wahren, auch wenn sie beide Tür an Tür wohnten – oder gerade deshalb. Die jungen Menschen von heute waren da viel klüger, als sie selbst es einst gewesen war. Léonie hatte sich als junge Frau dem Willen und den strengen Vorstellungen ihrer Mutter gebeugt, die letztendlich über den Verlauf ihres Lebens entschieden hatte. Wären Georges und sie in der heutigen Zeit jung, hätten sie beide ein anderes Leben miteinander führen können.
Léonie kehrte ins Hier und Jetzt zurück und dachte kurz darüber nach, was sie als Nächstes tun würde. Genau – sie wollte in der Kühltruhe nach einer selbst gemachten Hühnerbrühe suchen. Ein Fond konnte für die Sahnesauce heute Abend nicht schaden, und Geflügel passte zu Morcheln fast so gut wie Kalb.
Als sie an Augustines Stall vorbeilief, kam das Hängebauchschwein sofort zum Gatter und quiekte. Georges hatte es vollkommen verzogen, und das Schwein ertrug es immer weniger, allein zu sein. Marie hatte schon vorgeschlagen, einen Artgenossen für Augustine herbeizuschaffen. Georges hatte heftig dagegen protestiert und erklärt, dass er ein weiteres Schwein »nicht so wie Augustine lieben könne«. Das musste man sich mal vorstellen: Georges, der in Sachen Gefühle sein bisheriges Leben lang ein Stockfisch gewesen war, sprach jetzt davon, ein Hängebauchschwein zu lieben! Zum Glück war Léonie nicht allzu empfindlich und hatte im Laufe der Jahrzehnte gelernt, mit seinen Eigenheiten umzugehen. Sie wusste, was sie ihm bedeutete, obgleich er selbst es ihr niemals gesagt hatte.
Als Marie ihren Vorschlag geäußert hatte, war Léonie in Georges’ Augen allerdings ein gewisses Leuchten aufgefallen, das ihr gar nicht gefiel. Ihr konnte er nichts vormachen. Auch wenn er vehement das Gegenteil behauptete, reizte ihn die Idee, ein weiteres Schwein anzuschaffen. Aber er war doch schon völlig gaga mit Augustine! Wie sollte das erst werden, wenn er zwei Hängebauchschweine in seiner Obhut hätte? Oder sogar … Nein, daran wollte sie gar nicht erst denken! Dann würde sich für Georges die ganze Welt nur noch um diese Viecher drehen, da war sie sicher.
»Ist ja gut! Dein Herrchen kommt gleich«, sagte sie dennoch beinahe mütterlich zu Augustine und bog dann zu ihrem Haus ab. Das Schwein gab ein leises Grunzen von sich, als hätte es sie verstanden. Léonie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen – die zentnerschwere Sau war auch ihr ans Herz gewachsen. Hinter ihrem Rücken hörte Léonie das Geräusch einer schwer beladenen Schubkarre, die über die Pflastersteine rollte, und gleich danach auch Georges, der mit sanfter Stimme auf Augustine einredete.
»Bin wieder da, mein schönes Mädchen. Gleich gehen wir zwei fein spazieren und erzählen uns etwas. Außerdem muss ich dir eine Stelle mit wilden Narzissen zeigen – du wirst begeistert sein.«
Jetzt entwickelt er sich auch noch zum Romantiker, dachte Léonie und seufzte leise.
*
Nach fünfundvierzig Minuten war Marie in der Stadtmitte von Périgueux angekommen und parkte am Präsidium, einem ehemals weiß gestrichenen Gebäude aus den Siebzigerjahren, das inzwischen grau und schmutzig aussah. In Paris hatte sie für die Fahrt von ihrer Wohnung zum Büro in etwa die gleiche Zeit benötigt, nur dass sie dort entweder in der überfüllten Métro oder im Stau gestanden hatte. Dennoch musste sie zugeben, dass ihr die Stadt manchmal schon ein bisschen fehlte: das besondere Flair, die vertraute Hektik, die Cafés, der Blick über die Dächer von ihrer Wohnung aus … einfach das Lebensgefühl dort. Ihren Umzug hatte sie bislang jedoch keine Sekunde lang bereut. Leben hieß ja, Entscheidungen zu treffen. Außerdem war allein schon die Fahrt zu ihrem Arbeitsplatz hier um ein Vielfaches angenehmer als in Paris. Unterwegs hatte sie mehrere gut erhaltene Dörfer durchquert – jedes hatte für sich seine besonderen Architekturmerkmale vorzuweisen: einen alten Brunnen, eine kleine Kapelle, eine Markthalle mit eindrucksvollem Gewölbe, ein herrschaftliches Haus oder ein liebevoll restauriertes Gehöft … Und in den sanften Tälern hatte sie üppig blühende Fliederbüsche gesehen. Da ging ihr immer das Herz auf. Auf der Heimfahrt würde sie einen großen Strauß weißen Flieder für ihren Küchentisch abschneiden.
Auf dem Weg zu ihrem Büro, das sie sich mit dem freundlichen Inspektor Richard Martin teilte, traf sie auf einem der langen, neonbeleuchteten Flure ein paar Kollegen, die sie fröhlich begrüßten. Sie war hier von allen herzlich aufgenommen worden, abgesehen von Maurice Champion, einem weiteren Kommissar. Der hatte darauf spekuliert, dass Michels Posten gestrichen würde – Périgueux war ein überschaubares Städtchen – und er die Leitung des Dezernats übernehmen würde. Nun war Champion Marie unterstellt. Martin hatte ihr anvertraut, dass die anderen hier zunächst etwas besorgt gewesen waren, eine Vorgesetzte aus der Hauptstadt zu bekommen, denn in der Provinz hatten die Pariser den Ruf, überheblich zu sein. Aber Marie war es gelungen, in kürzester Zeit ein kollegiales Verhältnis aufzubauen. Die Menschen im Périgord waren tatsächlich auffallend umgänglich, und das galt, besagten Stinkstiefel von Champion außer Acht gelassen, auch für die hiesigen Polizisten. Außerdem mochte Marie den Akzent, der hier im Südwesten Frankreichs verbreitet war. Bis vor gar nicht so langer Zeit stand er für Urlaub bei Mamie in Saint-André, und als Kind hatte sie immer versucht, ihn sich anzueignen. Wenn sie aber nach den Sommerferien wieder in Paris bei ihrer Mutter Loren war, trieb diese ihr die begeistert nachgeahmte Sprachmelodie regelmäßig schnell aus. »Ich bin doch nicht vom Land weggezogen, damit meine Tochter wie ein Landei spricht«, meinte sie dann. Na ja, nun würde dieser Akzent Maries Alltag begleiten. Bei Michel, der ein echter Périgourdiner war, hatte sie ihn gleich registriert – und auch das hatte ihr an ihm gefallen.
Als sie fast ihr Büro erreicht hatte, wurde die Tür des Nachbarzimmers aufgerissen. Champion tauchte im Türrahmen auf und blieb mit versteinerter Miene stehen, als er sie sah.
»Bonjour«, grüßte Marie betont höflich. »Ich wünsche Ihnen eine angenehme Arbeitswoche.«
Keine Antwort. Er grummelte nur etwas, das Marie nicht verstand, abgesehen von dem Satzfetzen »Blumen! … lächerlicher Lakai«.
Eine gequälte Seele, dachte sie und erinnerte sich an das, was Martin ihr erzählt hatte, der vor acht Jahren seine Stelle in Périgueux zeitgleich mit Michel angetreten hatte. Schon damals hatte Maurice Champion, der seit dem Beginn seines Berufslebens in Périgueux arbeitete und etwas älter war als Michel, auf dessen Stelle spekuliert, und jetzt war sie ihm ein weiteres Mal vor der Nase weggeschnappt worden. Marie beschloss, ihn fürs Erste seinem Schicksal zu überlassen, und schritt zu ihrem Büro.
Als sie die Tür öffnete, schlug ihr ein ungewohnter Geruch entgegen. Eine Mischung aus frisch geröstetem Kaffee, Desinfektionsmittel und … Flieder. Der rundliche Inspektor Martin strahlte sie an und zeigte auf einen prächtigen, riesigen Strauß, der den Großteil ihres Schreibtischs einnahm und ihren Computerbildschirm verdeckte.
»Bonjour, Madame la Commissaire, den habe ich vor einer halben Stunde mit meiner Mutter in unserem Garten geschnitten – und da wir nicht wussten, ob Sie lieber weißen oder lila Flieder mögen, haben wir beide Farben gemischt«, sagte er stolz und hielt dabei die Arme über seinem Bäuchlein gekreuzt. Marie war gerührt von Martins aufmerksamer Geste. Irgendwie passte sie zu seinen Gesichtszügen, die immer noch kindlich anmuteten, obwohl ihr Kollege die Vierzig schon hinter sich hatte.
»Merci, Inspecteur. Das ist … wirklich sehr nett!«, antwortete Marie verlegen. Jetzt verstand sie, worauf dieser Champion angespielt hatte.
Aber sie fand Martins Aufmerksamkeit auch ein wenig irritierend, denn der Raum hier war ein Büro im Polizeipräsidium und kein Wohnzimmer – und auch kein Blumenladen. Dann fiel ihr auf, dass die Vase – ja, es war tatsächlich eine richtige Vase! – auf einem Platzdeckchen stand. Von Michel, der sich die letzten Jahre das Büro mit Martin geteilt hatte, wusste sie, dass der Inspektor noch bei seiner Mutter lebte. Daher wohl der gemeinsam gepflückte Strauß am frühen Morgen. Michel hatte ihr auch erzählt, dass der Inspektor ein Nerd mit einem ausgeprägten Putzfimmel und erstaunlich häuslich war. Marie selbst hatte in den wenigen Wochen der Zusammenarbeit mit ihm festgestellt, dass er ein sehr angenehmer Kollege war. Und ihr war aufgefallen, dass er anders dachte als sie – er hatte seine eigene Logik und liebte Zahlen. Außerdem arbeitete er präzise und hatte Witz: zwei Eigenschaften, die Marie besonders schätzte. Sie ahnte, dass sie sich gut ergänzen würden. Aber seine Häuslichkeit im Büro machte sie ratlos, vielleicht sogar etwas nervös. Dafür hatte man doch ein Zuhause. Irgendwann würde er noch mit einem Plätscherbrunnen ankommen! Marie holte sich einen Kaffee und überlegte, wie sie das Thema ansprechen könnte, ohne ihren Kollegen zu kränken.
Inspektor Martin nestelte an seinem nicht wirklich vorteilhaften, handgestrickten ockerfarbenen Pullover und lächelte sie erwartungsvoll an.
»Das ist wirklich ein prächtiger Strauß, Martin, aber er nimmt schon viel Platz weg auf meinem Schreibtisch«, wagte sie einzuwenden.
»Ach so, ja!« Er eilte zu ihrem Schreibtisch und stellte den Strauß auf eine Ablage.
»Merci!« Sie erwiderte sein Lächeln, mit dem er seine Enttäuschung tapfer zu verbergen versuchte – und da hatte ihr Telefon Erbarmen. Es klingelte. Sie schaute auf das Display. Michel. Marie gab dem Inspektor ein kurzes Zeichen.
»Geht früh los heute Morgen«, meinte er nun aufgeräumt.
Marie verließ das Büro in Richtung einer abgeschiedenen Ecke im Flur, um dort ungestört telefonieren zu können.
»Und, gut durch die Staus gekommen?«
»Ja, aber ich vermisse dich jetzt schon«, antwortete Michel. »Ich bin jetzt auf dem Weg zu einem Großeinsatz in den Docks. Der Tag wird bestimmt heftig.«
»Gefährlich?«
»Ich hoffe nicht. Und wie ist es bei dir?«
»Abwechslungsreich. Eine pampige Begrüßung von Champion und ein überdimensionierter Strauß Flieder auf meinem Schreibtisch«, erzählte sie.
»Von einem Verehrer?«, fragte Michel.
War er etwa eifersüchtig?
»Nein«, antwortete Marie etwas gequält.
»Ah, ich weiß. Von Martin!« Michel klang amüsiert.
»Wie? Hat er dir auch Blumen mitgebracht?« Marie war entgeistert. Sie malte sich aus, wie Martin seinem früheren Chef einen Strauß überreichte, und musste schmunzeln.
»Er war immer sehr fürsorglich. Kirschen aus seinem Garten, von seiner Mutter selbst gekochte Marmelade – köstlich, übrigens, besonders ihr Johannisbeergelee! –, aber Blumen, nein. Dass er dir Blumen schenkt, spricht allerdings für ihn.«
»Ich konnte aber vor lauter Blumen meinen Bildschirm nicht mehr sehen.«
Er lachte. »Hoffen wir, dass es das Schlimmste ist, was dir heute widerfährt.« Marie hörte jetzt Außengeräusche. »Mist, ich muss los. Je t’embrasse«, rief er eilig.
»Ich küsse dich auch.« Sie wollte noch »Pass auf dich auf!« rufen, aber er hatte schon aufgelegt.
Marie ging mit einem Lächeln auf den Lippen zum Büro zurück. So viel Aufmerksamkeit war sie nicht gewohnt. Als sie mit ihrem damaligen Freund in Paris gelebt hatte, war tagsüber jeder seiner Wege gegangen, und irgendwann am Abend traf man sich in der gemeinsamen Wohnung. Oder auch nicht. Aber gerade deshalb war ihre Beziehung wohl eingeschlafen. Auf jeden Fall hatte Michel recht: Wieso regte sie sich über einen schönen Blumenstrauß auf, zumal ihr Assistent alles andere als ein Chauvi war? Hier herrschen nun mal andere Sitten als in Paris, dachte sie, und auch deswegen hatte sie beschlossen, dauerhaft im Périgord zu leben.
Als sie das Büro wieder betrat, saß der Inspektor an seinem perfekt aufgeräumten und makellos glänzenden Schreibtisch. Er hatte sich den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt und machte sich konzentriert Notizen. Seine sehr regelmäßige Schrift war ihr schon aufgefallen, denn für so etwas hatte Marie ein Faible. Doch erst jetzt bemerkte sie, dass er Linkshänder war. Während sie seine für sie verdreht anmutende Handhaltung beim Schreiben beobachtete, erinnerte sie sich an einen Beitrag, den sie kürzlich gelesen hatte. Rechtshänder beurteilten mit der rechten und Linkshänder mit der linken Gehirnhälfte. Prima, das Zusammenkommen von zwei Gehirnhälften konnte in ihrem Beruf, je nach Situation, nicht schaden.
»In Auberoches also? Beim Bauernhof der Barthes? Gut, Madame Barthes, in einer Stunde sind wir bei Ihnen.« Er legte auf und schaute Marie an.
»Auberoches bei Saint-André-du-Périgord?«, fragte sie überrascht. »Dann ist das gleich bei mir um die Ecke. Die Familie Barthes kenne ich sogar. Was ist da los?«
»Dort wurde ein menschlicher Schädel gefunden. Bei Ausgrabungen an einer Baustelle.«
»Und welche Madame Barthes hat angerufen?«
Martin schaute auf seinen Zettel. »Eine Agnès. Wie viele Madames Barthes gibt es denn?«
Marie überlegte kurz. »Fünf. Aber warum rufen die hier an? Im Périgord wimmelt es nur so von prähistorischen Funden. Vielleicht sollten sie erst das archäologische Museum in Les Eyzies anrufen.«
Michel, der sich für prähistorische Kunst begeisterte, hatte ihr erzählt, dass es immer wieder neue Fundstellen gab. Er glaubte zum Beispiel fest daran, dass man eines Tages eine zweite Lascaux-Höhle finden würde. Und damit war er wohl nicht allein.
»So alt wird der Schädel nicht sein. Da sind anscheinend noch Haarreste dran«, sagte Martin mit angewidert verzogenem Mund.