Zum Buch
8.52 Uhr: Die erfolgreiche Geschäftsfrau Siobhan trifft Joseph Carter normalerweise spätabends im Hotelzimmer zum Tête-à-Tête. Überraschung: Heute hat er sie zum Valentins-Frühstück eingeladen. Doch Joseph taucht nicht auf.
14.43 Uhr: Der Valentins-Lunch mit Joseph Carter ist für die naturverbundene Abenteurerin Miranda das Zeichen, dass die Dinge zwischen ihnen ernster werden. Doch wo zum Teufel bleibt Joseph?
18.30 Uhr: Die schüchterne Romantikerin Jane kennt Joseph Carter noch nicht lange. Trotzdem will er auf einer Valentins-Party den Fake-Boyfriend für sie spielen. Der Abend scheint gerettet. Nur einer fehlt zu ihrem Glück – Joseph!
Drei Frauen. Drei Dates. Ein Mann, der nicht auftaucht …
»Raffiniert, herzerwärmend und romantisch« SOPHIE KINSELLA
Über die Autorin
Beth O’Leary schrieb ihren ersten Roman LOVE TO SHARE auf der täglichen Zugfahrt zu ihrem Job in einem Kinderbuchverlag und landete damit einen internationalen Bestseller. Darauf folgten TIME TO LOVE, DRIVE ME CRAZY und nun UP TO DATE. Heute ist Beth freie Autorin, und wenn sie nicht am Schreibtisch sitzt, macht sie es sich irgendwo mit einem Buch, einer Tasse Tee und mit mehreren Wollpullovern (bei jedem Wetter) gemütlich. Sie lebt mit ihrer Familie und ihrem Hund auf dem Land in Südengland.
Beth O’Leary
UP TO DATE
Drei Dates
machen noch
keine Liebe –
oder doch?
Roman
Aus dem Englischen
von Pauline Kurbasik und Babette Schröder
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Deutsche Erstausgabe 05/2022
Copyright © 2022 by Beth O’Leary
Die Originalausgabe erschien 2022
unter dem Titel The No-Show bei Quercus, London.
Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe
by Diana Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Lisa Scheiber
Umschlaggestaltung: Favoritbuero GbR, München
Umschlagmotiv: © Sarah Wilkins
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-27883-0
V001
www.diana-verlag.de
Für Bug
Siobhan
Er ist nicht da.
Siobhan atmet langsam durch die Nase aus, um sich zu beruhigen, aber es erinnert eher an einen wilden Stier als an einen Zen-Mönch.
Und dafür hat sie das Frühstück mit einer Freundin abgesagt. Hat sich die Haare auf Lockenwickler gedreht, hat Lippenstift aufgetragen und sich die Beine rasiert (und zwar nicht nur bis zum Knie, sondern bis ganz nach oben, falls er auf die Idee käme, unter dem Tisch mit der Hand über ihren Schenkel zu streichen).
Und jetzt lässt er sich verflucht noch mal nicht blicken!
»Ich bin nicht wütend«, sagt sie zu Fiona. Sie führen ein Videotelefonat. Das machen sie immer – Siobhan glaubt fest an die Macht des Blickkontakts. Außerdem möchte sie, dass wenigstens irgendjemand mitbekommt, wie fabelhaft sie heute aussieht, auch wenn es nur ihre Mitbewohnerin ist. »Ich habe mich damit abgefunden. Er ist ein Mann, ergo hat er mich im Stich gelassen. Was habe ich erwartet?«
»Du bist für Sex geschminkt«, stellt Fiona fest und blinzelt auf den Bildschirm. »Es ist noch nicht einmal neun Uhr morgens, Shiv.«
Siobhan zuckt mit den Schultern. Sie sitzt in einem dieser Cafés, die sich ihrer Schrulligkeit rühmen – eine Eigenschaft, die sie für gewöhnlich bei allem und jedem zutiefst nervt –, und vor ihr auf dem Tisch steht ein halb getrunkener doppelter Hafermilch-Latte. Hätte sie gewusst, dass sie am Valentinstag versetzt werden würde, hätte sie richtige Milch bestellt. Siobhan ernährt sich nur vegan, wenn sie gut gelaunt ist.
»Wir haben immer Sex«, erwidert sie.
»Selbst bei einer Verabredung zum Frühstück?«
Sie hatten sich bisher noch nie zum Frühstück verabredet. Aber als sie ihm erzählt hatte, dass sie zu einem kurzen Besuch in London sei, hatte er gesagt: Du hast nicht zufällig Lust, morgen mit mir zu frühstücken …? Die Frage nach einer Frühstücksverabredung war definitiv von Bedeutung – vor allem am Valentinstag. In der Regel treffen sie sich in ihrem Hotelzimmer, meist nach 23 Uhr; sie sehen sich am ersten Freitag im Monat, und manchmal auch, wenn sie zufällig in London ist, als Bonus, sozusagen.
Das ist in Ordnung. Das ist genug. Mehr will Siobhan auch gar nicht – er lebt in England, sie in Irland. Sie sind beide viel beschäftigt. Dieses Arrangement funktioniert perfekt.
»Bist du sicher, dass du ihm nicht noch fünf Minuten geben willst?« Fiona legt geziert die Finger an die Lippen, während sie die Cornflakes in ihrem Mund herunterschluckt. Sie sitzt am Küchentisch, die Haare noch vom Schlafen zum Zopf geflochten. »Vielleicht verspätet er sich ja nur.«
Plötzlich überkommt Siobhan Heimweh nach ihrer Wohnung, obwohl sie erst einen Tag weg ist. Sie vermisst den vertrauten Zitronenduft ihrer Küche, die Ruhe ihres begehbaren Kleiderschranks. Sie vermisst die Version von sich selbst, die noch nicht den Fehler begangen hat, darauf zu hoffen, dass ihre Lieblings-Sexbekanntschaft vielleicht doch etwas mehr von ihr will.
Sie nippt so lässig wie möglich an ihrem Milchkaffee. »Also bitte. Er wird nicht kommen«, sagt sie betont gleichgültig. »Ich habe mich damit abgefunden.«
»Du spielst doch wohl nicht mit dem Gedanken, ihn abzuschreiben, oder …?«
»Fi! Er hat 8:30 Uhr gesagt. Jetzt ist es zehn vor neun. Er hat mich versetzt. Es ist besser, wenn ich es einfach …«, sie schluckt, »… akzeptiere und loslasse.«
»In Ordnung.« Fiona seufzt. »Also dann. Trink deinen Kaffee, denk daran, dass du fantastisch bist, und mach dich bereit, es heute allen zu zeigen.« Wenn sie es allen zu zeigen sagt, setzt sich ihr amerikanischer Akzent durch. Ansonsten klingt sie meistens genauso nach Dublin wie Siobhan. Als die beiden sich mit achtzehn Jahren an der Gaiety School of Acting kennenlernten, hatte Fiona einen New Yorker Akzent und jede Menge Selbstvertrauen. Aber zehn Jahre erfolgloser Castings haben sie ausgelaugt, sie hat einfach kein Glück und bleibt immer die Zweitbesetzung. Siobhan glaubt fest daran, dass dies Fionas Jahr ist, so wie in jedem der letzten zehn Jahre.
»Wann wäre ich dazu nicht bereit? Also bitte.«
Siobhan wirft gerade ihr Haar zurück, als ein Mann hinter ihr vorbeigeht und gegen ihren Stuhl stößt. Der Kaffee in seiner Hand sschwappt über, und ein Tropfen fällt auf Siobhans Schulter. Er sinkt in das Briefkastenrot ihres Kleides und hinterlässt einen kleinen Fleck, der wie ein Semikolon aussieht.
Alle Voraussetzungen für eine filmreife Zufallsbekanntschaft. Und während sie sich umdreht, denkt Siobhan auch für den Bruchteil einer Sekunde darüber nach – er ist attraktiv, groß, die Art von Mann, von der man erwartet, dass sie einen großen Hund und ein lautes Lachen hat. Doch dann sagt er: »Himmel, mit dieser Mähne werden Sie noch jemandem ein Auge ausstechen!«
Und Siobhan entscheidet, dass sie zu schlecht gelaunt für große, imposante Männer ist, die sich nicht sofort dafür entschuldigen, dass sie Kaffee auf ihr Haute-Couture-Kleid verschüttet haben. In ihrer Brust steigt heiße Wut auf, und dafür ist sie dankbar, sogar erleichtert. Denn das ist genau das, was sie jetzt braucht.
Sie streckt die Hand aus und berührt ganz leicht seinen Arm. Er verlangsamt seinen Schritt und hebt kurz die Augenbrauen. Sie macht eine dramatische Pause, bevor sie spricht.
»Wollten Sie nicht eigentlich sagen: Es tut mir sehr leid?« Ihre Stimme ist zuckersüß.
»Schön vorsichtig, Kumpel«, warnt Fionas Stimme ihn aus dem Handy, das jetzt an dem wackligen Terrakottatopf in der Mitte des Tisches lehnt.
Aber er ist nicht vorsichtig. Das wusste Siobhan sofort.
»Wofür genau soll ich mich entschuldigen, Rapunzel?«, fragt er. Er folgt ihrem Blick zu dem Kaffeefleck auf ihrer Schulter, lacht herzlich und nachsichtig und kneift gespielt übertrieben die Augen zusammen, als gäbe es dort nichts zu sehen. Er versucht eindeutig, süß zu sein, und wäre sie in positiver veganer Hafermilchlaune, würde Siobhan vielleicht mitspielen. Zu seinem Pech ist Siobhan jedoch gerade ausgerechnet am Valentinstag versetzt worden.
»Das Kleid hat fast zweitausend Euro gekostet«, gibt sie zurück. »Möchten Sie das Geld überweisen oder in Raten zahlen?«
Er legt den Kopf in den Nacken und lacht. Ein paar Pärchen schauen bereits zu ihnen herüber.
»Sehr lustig«, sagt er.
»Ich mache keine Witze.«
Sein Lächeln erlischt langsam, und dann geht es richtig los. Er wird lauter. Sie sucht das Kleid bei NET-A-PORTER. Er verliert die Beherrschung und schimpft sie eine kleine Madame mit großer Klappe. Das ist ganz hervorragend, weil sie dadurch für fünf weitere Minuten Munition bekommt. Fiona lacht auf ihrem Handydisplay, und ein paar Sekunden lang vergisst Siobhan fast, dass sie allein in einem langweiligen schrulligen Café hockt und versetzt wurde.
»Du bist echt brutal, Shiv«, bemerkt Fiona liebevoll, als Siobhan es sich wieder auf ihrem Stuhl bequem macht.
Der Mann stürmt davon, nachdem er ihr einen Zehner »für die Reinigung« auf den Tisch geworfen hat. Alle starren sie an. Siobhan streicht sich die glänzenden blonden Locken über die Schulter, die überhaupt erst zu der Auseinandersetzung geführt haben, und wendet ihr Gesicht dem Fenster zu. Kopf hoch. Brust raus. Die Beine übereinandergeschlagen.
So wie sie ihren Kopf hält, kann nur Fiona erkennen, dass sie versucht, nicht in Tränen auszubrechen.
»Hat es geholfen?«, will Fiona wissen.
»Natürlich. Und ich bin um zehn Pfund reicher. Was soll ich mir genehmigen?« Siobhan schnieft, nimmt die Speisekarte von der anderen Seite des Tisches und wirft einen Blick auf ihre Uhr: neun Uhr morgens. Erst neun Uhr und schon ein rekordverdächtig mieser Tag! »Ein üppiges ›Immer schön die Sonnenseite sehen‹-Frühstück mit Eiern und Speck vielleicht? Oder einen ›Liebe dich selbst‹-Grünkohlsmoothie?«
Sie schlägt mit der Hand auf die Speisekarte und schiebt sie verächtlich weg, das Pärchen am Nebentisch zuckt zusammen und beäugt sie ängstlich.
»Verdammt noch mal, das ist der denkbar schlechteste Ort, um am Valentinstag versetzt zu werden«, sagt sie. Die wärmende Wut in ihrer Brust ist verschwunden, und jetzt ist da nur noch diese Enge, der einsame, bedrückende Schmerz der aufsteigenden Tränen.
»Lass dich davon nicht unterkriegen«, sagt Fiona. »Er ist ein Arsch, wenn er dich versetzt hat.«
»Er ist tatsächlich ein Arsch«, bestätigt Siobhan wütend, doch ihre Stimme bricht.
Fiona schweigt. Siobhan hat den Verdacht, dass sie ihr Zeit gibt, sich zu sammeln, was sie in ihrem Entschluss bestärkt, keine der Tränen, die sich gerade an ihrem Wimpernkranz sammeln, über ihre Wangen fließen zu lassen.
»Ich weiß, das war eine große Sache für dich, Shiv«, sagt Fiona zögernd. »Ist das nicht überhaupt … Ist das nicht das erste richtige Date seit Cillian?«
Siobhan gibt sich geschlagen und tupft sich die Augen ab. »Glaubst du wirklich, dass ich seit drei Jahren kein Date mehr hatte?«
Fiona wartet geduldig ab, sie wissen beide, dass sie keins hatte. Aber Fiona sollte es besser wissen, als es auszusprechen. Schließlich seufzt sie.
»Also, servierst du ihn ab?«
»Oh, er ist schon abserviert. Er ist erledigt«, antwortet Siobhan.
Er wird den Tag bereuen, an dem er sie versetzt hat. Siobhan weiß zwar noch nicht, wie sie das anstellt, noch nicht, aber sie wird es herausfinden. Und es wird ihm nicht gefallen.
Miranda
09:03 Uhr, und niemand ist aufgetaucht.
Miranda kaut an der Innenseite ihres Daumennagels, lehnt sich gegen ihr Auto und tippt mit einem Stiefel gegen den Reifen. Sie strafft ihren Pferdeschwanz und überprüft ihre Schnürsenkel, dann kramt sie in ihrem Rucksack und vergewissert sich, dass alles da ist: zwei Wasserflaschen, ihre Kletterausrüstung, die Handsäge, die ihre Eltern ihr zum Geburtstag geschenkt haben und in deren Griff ihr Name eingraviert ist. Alles ist da und in Ordnung, kein Gegenstand ist auf der zwanzigminütigen Fahrt von ihrer Wohnung auf magische Weise aus der Tasche gesprungen.
09:07 Uhr, und endlich das Geräusch von Reifen auf Schotter. Miranda dreht sich um, als Jamies Truck vorfährt – leuchtend grün und mit dem Logo der Firma J Doyle. Mirandas Herz hämmert wie ein Specht gegen ihre Rippen, und sie richtet sich etwas mehr auf, als Jamie und der Rest der Crew aussteigen.
Jamie grinst, als die Truppe auf sie zukommt. »AJ, Spikes, Trey, das ist Miranda Rosso«, sagt er.
Zwei der Männer werfen Miranda einen Blick zu, der ihr vertraut ist: Es ist der gehetzte, nervöse Blick von Jungs, die eindringlich angewiesen wurden, sich anständig zu benehmen. Trey ist klein und stämmig, hat tief liegende Augen und einen mürrischen Blick. Spikes ist einen Kopf größer als Trey und hat die Statur eines Rugbyspielers, unter seinem schmuddeligen, verwaschenen T-Shirt ist eine kräftige Brust zu erkennen. Beide nicken ihr zu und richten ihre Aufmerksamkeit sofort auf den Baum an der Ecke des Grundstücks, vor dem sie geparkt haben.
Und dann ist da noch AJ, der Miranda auf eine ganz andere Art ansieht: Er mustert sie von oben bis unten mit dem Blick eines Mannes, der »Benimm dich dem neuen Mädchen gegenüber anständig« als Herausforderung begreift.
Man hat Miranda vor AJ gewarnt. Er hat einen ziemlichen Ruf. Dass es in AJs Leben mehr Frauen gab als Bäume, auf die er geklettert ist, hat Mirandas alter Chef ihr erzählt, als sie sagte, sie wolle in Jamies Team wechseln. Das Gesicht eines Engels, das Herz eines absolut herzlosen Mistkerls.
Miranda ist also auf die durchdringenden grünen Augen, das bärtige Kinn und die muskulösen, tätowierten Arme vorbereitet. Sie ist auf das Zucken der Augenbrauen gefasst, als sich ihre Blicke treffen, den Blick, der sagt: Frauen wie dich verspeise ich zum Frühstück.
Auf den kleinen Cockapoo-Welpen in seinen Armen ist sie allerdings nicht ganz vorbereitet.
Sie schaut zweimal hin. AJ streichelt unablässig den Kopf des Hundes, als wäre es völlig normal, mit einem kleinen Welpen auf dem Arm zur Arbeit zu kommen.
»Ach ja, und das ist Rip«, sagt Jamie ohne große Begeisterung. »Neuer Hund. Man kann ihn offenbar nicht allein zu Hause lassen, stimmt’s, AJ?«
»Leidet unter Trennungsangst«, sagt AJ und schiebt Rip an seiner breiten, muskulösen Brust ein Stück weiter nach oben.
Miranda bemüht sich sehr, nicht zu lächeln. Ihr Plan für den Umgang mit AJ war, ihn komplett zu ignorieren – ihrer Erfahrung nach ist das die beste Strategie bei eingebildeten Typen. Aber … verdammt, der Hund ist süß. Solchen, die ein bisschen wie Teddybären aussehen, mit lockigem Fell und Stupsnase, konnte sie noch nie widerstehen.
»Hey, Rip«, sagt sie und streckt ihm die Hand zum Schnuppern hin. »Hey, kleiner Mann!«
Rip beginnt an AJs Seite mit dem Schwanz zu wedeln, und Miranda versucht, nicht dahinzuschmelzen.
»Er mag dich«, sagt AJ mit einer Stimme wie Honig, während er erneut mit anzüglichem Blick von oben bis unten Mirandas Körper mustert, und Mirandas Gehirn tritt auf die Bremse. Der Welpe mag ja süß sein, aber sie richtet viel zu viel Aufmerksamkeit auf den Oberkörper des Mannes, der ihn hält. Das war nicht der Plan.
»Hallo«, sagt sie, wendet ihren Blick von Rip ab und lächelt Trey und Spikes zu. »Freut mich, euch kennenzulernen.«
»Rosso ist eine gute Kletterin«, sagt Jamie und klopft Miranda auf die Schulter. »Ihr hättet sie mal bei der Rettungseinsatzübung sehen sollen. Ich habe noch nie jemanden so schnell auf einen Baum klettern gesehen. Hast du deine eigene Kletterausrüstung?«
»Mmh«, macht Miranda und deutet mit dem Kopf auf ihren Rucksack.
»Ich schicke dich auf den großen«, erklärt Jamie. »Der Kunde möchte, dass die Krone um ein Drittel beschnitten wird.« Er deutet mit dem Kopf auf eine Weißbirke, die den Vorgarten des großen Hauses überragt, vor dem sie geparkt haben. Sie ist spindeldürr und biegt sich im Wind. »Willst du den Jungs zeigen, wie man das macht?«
»Immer«, antwortet Miranda und geht bereits in die Hocke, um ihren Rucksack zu öffnen und ihr Geschirr herauszuholen.
Es gibt keinen größeren Rausch als einen Aufstieg.
Als Miranda fünfzehn war, hörte sie auf dem Heimweg von der Schule, wie sich Männer in der Ferne etwas zuriefen. Sie folgte den Geräuschen zu den Baumpflegern, die in der Landwirtschaftsschule in der Nähe ihres Gymnasiums ausgebildet wurden. Dort gab es eine Reihe von hohen, schönen Kiefern, an deren Ästen gelbe und orangefarbene Seile hingen. Die Männer über ihr bewegten sich wie Tarzan durch die Bäume, sprangen über Astgabeln, um Stämme zwischen ihre Knie zu klemmen, und lehnten sich in ihre Haltegurte zurück. Einer hing sogar kopfüber herunter.
Miranda war nie auf die Idee gekommen, dass man damit Geld verdienen könnte.
Der Ausbilder hatte sie beobachtet und ihr erzählt, dass es in der folgenden Woche einen Tag der offenen Tür gebe, an dem sie es selbst ausprobieren könnte, wenn sie wollte. Sobald sie gespürt hatte, wie der Klettergurt ihr Gewicht trug, sobald sie den ersten Ast erreicht und auf den Boden unter sich geschaut hatte, war sie süchtig gewesen.
Zehn Jahre später verdient sie nicht nur ihren Lebensunterhalt damit, auf Bäume zu klettern, sondern sie macht das auch noch richtig gut. Ihre Eltern verstehen zwar immer noch nicht, warum ihre älteste Tochter unbedingt einen Beruf ausüben muss, der so gefährlich ist, dass man ihr gleich am ersten Tag zum Abschluss einer Lebensversicherung geraten hat, doch sie haben sich widerwillig damit abgefunden. Vor allem, weil nicht zu übersehen ist, mit welcher Leidenschaft Miranda ihren Beruf ausübt.
Sobald sie oben in der Birke ist und die Hauptleine am höchsten Ast verankert hat, der ihr Gewicht tragen kann, vergisst Miranda Trey, Spikes und AJ. Sie vergisst sogar Carter, ihre Verabredung zum Mittagessen, und das Outfit, das sie dafür sorgfältig gefaltet unten in ihrem Rucksack liegen hat. Zwölf Meter hoch auf einem Baum zu sein, ist äußerst beängstigend, egal, wie erfahren man ist, da ist kein Platz für irgendetwas anderes. Es gibt nur dich und die Seile, den Wind und den Baum, der um dich herum atmet und dich vor dem Absturz bewahrt.
AJ schneidet eine Hecke an der Vorderseite des Grundstücks, während Rip aufgeregt um seine Füße herumtollt. Jamie wartet zunächst und hat ein Auge auf Miranda, aber nach ungefähr einer halben Stunde geht er, um AJ zu helfen. Die anderen Jungs sind mit den Arbeiten am Boden beschäftigt, sie schleppen die schweren Äste und zerkleinern sie. Der Morgen vergeht unter dem Dröhnen von Kettensägen.
Miranda segelt die Hauptleine hinunter, landet hart und gräbt die Fersen in den Boden unter dem Baum. Das Seil fällt schön herunter, es bleibt nicht einmal hängen. Es war ein guter Morgen. Ihr Pferdeschwanz löst sich auf, und einzelne Strähnen kleben ihr an der Stirn, als sie den Helm abnimmt.
»Nicht schlecht«, lobt AJ, als sie an ihm vorbei zu Jamie geht.
»Danke«, sagt sie und lächelt Jamie an. »Alles klar, Chef?«
»Oh, ich erinnere mich!«, sagt Jamie, richtet sich mit einem Arm voller Haselnusszweige auf und sieht sie mit funkelnden Augen an. Er ist jetzt Ende vierzig, nicht mehr der Schnellste auf dem Baum und nicht mehr derjenige, der die riskanten Situationen übernimmt. Aber er hat immer noch eine gewisse Ruhelosigkeit an sich. Ein wirklich guter Baumpfleger ist genau im richtigen Maß süchtig nach Adrenalin. Oder etwas zu sehr und sehr erfolgreich. »Du musst um halb gehen, oder? Wegen deines Dates?«
Miranda bürstet Sägemehl von ihrer Kettensägenhose. Sie trägt Hosenträger – Sicherheitshosen sind für Männer geschnitten und sitzen immer zu locker in der Taille. Eine Freundin, die sie bei einem Kurs kennengelernt hat, gab ihr den Tipp, dass Hosenträger sie vor der Demütigung bewahren würden, eines Tages ihre Hose um ihre Knöchel wiederzufinden.
»Genau! Lunch-Date«, sagt sie, schnallt die Kettensäge ab und legt sie auf die Ladefläche von Jamies Truck. »Es ist Valentinstag.«
»Meine Frau hat mich heute Morgen daran erinnert«, sagt Jamie und verzieht das Gesicht.
»Ein Lunch-Date?«, fragt AJ hinter ihr.
Sie dreht sich nicht um. »Mein Freund wollte mich gleich nach meinem ersten Job für Jamie treffen.«
»Oder er hat heute Abend noch eine andere Braut am Start«, sagt AJ.
Miranda ist nicht leicht auf die Palme zu bringen. Sie ist der Meinung, dass jeder, der ein Arsch ist, wahrscheinlich einen Grund dafür hat, und dass es sinnlos ist, aus der Haut zu fahren. Aber sie weiß auch, dass Toleranz wie Schwäche wirken kann, insbesondere bei einer Frau. Sie schluckt.
»Was hast du denn heute Abend vor, AJ?«, fragt sie und blickt ihn gerade lange genug an, um sein kurzes schiefes Lächeln auf die Frage zu sehen. »Hast du ein heißes Date?
»Kommt drauf an«, sagt er.
»Worauf?« Miranda löst den Pferdeschwanz und streicht mit den Fingern durch die wirren Strähnen. Sie hat dickes dunkles Haar, das sich um ihr Gesicht herum und unten kräuselt und fast immer verknotet ist.
»Ob Jamie mir erlaubt, dich heute Abend auf einen Drink einzuladen.«
»AJ!«, bellt Jamie. »Worüber haben wir auf der Fahrt hierher gesprochen?«
Miranda sieht AJ nur einen Moment lang in die Augen. Er neckt sie, oder vielleicht testet er sie. Aber hinter seinem Blick liegt echte Lust, und Miranda wird schlagartig klar, dass er sie tatsächlich auf einen Drink einladen und dann mit ihr nach Hause fahren würde. Dieser umwerfende, gefährliche Mann.
Ziemlich schmeichelhaft, wenn man es recht bedenkt. Auch wenn sie weiß, dass er alles vögelt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.
»Warum nicht? Ich weiß, dass du heute Abend Zeit hast«, sagt AJ und verschränkt die tätowierten Arme vor der Brust. Seine Bizepse sind enorm. Miranda ist sich ziemlich sicher, dass er die Arme verschränkt, damit sie es bemerkt.
Sie hebt das Kinn. »Kein Interesse«, sagt sie und lächelt. »Trotzdem danke.« Sie wendet sich wieder Jamie zu. »Morgen früh um sieben, oder? Schickst du mir die Adresse?«
»Kein Interesse!«, dröhnt Jamie. »Wann hast du das zuletzt von einem Mädchen gehört, AJ?«
AJ zuckt die Achseln und bückt sich, um Rip hochzunehmen, doch Miranda spürt, dass er ihr mit den Blicken folgt, als sie sich entfernt.
»Ist schon eine Weile her«, sagt er. »Aber ich krieg sie immer rum.«
Daraufhin lacht Miranda. »Die hier nicht!«, ruft sie fröhlich über ihre Schulter. »Ich bin vergeben.«
»An Mr. Lunch«, erwidert AJ. »Glückspilz.«
Sie ist ein Glückspilz. An den meisten Tagen kann sie ihr Glück gar nicht fassen. Carter gehört zu einer Kategorie von Männern, von der sie niemals annehmen würde, dass sie sich für jemanden wie sie interessieren: Er ist so erwachsen, hat einen gut bezahlten Job und trägt ordentliche Maßanzüge. Und er ist hinreißend. Erwachsen und hinreißend, nicht wie der schmuddelige AJ. Carter hat eine runde Brille, ein markantes männliches Kinn und ein Lächeln, das einen dahinschmelzen lässt.
Die beiden haben sich durch Reg kennengelernt, einen früheren Kollegen von Miranda – er spielte mit Carter Fußball, und letztes Jahr war Miranda eines Tages mit Reg im Pub gewesen, als die halbe Mannschaft nach dem Kicken auf einen Drink hereinkam. Carter war frisch und sauber und trug wieder seinen Geschäftsanzug, weil er vergessen hatte, sich andere Klamotten für nach dem Spiel mitzunehmen – er hatte wie ein glänzender Penny ausgesehen. Mit strahlendem Lächeln und halb nassem Haar. Als die anderen Jungs sich über sein Outfit lustig machten, zog er verlegen den Kopf ein, das Licht des Pubs spiegelte sich in seinen Brillengläsern, und Miranda hatte weiche Knie bekommen. Dieses Kopfeinziehen deutete auf den Jungen hin, der sich hinter dem breitschultrigen Erwachsenen verbarg, und ließ ihn zugänglicher erscheinen.
Miranda konnte nicht aufhören, ihn anzustarren, und als er es schließlich bemerkte, schenkte er ihr ein kleines fragendes Grinsen, eine vorsichtigere Einladung, als sie gedacht hatte. Er musste daran gewöhnt sein, dass sich ihm die Frauen an den Hals warfen, hatte sie gedacht, aber er schien nichts zu erwarten. Am Ende hatte sie Reg gebeten, sie einander vorzustellen, ermutigt von drei Pints und beschwingt von dem kleinen Lächeln, das Carter ihr zugeworfen hatte. Rosso, Carter, Carter, Rosso, hatte Reg gesagt. Carter, besorg ihr einen Drink, ja? Diese Frau verdient es, richtig behandelt zu werden.
Jetzt, fünf Monate später, scheint Carter Reg immer noch beim Wort zu nehmen – das Restaurant, in das er sie am Valentinstag zum Mittagessen einlädt, ist so ein Laden, in dem keine Preise auf der Speisekarte stehen und in dem die Teller an den Rändern mit einer Glasur verziert sind. Es ist nicht weit von Erstead entfernt, der Pendlerstadt in Surrey, in der Miranda lebt. Sie zieht sich im McDonald’s an der Ecke um, trägt etwas Lippenbalsam und Wimperntusche auf und fühlt sich auf dem dreiminütigen Weg zu dem schicken Restaurant ziemlich gut. Als sie dann allerdings in ihrem blauen Schürzenkleid und den abgewetzten Pumps zu ihrem Tisch geht, kommt sie sich sofort kindisch und underdressed vor. Alle anderen Frauen sehen äußerst elegant aus.
Miranda hebt ihren Po vom Stuhl, um das Kleid verstohlen unter das Tischtuch zu ziehen. Dies ist ein nobles Restaurant, darum wird der Valentinstag nur indirekt begangen: Rosenblätter auf den Tischen, etwas mehr Kerzen als üblich, eine leicht spießige Atmosphäre.
Miranda kommt zu spät und braucht einen Moment, um festzustellen, dass es schon weit nach zwei Uhr, von Carter jedoch noch keine Spur zu sehen ist. Da er meist zu spät kommt, ist das nicht weiter überraschend. Doch als der Kellner sie gegen halb drei fragt, ob sie etwas trinken möchte, bestellt sie eine Cola – es wird ihr langsam unangenehm, inmitten von verliebten Paaren zu sitzen, an ihrer Serviette herumzunesteln und mit den Füßen auf den Boden zu tippen.
Sie schickt Carter eine Nachricht: Wo bist du?! Xx
Dann noch eine: Warum bist du noch nicht da?
Und dann: Carter?? Hallo?
Langsam, ganz langsam, wird sie von einer Frau, die auf ihr Date wartet, zu einer Frau, die versetzt worden ist. Äußerlich hat sich nichts verändert – sie ist immer noch hier, blickt zu oft auf ihr Handy und trinkt zu schnell. Aber jeder kann sehen, dass sich ihr Zustand mit jeder Sekunde verändert, und als Miranda fünfundvierzig Minuten lang an diesem Tisch gesessen hat, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen, ist sie zu einer bemitleidenswerten Person geworden.
Irgendwann hält sie die Stille einfach nicht mehr aus. Mit jeder Minute, die vergeht, wachsen ihre Unruhe und das Bedürfnis, ihre Glieder zu bewegen, obwohl sie den Vormittag über gearbeitet hat. Sie sagt sich, dass sie bis zehn nach drei warten wird, und schafft es bis fünf nach, dann bezahlt sie an der Bar ihr Getränk.
Es führt kein Weg daran vorbei: Er hat sie versetzt.
Wahrscheinlich gibt es dafür eine ganz vernünftige Erklärung, sagt sie sich. Eine wirklich lustige Geschichte. Er wird sie mit den Stimmen der verschiedenen Leute erzählen – er ist wirklich gut im Nachahmen von Akzenten. Den italienischen ihres Vaters kriegt er perfekt hin, und auch den von dem Typ aus Liverpool, der in Mirandas Haus wohnt, hat er voll drauf. Sie werden darüber lachen. Es wird eine ihrer Geschichten werden, wie: Weißt du noch, als du mich am Valentinstag versetzt hast?
Aber im Moment nervt es. Miranda kaut auf ihrer Lippe, während sie darauf wartet, dass der Kartenbeleg ausgedruckt wird. Sie weiß, dass sie Carter verzeihen wird. Wahrscheinlich hat sie ihm in Erwartung seiner hervorragenden Ausrede sogar schon verziehen. Aber einen Moment lang ist es ganz schön, sich vorzustellen, dass sie das nicht tun würde. Dass sie eine Frau wäre, die sagen würde: Ich lasse mir das nicht gefallen. Wenn du mich versetzt, war’s das. Mit dir bin ich fertig.
Als Miranda nach Hause kommt, ist es halb fünf, und sie hat immer noch keine Nachricht von Carter. Sie vermisst ihre alte Mitbewohnerin – sie könnte jetzt wirklich jemanden gebrauchen, der ihr mitfühlend eine Tasse Tee macht. Sie steht in der Mitte des Wohnzimmers, lauscht auf den Verkehr draußen und fragt sich, ob Carter zu dem Schluss gekommen ist, dass sie doch nicht die Richtige für ihn ist.
Das ist sinnlos, Miranda Rosso, sagt sie sich und streift ihre Pumps ab. Reiß dich zusammen.
Es ist noch nicht einmal fünf – der Tag ist noch lang. Sie wird staubsaugen, dann Abendessen kochen und früh ins Bett gehen. Es hat keinen Sinn, Trübsal zu blasen. Was hat das jemals jemandem gebracht?
Jane
Horsd’oeuvres sind die Lösung. Solange Jane ein kleines Stück Ziegenkäsetarte oder eine winzige Frühlingsrolle im Mund hat, verschafft ihr das mindestens drei Sekunden Kauzeit, um sich eine Antwort auf unvermeidliche und schreckliche Fragen zu überlegen – die nun mal typisch sind für eine Verlobungsparty, bei der das Date einen versetzt hat.
»Immer noch allein, Schätzchen?«, fragt Keira. Sie hält in jeder Hand ein Glas Sekt und schafft es dennoch, die Brüste in die Höhe zu recken; ihre Kette verschwindet kurz in ihrem Dekolleté unterm Ausschnitt ihres Ballkleides.
Zwei Tage die Woche hilft Keira im Count Langley Charity Shop aus, einem gemeinnützigen Secondhandladen. Sie war diejenige, die Jane unbedingt mit Ronnie Langley verkuppeln wollte – dem Sohn des Grafen höchstpersönlich – und dem Mann, der für dieses ganze Drama verantwortlich ist.
Als Jane angefangen hatte, in dem Laden zu arbeiten, hatte Ronnie an ihr Gefallen gefunden. Alle, die für den Count Langley Trust arbeiten, mögen Ronnie besonders gern, der eins dieser tragischen Gesichter hat, bei dem die Einzelteile nicht richtig zusammenzupassen scheinen und direkt Mitleid auslösen. Außerdem ist er mit fünfunddreißig noch Single, obwohl er die heruntergekommene Villa erben wird, die für alle außer Jane die ultimative Reichtumsgarantie darstellt.
Der ganze Secondhandladen wollte Jane und Ronnie verkuppeln. Deswegen hatte Jane allen eine kleine Lüge aufgetischt: Sie hatte erzählt, dass sie einen Freund habe. Im Laufe der Zeit war die Lüge größer und größer, aber noch nie dermaßen auf die Probe gestellt worden.
»Ich bin mir sicher, dass er auf dem Weg ist und nur bei der Arbeit aufgehalten wurde«, erklärt Jane schwach und blickt auf die Uhr. Erst Viertel nach sechs – noch eine Stunde Sektempfang, bevor man sich zum Dinner hinsetzte.
Keira blickt sie an und klimpert mit ihren falschen Wimpern, während sie Janes Outfit mustert: dasselbe, mit dem sie heute bei der Arbeit war. Janes Wangen werden warm. Sie hatte gedacht, das hellgrüne Baumwollkleid würde reichen, wenn sie ihre wollene Strickjacke und die Strumpfhose auszieht, doch nun, wo sie hier ist, bemerkt sie, dass sie nicht schick genug ist. Hinter Keira stehen noch viele andere Menschen. Es sind so viele Leute hier, mehr als Constance und Martin persönlich gut kennen können, das ist klar. Sie sind im Rathaus von Winchester, das Motto der Feier lautet – wenig überraschend – Valentinstag. Grotesk viele Menschen tragen Pink.
»Hör zu, Schätzchen«, sagt Keira, und ihre Falten werden tiefer, als sie das Gesicht verzieht. »Wir wissen alle, dass du wegen deinem Freund geflunkert hast. Das gibst du jetzt besser zu, wenn …«
»Jane, Liebes, könntest du mal kommen?«, ruft Mortimer.
Jane dreht sich zu Mortimer, die Dankbarkeit steht ihr ins Gesicht geschrieben. Keira sieht sauer aus, als er Jane aus dem Getümmel in eine Ecke des Raumes führt.
Mortimer Daperty ist siebzig Jahre alt; zur Arbeit trägt er jeden Tag einen braunen Anzug, isst jeden Mittag ein Thunfischsandwich und sagt jeden Abend, wenn er um sechs Uhr geht: Mach’s gut, Jane, meine Liebe! Wir sehen uns in Bälde. Wenn niemand sonst im Laden ist, koexistieren Jane und er in warmer, mottenkugeldurchtränkter Stille, dampfbügeln gespendete Kleidung und reichen sich gelesene Bücher, ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln.
»Du siehst absolut erbärmlich aus«, sagt Mortimer liebevoll.
»Ich … mag keine Menschenmengen«, erklärt Jane und versucht, ruhiger zu atmen.
»Und der junge Mann, von dem du erzählt hast, der kommen sollte …«
Jane ist geübt darin, persönlichen Fragen ihrer Kollegen auszuweichen. Mortimer will aber eigentlich nie etwas wissen, deswegen trifft sie die Frage unvorbereitet – und bevor sie etwas tun kann, antwortet sie.
»Er wollte mir einen Gefallen tun. Wir sind nicht zusammen, aber er meinte, er würde meine Begleitung sein, damit ich nicht alleine hierher muss.« Sie blickt nach unten. Vernünftige Schuhe aus weichem braunem Leder – früher hätte sie sich darin nicht einmal in tiefster Nacht sehen lassen. »Keira hat recht: Ich habe wegen dem Freund gelogen.«
Mortimer nickt nur: »Eine äußerst verständliche Schutzmaßnahme«, sagt er. »Und besagter platonischer Freund hat nicht einmal angerufen?«
Jane hatte damit gerechnet, dass Mortimer irgendetwas Abfälliges entgegnen würde, doch er blickt sie liebevoll an.
»Nein. Er hat nicht angerufen«, sagt sie und schaut wieder auf ihre Schuhe.
Mortimer schüttelt den Kopf, aber Jane ist nicht von Joseph enttäuscht – sondern von sich selbst. Sie hätte es besser wissen müssen und sich nicht auf jemand anderen verlassen dürfen. Grundsätzlich zieht sie Pflanzen und Steine den Menschen vor: Beides sind Spezies, mit denen sie eine viel bessere Erfolgsbilanz hat.
Jeden Morgen, seitdem Jane wieder nach Winchester gezogen ist, geht sie kurz nach Ladenöffnung ins Hoxton Bakehouse und kauft sich einen Becher Joghurt mit wenig Fett, Obst und Granola. Das ist eigentlich zu teuer für sie, doch die Routine beruhigt sie, als würde sie jeden Tag in dieselben ausgetretenen Schuhe schlüpfen.
Als sie Joseph kurz nach Weihnachten in der Bäckerei gesehen hatte, war sie so abrupt stehen geblieben, dass sie in der Tür fast über ihre eigenen Füße gestolpert wäre. Er kam ihr bekannt vor. Sie konnte nicht genau sagen, woher, aber es fühlte sich … wichtig an. Vielleicht jemand aus ihrem alten Job? Sie sagte laut: »Oh!«, und starrte ihn an, bis sie bemerkte, dass man mit Starren am schnellsten Aufmerksamkeit auf sich zieht – und das sollte um jeden Preis vermieden werden.
Joseph hatte sich umgedreht und geguckt, aber er schien sie nicht zu erkennen. Er lächelte sie breit und fröhlich an. Vielleicht ein wenig perplex.
»Hallo«, sagte er.
Kurz stand Jane wie angewurzelt mit weit aufgerissenen Augen da. Dann –
»Sorry, ich dachte, Sie wären … jemand anderes«, murmelte sie, wendete den Blick ab und huschte zum Ende der Schlange und außer Sichtweite. Aber sie hatte seinen Blick gespürt, warm und neugierig, als er die Bäckerei mit seinem Croissant verließ. Danach sah sie ihn zwei Wochen lang jeden Morgen, konnte ihn aber immer noch nicht einordnen. Sie hatte nie wieder den Fehler gemacht und ihn angestarrt.
Und dann, gerade als Jane sich ein wenig entspannt hatte:
»Das ist ein wenig seltsam, oder nicht?«, hatte Joseph gesagt und sich plötzlich zu ihr umgedreht und sie genauer betrachtet, während sie in der Schlange warteten.
Jane blinzelte schnell. »Entschuldigung?«, brachte sie heraus, sagte es aber zum Fußboden.
»Nun, ich weiß viel über Sie. Ich weiß, dass Sie montags den gelben Pullover tragen und dienstags ein hellblaues Shirt und mittwochs ein weites weißes Kleid und das frühlingsgrüne mit einer Strickjacke donnerstags und einen hellpinken Pulli freitags. Ich weiß, dass Sie gern lesen, weil Sie immer ein Buch dabeihaben. Und ich weiß, dass Sie Zimtschnecken mögen, weil Sie sie immer so sehnsüchtig anblicken, bevor Sie Ihren Joghurt bestellen. Wie sehen uns jeden Tag. Aber wir sprechen nicht miteinander.«
Ihre Handflächen wurden schwitzig. Niemand zuvor hatte so schnell ihre Outfitroutine bemerkt. Und sie hätte schwören können, dass sie die Zimtschnecken nicht angeschmachtet hatte – zumindest nicht jeden Morgen.
Wenigstens schaffte sie es nun, aufzuschauen und ihm in die Augen zu blicken.
Er sah gut aus, keine Frage, doch sie hätte nicht genau benennen können, warum. Sein Gesicht war sehr lebhaft und ausdrucksstark; seine Augenbrauen waren ein wenig zu glatt und dick und hätten streng gewirkt, wenn er weniger gelacht hätte. Seine milchweiße Haut war an den Wangen leicht gerötet – wegen der Wärme in der Bäckerei –, und auf seinem Kinn waren Stoppeln, eine Nuance dunkler als sein haselnussbraunes Haar, zu sehen. Nichts in seinem Gesicht gab Aufschluss darüber, warum er so gewinnend gut aussehend war, aber wenn sie ihm in die Augen blickte, spürte sie diesen gefährlichen animalischen Nervenkitzel, den man in der Gegenwart eines attraktiven Menschen fühlt.
»Ich finde das gar nicht so seltsam«, rutschte ihr heraus. »Reden Sie mit Ihrem Sitznachbarn in der Bahn?«
»Ja«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.
»Oh, das ist furchtbar«, entfuhr es Jane, und er brach in Gelächter aus.
»Ich heiße Joseph«, sagte er. »Wir können uns doch duzen, oder? Erzähl mir mal, woher du diese ganzen Bücher hast.«
Und so kam es, dass sie einen Buchclub mit zwei Mitgliedern gründeten. Jane freundet sich generell mit niemandem an – oder besser gesagt: Die anderen Menschen freunden sich nicht mit ihr an. Und dennoch trank sie nur wenige Tage danach an einem Sonntagmorgen mit ihm einen Kaffee, und sie sprachen über Mohsin Hamids Roman Exit West. »Bücher sind mein Lieblingsort«, erklärte er ihr, und sie strahlte, weil das bei ihr genauso war.
Sie wollte aber zumindest sicherstellen, dass nichts zwischen ihnen romantisch wirken sollte. Sie hatte auch bei Joseph zu der Ich-habe-einen-Freund-Lüge gegriffen – eine Schutzmaßnahme, wie Mortimer gesagt hatte. Erst Anfang Februar, als sie und Joseph zweifelsohne schon Freunde waren, gestand Jane ihm die Flunkerei mit dem angeblichen Freund.
»Ach, das sind gute Nachrichten«, meinte Joseph. »Denn ich hab den Typen langsam für einen totalen Vollidioten gehalten.«
»Wie bitte?« Jane hatte immer hart daran gearbeitet, dass ihr imaginärer Freund wie eine gute Partie wirkte.
»Er ist nie da!«, sagte Joseph lachend. »Und er hat dir nichts zum Geburtstag geschenkt, oder?«
Das stimmt: Jane war nicht so weit gegangen, sich selbst ein echtes Geschenk von ihrem imaginären Freund zu kaufen.
Die Leichtigkeit, mit der Joseph ihre Beichte aufgenommen hatte, entspannte sie, und in den letzten paar Wochen hatten sie sich noch besser kennengelernt. Sie grübelte nicht mehr die ganze Zeit, woher sie ihn kannte – vielleicht hatte ihn das anfangs für sie anziehend gemacht, dieses seltsame nagende Gefühl der Vertrautheit, aber darüber ist sie hinweg. Er ist einfach Joseph.
Und auch, wenn sie manchmal ein wenig durch die sonnige Wärme seines Lächelns oder die Art und Weise abgelenkt ist, wie seine Augenfarbe sich je nach Lichteinfall verändert, kann sie das mittlerweile gut ignorieren.
Er weiß bereits mehr über Jane als alle anderen, die noch Teil ihres Lebens sind. Nicht alles natürlich, dennoch machen ihm die Persönlichkeitsanteile, die sie an sich absolut nicht liebenswert findet, erschreckend wenig aus: ihre Neigung, alles hinauszuposaunen, was sie denkt, ihre Regeln und Routinen, ihre Unentschiedenheit. Es hat sich so gut angefühlt, wieder mit jemandem zu reden. Und langsam hat sich der Gedanke eingeschlichen: Was ist denn so schlimm daran?
Als Keira nun gezielt mit Ronnie neben sich auf Jane zugeht, denkt Jane: Das. Das ist so schlimm daran.
»Jane«, sagt Keira und zerrt Ronnie am Arm. »Ronnie hat mir gerade gesagt, dass er heute Abend auch allein hier ist.«
Ronnie bebt sichtlich neben der überwältigenden Keira. Er ist mit einer derart stark ausgeprägten Schüchternheit ausgestattet, dass Jane geradezu spürt, wie er sie ausstrahlt, wie die Hitze eines Ofens, obwohl sie einige Schritte weiter weg steht.
»H-hallo«, sagt er. »Schön, dich zu sehen, Jane.«
»Janes Begleitung ist …« Keira blickt sie erwartungsvoll an.
Wegen Keiras selbstzufriedenem Blick versucht Jane erst gar nicht, sich mit Er kommt etwas zu spät oder Ich bin mir sicher, dass er jede Minute hier ist herauszureden.
»Er schafft es nicht«, sagt Jane.
»Arme Jane! Immer so ein Pech in der Liebe!«, erklärt Keira.
Jane hat keine Ahnung, wie Keira darauf kommt, aber – leider – trifft sie damit den Nagel auf den Kopf.
»Nervt deine Mutter dich nicht auch schon wegen Enkelkindern? Ich liege meinen Kindern damit schon seit Jahren in den Ohren, aber sie lassen sich Zeit«, sagt Keira und nimmt einen Schluck von ihrem Drink.
Jane beißt kurz die Zähne zusammen, bevor sie antwortet: »Meine Mutter ist tot.«
Keira weicht zurück. Ihr Mund öffnet und schließt sich. Das ist immer das Schlimmste an diesen Unterhaltungen: die bedrückende Stille, bis das Gegenüber sich für eine Floskel zum Kondolieren entschieden hat.
»Oh, Schätzchen, das wusste ich gar nicht! Das hast du nie erzählt!«, sagt Keira. Sie spricht leiser. »Bist du deswegen aus London weg und hierhergekommen?«
Beim Wort London zuckt Jane zusammen, als hätte sie jemand an der Schulter gepackt. Keira lässt diese Frage keine Ruhe, sie stellt sie mindestens einmal im Monat, in der einen oder anderen Form, mit der heiteren Ausdauer einer wahrhaft talentierten Tratschtante.
»Nein«, sagt Jane und achtet darauf, dass ihre Stimme nicht zittert. »Nein, meine Mutter ist schon vor langer Zeit gestorben. Ich war noch sehr jung. Ich erinnere mich kaum an sie.«
»Wie unglaublich tragisch«, sagt Keira.
Unbehaglich tritt Ronnie von einem Bein aufs andere, wie ein Kind, das mal muss. Keira tätschelt Janes nackten Arm, ihre Hand ist schwitzig, sie meint es gut; Jane muss sich mit aller Kraft davon abhalten, sie nicht abzuschütteln. Wenn sie traurig ist, will sie nicht berührt werden. In letzter Zeit wird sie kaum berührt, deswegen fühlt es sich umso schlimmer an, als würde man einen kratzigen Wollpullover anziehen, nachdem man etwas aus Seide getragen hat.
»Aber jetzt hast du uns, Schätzchen, wir passen auf dich auf«, sagt Keira. Sie blinzelt Jane aus ihren feuchten Augen übertrieben mitleidig an. »Warum setzt Ronnie sich beim Abendessen nicht auf den Platz deines Freundes, hm? Wer weiß! Das könnte der Anfang einer neuen Geschichte für dich sein!«
Als Jane am nächsten Morgen das Geschäft betritt, blickt sie sich heimlich nach lauernden Keira-ähnlichen Geschöpfen um, bevor sie zur Kasse geht. Die Verlobungsparty war die Hölle. Sie ist nur hingegangen, weil die zukünftige Braut Constance immer nett zu ihr gewesen ist, als sie noch gemeinsam im Laden gearbeitet haben; die Veranstaltung war eine nützliche Erinnerung daran, dass es nie gut endete, wenn sie ihre Komfortzone mal verließ. Sie atmet den muffigen Geruch des Geschäfts ein und fängt dann an, das zu tun, was sie jeden Morgen tut: sauber machen, die Kasse anschmeißen, dann nimmt sie die Taschen mit den Spenden in Augenschein.
Der Boden wurde bereits gefegt, und in der Vase auf dem Couchtisch neben den Bücherregalen stehen frische Blumen, die geschickt platziert wurden, um den Raum freundlicher wirken zu lassen. Der Count Langley Charity Shop befindet sich in einem der Gebäude aus dem fünfzehnten Jahrhundert im Nordosten der Stadt, am Fluss: Alles besteht aus durchhängenden dunklen Balken und knarzenden Holzböden, und hinter der Personaltoilette kriecht Schimmel empor wie die kommende Flut auf Sand. Dem Count Langley Trust gehört das Gebäude; diese Wohltätigkeitsorganisation unterstützt Menschen an ihrem Lebensende. Die Mittel der Stiftung schwinden fast ebenso schnell, wie sich der Schimmel ausbreitet.
»Jane!«
Sie zuckt zusammen. Es ist Keira, die aus dem Hinterzimmer kommt; Jane hätte wissen müssen, dass sie da ist, nachdem sie die Blumen gesehen hat. Und – sie dreht sich um – Constance und Mortimer. Das sind viel zu viele Menschen für einen Arbeitstag – und sollte Constance nicht mit ihrem Verlobten im Bett liegen?
»Oh, Schätzchen«, sagt Keira und kommt mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Mir ging es die ganze Nacht schlecht, weil ich an dich allein auf der Feier gedacht habe. Sollen wir uns setzen und darüber reden? War Ronnie nicht ganz reizend beim Abendessen?«
Sicher, ja absolut sicher würde Jane das nicht den ganzen Tag ertragen. Ertragen können.
»Jane?«, ertönt eine Stimme hinter ihr, als die Glocke über der Tür läutet.
Sie dreht sich zum Eingang. Mit eingezogenem Kopf, als er durch die niedrige Eingangstür tritt, und mit einem weichen grauen Wollpullover bekleidet – kommt Joseph herein.
»Jane, es tut mir so leid«, sagt er und geht auf sie zu. »Hallo, alle miteinander, guten Tag. Ich bin Joseph. Schön, Sie alle kennenzulernen. Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich es gestern nicht zur Party geschafft habe.«
Und dann legt er Jane eine Hand unten auf den Rücken und küsst sie sanft auf die Wange.
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»Ich hatte gestern einen wirklich schlechten Tag«, sagt er. Er blickt zu Boden und fährt sich mit einer Hand durchs Haar. »Ich wünschte, ich könnte … es ungeschehen machen.«
Wenn man Menschen nicht ins Herz schließen will, ist es einem auch egal, wenn sie einen anlügen; der Trick ist, dass es einem ohnehin egal ist, was sie sagen. Das ist bei Joseph schwerer, als es sein sollte. Jane ist unvorsichtig gewesen.
»O. k.«, sagt sie einen Moment später.
Joseph hält inne, hat sich die Hand immer noch auf den Kopf gelegt und richtet seine Aufmerksamkeit nur auf sie. Das ist der Unterschied zwischen dem gerade angekommenen Joseph und dem anwesenden. Sobald er angekommen ist, hört er zu, er hört wirklich zu, mit dieser besonderen Aufmerksamkeit, die die meisten Menschen – wenn überhaupt – nur heucheln.
»Was? Wirklich?«, fragt er.
»Ja, wirklich. Du hast mir einen großen Gefallen getan, weil du meintest, du würdest zur Verlobungsfeier meiner Kollegin kommen und so tun, als wärst du mein Freund. Da habe ich dich um etwas wirklich Komisches gebeten.«
Beim Gedanken daran errötet sie. Ihnen war die Idee bei ihrem letzten Buchclubtreffen gekommen; sie hatte ein wenig von der Lüge erzählt, die sie bei der Arbeit vorgeschoben hatte, wie sie immer mehr Raum eingenommen hatte, wie seltsam es bei der Verlobungsfeier wäre, wenn sie alle entdeckten, dass sie gar keinen Freund hatte, und er meinte: Du kannst mich immer mitnehmen. Ich bin bestimmt gut darin, deinen Freund zu spielen. Und ich trage gerne Smoking.
»Du bist …« Er schüttelt leicht den Kopf. »Du solltest mich anschreien.«
Er sieht so erschöpft aus, jetzt, wo er nicht für ihre Kollegen schauspielert – die Krähenfüße in den Winkeln seiner haselnussbraunen Augen wirken tiefer als vor ein paar Tagen, und seine Haut ist trocken und stumpf. Sie betrachtet ihn genauer; er hat einen ganz blassen blauen Fleck neben einer Augenbraue, als wäre er geschlagen worden.
»Du siehst nicht so aus, als müsstest du angeschrien werden«, sagt sie und fragt sich, ob es unhöflich wäre, nach dem blauen Fleck zu fragen.
»Doch«, sagt er nachdrücklich. »Ich verdiene es wirklich sehr, angeschrien zu werden. Ich … Scheiße.«
Sie blickt ihn fragend an.
»Ich weiß, warum du nicht böse auf mich bist«, sagt er und schlägt sich gegen die Stirn. »Weil du nichts Besseres von mir erwartest.«
»Wie bitte?«
»Ich habe gerade sämtliche Befürchtungen bestätigt, über Menschen, die dich immer im Stich lassen, nicht wahr? Du bist nicht böse, weil es dich gar nicht überrascht.«
Sie war allerdings ein wenig überrascht gewesen. Aber über Nacht hatte sie mit sich selbst geschimpft, weil sie so danebengelegen hatte mit ihrem Urteil, und deswegen fühlt sie sich nun darin bestätigt, dass es einen Grund für ihren Entschluss gab, sich nie wieder mit jemandem anzufreunden.
»Ich habe zu viel von dir verlangt, mehr nicht«, sagt Jane und lächelt verhalten. »Mach dir aber keine Sorgen. Ich mache zwar viele Fehler, aber ich versuche, sie nicht zweimal zu machen.«