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ÜBER DIESES BUCH

Emily erhält von ihrem Chef Scott ein großartiges Angebot: Er lädt sie ein, in sein Familienanwesen an der französischen Küste zu ziehen. Dort soll sie Scotts Ehefrau Nina als Kindermädchen für Aurelia zur Hand gehen. Überbordender Luxus erwartet Emily auf Querencia, die anmutige Nina betört mit ihrem Charme, und laue Abende am Pool verstreichen in sommerlicher Unbeschwertheit. Doch der perfekte Schein trügt. Zunächst verschließt Emily die Augen vor den Ungereimtheiten, die nicht ins Bild der makellosen Familie passen wollen. Aber im Haus geht Unerklärliches vor sich. Scott und Nina verbergen etwas. Aurelia ist kein normales Kind. Emily beginnt Fragen zu stellen – und erkennt zu spät, welche Rolle sie in diesem heimtückischen Spiel hat …

ÜBER DIE AUTORIN

Anna Downes ist in Sheffield, Großbritannien, geboren und aufgewachsen. Nach ihrem Schauspielstudium war sie bereits im TV und auf der Theaterbühne erfolgreich, ehe sie sich dem Schreiben zuwandte. Ihre Erfahrungen als Haushälterin auf einem abgelegenen französischen Landgut haben sie zu »Gewittermädchen« inspiriert. Heute lebt die Autorin mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern an der Küste von New Wales in Australien.

ANNA DOWNES

GEWITTER

MÄDCHEN

THRILLER

Aus dem Englischen

von Nicole Hölsken

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Deutsche Erstausgabe 04/2022

Copyright © 2020 by Anna Downes

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel

The Safe Place bei Hodder, London.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe

© 2022 by Diana Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Sonja Häußler

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv: © Trevillion Images (© Lee Avison, © Lisa Holloway),

Shutterstock.com (Nejron Photo, MaeManee)

Autorenfoto: © Ona Janzen

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-28043-7
V001

www.diana-verlag.de

Für meine Familie

PROLOG

Als der Wagen um das Gebäude des Hauptterminals herumfuhr und vor einem Schild hielt, auf dem Privatflüge zu lesen war, atmete Emily so scharf ein, dass sie sich beinahe verschluckt hätte.

»Sie machen wohl Witze«, sagte sie zu ihrem Fahrer (ihrem eigenen Fahrer!), der lächelte und ihr die Tür öffnete, als sei sie Cinderella.

Durch das Security-Gate gelangte sie zunächst in einen gläsernen Tunnel, der wiederum in eine Abflughalle führte, die so elegant wie eine Hotellobby anmutete. Buchstäblich niemand durchsuchte ihr Gepäck oder verlangte, ihre Bordkarte zu sehen; stattdessen wurde sie direkt zur Rollbahn geführt, wo zwei Piloten und eine Flugbegleiterin sie mit strahlend weißem Lächeln persönlich begrüßten. Die Flugbegleiterin nahm Emilys Reisepass entgegen und führte sie zu einem kleinen schlanken Flugzeug mit abgerundetem Bug; es hatte nur sechs Passagierfenster, und von einer Tür an der Seite führte eine kleine Treppe herab.

Emily erklomm die Stufen und gelangte in einen glänzenden, mit Leder ausgekleideten Himmel. Plötzlich bereute sie, für den Flug nur bequeme Kleidung angezogen zu haben (schwarze Leggins, ein Ramones-T-Shirt und alte Converse-Turnschuhe). Mit offenem Mund starrte sie die Sessel und das Sofa, das die gesamte Länge des Flugzeuges einnahm, an und erwartete jeden Moment, dass die Crew ihren Irrtum erkannte und sie wieder zum Terminal zurückgeleitete. Es tut uns sehr leid, würden sie sicherlich sagen. Anscheinend lag hier eine Verwechslung vor. Oder sie würde in ihrer schäbigen kleinen Wohnung aufwachen, die Lungen voller Schimmelsporen, und feststellen, dass alles nur ein Traum war. Jeden Augenblick wird es so weit sein, dachte sie.

Aber man bat sie nicht, wieder zu gehen, und das Flugzeug löste sich auch nicht langsam in Luft auf. Es erhob sich in die Lüfte, ohne dass man ihr irgendwelche Fragen stellte, und nach einer lächerlichen Flugzeit von einer Stunde und vierzig Minuten waren sie wieder auf der Rollbahn. Diesmal jedoch erblickte Emily nicht Londons geordnetes Netzwerk aus Gebäuden, sondern einen niedrigen, scheunenartigen Bau, auf dessen Seite in großen blauen Lettern ein unaussprechlicher Name prangte.

Sie verließ das Flugzeug und machte sich auf den Weg zu dem winzigen Terminal, wo ihr Koffer und ihr Reisepass auf sie warteten. Die Ankunftshalle war klein und still – und vollkommen leer. Der einzige Mensch, der sich dort aufhielt, war ein großer Mann mit zerzaustem, staubgrauem Haar und stoppeligem Kinn. Emily stellte ihre Tasche auf den Boden und blinzelte ihn an. Aus halb geöffneten Lidern erwiderte der Mann ihren Blick. Irgendwo draußen auf dem Rollfeld war ein gedämpfter Ruf zu hören, dann das langsame, periodische Piepen eines Fahrzeugs im Rückwärtsgang. Sie zögerte, wartete darauf, dass noch jemand anderes erscheinen würde – vielleicht ein netter Gentleman mit silbergrauem Haar und Schirmmütze sowie einem handgeschriebenen Schild. Aber schließlich musste sie sich eingestehen, dass dieser groß gewachsene, finster dreinblickende Fremde sie fahren würde. Sie lächelte ihm zaghaft zu.

»Emily?«, fragte er mit leiser, barscher Stimme. Durch seinen heftigen französischen Akzent klang ihr Name eher wie Ey-milly.

Sie nickte.

»Yves«, sagte er. Dann griff er nach ihrer Tasche und schritt dem Ausgang entgegen, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als ihm wie ein Welpe hinterherzutrotten.

Auf dem Parkplatz öffnete Yves die Tür eines schwarzen SUVs, der so riesig war, dass Emily hineinklettern musste, als steige sie auf ein Pferd. Er verstaute ihr Gepäck im Kofferraum, schwang sich auf den Fahrersitz und setzte rückwärts aus der Parklücke heraus, ohne auch nur ein Hüsteln von sich zu geben.

Während sie über eine flache Straße dahinrasten, versuchte Emily vom Rücksitz aus, eine Unterhaltung mit ihm zu beginnen. »Schön, Sie endlich kennenzulernen«, sagte sie. »Werden wir bei der Arbeit viel miteinander zu tun haben?« Aber Yves gab keine Antwort, und siebzehn Minuten später hatte er noch immer kein Wort gesagt, also beschränkte sie sich darauf, schweigend aus dem Fenster zu blicken.

Straßenschilder flogen an ihr vorüber: Avenue de Cordouan, Boulevard de Pontillac, Rue de Platanes. Sie versuchte, sie auszusprechen, spürte den Silben in ihrem Mund nach. L’Île d’Aunis. Saint-Marc-des-Fontaines. Beaulieu-les-Marais. Sie schmeckten nach Poesie.

Grüne Felder wurden unterbrochen von gelben Sonnenblumen und rostroten Dächern. Weiße Steinmauern erstreckten sich über Hügel, auf denen Weinstöcke in ordentlichen Reihen wuchsen. Sie entdeckte Bauernhäuser, Flüsse und hohe, spindeldürre Bäume; hohe Turmspitzen, verfallene Kirchen, und – in weiter Ferne – den schmalen blauen Streifen des Meeres.

Mit der Zeit wurden die Straßen schmaler und die Bäume standen dichter. Dann bog Yves ohne jede Vorwarnung auf einen unbefestigten Feldweg ab. Die Blätter strichen wie Finger seitlich über die Karosserie, und die Zweige schienen über dem Autodach nacheinander zu greifen, sodass sie einen grünen Tunnel bildeten. Die Motorhaube neigte sich weit nach vorn, als der Weg hügelabwärts führte, sodass der Eindruck entstand, als würden sie sich gleich in die Erde graben.

Die Fahrt durch ein immer dichter werdendes Waldgebiet schien Stunden zu dauern. Zweige schlugen gegen die Fenster und knackten unter den Reifen, und Emily überlegte, ob der Franzose ihr überhaupt irgendeinen Beweis für seine mutmaßliche Identität vorgelegt hatte. Sie hätte sich ohrfeigen mögen, als sie erkannte, dass sie noch nicht einmal daran gedacht hatte, ihn zu bitten, sich auszuweisen. Sie war ihm einfach in sein Auto gefolgt und hatte sich angeschnallt.

Ihr Atem ging flach. Sie beobachtete den Mann, der sich Yves nannte. Seine Augen waren unverwandt auf die Straße gerichtet, sein Kiefer zusammengepresst, während er den Schlaglöchern auswich. Klammheimlich checkte sie ihr Handy: kein Empfang.

Im Wagen wurde es dunkel, denn das Blätterdach über ihnen wurde immer dichter, sodass das Tageslicht jeden Versuch hindurchzudringen aufgab. Emily fragte sich, wie viel weiter sie noch fahren würden, fahren konnten; sicherlich gelangten sie doch irgendwann ans Meer? Sie drehte sich um, um nach Anzeichen für Zivilisation Ausschau zu halten, doch der Blick durch die Heckscheibe war noch beunruhigender als der nach vorne. Die Landschaft wirkte, als hätte sie niemals auch nur einen Zaun gesehen, geschweige denn befestigte Straßen oder Gebäude. Sie befanden sich mitten im Nichts.

Schließlich, als sie schon das Für und Wider abwog, sich aus dem fahrenden Wagen zu werfen, wurden sie langsamer. Emily warf einen Blick durch die Windschutzscheibe und entdeckte schwarze Eisenstangen. Ein Tor. Als sie sich näherten, konnte sie auch den Schriftzug im schmiedeeisernen Muster erkennen.

»Querencia«, las sie laut.

Sie hielten an einem glänzenden Bedienfeld, und Yves öffnete sein Fenster und streckte den Arm aus, um ein paar Tasten auf einer kleinen Tastatur zu drücken. »Voilà«, sagte er und erschreckte Emily damit so sehr, dass sie zusammenzuckte. »Wir sind da.«

Es brummte und klirrte, und als das Tor sich langsam öffnete, blieb Emily der Mund offen stehen. Jeglicher Gedanke an Flucht war wie weggeblasen. Ein Wunderland aus Farben und süßen Blumendüften schien förmlich durch die Öffnung zu quellen: purpurne Blüten, smaragdgrüne Blätter, pinkfarbene Blumen, orangefarbene Schmetterlinge – dies alles schien sich aus einem strahlend blauen Himmel zu ergießen. Sogar das Licht wirkte hier anders als sonst.

Der SUV rumpelte eine sandige Auffahrt hinauf. Emily ließ ihr Fenster herunter und steckte den Kopf hinaus, um so viel wie möglich in sich aufnehmen zu können. Grillen zirpten unaufhörlich in ihren Verstecken, und irgendwo zu ihrer Rechten hörte sie Hühner gackern und einen leisen, klagenden Schrei – vielleicht ein Schaf? Wege schlängelten sich zwischen Lavendelsträuchern hindurch, und eine Hängematte schaukelte träge neben einer Reihe Tomatenpflanzen, die beinahe unter der Last ihrer strahlend roten Früchte zusammenbrachen. Vor ihnen, durch die Zweige und das helle Blattwerk hindurch, entdeckte sie das Funkeln eines Pools und dahinter sogar noch mehr Wasser, dunkler, mit weißen Schaumkronen.

Und dann tauchten zwei identisch aussehende Pferde aus der Pflanzenfülle auf, eines auf jeder Seite einer großen ovalen Rasenfläche: zwei riesige, weiß getünchte Rösser, die über dieses märchenhafte Königreich Wache hielten.

Emily pfiff leise durch die Zähne, als der Wagen anhielt. Sie konnte es bereits spüren. Dies war die Art von Ort, an dem alles anders sein konnte, an dem sie selbst anders sein konnte.

»Was ist das für ein Ort?«, hauchte sie.

»Es gefällt Ihnen«, sagte Yves, was eher eine Feststellung als eine Frage war. Er wandte den Kopf ab, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte.

»Gefallen?« Ihr fehlten die Worte. Sie fühlte sich wie Dorothy, die aus ihrer monochromen Welt in das vielfarbige Land Oz kam. So sehr, dass sie beinahe erwartete, jeden Augenblick Zwerge aus den Blumen kriechen zu sehen, die zu singen anfingen. Sie schüttelte den Kopf und staunte über das Tempo, in dem sich ihr Leben verändert hatte. In einer Minute noch völlig am Boden und in der nächsten schon … hier.

Sie wandte sich der Sonne zu und ließ die Brise wie einen Seidenschal über ihr Gesicht gleiten.

»Ich liebe es«, sagte sie, als sich das Tor hinter ihr schloss. »Ich will hier nie wieder weg.«

1

Emily

Gänsehaut breitete sich wie ein Ausschlag über Emilys Haut aus.

»Sorry«, sagte eine große, blonde Frau, die es versäumt hatte, sich vorzustellen. »Wir können jeden Augenblick anfangen.« Sie machte sich an ihrer Digitalkamera zu schaffen, um sie auf dem Stativ zu befestigen.

Emily nickte höflich. Sie hatte schon in unzähligen Sälen vorgespielt, aber so kalt und zugig wie hier war es nirgendwo gewesen. Das Echo prallte von den Wänden ab und tanzte durch den Raum, sodass man kaum verstehen konnte, was die Leute sagten.

Ein bärtiger Mann an einem Holztisch unterdrückte ein Gähnen.

»Entschuldigung«, murmelte die Frau und musterte die Kamera mit verengten Augen. »Es dauert wirklich nur noch einen Moment … Aha! Da haben wir’s ja. Jetzt ist alles klar. Ich hoffe, Sie fühlen sich dadurch nicht allzu unbehaglich, Emily, aber heute nehmen wir jedes Vorsprechen auf. Das hilft uns, wenn wir später über das Casting sprechen. Wenn möglich, ignorieren Sie die Kamera einfach.«

Emily nickte. Unter ihrem Rock rann ihr der Schweiß die Schenkel hinab.

»Okay, Aufnahmestart. Sprechen Sie einfach Ihren Namen und Ihren Agenten in die Kamera, und dann fangen wir gleich mit der Szene an.«

Emily schloss die Augen und holte Luft, stieß sie langsam wieder aus. Einfach nur atmen.

Der Bärtige holte sich irgendetwas aus den Zähnen. Sie hatte ihn schon beim Hereinkommen erkannt, aber im wahren Leben wirkte er kleiner und weniger gut aussehend. Er hatte seine spindeldürren Beine übereinander geschlagen, und sein kantiges Kniegelenk stak aus seiner Hose hervor. Die Arme hatte er über der Brust verschränkt, was ihm die Ausstrahlung vollkommener Gleichgültigkeit verlieh.

»Lassen Sie sich Zeit. Es geht erst los, wenn Sie bereit sind«, sagte die Blondine und sah verstohlen auf ihre Armbanduhr.

Emily schluckte. Atme. Komm schon. Du schaffst das.

Sie nickte schwach. Bereit.

»Okay«, sagte die Frau. »Dann los.«

»Entschuldigen Sie. Ent-schuldigung. Kann ich bitte vorbei?«

Mit den Ellbogen bahnte sich Emily ihren Weg durch den zähen Menschenstrom. Sie drängte sich an einem Paar vorbei, das gerade Selfies machte, stolperte über die Räder eines Kinderwagens und stieß sich das Handgelenk an einem Laternenpfahl. Sie trat dagegen und fluchte laut, und zwar gleich zweimal. Die Besitzerin des Kinderwagens zuckte zusammen und brachte ihr Baby schnell außer Hörweite.

Emily presste die Ärmel gegen die Augen. Trotz der wochenlangen Vorbereitung hatte sie das Vorsprechen total vermasselt. Sämtliche Zeilen, die sie eigentlich genau im Kopf gehabt hatte, hatten sich irgendwie in Luft aufgelöst, und übrig war nur ihr lautstarker innerer Monolog aus Angst und Selbstzweifeln geblieben: Ich schaffe das nicht. Ich kann mich nicht an den Text erinnern, ich schaffe das nicht, sie hassen mich, ich kann meine Beine nicht spüren, ich schaffe das nicht. Sie hatte gehustet, gestammelt, geschwitzt, und beinahe hätte sie sich auch noch übergeben müssen. Warum passierte ihr das immer wieder? Was war nur los mit ihr?

Außerdem war sie vollkommen auf dem Holzweg gewesen, als sie die Carnaby Street für eine Abkürzung gehalten hatte; sie hätte wissen müssen, dass alle Welt jetzt Mittagspause machte. Total bescheuert, ich kriege aber auch gar nichts gebacken. Sie sah auf ihrem Handy nach der Uhrzeit und erhöhte das Tempo, drängte sich an Straßenkünstlern und -musikern vorbei, bis sie die Menge endlich hinter sich gelassen hatte und die wenigen verbleibenden Straßen entlanghastete, die sie bis zum Büro noch zurücklegen musste.

Sie rang nach Luft, als sie durch die Drehtür in die Lobby stürzte. Eine Signallampe leuchtete über dem nächstgelegenen Aufzug auf, und sie rannte darauf zu, wobei sie gerade rechtzeitig ankam, um mit dem großen Mann zusammenzuprallen, der gerade zwischen den silberfarbenen Türen auftauchte.

»Tut mir leid«, murmelte sie mit dem Gesicht in seinem gestärkten Jackenaufschlag.

»Nichts passiert«, antwortete der Mann.

Er hielt ihr die Aufzugtür auf, und sie stürmte hinein. In letzter Minute sah sie auf und bemerkte, dass sie gerade mit dem Generaldirektor der Firma zusammengestoßen war. »Shit«, sagte sie, als er sich abwandte und davonging. »Ich meine, einen schönen Nachmittag noch, Mr. Denny!« Sie schauderte und drückte immer wieder energisch auf den Knopf für den fünften Stock, bis sich die Türen endlich schlossen.

Sie betrachtete sich in den verspiegelten Wänden. Sie sah aus wie eine Irre – ihr Haar stand verfilzt vom Kopf ab, auf ihrer Oberlippe glänzte Schweiß, und die Mascara war verschmiert. Kein Wunder, wenn man den ganzen Weg von Soho nach Mayfair rannte.

Als die Türen sich mit einem Ping wieder öffneten, trippelte Emily mit gesenktem Kopf über die glänzenden Fliesen und tauchte hinter dem Empfangspult ab. Sie sah sich um und klapperte mit den Stiften, raschelte mit den Papieren, um hektische Betriebsamkeit vorzutäuschen. Gerade angekommen? Nein, ich doch nicht, ich bin schon seit Stunden hier. Glücklicherweise schien niemand auf sie zu achten. Sie zog den Kragen ihrer Bluse hoch und blies hinein in dem Versuch, die Feuchtigkeit darunter zu vertreiben.

»Verschwitzt, rot im Gesicht, außer Atem. Hat sich da etwa jemand in der Mittagspause flachlegen lassen?«

Sie wirbelte herum und entdeckte einen geschniegelten Kopf, der wie ein Spion hinter einer Zeitung hervorlugte. Igitt. David. Der Personalleiter von Proem Partners saß mit überkreuzten Beinen auf einem niedrigen Sofa und zog mit matronenhaft tadelndem Gesichtsausdruck die Augenbrauen in die Höhe. Erwischt!

Emily entschied sich für die Flucht nach vorne. »Na ja, warum auch nicht?«, sagte sie lächelnd. »Mittwoch ist immerhin Halbzeit, also der ideale Tag, um es zu treiben.«

David lächelte gekünstelt. »Sie sind zu spät«, sagte er und tippte auf seine Uhr. »Schon wieder.«

»Ich weiß, tut mir leid. Ich habe die Zeit vergessen.«

»Ein Vorsprechen, oder?«

»Hm. Ja. Tut mir leid, dass ich niemandem Bescheid gesagt habe; ich habe erst in letzter Minute davon erfahren.«

»Verstehe. Na ja, wir können doch Spielberg nicht warten lassen, oder?« Demonstrativ und betont ordentlich faltete er seine Zeitung zusammen. Dann erhob er sich und glättete sein teures Hemd, wobei sein Blick von Emilys Gesicht weiter nach Süden wanderte. »Und wie ist es gelaufen? Machen sie Sie jetzt zum Star?«

»Großartig ist es gelaufen, danke«, log sie. »Drücken Sie die Daumen.«

»Ich bin gespannt.«

»Ja.« Es entstand eine unbehagliche Pause. Emily sortierte Briefe und Notizen zu nutzlosen Stapeln. David warf ihr ein Unheil verkündendes Lächeln zu. Warum lungerte er immer noch hier herum? Hatte er nichts Besseres zu tun, als ihr Oberteil anzustarren? »Ja, na gut, ich haue jetzt mal lieber rein«, sagte sie. »Um die verlorene Zeit aufzuholen.«

»Oh, klar, natürlich.« Aber David bewegte sich immer noch nicht. Er tippte mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Aber eigentlich … Emily?«

»Ja?«

»Kann ich Sie kurz sprechen? Konferenzraum eins?« Der Blick, mit dem er sie bedachte, war gleichzeitig gönnerhaft und durchtrieben, und plötzlich pochte Emilys Herz wild in ihrer Brust. Sie kannte diesen Blick. Sie hatte ihn schon viele Male auf ähnlich dienstbeflissenen Gesichtern gesehen.

»Klar, natürlich«, sagte sie und stand zu schnell auf, sodass ihr Bürostuhl hinten gegen die Wand prallte. Sie folgte David in den Konferenzraum und hoffte wider alle Wahrscheinlichkeit, dass er sie nicht aus jenem Grund »kurz sprechen« wollte, den sie vermutete.

Aber sie vermutete genau richtig.

Gefeuert, dachte sie, als David fertig war. Sie konnte es nicht laut aussprechen. Egal, wie oft es geschah, das Gefühl der Demütigung war immer wieder gleich heftig. »Aber …«, stammelte sie. Nein, nein, nein, ich darf diesen Job nicht verlieren. Plötzlich kam wieder Leben in ihr Gehirn, das wie gelähmt gewesen war, und ihre Gedanken sprudelten nur so aus ihr heraus. »Es tut mir wirklich sehr leid. Es kommt nie wieder vor. Eigentlich bin ich ein total pünktlicher Mensch. Ich kann es beweisen. Ich kann es besser machen, ich verspreche es. Ich brauche nur noch eine Chance.«

David zuckte mit den Schultern, und sein vorgetäuschtes Mitgefühl breitete sich wie Öl auf seinem frettchenhaften Gesicht aus. »Sie wissen, dass ich Sie mag, Emily, aber ich habe das nicht zu entscheiden. Wenn ich das beeinflussen könnte, hätten Sie hier eine lebenslange Festanstellung.«

»Okay, na gut, wessen Entscheidung ist es denn dann? Vielleicht könnten Sie bei dem Betreffenden ein gutes Wort für mich einlegen?« Nicht betteln, befahl sie sich. Es ist doch wohl unter deiner Würde, um einen beschissenen Aushilfsjob zu betteln? Aber die Worte wollten trotzdem nicht versiegen. »Vielleicht könnte ich ja eine andere Aufgabe übernehmen, etwas mit weniger Verantwortung. Es muss doch noch andere Dinge geben, die erledigt werden müssen?«

»Kommen Sie schon, Sie brauchen uns doch gar nicht. Ein gut aussehendes Mädchen wie Sie?« David streckte die Hand aus, als wolle er ihr das Haar zerzausen, schien es sich aber glücklicherweise in letzter Minute noch anders zu überlegen. »Ich bin sicher, Hollywood überschlägt sich bereits vor Begeisterung.«

Emily spürte, wie ihre Wangen brannten. Proem war das einzige, das sie über Wasser hielt. Zeitarbeitsjobs waren in letzter Zeit dünn gesät, und die Firmenvideos und szenischen Lesungen brachten nicht allzu viel ein.

Als die Tortur endlich überstanden war und David ihr die Schulter getätschelt hatte wie ein Schuldirektor, der sie in die Klasse zurückschickte, kehrte sie im glücklicherweise leeren Empfangsbereich an den Schreibtisch zurück, der nicht mehr ihrer war. Hinter ihr fiel die Tür zum Konferenzraum mit einem Klicken ins Schloss, und Davids eilige Schritte verklangen in dem weitläufigen Gebäude. Grabesstille senkte sich wie eine Schneedecke auf sie herab.

Ach … Mist. Was zum Teufel sollte sie jetzt tun? Der Vorteil ihrer Entlassung war natürlich, dass sie jetzt nicht länger so tun müsste, als läge ihr die Ablage am Herzen oder als mache es ihr Freude, dafür zu sorgen, dass sich neue Kunden hier wohlfühlten. Aber andererseits war die Miete fällig, sie hatte ihr Konto schon deutlich überzogen, und es war wenig wahrscheinlich, dass sie nahtlos einen Anschlussjob bekommen würde. Jamie von der Zeitarbeitsagentur hatte erst vor ein paar Tagen erwähnt, dass sie Mühe hatten, genug Arbeitsplätze für alle registrierten Mitarbeiter zu finden, und eine Kündigung würde sie wohl kaum an die Spitze der vermittelbaren Kräfte katapultieren.

Sie hob den Kopf und warf dem Computerbildschirm einen wütenden Blick zu. Das Telefon klingelte, aber sie ignorierte es. Nein, sie hatte keine Wahl: Sie müsste sich einfach eine Geschichte einfallen lassen, die auf die Tränendrüsen drückte, Jamie anrufen und sich seiner Gnade ausliefern.

* * *

Es gab keinen Grund, bis zum Ende dieses Arbeitstages zu bleiben, aber der Nachmittagsansturm machte es Emily unmöglich zu gehen. Jedes Mal, wenn sie sich daran machte, ihre Sachen zusammenzupacken, kam jemand an den Empfang und gab dermaßen nachdrückliche Anweisungen, dass sie es nicht wagte zu erklären, dass sie eigentlich gar nicht mehr hier arbeitete. Dann kam eine Klientin mit einem Vierjährigen im Schlepptau herein, den sie wie ein Gepäckstück zu Emilys Füßen deponierte, sodass sie nun wirklich nicht gehen konnte. Der arme Kleine wirkte so verloren, dass sie schließlich Verstecken hinter den Topfpflanzen mit ihm spielte, während sie gleichzeitig Anrufe weiterleitete oder den Empfang von Paketen quittierte.

Nach einer Weile legte sich eine bleierne Traurigkeit über sie. Sie beobachtete den Strom gut gekleideter Menschen, der stetig durch das Foyer floss, und fragte sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, irgendwo fest angestellt zu sein. Regelmäßige Einkünfte, Sicherheit, Kollegen, Drinks am Freitagabend. Das klang alles dermaßen erlösend.

Emily merkte nun, wie sehr sie ihre sechs Wochen bei Proem genossen hatte. Eigentlich passte sie natürlich gar nicht hierher, aber die Leute hatten begonnen, sie in der Kaffeeküche zu grüßen, und man hatte ihr sogar einen lustigen kleinen Fragebogen für den »In-House-Newsletter« geschickt, was immer das sein mochte. »Lernen Sie Ihr Team kennen«, hatte in der E-Mail gestanden, und dass ihre Antworten in der darauffolgenden Woche zusammen mit ihrem Foto gepostet würden. Es war ein schönes Gefühl gewesen, zur Gemeinschaft zu gehören.

Sie suchte nach weiteren Ausreden, um noch ein wenig zu bleiben. Motiviert durch die Aufmerksamkeit des verlassenen kleinen Jungen fand sie immer aufwendigere Methoden, um ihm die Zeit zu vertreiben: Fragespiele, Zaubertricks, eine Schatzsuche. Sie fegte den Boden. Dann piepte der Fotokopierer: ein Papierstau. Die Kaffeemaschine musste gereinigt werden, die Kissen aufgeschüttelt. Sie wollte diesen Ort in perfektem Zustand hinterlassen. Vielleicht würde dann ja doch jemand erkennen, was für eine fantastische Mitarbeiterin sie gewesen war, und sie zurückrufen. Aber als es stiller im Büro wurde und die Mutter des Jungen endlich wieder auftauchte, um ihren kreischenden, zappelnden Sprössling einzusammeln (Emily hatte ihn mit Süßigkeiten vollgestopft), wusste sie, dass es nun doch Zeit war, zu gehen.

Sie nahm ihre Tasche und sah sich ein letztes Mal um. Irgendwo in einem Paralleluniversum gehörte sie vielleicht an einen Ort wie diesen. Vielleicht lief irgendwo eine Version von ihr in einem Stella-McCartney-Outfit mit Aktentasche in der Hand herum.

Doch als sie wieder im Aufzug stand, musterte sie erneut ihr Spiegelbild. Aber eigentlich, dachte sie, ist auch das eher unwahrscheinlich.

2

Scott

Die dicke Feder des Füllers war zu stumpf, um seine Haut zu durchbohren, aber Scott Denny gab dennoch sein Bestes. Er rammte sie in die Mitte seiner Handfläche, drehte sie langsam erst in die eine Richtung, dann in die andere, schraubte das Metall in sein Fleisch.

Es war schmerzhaft, aber doch nicht annähernd schmerzhaft genug. Er ließ den Blick über seinen akribisch aufgeräumten Schreibtisch wandern, auf der Suche nach einem Gegenstand, mit dem er diese Aufgabe vernünftig bewältigen konnte. Aber er fand nichts Geeignetes. Sein Handy würde offensichtlich nicht allzu viel Schaden anrichten können. Genauso wenig wie die Metallspitzen des Ladegerätes, egal, wie fest er zustieß. Vielleicht konnte er ja seine Finger mit einer der schweren Granit-Statuetten zerquetschen. Oder den verzierten Bilderrahmen zerschmettern und mit dem Glas Linien in seinen Arm ritzen. Wenn er einen Tacker dagehabt hätte, hätte er sich ein paar Klammern in den Oberschenkel rammen können.

Das machte allerdings zu viel Schweinerei. Und war zu laut. Zu verdächtig.

Auf der anderen Seite des Schreibtisches saß seine schlanke Chefassistentin Verity zierlich auf einem Drehstuhl aus dänischem Kirschholz und plapperte. Ihre makellos manikürten Nägel tippten in unregelmäßigem Takt auf der Tastatur ihres Laptops herum, während sie seinen Terminplan auf den neuesten Stand brachte.

»Morgen um acht Uhr dreißig haben Sie einen Termin mit der Geschäftsführerin von Alkira-Dunn und ihrer Anwältin. Danach eine Telefonkonferenz mit dem Vertreter von Truss and Boulder. Er hofft, dass wir einen Aufkauf finanzieren. Ich habe bereits mit ihm gesprochen; er hat keinen Businessplan, und wir haben auch die Konkurrenzsituation noch nicht abgecheckt, das müssen wir uns heute Abend also genauer ansehen. Und wenn Sie noch ein Darlehensmodell ausarbeiten wollen, dann haben Sie dafür vor Ihrem Termin in der Mittagspause noch etwas Zeit. Sie müssen mir jetzt nur noch sagen, was ich tun soll im Hinblick auf …«

Sie plapperte immer weiter.

Und unter dem Tisch schraub, schraub, schraub.

Er sollte besser aufhören. Das würde eine echt tiefe Wunde verursachen.

Der Himmel draußen, den die in Bronze gefassten Koppelfenster in Vierecke unterteilten, war spülwassergrau. Wo war nur der Nachmittag geblieben? In wenigen Stunden würden die Straßenlaternen aufflackern; sie säumten die Grosvenor Street bis zum Hyde Park in einer ordentlichen Reihe, eine strahlende Prozession, die jedermann heimleuchtete – außer Menschen wie ihm selbst, den Nachteulen, deren Tage nicht durch Sonnenaufgang und Sonnenuntergang definiert wurden, sondern durch das Öffnen und Schließen des Welthandels.

Plötzlich fiel Scott auf, wie still es geworden war. Er hob den Kopf. Verity hatte mitten in ihrem Vortrag innegehalten und warf ihm nun einen merkwürdigen Blick zu.

»Was?«, fragte er.

»Das Start-up von gestern. Ich will wissen, ob ich weitermachen und den Leiter anrufen soll.«

Scott versuchte, sich an den gestrigen Tag zu erinnern, allerdings erfolglos.

»Alles okay?« Besorgt verzog Verity ihr Puppengesicht.

»Bestens.« Er lächelte schmallippig. »Nur ein paar Probleme zu Hause. Nichts Schlimmes. Ja, setzen Sie ein Meeting an. Sonst noch was?«

Verity bedachte ihn mit einem Seitenblick, wandte sich dann aber wieder ihrem Bildschirm zu. Sie war zwar nicht überzeugt, wollte aber unbedingt ihr Pensum erledigen.

Schraub, schraub, schraub.

Neben ihm auf dem Schreibtisch leuchtete Scotts Handy mit einer weiteren neuen Nachricht auf. Mittlerweile waren es schon einige.

Bitte rede mit mir …

Gestern Abend dachte ich …

Wir brauchen dich, mach nicht …

Ich schwöre, wenn du …

Ich hasse dich, verdammt …

Egoistischer, gedankenloser, feiger Mistkerl …

Schraub, schraub, schraub.

Er nickte zu allem, was Verity zu sagen hatte, wobei er gedanklich immer weiter abdriftete. Bilder schwirrten ihm durch den Kopf wie Vögel, die herabschossen und ihre Farben aufleuchten ließen. Er sah eine orangefarbene Sonne, die durch die zarten Wedel des Pampasgrases hindurchspähte. Einen feuchten Fußabdruck, der auf dem heißen, polierten Travertin verdampfte.

Dann ein Kissen, weich und füllig. Einen zarten Finger, der auf ihn zeigte.

Und Sterne. Ein dichtes Muster aus Sternen, das sich über einem klaren, schwarzen Himmel ausbreitete.

Er kämpfte gegen den Impuls an, sich eine Ohrfeige zu geben. Seine Augen wanderten umher, suchten Halt. Durch die Glaswand seines Büros konnte er die Arbeiterbienen sehen, die wie im Zeitraffer von Raum zu Raum summten. Klienten kamen und gingen. Juniormitarbeiter lehnten an Türrahmen, in der Hand zierliche Espressotassen. Und an der Rezeption wackelte eine riesige Topfpflanze, als eine erwachsene Frau versuchte, sich dahinter zu zwängen.

Er kniff die Augen zusammen. Hatte er jetzt Halluzinationen? Nein. Seine Empfangsdame versteckte sich tatsächlich hinter einer Topfpflanze. Plötzlich stürmte ein kleiner Junge unter dem Schreibtisch hervor und hüpfte auf und ab, deutete voller Vergnügen auf die nur notdürftig versteckte Blondine. Sie packte sich an die Brust, als sei sie angeschossen worden, dann ließ sie sich zu Boden plumpsen. Der Junge lachte und setzte sich auf ihren Kopf.

Scott zog den Stift aus seiner Hand.

Hingerissen beobachtete er, wie die Empfangsdame sich unter dem Jungen hervorschlängelte und einen weiteren Angriff mit einem Trick abwehrte. Das Kind sah zu ihr auf, als sie einen kleinen Gegenstand hinter seinem Ohr hervorzauberte, und zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte Scott.

Leise klopfte es an seine Tür. Scott und Verity wandten sich um und entdeckten David Mahoneys schmieriges, kleines Gesicht, das um die Tür herum ins Zimmer lugte. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte David. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass es erledigt ist. Ich habe es ihr gesagt.«

Scott blinzelte. »Was?«

»Die Zeitarbeitskraft an der Rezeption. Ich habe sie gefeuert. Wie … wie wir besprochen hatten.« David warf Verity einen Blick zu, doch die zuckte nur mit den Schultern.

»Oh.« Scott blickte erneut zur Rezeption hinüber. Die junge Frau galoppierte nun umher und schlug mit den Armen, als hätte sie Flügel. »Ja. Gut. Danke.«

David presste die Hand aufs Herz und tat, als fiele er in Ohnmacht. »Oh Gott, tun Sie mir doch so etwas nicht an. Eine Minute lang dachte ich, ich hätte einen Fehler gemacht.«

»Nein. Kein Fehler.«

»Dem Himmel sei Dank.« Er stieß ein schrilles Lachen aus. »Ich hatte schon befürchtet, dass ich der Nächste bin, der gehen muss.«

Scott starrte ihn an.

»Okay, na ja, sie sollte eigentlich ihre Sachen zusammenpacken, während wir uns unterhalten.«

»Keine Eile«, murmelte Scott. Im Flur wickelte die Rezeptionistin gerade etwas, was wie Kekse aussah, in eine Serviette. Dann drückte sie dem Jungen das Bündel in die Hand.

David zog sich mit beinahe höfischer Verbeugung zurück, und die Tür schloss sich hinter ihm mit einem Klicken. Es entstand eine kurze Pause, in der Verity eine ihrer fein gezeichneten Augenbrauen hochzog. »Darf ich fragen, was sie verbrochen hat?«

Scott gab keine Antwort, und Verity wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, ihn unter Druck zu setzen. Also nahm sie ihre bedeutungslose Schilderung von Fakten und Zahlen wieder auf.

Ein leiser, unangenehmer Laut bildete die Geräuschkulisse.

Tropf, tropf, tropf.

Scott runzelte die Stirn. Es drang von unter seinem Schreibtisch zu ihm empor. Ein leises gleichmäßiges Klatschen irgendwo neben seinen Füßen.

Tropf, tropf, tropf.

Er sah nach unten und entdeckte ein paar kleine, dunkle Spritzer Blut auf dem glänzenden Boden. Na, sieh mal einer an, hätte er beinahe ausgerufen. Offensichtlich sollte man einen stumpfen Gegenstand niemals unterschätzen.

3

Emily

Nachdem sie von der Lobby des Gebäudes auf die Straße getreten war, ging Emily um das Gebäude herum und bog nach links ab, dem kleinen Tesco-Markt an der U-Bahn-Station entgegen. Sie war am Verhungern, und ihre Küchenschränke waren so gut wie leer. Im Geiste hatte sie den Kühlschrank durchsucht und dort nur ein kleines hartes Käsestück, ein Glas Currypaste, Tomatensoße und eine Karotte gefunden. Nicht einmal Jamie Oliver hätte daraus eine Mahlzeit zaubern können.

Unterwegs schaute sie aufs Handy. Keine verpassten Anrufe, keine neuen E-Mails, nur eine Textnachricht von ihrer Agentin Lara, die Emily noch einmal die Uhrzeiten für das morgige Vorsprechen durchgegeben und sie an ihre Besprechung erinnert hatte, die eine Stunde vorher stattfinden sollte. Emily tippte eine Antwort: Juhu! Bis morgen also! Dann lief sie schneller. Ihre Kündigung hatte zumindest den Vorteil, dass sie sich nicht wieder von der Arbeit wegschleichen musste. Vielleicht war sie ja sogar ein Zeichen. Schicksal oder so. Vielleicht sollte sie ja gefeuert werden, damit sie zu diesem Vorsprechen gehen konnte. Die Wege des Universums waren schließlich seltsam und unergründlich.

Im Supermarkt ertappte Emily sich dabei, wie sie zu der blechernen Hintergrundmusik vor sich hinsummte, während sie durch die Gänge schlenderte, den Einkaufskorb am Ellbogen. Sie holte Milch, Eier, Cornflakes, Zwiebeln, Tomaten und Huhn und warf – einer fröhlichen Laune folgend – auch noch geräucherten Lachs und eine Avocado hinein. Als sie die Selbstbedienungskasse erreicht hatte, waren auch noch eine Tafel gute Schokolade und vier Bacardi Breezer hinzugekommen, denn warum auch nicht?

Unglücklicherweise zeigte ihr das Display des Kartenlesegeräts schon bald, warum nicht. Kartenzahlung nicht möglich, Konto nicht gedeckt.

Emily runzelte die Stirn. Unmöglich. Sie hatte definitiv noch Geld auf dem Konto; sie hatte zwar ihr Gehalt noch nicht bekommen, aber die Miete war auch erst nächste Woche fällig.

Eine Verkäuferin lungerte in der Nähe herum. »Brauchen Sie Hilfe?«

»Nein, nein.« Emily grinste. »Alles gut, ich habe nur die falsche Karte benutzt, das ist alles. Ich bin gleich so weit.«

Sie holte das Handy aus der Tasche und öffnete ihre Banking-App. Ihr Kontostand leuchtete auf. Shit. Die Miete war diese Woche fällig, nicht erst nächste. Die Lastschrift war geplatzt, also würde sie noch einmal eine Erhöhung ihres Kreditlimits beantragen müssen – zum dritten Mal in ebenso vielen Monaten. Man würde sie mit Hohngelächter aus der Bank werfen.

»Sind Sie sicher, dass Sie keine Hilfe brauchen?«, fragte die Verkäuferin noch einmal.

»Nein, alles gut, kein Problem.« Emily wollte gerade ihre Kreditkarte zücken, da fiel ihr ein, dass die ja gesperrt worden war, weil keine regelmäßigen Zahlungen eingegangen waren. Nein, nein, nein. Kurz überlegte sie, ob sie aus dem Geschäft flüchten sollte, ohne zu bezahlen, aber dann besann sie sich eines Besseren.

Sie errötete und winkte die Verkäuferin zu sich. »Ich habe tatsächlich ein kleines Problem. Total peinlich, aber ich habe meine Karte zu Hause vergessen. Und anscheinend irrtümlich die alte eingesteckt. Wirklich ärgerlich – sie sehen genau gleich aus!«

Die Frau musterte sie über die Brille hinweg. Sie war schließlich nicht auf den Kopf gefallen. »Gehen Sie nach Hause und holen Sie sie«, sagte sie. »Wir verwahren Ihre Einkäufe hier, bis Sie wieder da sind.«

»Na ja, nein. Ich wohne ziemlich weit weg. Es ist also nicht … Sehen Sie, kann ich nicht einfach nur ein paar Sachen mitnehmen und den Rest hierlassen?«

Die Frau verdrehte die Augen. Ohne ein weiteres Wort drückte sie ein paar Tasten auf dem Bildschirm und zog ihre Freigabekarte hindurch. Damit war Emilys Einkaufsliste leer, und der Startbildschirm erschien.

»Danke. Tut mir leid.« Emily bezahlte für die Breezer, die Milch und die Eier und sah zu, wie ihre Luxusgüter wieder fortgeräumt wurden.

Draußen auf der Straße kaute sie an den Nägeln. Ihr Gehalt würde erst in der nächsten Woche überwiesen werden und nur für die nicht gezahlte Miete reichen. Für Essen oder Bahnfahrten würde also nichts mehr übrig sein. Oder für ihre Rechnungen. Sie dachte an die Mahnung für die Stromrechnung, die an ihrem Kühlschrank hing.

Es sah nicht gut aus. Die Frau, die nicht auf den Kopf gefallen war, hatte recht gehabt; sie brauchte Hilfe.

Statt gleich in die U-Bahn zu steigen, nahm Emily die Seitenstraßen, die von Piccadilly Circus und Trafalgar Square hinunter zum Fluss führten. Die smogverseuchte Londoner Luft war alles andere als frisch, aber immer noch besser als die stickige U-Bahn, und sie brauchte jetzt einen klaren Kopf.

Auf der Golden Jubilee Bridge stellte sie ihre Einkaufstasche auf den Boden und holte das Handy aus der Tasche. Unter ihr floss die Themse dahin, eine braune Brühe. Ihr Daumen schwebte über dem Namen ihrer Mutter. Brachte sie es wirklich über sich, sie anzurufen? War sie dermaßen verzweifelt?

»Ich habe jetzt endgültig die Nase voll!«, hatte Juliet bei Emilys letztem Besuch gekreischt. »So geht das nicht weiter. Du kannst nicht einfach monatelang von der Bildfläche verschwinden, ohne anzurufen, ohne E-Mails, nichts, und dann tauchst du wie auf dem Nichts wieder auf und bittest um Geld.« Danach hatten sie in bestürztem Schweigen nebeneinander gesessen, denn keine von ihnen wusste, wie sie die Kluft überbrücken konnten. Wie immer hatte Juliet den ersten Schritt gemacht. »Tut mir leid, dass ich laut geworden bin«, hatte sie gesagt, und ihr Gesicht hatte dabei verhärmt gewirkt. »Aber dein Vater und ich, wir machen uns solche Sorgen um dich, und wir haben Angst, dass … Sieh mal, es wäre einfach nur nett, wenn du auch mal anriefst, um einfach nur Hallo zu sagen, und nicht, weil du mal wieder etwas brauchst.«

Das hätte Emilys Stichwort sein können, um liebenswürdig und versöhnlich zu reagieren. Aber sie hatte sich für die schäbigere Variante entschieden. »Tut mir leid, dass ich so eine Riesenenttäuschung für euch bin«, hatte sie gesagt. »Aber ihr wart diejenigen, die ein Kind adoptiert haben, von dem niemand weiß, woher es verdammt noch mal stammt. Wenn ihr Perfektion wolltet, dann hättet ihr mich vielleicht da lassen sollen, wo ich war.«

Juliet war zurückgezuckt, als hätte man sie geschlagen. »Das ist nicht fair, Emily. Und das weißt du.«

Emily wusste es, dennoch lag ein Funken Wahrheit in dem, was sie gesagt hatte. Außerdem hatte sie immer ihre helle Freude daran, wenn ihre ach so beherrschte Mutter ausrastete. Immer noch kein Silberstreif am Horizont? Oh, wie traurig. An jenem Tag jedoch war der Ausdruck auf Juliets Gesicht irgendwie weniger befriedigend gewesen.

Nach ein paar Sekunden verstaute Emily ihr Handy wieder in der Tasche. Der Fluss breitete sich unter ihr aus, voll und breit. Träge Wellen leckten an den kalten Steinmauern, klatschten an die Unterseite von Partybooten, und Emily verspürte den flüchtigen Impuls, sich hineinzustürzen. Das Leben fühlte sich einfach … zu groß an. Eigentlich sollte sie doch erwachsen sein, aber aus irgendeinem Grund hatte sie Mühe mit, na ja, eigentlich mit allem. Sie verstand ihren Mietvertrag nicht. Die Steuererklärung kam ihr wie ein kryptisches Kreuzworträtsel vor. Gespräche über Hypotheken und Darlehen für Kleinunternehmen (sehr selten in ihrem Leben, aber manchmal kam so etwas dann doch zur Sprache) hätten auch in Urdu geführt werden können, so wenig verstand sie sie. Meist war sie nur ratlos und überfordert. Was, so überlegte sie, vermutlich erklärte, warum sie jetzt pleite und arbeitslos war und nur mit der Hälfte ihrer Einkäufe auf einer Brücke stand.

Sie seufzte tief, nahm ihre Tasche und wandte sich vom Wasser ab, um nach Hause zurückzukehren.

Wie üblich wurde die Tür zu Emilys Wohnhaus durch den wulstigen Teppich blockiert, sodass sie gezwungen war, sich seitlich durch den Spalt zu zwängen. Ihre Jacke blieb an der Klinke hängen, und sie riss sich ein kleines Loch in den Stoff. »Mist«, murmelte sie und versuchte erfolglos, die Tür wieder zuzuschieben. Sie versetzte ihr einen Tritt. Und die Klinke fiel ab.

Sie trottete die Treppe hinauf, wobei sie mit dem Ärmel eine Staubschicht vom Geländer wischte. In der Wohnung wurde der allgegenwärtige Geruch nach Curry, der von dem indischen Restaurant darunter heraufdrang, durch den beißenden Gestank angebrannten Toasts bereichert. Anscheinend hatte Spencer sich heute selbst etwas zu essen gemacht.

Sie steckte den Kopf in die Küche und erwartete, ihren Mitbewohner an seinem Lieblingsplatz am Tisch zu entdecken, über ein Päckchen Tabak und Zigarettenpapier gebeugt. Dort war er nicht, aber es lagen eindeutige Beweise vor, dass er gerade erst gegangen war. Ein Aschenbecher voller selbst gedrehter Zigarettenstummel schwelte auf dem Tisch vor sich hin, und ein feiner Rauchschleier hing in der Luft. Ein Becher Margarine ohne Deckel stand schwitzend neben fettigen Tellern, und in der Ecke quoll der Mülleimer von Kartons aus Take-away-Restaurants förmlich über.

Emily schnitt eine angewiderte Grimasse und stellte die Margarine in den Kühlschrank. Dann öffnete sie ein Fenster und stakste auf der Suche nach einem sauberen Glas – einem, in dem sich kein kleiner Alkoholrest befand – vorsichtig zur Anrichte hinüber. Dabei stach ihr etwas ins Auge. Zwischen dem Müll lag ein fettverschmierter Zettel.

Rate mal, was los ist, stand dort in Spencers unordentlichem Gekritzel, Miete konnte wieder nicht abgebucht werden. Vermieter ist ausgerastet. Wir haben vier Wochen.

Emily setzte sich an den Tisch und vergrub den Kopf in beiden Händen. Sie zermarterte sich das Gehirn und ging im Geiste all ihre Freunde durch, die vielleicht ein Zimmer oder auch nur ein Sofa hatten, wo sie für ein paar Wochen unterkommen konnte, aber überraschenderweise fiel ihr niemand ein.

Wie ist das nur möglich? Ich habe doch Freunde, oder nicht?

Die hatte sie. Aber die meisten davon hatten das Handtuch geworfen und waren aus London fortgezogen, um zu heiraten und Kinder zu kriegen. Jetzt wohnten sie im ganzen Land verstreut, lebten ihr Leben, schickten Einladungen zu Events, die ihr persönlich vollkommen sinnlos erschienen. Tupperpartys. Gender-Reveal-Partys. Sie wusste nicht mal, was das zu bedeuten hatte. Wann immer sie sich zu einem solchen Ereignis aufgerafft hatte, hatte sie festgestellt, dass sie nichts zu sagen hatte, nichts zur Unterhaltung beitragen konnte. Es war, als seien sie alle zum Mond geflogen und hätten sie zurückgelassen.

Von den Freundinnen, die noch in der Stadt wohnten, fielen ihr nur zwei ein, die vielleicht ein Plätzchen für sie übrig hatten, aber Louise hatte ihr Zimmer untervermietet, während sie auf Tournee war, und Rheas Vater war gerade gestorben, weshalb sicher nicht der richtige Zeitpunkt war, um sie um einen Gefallen zu bitten. Hinzu kam, dass Rheas Wohnung eine Drogenhöhle war. Als Emily das letzte Mal dort übernachtet hatte, war sie um acht Uhr morgens im Wohnzimmer aufgewacht, hatte einen höllischen Kater gehabt und war von bärtigen Männern und Haschrauch umgeben gewesen. Sie hatte sich nicht getraut, sie zu fragen, wer sie waren oder woher sie kamen, also hatte sie sich aufgesetzt und einfach so getan, als sei das alles völlig normal. Der Fernseher lief, spuckte eine grässliche Nachricht nach der nächsten aus, und die Männer starrten mit glasigen Augen auf die grauenvollen Berichte über häusliche Gewalt und Massenschießereien, Kindesmisshandlung und Mord. Sie hatte bei ihnen gesessen und über eine halbe Stunde mit ihnen ferngesehen, bevor sie den Mut aufgebracht hatte, aufzustehen und den Raum zu verlassen.

Und dann war Rhea aufgetaucht, mit grauem Gesicht und vollkommen erledigt. Sie hatte darauf bestanden, dass Emily sie zur Geburtstagsparty ihrer Nichte begleitete, die an jenem Tag zwei wurde. »Bitte, Em«, hatte sie gebettelt. »Das ertrage ich einfach nicht allein.« Also hatten sie sich zu einem sauberen, weißen Haus in Putney begeben, wo sie von Kindern mit kuchenbeschmierten Gesichtern buchstäblich umzingelt wurden. Emily war sich noch nie im Leben so schmutzig vorgekommen. Das war jetzt drei Jahre her, und seitdem war sie nie wieder bei Rhea gewesen.

, dachte Emily und war sofort auf der Hut. »Und Peter?«

»Ja, deinem Vater geht es auch gut. Er ist auch hier. Genauso wie deine Großeltern und Tante Cath. Möchtest du sie begrüßen?«

»Oh nein, ich will nicht stören.« Ihr Schuldbewusstsein verwandelte sich in Bitterkeit. Wie behaglich, ein nettes Familienessen ohne das schwarze Schaf, so ist es euch am liebsten. »Sieh mal«, preschte sie weiter voran. »Das klingt jetzt vielleicht schlimm, aber bitte lass mich zu Ende reden, denn ich habe hier, ähm, ein paar Schwierigkeiten.«

»Geht es dir gut?«

»Na ja, ich liege nicht im Sterben oder so etwas. Aber im Augenblick gibt es Probleme. Ich stecke in der Klemme.«

»Jetzt machst du mich nervös.« Juliet kicherte. »Du bist doch nicht schwanger, oder? Ich frage nur, weil ich weiß, dass du nicht anrufst, um mich um Geld zu bitten.«

»Ich hab ja gesagt, es würde sich schlimm anhören.«

»Emily …«

»Und ich würde nicht fragen, wenn es sich nicht um einen Notfall handelte.«

»Emily, stopp!« Juliets Ton hatte sich vollkommen verändert. »Willst du mich jetzt um noch mehr Geld bitten? Ja oder nein?«

Emily schluckte. Es ließ sich nicht beschönigen. »Gewissermaßen. Ja. Aber bitte glaub mir, wenn ich sage, dass ich in einer verzweifelten Lage bin.«

Sie hörte ein Seufzen, gefolgt von einem kurzen, glucksenden Geräusch, das sowohl Lachen als auch Schluchzen hätte sein können.

Emily konzentrierte sich auf das gedämpfte Gläserklirren und das Stimmengewirr im Restaurant, wappnete sich für den Vortrag. »Oh, komm schon«, brach sie schließlich das Schweigen. »So ein großer Schock kann das doch nun auch wieder nicht sein.« Sie hatte eigentlich nicht mürrisch klingen wollen, aber genauso kamen die Worte heraus.

Als Juliet irgendwann antwortete, klang ihre Stimme belegt: »Ich bin nicht schockiert. Nicht im Geringsten. Ich habe nur gedacht …«

»Was? Was hast du gedacht?«

Ein Schniefen und das Rascheln eines Taschentuchs.

»Ich habe nur gedacht, dass du vielleicht anrufst, um mir alles Gute zum Geburtstag zu wünschen.«

Oh. Fuck.

»Juliet, ich …«

Es ertönte ein leises Klicken, und die Leitung war tot.