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Leïla Slimani: Wer sie ist. Und warum sie schreibt. Persönliche Bekenntnisse einer der faszinierendsten Stimmen unserer Zeit.
Es ist eine ungewöhnliche Nacht, die Leïla Slimani im Museo Punta Della Dogana in Venedig verbringt. Im einstigen Zollgebäude der Serenissima, einem Ort, an dem sich seit jeher Orient und Okzident begegnen. Für die französisch-marokkanische Schriftstellerin wird er zum Symbol ihrer eigenen Geschichte. Allein im Museum, in den dunklen Stunden zwischen Sonnenuntergang und Tagesanbruch, taucht Slimani in Erinnerungen ein. Sie erzählt von ihrer Kindheit in Rabat, vom Alltag in Paris als Mutter zweier Kinder, vom Leben zwischen den Kulturen und dem Gefühl der Fremdheit. Sie denkt über ihre Rolle als Schriftstellerin und engagierte Frau nach, über drängende gesellschaftliche Fragen, gesteht ihre eigene Verletzlichkeit. Es sind faszinierende Bekenntnisse, die Einblick geben in die Gedankenwelt einer der bedeutendsten literarischen Stimmen unserer Zeit.
»Genial und berührend. Ein Meisterwerk.« Le Figaro Littéraire
Zur Autorin
Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs. Slimani, 1981 in Rabat geboren, wuchs in Marokko auf und studierte an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po. Ihre Bücher sind internationale Bestseller. Für den Roman »Dann schlaf auch du« wurde ihr der renommierte Prix Goncourt zuerkannt. »All das zu verlieren«, ebenfalls preisgekrönt, erscheint in 25 Ländern. Ihr jüngster Roman »Das Land der Anderen« ist der erste Teil einer Romantrilogie, die auf der Geschichte ihrer eigenen Familie beruht. In den Essaybänden »Sex und Lügen« und »Warum so viel Hass?« widmet Leïla Slimani sich dem Islam und dem Feminismus sowie dem zunehmenden Fanatismus.
Amelie Thoma übersetzt Literatur aus dem Französischen, u.a. Marc Levy, Joël Dicker, Françoise Sagan und Simone de Beauvoir.
LEÏLA SLIMANI
Der Duft der Blumen bei Nacht
Aus dem Französischen
von Amelie Thoma
Luchterhand
Die französische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Le parfum des fleurs la nuit« bei Éditions Stock, Paris.
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Copyright © 2021 Éditions Stock, Paris
Copyright © der deutschen Ausgabe 2022
Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung buxdesign / München unter Verwendung eines Motivs von © Audoin Desforges
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-641-28287-5
V002
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»Wenn es Einsamkeit gibt, was ich nicht weiß, hätte man wohl das Recht, gelegentlich davon zu träumen wie von einem Paradies.«
ALBERT CAMUS
»Wo Kunst ist, wo Talent ist, da gibt es kein Alter, keine Einsamkeit, keine Krankheiten, und selbst der Tod ist halb so schwer.«
ANTON TSCHECHOW
Für Jean-Marie Laclavetine, der mich zur Schriftstellerin erweckt hat
Für meinen Freund Salman Rushdie
Oberste Regel, wenn man einen Roman schreiben möchte, ist, Nein zu sagen. Nein, ich komme nicht mit auf ein Glas. Nein, ich kann nicht meinen kranken Neffen hüten. Nein, ich habe keine Zeit für ein Mittagessen, ein Interview, einen Spaziergang, einen Kinobesuch. Man muss so oft Nein sagen, dass die Anfragen schließlich selten werden, das Telefon nicht mehr klingelt und man irgendwann bedauert, nur noch Werbung im Posteingang zu finden. Nein sagen und als Misanthropin, arrogant, krankhaft ungesellig gelten. Um sich herum eine Mauer aus Absagen errichten, an der alle gesellschaftlichen Verlockungen zerschellen. Das hat mir mein Lektor gesagt, als ich anfing, Romane zu schreiben. Das habe ich in sämtlichen Essays über Literatur gelesen, von Roth bis Stevenson, über Hemingway, der es auf eine simple und triviale Weise zusammenfasste: »Die schlimmsten Feinde eines Schriftstellers sind das Telefon und Besucher.« Er fügte hinzu, dass die Einsamkeit sich ohnehin von ganz allein einstelle, wenn man erst einmal die Disziplin erworben habe, wenn die Literatur das Zentrum, der Kern, der einzige Horizont eines Lebens geworden sei. »Die Freunde sterben, oder sie verschwinden, vielleicht, weil sie unserer Zurückweisung überdrüssig sind.«
Seit ein paar Monaten zwinge ich mich genau dazu: die Bedingungen für meine Isolation zu schaffen. Morgens, sobald die Kinder in der Schule sind, gehe ich hinauf in mein Büro und verlasse es erst am Abend wieder. Mir wird immer kalt, und im Lauf der Stunden ziehe ich erst einen Pulli über, dann noch einen, um mich schließlich in eine Decke zu wickeln.
Mein Büro misst drei mal vier Meter. An der rechten Wand geht ein Fenster auf einen Hof hinaus, aus dem Restaurantgerüche aufsteigen. Der Geruch nach Putzmittel und Linsen mit Speck. Gegenüber der Tür dient mir ein breites Holzbrett als Arbeitstisch. Die Regale sind voller Geschichtsbücher und Zeitungsausschnitte. An die linke Wand habe ich Post-its in verschiedenen Farben geklebt. Jede Farbe entspricht einem Jahr. Rosa steht für 1953, gelb für 1954, grün für 1955. Auf diese Zettel habe ich den Namen einer Figur, eine Idee, eine Szene geschrieben. Mathilde im Kino. Aïcha in der Quittenplantage. An einem inspirierten Tag habe ich die Chronologie dieses Romans festgelegt, den ich gerade schreibe und der noch keinen Titel hat. Er erzählt die Geschichte einer Familie in der kleinen Stadt Meknès, zwischen 1945 und der Unabhängigkeit des Königreichs Marokko. Ein Stadtplan von 1952 ist auf dem Boden ausgebreitet. Darauf sieht man ganz klar die Grenzen zwischen der arabischen Medina, der jüdischen Mellah und der neuen europäischen Stadt.
Heute ist kein guter Tag. Ich sitze seit Stunden auf diesem Stuhl, und meine Figuren reden nicht mit mir. Nichts stellt sich ein. Weder ein Wort noch ein Bild, noch der Beginn einer Melodie, die mich dazu hinreißt, ein paar Sätze zu Papier zu bringen. Seit heute Morgen habe ich zu viel geraucht, meine Zeit im Internet vertrödelt, einen Mittagsschlaf gemacht, doch nichts ist passiert. Ich habe ein Kapitel geschrieben und anschließend wieder gelöscht. Ich muss an diese Geschichte denken, die mir ein Freund erzählt hat. Ich weiß nicht, ob sie wahr ist, aber sie hat mir sehr gefallen. Lew Tolstoi soll, während er Anna Karenina verfasste, eine schwere Schaffenskrise durchgemacht haben. Wochenlang schrieb er nicht eine Zeile. Beunruhigt über das verspätete Manuskript und das Schweigen des Meisters, der nicht auf seine Briefe antwortete, beschloss sein Verleger, der ihm eine für die damalige Zeit beträchtliche Summe vorgestreckt hatte, den Zug zu nehmen, um ihn zur Rede zu stellen. Bei seiner Ankunft in Jasnaja Poljana empfing ihn Tolstoi und antwortete auf die Frage, wie seine Arbeit voranschreite: »Anna Karenina ist gegangen. Ich warte, dass sie zurückkommt.«
Nichts läge mir ferner, als mich mit dem russischen Genie zu vergleichen oder irgendeinen meiner Romane mit seinen Meisterwerken. Doch dieser Satz verfolgt mich: »Anna Karenina ist gegangen.« Auch ich habe manchmal das Gefühl, dass meine Figuren sich mir entziehen, dass sie weggegangen sind, um ein anderes Leben zu leben, und erst wiederkommen, wenn es ihnen passt. Meine Verzweiflung, mein Flehen, ja sogar meine Liebe zu ihnen sind ihnen vollkommen gleichgültig. Sie sind weg, und ich muss warten, bis sie wiederkommen. Wenn sie da sind, vergehen die Tage wie im Flug. Ich murmele vor mich hin, ich schreibe, so schnell ich kann, weil ich immerzu fürchte, dass meine Hände zu langsam sind für den Fluss meiner Gedanken. Dann habe ich schreckliche Angst, dass irgendetwas meine Konzentration stört, wie bei einem Seiltänzer, der den Fehler begeht, nach unten zu sehen. Wenn sie da sind, kreist mein ganzes Leben um diese Obsession, die Welt dort draußen existiert nicht. Sie ist nur noch eine Kulisse, in der ich mich bewege wie in Trance am Ende eines langen, angenehmen Arbeitstages. Ich lebe hinter der Bühne. Der Rückzug erscheint mir wie eine notwendige Bedingung, damit das Leben eintreten kann. Als ob, indem ich mich vom Lärm der Welt entferne, mich davor schütze, endlich ein anderes Mögliches entsteht. Ein »es war einmal«. In diesen geschlossenen Raum flüchte ich mich, ich entfliehe der menschlichen Komödie, ich tauche unter den dicken Schaum der Dinge. Ich verschließe mich der Welt nicht, im Gegenteil, ich nehme sie intensiver wahr denn je.
Schreiben ist Disziplin. Es ist Verzicht auf Glück, auf die alltäglichen Freuden. Ohne Aussicht auf Heilung oder Trost. Man muss, im Gegenteil, sein Leid kultivieren, wie Laboranten Bakterien in Reagenzgläsern kultivieren. Man muss seine Wunden wieder aufreißen, die Erinnerungen aufwühlen, Schamgefühl und alte Tränen wachrufen. Um zu schreiben, muss man sich den anderen verweigern, ihnen die eigene Gegenwart und Zuneigung verweigern, seine Freunde und Kinder enttäuschen. Ich finde in dieser Disziplin zugleich Befriedigung, sogar Glück, und die Ursache meiner Melancholie. Mein ganzes Leben wird von diversen »ich muss« diktiert. Ich muss schweigen. Ich muss mich konzentrieren. Ich muss sitzen bleiben. Ich muss meine Bedürfnisse unterdrücken. Schreiben heißt, sich Fesseln anlegen, doch aus diesen Fesseln selbst erwächst die Möglichkeit einer ungeheuren, schwindelerregenden Freiheit. Ich erinnere mich an den Moment, als mir dies bewusst wurde. Es war im Dezember 2013, und ich schrieb gerade meinen ersten Roman, All das zu verlieren. Zu der Zeit wohnte ich am Boulevard Rochechouart. Ich hatte einen kleinen Jungen und konnte nur schreiben, wenn er in der Kinderkrippe war. Ich saß am Esstisch vor meinem Computer und dachte: »Jetzt kannst du absolut alles sagen, was du willst. Du wohlerzogenes Kind, das gelernt hat, sich zu benehmen, sich zurückzuhalten, du kannst deine Wahrheit aussprechen. Du brauchst es niemandem recht zu machen. Du musst nicht fürchten, irgendjemandem wehzutun. Schreib alles, was du willst.« In diesem grenzenlosen Freiraum fällt die soziale Maske. Man kann eine andere sein, man ist nicht mehr definiert über ein Geschlecht, eine soziale Schicht, eine Religion oder Nationalität. Beim Schreiben entdeckt man die Freiheit, sich selbst zu erfinden und die Welt zu erfinden.
Sicher, unerfreuliche Tage wie heute gibt es viele und manchmal einen nach dem anderen, was zutiefst entmutigend ist. Doch Schriftsteller sind ein bisschen wie Opiumsüchtige, und wie alle Abhängigen vergessen sie die Nebenwirkungen, den Brechreiz, die Entzugserscheinungen, die Einsamkeit und erinnern sich nur an den Rausch. Sie sind zu allem bereit, um diesen Höhepunkt wieder zu erleben, diesen erhabenen Moment, als die Figuren begonnen haben, durch sie zu sprechen, als das Leben sich regte.
Es ist 17 Uhr und bereits Nacht. Ich habe die kleine Lampe nicht angeschaltet, und mein Schreibtisch liegt im Dunkeln. Ich beginne zu glauben, dass in dieser Finsternis etwas eintreten könnte, ein Elan in letzter Minute, eine blitzartige Eingebung. Es kommt vor, dass die Dunkelheit Träumen und Fantasiegebilden erlaubt, sich wie Lianen zu entrollen. Ich klappe meinen Computer auf, ich lese eine Szene wieder, die ich gestern geschrieben habe. Es geht um einen Nachmittag, den meine Figur im Kino verbringt. Was lief 1953 im Cinéma Empire von Meknès? Ich stürze mich in die Recherche. Im Internet finde ich sehr bewegende Archivfotos, die ich sofort meiner Mutter schicke. Ich beginne zu schreiben. Ich erinnere mich daran, was mir meine Großmutter über die kräftige und rabiate marokkanische Platzanweiserin erzählte, die den Zuschauern die Zigaretten aus dem Mund riss. Ich will gerade ein neues Kapitel anfangen, als mein Handywecker klingelt. Ich habe eine Verabredung in einer halben Stunde. Eine Verabredung, zu der ich nicht Nein sagen konnte. Alina, die Lektorin, die mich erwartet, weil sie mir einen Vorschlag machen möchte, ist eine leidenschaftliche Frau, und sie kann sehr überzeugend sein. Ich überlege, ihr eine feige, verlogene Nachricht zu schicken. Ich könnte meine Kinder als Ausrede benutzen, sagen, ich wäre krank, ich hätte die Bahn verpasst, meine Mutter würde mich brauchen. Doch ich ziehe den Mantel an, stecke den Computer in meine Tasche und verlasse meine Höhle.
In der Métro, die mich zu ihr bringt, mache ich mir Vorwürfe. »Du wirst zu nichts kommen, wenn du dich nicht endlich ganz auf deine Arbeit konzentrierst.« Vor dem Café, wo ich rauchend auf sie warte, schwöre ich mir, Nein zu sagen. Nein zu allem, was sie mir vorschlagen wird, egal, wie interessant das Projekt ist. Zu sagen: »Ich schreibe einen Roman, und ich will nichts anderes tun. Vielleicht später, aber jetzt erst mal nicht.« Ich muss unnachgiebig sein, eine Entschiedenheit vermitteln, gegen die sie machtlos ist.
Wir suchen uns einen Platz auf der Terrasse, trotz der Dezemberkälte. Niemand in Paris scheint es komisch zu finden, dass sich all die Leute mitten im Winter raussetzen, um etwas zu trinken, mit einer Zigarette zwischen den eiskalten Fingern. Ich bestelle ein Glas Wein und denke dabei, dass sich darin meine Schwermut auflösen wird. Lächerliche Schwermut. Wie kann man traurig sein, weil man nicht geschrieben hat? Alina erzählt mir von ihrem Projekt, eine neue Reihe mit dem Titel »Meine Nacht im Museum«. Ich höre ihr kaum zu, so sehr nagen Zweifel und Schuldgefühle an mir. Als mein Glas leer ist, beginne ich zu denken, dass ich vielleicht nie wieder schreiben werde, dass ich keinen Roman mehr beenden werde. Ich fühle mich derart beklommen, dass ich nur mit Mühe schlucken kann. »Würde dir das gefallen«, fragte Alina mich, »eine Nacht im Museum eingeschlossen zu sein?«
Dann schlaf auch du