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DAS BUCH

Wole Soyinka ist der erste afrikanische Schriftsteller, der einen Nobelpreis für Literatur erhielt. Nach 48 Jahren legt er jetzt wieder einen Roman vor.

In Nigeria verkaufen gerissener Geschäftemacher aus einem Krankenhaus gestohlene Körperteile für rituelle Praktiken. Der Chirurg Dr. Menka teilt seine grausige Entdeckung mit seinem ältesten College-Freund, dem Lebemann und Ingenieur Duyole Pitan-Payne. Dieser ist im Begriff, einen prestigeträchtigen Posten als Energieberater bei den Vereinten Nationen in New York anzunehmen, aber es scheint jetzt, dass jemand entschlossen ist, dies zu verhindern. Und weder Dr. Menka noch Duyole wissen, wer ihre Feinde sind.

Mit Phantasie, Wut und schwarzem Humor zeichnet dieser Roman ein ungeschöntes Bild einer postkolonialen Gesellschaft.

DER AUTOR

Wole Soyinka, geboren 1934 in Abeokuta, Nigeria, schrieb zahlreiche Theaterstücke und wurde mit Romanen wie »Aké (1981/deutsch: 1986), »Isara« (1989/1994) und vor allem »Die Ausleger«(1965/1983) bekannt. 1967 wurde er wegen seiner Friedensbemühungen im nigerianischen Bürgerkrieg für zwei Jahre inhaftiert. Nach seiner Freilassung lebte er sowohl in den USA als auch in Nigeria. Er erhielt 1986 als erster afrikanischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. 2008 erschien auf Deutsch seine große Autobiografie »Brich auf in früher Dämmerung«. 2017 zerstörte er als Protest gegen Trumps Regierungsantritt seine Greencard.

WOLE

SOYINKA

DIE GLÜCKLICHSTEN

MENSCHEN

DER WELT

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHEN

VON INGE UFFELMANN

BLESSING

Originaltitel: Chronicles from the Land of the Happiest People on Earth

Originalverlag: Bloomsbury Circus, London, New York

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Copyright © 2021 by Wole Soyinka

und Agentur Liepman AG – Literary Agency, Zürich

Copyright © 2022 der Übersetzung by Karl Blessing Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Leingärtner, Nabburg

Umschlaggestaltung: SERIFA, München

ISBN 978-3-641-28457-2
V001

www.blessing-verlag.de

Das vorliegende Werk ist ein Roman. Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse sind entweder Produkte der Fantasie des Autors oder werden fiktiv gestaltet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Begebenheiten und Örtlichkeiten ist rein zufällig.

In Erinnerung an den Investigativjournalisten Dele Giwa und den einzigartigen Politiker Bola Ige, die beide von nigerianischen Mördern gemeuchelt wurden.

Sowie an Femi Johnson, einen vollendeten Menschen und eine Ausnahmeerscheinung kreativer Lebensfreude.

INHALT

ERSTER TEIL

1  Der Hort des Propheten

2  Das Evangelium nach der Glückseligkeit

3  Die Reise des Pilgers

4  Die Reise des Spötters

5  Villa Potenzia

6  Vater, sind Sie das?

7  Warten auf Goddie

8  Aufruhr im Club

9  Die Image Task Force bei der Arbeit

10  Die Audienz

11  Die Hand Gottes

12  Boriga oder die Flucht

13  Chirurgische Transplantation

14  Badetona

15  Badagry

16  Codex Seraphinianus

17  Eine tödliche Rivalität

18  Eine überlange Wache

ZWEITER TEIL

19  Das diskrete Begräbnis der Bourgeoisie

20  Heimkehr

21  Zikkurat oder Tod

22  Das Gremium der Glückseligkeit

23  Kampf der Titanen

DANKSAGUNG

GLOSSAR

ERSTER TEIL

1

DER HORT DES PROPHETEN

Papa Davina, den man auch als Teribogo kannte, schmiedete gern seine eigenen Spruchweisheiten. Eine seiner berühmtesten lautete: »Perspektive ist alles.«

Die morgendliche Sucherin, erste und einzige Klientin an diesem Tag einer ganz besonderen, allein ihr gewidmeten Zusammenkunft, blickte auf und nickte zustimmend. Mit dem Finger zeigend, sagte Papa Davina: »Geh zu dem Fenster dort; zieh den Vorhang zurück und schau hinaus!«

Da es düster im Audienzraum war, dauerte es eine Weile, bis die Sucherin zwischen den weiten Falten tastend die Trennstelle der Vorhänge fand. Sie ergriff den schweren Stoff mit beiden Händen und wartete. Papa Davina bedeutete ihr, die Bewegung zu vollenden, während er in seinem beruhigenden, fast meditativen Ton fortfuhr: »Wenn du dieses Gelände betrittst, so ist es ganz wichtig, dass du vergisst, wer du bist und was du bist. Denke an dich einzig als die Sucherin. Ich werde dich leiten. Ich gehöre nicht zu den gewöhnlichen Vertretern der prophetischen Berufung. Dahin sind die Tage der großen Propheten. Ich bin lediglich als ein Vorausschauender bei dir. Nur Gott der Allmächtige, Allah der Unergründliche, ist die Gegenwart selbst, die Präsenz. Wer könnte es wagen, in die Präsenz des Einen und Einzigen zu gelangen? Unmöglich! Doch wir können vordringen in seine Vorausschau; ich kann es. Wir sind wenige. Wir sind auserwählt. Wir mühen uns, Seine Pläne zu lesen. Du bist die Sucherin. Ich bin der, der dich leitet. Unsere Gedanken können uns nur zu einem führen – der Offenbarung. Bitte, zieh den Vorhang völlig auf!«

Die Sucherin öffnete auch die andere Vorhanghälfte. Tageslicht flutete in den Raum. Papa Davinas Stimme folgte ihr: »Schau hinaus und sage mir, was du siehst!«

Die Sucherin hatte sich auf der anderen Seite des Hügels über eine gleichförmige Müllhalde hinaufgequält. Auf dieser Seite jedoch sprang ihr sofort ein bunt gewürfeltes Durcheinander in die Augen. Ganz weit unten sah sie vereinzelte rostige Wellblechdächer, Lehmziegelbauten, Simse aus Eisenplatten, hier und da durchsetzt von wenigen sauberen Reihen isoliert stehender, hoch aufragender, ultramoderner Gebäude. Ineinander verschlungene Bänder, auf denen man Motorfahrzeuge aller Art sah, wanden sich durch diese Zone des Kontrasts. Die Stadt kam gerade in ihren morgendlichen Schwung und wurde zu einem pulsierenden menschlichen Bienenstock; Motorradtaxis mit Arbeitern auf den Soziussitzen mäanderten zwischen den Pfützen des nächtlichen Regens und den überlaufenden Abwassergräben. Ganz in der Ferne schimmerte ein Stück der Lagune. Die Sucherin drehte sich um und beschrieb dem Apostel, was sie sah.

»Jetzt wünsche ich, dass du deinen Blick auf die Höhe hebst, auf der wir uns in diesem Raum befinden. Lass deinen Blick von der schwärenden Stadt aufwärts wandern! Zwischen dem Punkt, wo du hier stehst, und der rasenden Szenerie da unten, was siehst du noch?«

Die Sucherin zögerte nicht: »Müll. Berge von Abfall. Genau wie auf der anderen Seite – es war ein Weg voller Hindernisse, über den ich hier hinauf geklettert bin. Nichts als der gestapelte Kehricht der Stadt.«

Davina schien zufrieden. »Ja, ein Dunghaufen. Über ihn bist du hier heraufgekommen. Doch jetzt bist du hier. Und würdest du sagen, dass du auf einem Misthaufen stehst?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht, Papa Davina.«

Wiederum sichtlich zufrieden nickte der Apostel. »Bitte, schließe den Vorhang wieder!«

Als die Sucherin der Bitte nachkam, erwartete sie, dass der Raum erneut die ursprüngliche Düsternis annehmen würde und sie sich vorsichtig tastend bewegen müsste – doch nein. Vielfarbige Pfeile, ähnlich denen, die auf dem Boden von Flugzeugen zum Notausgang weisen, lenkten ihre Füße zu einem anderen Teil des großen Raums. Sie bedurfte keiner erläuternden Rezitation, um ihren Zweck zu begreifen – sie folgte den Lichtern. Diese endeten an einem auserlesen fein geschnitzten Hocker, der sie an die königlichen Thronhocker der Aschanti erinnerte, die sie von Bildern kannte.

»Setz dich auf diesen Hocker! Ich werde dich auf eine Reise mitnehmen, also mach es dir bequem!«

Der Prediger stand vor ihr und sprach: »Viele, und dazu gehören auch unsere Mitbürger, beschreiben diese Nation als einen einzigen gewaltigen Misthaufen. Aber die das tun, wollen uns herabwürdigen. Ich hingegen empfinde Glückseligkeit bei dem Gedanken. Denn wenn die Welt nichts als Mist produziert, muss sich dieser Mist doch irgendwo stapeln. Wenn also unsere Nation wirklich der Misthaufen der Welt ist, dann heißt das doch, dass wir der Menschheit einen Dienst erweisen. Und siehst du, das ist – Perspektive. Soll ich dir ein weiteres Beispiel geben?«

Die Sucherin nickte. »Ich höre aufmerksam zu, Papa Davina.«

»Gut. Schon in dem Augenblick, als ich deine Stimme am Telefon hörte, wusste ich, du bist keine gewöhnliche Sucherin. Deine Stimme sagte mir, da spricht jemand, der begierig ist zu lernen. Ich berate alle möglichen Leute. Sie alle kommen durch dieses Eingangstor dort. Du wärst überrascht, welch unterschiedliche Seelen schon auf diesem Hocker Platz genommen haben, sollte ich dir davon berichten.«

Die Sucherin lächelte schief und winkte mit einer Geste ab. »Papa Davina, ich bin hier, weil ich weiß, dass Sie einen gewaltigen Ruf haben, man kennt Sie nicht nur hier im Land, sondern auf dem ganzen Kontinent.«

»Ja, das mag sein.«

»Und noch darüber hinaus.«

»Oh? Dann erzähl mir, was du gehört hast! Die, die deine Füße hierhergeleitet haben, was sagen sie über Papa Davina?«

»Wo soll man da anfangen?«, seufzte die Frau. »Nehmen wir das jüngste Beispiel. Der Besucher von den Seychellen … Sie haben für ihn gebetet, und die Welt kennt das Ergebnis.«

Davina machte eine selbstabwertende Geste, indem er die geöffneten Hände wie schlaffe Schalen mit den Handflächen nach oben hielt und die Schultern leicht hob, als wollte er die Anerkennung – und die Ehre – jemand anderem zukommen lassen.

»Ich habe etwas für dich vorbereitet, eine – besondere Perspektive.«

Während er sprach, schien sich Papa Davina in der peripheren Düsternis aufzulösen, indessen der Raum selbst sich langsam mit einer Helligkeit erfüllte, die das Tageslicht ersetzte, das sie gerade gesehen hatte. Das aber war bloß der Anfang. Unter dem staunenden Blick der Sucherin verwandelte sich der öde Besuchsraum in ein Märchenland. Es verschlug der Frau den Atem. Ihr Gastgeber, den einen Arm nach oben gereckt, schien sich langsam zu drehen. Offenbar stand er auf einem leicht versenkten Drehteller. In der Hand hielt er ein kleines silbernes Gerät. Er streckte es zur Decke hin – und es ward Licht. Ein weiterer unhörbarer Klick, und das Gurgeln von Wasser unterbrach die Stille. Es entsprang einem Spalt in einem Felsen, der sich magisch aus dem Boden hob, eine Quelle, deren glitzernde Wasser sich in einlullenden Kaskaden ergossen und zu einer Grotte schlängelten, in der sie verschwanden. Wie an fernen Horizonten boten sich schimmernd Hügel und Täler, Ebenen und Hochländer dem Blick dar, während sanft leuchtende Röhren langsam vom Boden zur Zimmerdecke emporwuchsen und den Raum in einen psychedelischen Glanz tauchten. Langsam wurde ein schimmernder Alkoven sichtbar, dann, genau gegenüber, ein weiterer, sodann im Neunziggradwinkel zu diesem ein dritter und zuletzt ein vierter, der die dreidimensionale Installation vervollständigte. Die in regelmäßigen Abständen platzierten Alkoven erschienen wie das Abbild der vier Himmelsrichtungen. Auf dem mit polierten Holzfliesen belegten Fußboden entstanden, nacheinander illuminiert, Karten mit den Sternbildern der Tierkreiszeichen. Aus den Falten der Bänder an den Decksteinen der überwölbenden Bogen der Alkoven quollen nun Rauchschwaden hervor, die es in einer Spirale nach unten zog, sodass sie sich über die Sternkreiszeichen legten. Die Sucherin war von Weihrauchwolken umhüllt.

Sie hörte Papa Davinas Stimme: »Ich sprach von anderen Perspektiven. Siehst du nun, dass du dir, selbst wenn du einen Misthaufen bewohnst, doch sicher sein kannst, dass du auf dessen Spitze lebst? Das ist die andere Perspektive. Das unterscheidet die Berufenen von der allgemeinen Herde. Diese Erkenntnis sitzt im Herzen allen menschlichen Verlangens.«

Die Sucherin seufzte auf. Bis zu diesem Augenblick war es eine lange Reise gewesen, eine Reise voller erstaunlicher Diskrepanzen und Offenbarungen – physischer wie psychischer. Unterwiesen im obligatorischen Protokoll des Prophetenhorts, hatte sie sich diesem gänzlich unterworfen, bis hin zu den Inhalten des pinkfarbenen Umschlags, den sie mitgebracht und feierlich auf dem kleinen Altartisch abgelegt hatte, der neben dem eigentlichen Eingang des Gebäudes stand. Die Sache, um die es ging, duldete nicht die kleinste Abweichung von den Erlösung versprechenden Übergangsriten, deren einige sie unter normalen Umständen als persönliche Herabsetzung und Beeinträchtigung ihres gesellschaftlichen Rangs angesehen hätte. Es hatte sie viel Zeit gekostet, fast ein ganzes Jahr, diese Audienz zu arrangieren. So war dies nicht der Augenblick, die Erlösung aufs Spiel zu setzen. Unterwegs hatte sie die heimlichen bösen Blicke derer gesehen, die auf der Müllkippe nach Brauchbarem stöberten. Sie ließen ihre Augen von ihr zu Papa Davinas Horst hinaufwandern, als wollten sie sagen: Wart’s ab, eines Tages werden auch wir die Erlaubnis erlangen, diese letzten gepflasterten Stufen hinaufzusteigen, um von Dem Vorausschauenden empfangen zu werden. Man hörte so vieles darüber, hörte Geschichten vom magischen Inneren, wo sich die Transformation vollzog, ein Inneres, das im Widerspruch stand zu der Außenwelt aus rissigen Wänden und zerborstenem Zement. Nachrichten sickerten durch und berührten das Leben derer, die sich nach einer Schicksalsänderung sehnten. Manche schworen mit religiöser Inbrunst auf das Fußballtoto, andere auf die jährliche nationale Lotterie, doch am meisten erhofften alle die Berührung durch den Zauberstab – den Segen Papa Davinas. Sie träumten von dem Tag, an dem sie selbst die einundzwanzig glitzernden Stufen hinaufsteigen durften und hineingeleitet wurden in die Gegenwart Des Vorausschauenden. Ob sie tätig waren oder nur träumten, sie alle horteten Bilder des Glanzes des Einsiedlers in sich, jenes Magiers, den man Papa Davina nannte.

Die Sucherin war ihrer Schwester dankbar, dass sie den Papa Davina geschuldeten Obolus immer so pünktlich geleistet hatte. Man erhielt keine Privataudienz bei ihm, wenn man nicht mindestens ein Jahr lang an den öffentlichen Andachten teilgenommen hatte, die er am Fuß des Hügels für jedermann abhielt, der bereit war, seinen Zehnten als Abgabe zu leisten. Ihre Schwester hatte ihr sogar ihre »Erlösungscoupons« abgetreten. Natürlich machte Papa Davina Ausnahmen für Notfälle. Doch um die Auflagen zu umgehen, musste der Sucher – neben anderen Forderungen – erst die Jahresrückstände auf einen Schlag begleichen, und zwar in doppelter Höhe. Zu den Notfällen zählten Unvorhersehbarkeiten wie Gerichtsverfahren, die Mittel erforderlich machten, die sadistische Seele des Richters so milde zu stimmen, dass er einen Freispruch verkündete und vielleicht obendrein den Spieß umdrehte und den Ankläger beschuldigte.

Ihr eigenes Dilemma war weniger drastisch, und wie manche Patienten dies vor dem Arztbesuch zu tun pflegen, hatte auch sie sich bereits um eine Selbstmedikation bemüht. Bei ihr ging es schlicht um schlecht laufende Geschäfte, eine drei Jahre lang anhaltende Pechsträhne, die ihr hohe Verluste eingetragen hatte. Jetzt war noch das tödliche Gift der Abgaben für den Zoll hinzugekommen, auf Waren, die ohnehin kaum vor dem Zugriff der Piraten gerettet werden konnten, die neuerdings die Flussarme im Delta des Ostens unsicher machten. Nicht ausreichend, um die Verhängung der Ölblockade auszugleichen, aber immerhin. Das war der Grund, warum sich die Sucherin an Papa Davina wandte.

Und nun endlich befand sie sich also von Angesicht zu Angesicht vor dem Schicksal, mit einem Wunsch, dessen Erfüllung in den Händen des einsamen Hüters des Prophetenhorts ruhte. Und hier stand er, der Gärtner der Seelen – ein weiterer von Papa Davinas Titeln –, mit ausgetrecktem Arm, in der Hand ein elektronisches Gerät, das, wie der Stab des Mose, aus unfruchtbarem Fels das unschätzbar kostbare, lebenserhaltende Geheimnis sprudeln ließ. Nur war der Stab dieses modernen Moses auf Ölquellen eingestellt. Das Schwarze Gold, das sich unter Äckern, Plantagen und Fischteichen der Ahnen in den Boden schmiegte. Mit der Moderne änderten sich die Perspektiven.

Als wären die Gedanken der Sucherin gelesen worden, erweiterte sich die visuelle Schau jetzt um den akustischen Aspekt, denn es ertönten sonore, schnaufende Klänge aus Orgelpfeifen und verbreiteten den Hall einer erhebenden Komposition. Dies versetzte die Sucherin in nie erträumte Gefilde, in unerreichbar scheinenden Visionen. Papa Davinas Stimme sammelte die Empfindungen im sorgenschweren, frustrierten Geist der Sucherin und erdete sie in diesem außergewöhnlichen Moment.

»Unter deinem Hocker befindet sich eine Schublade – auf der rechten Seite. Öffne sie, du findest eine Mappe und einen Füllhalter darin. Einen altmodischen Füllfederhalter, keinen Kugelschreiber. Entnimm der Mappe ein Blatt!«

Die Sucherin gehorchte. Ihre Hand berührte die Mappe und spürte den Luxus feinsten Pergaments.

»Ich lasse mir das direkt aus Jerusalem kommen«, verriet Papa Davina in beiläufigem Ton. Die Sucherin aber war überzeugt, dies war der nämliche Papyrus, auf dem die Engel das Buch des Lebens schrieben.

»Schreibe darauf, was es ist, wonach du suchst!«, ermunterte Papa Davina die Sucherin.

Als sie die Aufgabe erfüllt hatte und aufblickte, stand Papa Davina neben ihr, in der einen Hand einen kleinen Flakon, der eine klare Flüssigkeit enthielt, in der anderen eine mittelgroße Schale. Die Sucherin wollte ihm das Blatt reichen, doch Davina schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß, was darauf steht. Mir musst du nichts offenbaren. Leg das Pergament in die Schale!«

Als es darin lag, goss Papa Davina die Flüssigkeit über die Schrift, schwenkte die Schale leicht hin und her, und die Gedanken der Sucherin reisten in ihre Kindheit zurück, zu den Tagen, als man noch Fotografien machte. Vom belichteten und entwickelten Film wurde das Bild auf Spezialpapier übertragen. Das Papier wurde in eine chemische Flüssigkeit gelegt, die sich einer anderen Schale befand, und ganz langsam kam ein Bild zustande, nass wie ein frisch geborenes Baby. Doch jetzt war die Perspektive verkehrt, der Prozess begann mit dem Sichtbaren und endete mit dem Unsichtbaren. Die Schrift wackelte, löste sich auf, und das Pergament erhielt seinen ursprünglichen Zustand zurück. Die zuvor klare Flüssigkeit war hingegen von der Tinte geschwärzt.

»Trink!«, befahl Papa Davina.

Die Sucherin zauderte nur kurz und nahm sich rasch zusammen. Zögern hätte einen Mangel an Vertrauen verraten und die Mission gefährdet. Sie lächelte glücklich. Sie war so weit gekommen – also trank sie. Sofort fühlte sie sich leicht benommen und zugleich beschwingt. Papa Davina reichte ihr ein parfümiertes Tüchlein, mit dem sie sich die Lippen abtupfen konnte. Eine schwere Last hob sich von ihren Schultern. Plötzlich stand ihr die Zukunft vor Augen, ein glänzendes Blatt voller unendlicher Möglichkeiten. Ihr war, als hätte sich bereits alles erfüllt. Sie reichte dem Apostel das Mundtuch hin, doch der hob abwehrend die Hand. »Behalte es! Leg es von jetzt an unter dein Kopfkissen! Und lasse während der nächsten zwei Wochen niemanden in dein Zimmer!«

Die Sucherin nickte rasch und freudig erregt.

Eine Stimme brach in ihre Euphorie ein: »Das diesjährige Festival rückt näher. Planst du, daran teilzunehmen?«

Die Frau schien unschlüssig. »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, Papa Davina.«

»Es ist ein Festival der Freude – nimm teil! Ich kann dir garantieren, dass du bei diesem Ereignis Neuigkeiten von Interesse erfährst, Zeichen auf deiner Suche nach Erfüllung.«

»Natürlich, Papa Davina. Sobald Sie es befehlen.«

Davina legte der Sucherin eine Hand auf die Stirn: »Suchet, und ihr werdet finden. Lebe in Frieden. Über dem Torbogen zum kommenden Festival der Freude sehe ich deinen Namen geschrieben stehen, in großen goldenen Buchstaben. Die Glückseligkeit winkt dir am Horizont.«

Die Sucherin fiel auf die Knie und lobte den Herrn, die Augen in Verzückung geschlossen. Da sie mit dem Protokoll der Gemeinde der Ekumenika vertraut war, zog sie ihr Gebet nicht ungebührlich in die Länge. Leuchtende Pfeile – einfarbig diesmal, nicht in Technicolor – wiesen ihr den Weg zum Ausgang.

Kaum hatte die Sucherin das Tor der Ekumenika durchschritten und war auf die Spitze des Oke Konran-Imoran – des Hügels der Erkenntnis und der Aufklärung – hinausgetreten, zog Papa Davina, alias Teribogo, sein Handy aus der Tasche und tippte eine Nummer ein. Am anderen Ende ließ eine Stimme ein lang gezogenes »Jaaa?« hören.

»Sie ist gerade gegangen. Sie können es hier abholen lassen, Sir Goddie«, sagte Papa Davina.