Das neue Buch der Bestsellerautorin von exit RACISM – wie wir WIRKLICH rassismuskritisch leben können!
Wir alle sind rassistisch sozialisiert. Rassismus findet sich in jedem Bereich unseres Lebens, unserer Gesellschaft. Allerdings haben wir nicht gelernt, ihn zu erkennen, geschweige denn darüber zu sprechen. Rassismuskritik ist kein Trend und keine Phase. Rassismuskritisch denken und leben ist die Möglichkeit, Gesellschaft aktiv mit- und umzugestalten und eine gerechtere Welt für uns alle zu schaffen. Denn die echte Auseinandersetzung mit Rassismus eröffnet einen neuen Blick auf uns selbst und unsere Mitmenschen. Sie ermöglicht neue Perspektiven und Begegnungen. Sei dabei! Entscheide dich jeden Tag bewusst dafür, das System Rassismus Stück für Stück mit zu dekonstruieren. Tupoka Ogette ist DIE deutsche Vermittlerin für Rassismuskritik. Ihr Buch gibt dir – konkret und alltagsnah – Anregungen, wie du rassismuskritisch leben lernst. Im Freundeskreis, in der Familie, als Lehrer*in in der Schule, in der Freizeitgestaltung und im Beruf.
Tupoka Ogette wurde 1980 in Leipzig als Tochter eines tansanischen Studenten der Landwirtschaft und einer deutschen Mathematikstudentin geboren. Kurz vor der Wende wanderte ihre Mutter mit ihr nach Westberlin aus, wo Ogette bis zu ihrem Abitur lebte. Sie hat einen Magister in Afrikanistik und Deutsch als Fremdsprache von der Universität Leipzig und einen Master in International Business von der Grenoble Graduate School of Business. Seit 2012 ist Tupoka Ogette bundesweit als Beraterin und Trainerin im Bereich Rassismuskritik tätig. In dieser Funktion leitet sie in Deutschland, Österreich und der Schweiz Workshops und Fortbildungen, tritt als Speakerin auf, berät Teams und Organisationen. Ihr im März 2017 erschienenes Handbuch exit RACISM. Rassismuskritisch denken lernen ist ein SPIEGEL-Bestseller. Im Jahr 2019 wurde Ogette vom Magazin Edition F als eine der 25 einflussreichsten Frauen des Jahres ausgezeichnet. SPIEGEL Online nahm sie als eine von zehn Frauen in den Bildungskanon zum Thema Theorie und Politik auf. 2021 wurde sie von About You zum »Idol of the Year« gewählt. Sie lebt mit ihrem Mann, dem Künstler und Bildhauer Stephen Lawson, und ihren Kindern in Berlin.
exit RACISM in der Presse
»Das Buch exit RACISM von Tupoka Ogette bietet wichtige Möglichkeiten der Selbstreflexion und begleitet Leserinnen und Leser empathisch auf ihrer rassismuskritischen Reise.« bento
»Der Standard-Leitfaden für alle, die gängige Denk- und Sprachmuster hinterfragen wollen.« Brigitte
»Dieses Buch sollte Schullektüre sein!« Frizz
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TUPOKA OGETTE
UND
JETZT
DU.
Rassismuskritisch leben
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Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München
Umschlagfoto: China Hopson
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-28470-1
V002
www.penguin-verlag.de
»Anti-Racism is simply the muscle that says
that humans are human. That’s it. It’s the one that says:
I love you, because you are you. Period.«
Jason Reynolds
Danke
Dieses Buch und meine Arbeit reihen sich in die großen Fußstapfen von Schwarzen Widerstandskämpfer*innen ein, die vor mir kamen und an deren Seite ich in diesem Moment kämpfen darf. Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht. I am because you were and are. I am grateful and humbled by your legacy.
A. und K. – danke für die ehrenvollste Aufgabe meines Lebens. Stephen – thank you for loving me through it all and helping me heal. Danke dafür, dass du das Kleine im Detail nicht vergisst, wenn ich das große Ganze sehe – und umgekehrt. Mama, danke, dass wir immer verbunden sind und du nur einen Anruf weit entfernt bist. Bis heute. Herbert – danke für die väterliche Liebe. Dad, thank you for always loving me deeply and rooting for me from afar. Alice, Amina und Aminata. Wie kann ich Worte für diese schwesterliche Liebe finden? Thank you for holding my truth. Auf dass wir nie bitter werden! Mariam und Jocelina, danke für euer Vertrauen und all euren täglichen Support. Sharon, thank you for the reminder that we are meant to write when I needed it the most. Amar, thank you for your love, fam. Franziska – danke für den Push zum zweiten Anlauf. Und danke, Lizza, für die große Geduld und tolle Begleitung.
Inhalt
Prolog
Rassismuskritische Memory Lane
I. Lass uns anfangen
Warum dieses Buch?
Bye Bye Happyland
Übers Sprechen sprechen
Was Rassismus ist – und was nicht
Privilegien und so
Mythen um Rassismus debunked
Als BIPoC in Deutschland leben – Ein Perspektivwechsel
Wer oder was ist ein Ally?
II. Das ganze Ausmaß weißer Zerbrechlichkeit
Entdecke deine weiße Zerbrechlichkeit
Wir und die Anderen
Woher kommst du? – Nein, wohin gehst du?
White-Fragility-Phänomene erklärt
An der Kreuzung: Intersektionalität
III. Und jetzt konkret: Privat rassismuskritisch leben
Zwölf Dinge, die du sofort umsetzen kannst
Eine Gesprächskultur entwickeln
Rassismuskritik nach Hause bringen
Wie sag ich’s meinem Kind?
Der Rassismus und die Liebe
Rassismus im Alltag ansprechen
IV. Und jetzt konkret: Rassismuskritisch leben im institutionellen Kontext
Die Diversity-Falle
In der Kita
In der Schule
Im Gesundheitssystem
[TW] In der Werbung
In Satire und Comedy
In der Musikbranche
In Film, Fernsehen und Literatur
Am Theater
Fragen für dich
Schlusswort
Quellen
Anmerkungen
Prolog
Es ist ein Herbsttag 2012. Der Pippi-Langstrumpf-Spielplatz liegt vor mir. Meine Augen suchen ihn nach einem bekannten Gesicht ab. (Der Name des Spielplatzes irritiert mich jedes Mal ein weniga), aber er ist schön groß, und es gibt tolle Klettergeräte für meinen Jüngsten). Ich bin zweiunddreißig Jahre alt und noch nicht lange wieder in Deutschland, nach sechs Jahren Studium und Arbeit in Südfrankreich. Mit meinem knapp dreijährigen Sohn nutze ich die Gelegenheit, noch etwas Zeit an der frischen Luft zu verbringen, bevor wir wieder nach Hause müssen, wo mein großer Sohn auf uns wartet. Ich sehe keine anderen Eltern, die mir bekannt vorkommen und mit denen ich ein bisschen quatschen könnte, während mein Dreijähriger in für mich schwindelerregender Höhe am Klettergerüst hängt. Beflissen packe ich die Bio-Apfelschnitze aus, die ich noch hektisch geschnippelt habe, um die kritischen Blicke der anderen oft so ernährungsbewussten Eltern zu vermeiden, denn eigentlich steht mein Kind total auf Schokoriegel. Ich auch. Aber das nur am Rande.
Auf einmal sitzt mein Sohn neben mir. Sein Gesichtsausdruck ist ernst. Zu ernst für dieses quirlige Kind.
»Was ist los?«, frage ich.
Er zeigt auf zwei ins Spiel vertiefte weiße Kinder, circa zwanzig Meter von uns entfernt. »Sie sagen, meine Haare sind nicht normal. Und meine Haut ist hässlich. Und braune Kinder riechen schlecht.«
Seine Lippe zittert, während er das sagt. Er schaut mich wütend an, und ich sehe, wie seine Augen sich mit Tränen füllen. Ich nehme ihn fest in die Arme. Mehr schaffe ich in diesem Moment nicht. Meine Gedanken rasen. Das Klettergerüst, die Apfelschnitze, die ernährungsbewussten Eltern – alles verschwimmt. Plötzlich bin ich wieder fünf Jahre alt. Ich spüre ein nur allzu bekanntes Gefühl der inneren Lähmung. Ich will mein Kind nehmen und zu denen gehen, die das zu ihm gesagt haben. Will die Eltern, die danebensitzen, zur Verantwortung ziehen. Ihnen sagen, nein, über den Spielplatz schreien, dass es doch nicht sein kann, dass mein Kind das Gleiche erleben muss wie ich – siebenundzwanzig Jahre später!
Ich ziehe meinen Jungen noch fester an mich. Eine Minute brauche ich, bis ich mich wieder gefasst habe. Ich bin nicht mehr fünf Jahre alt. Ich bin eine erwachsene Frau, die längst Worte hat für das, was da passiert. Die nicht ausgeliefert ist und ohnmächtig, sondern die längst verstanden hat, dass das Problem der gesellschaftliche Rassismus ist und nicht die Haut eines kleinen Schwarzen Kindes. Und ich bin Mutter. Was bedeutet, dass es eine meiner wichtigsten Aufgaben ist, meine Schwarzen Kinder in diesen Situationen zu begleiten, sie vorzubereiten und sie aufzufangen.
Ich atme tief durch, knie mich hin, um meinem Sohn in die Augen blicken zu können. Ich fasse ihn an beiden Schultern und sage ihm: »Es tut mir leid, dass das passiert ist. Ich verstehe so sehr, dass dich das traurig und wütend macht. Denn das, was die Kinder da gesagt haben, ist nicht nur gemein, sondern auch falsch. Und es ist rassistisch. Und Rassismus, weißt du, ist immer falsch. Erinnerst du dich an den Spruch, den wir jeden Morgen gemeinsam sagen, bevor wir aus dem Haus gehen?«
Mein Sohn kaut nachdenklich auf seiner Lippe herum. Eine einzelne Träne hängt noch in seinen Wimpern. Er fragt flüsternd, fast unhörbar: »Ich bin richtig, ich bin wichtig?«
»Genau«, sage ich. »Und meinst du, du kannst das auch noch mal etwas lauter sagen?«
Er räuspert sich und sagt diesmal deutlich bestimmter: »Ich – bin – richtig, ich – bin – wichtig.«
Ich gebe ihm einen Kuss und frage: »Und meinst du, wir schaffen es so laut, dass der ganze Spielplatz wackelt?«
Er grinst jetzt von einem Ohr zum anderen, stellt sich breitbeinig hin, stemmt die kleinen Fäuste in seine Hüften. Wir zählen bis drei, und er brüllt los: »ICH BIN RICHTIG, ICH BIN WICHTIG!«
Alle Kinder um uns herum halten in ihrem Spiel inne. Wir beide fallen uns lachend in die Arme. »So«, sage ich. »Und jetzt gehen wir mal hin und sagen ihnen, dass das nicht okay war, was meinst du?«
»Ja, Mama, das machen wir!«
Ich bin erleichtert, dass es meinem Kind erst einmal besser geht. Aber gleichzeitig ist mein Herz unfassbar schwer. Denn ich weiß, dies ist nicht das Ende eines kitschigen Romans, sondern der Anfang eines Lebens, in dem er noch viele solcher Situationen erleben wird. Ebenso wie sein älterer Bruder, wie Generationen von Schwarzen Menschen und People of Color (PoC) vor ihm. Er wächst als Schwarzes Kind in einer rassistisch geprägten Gesellschaft auf. Er wird Strategien entwickeln müssen, mit diesem Rassismus umzugehen. Und ich werde ihn nur bedingt und eigentlich gar nicht davor schützen können. In mir nagt die Wut. Und dies nicht erst seit diesem Tag, sondern seit Jahren. Auf Rassismus. Und auf das, was Rassismus mit dieser Welt und den Menschen auf dieser Welt gemacht hat.
Zum gefühlt hundertsten Mal in den letzten Wochen kommen mir die Worte der Schwarzen Schriftstellerin und Autorin Maya Angelou in den Sinn: »Du sollst wütend sein. Du darfst nicht verbittert sein. Bitterkeit ist wie Krebs. Sie frisst den Wirt auf. Sie tut dem Objekt ihres Missfallens nichts. Also nutze diese Wut. Schreib sie auf. Male sie. Tanze sie. Marschiere sie. Wähle sie. Tu alles. Sprich sie. Hör niemals auf, sie zu sprechen.«
Ich stehe auf, straffe mich und nehme Kurs auf die Eltern. Das Gespräch wird nicht leicht, das weiß ich aus Erfahrung. Während ich durch den Sand stapfe, fasse ich einen Entschluss: Ich werde meine Wut nicht mehr in mich hineinfressen. Ich werde sprechen. Zuallererst mit anderen Eltern von Schwarzen Kindern. Vielleicht ein kleiner Workshop zum Austausch und um gemeinsam Strategien zu entwickeln. Das muss doch gehen. Und dann … mal sehen.
Ich schüttle mich noch einmal leicht, spüre die kleine warme Kinderhand in meiner, hebe den Kopf, atme tief ein und sage: »Guten Tag, Ihr Kind war gerade in eine Situation verwickelt, über die möchte ich kurz mit Ihnen sprechen.«
a) Das Buch Pippi Langstrumpf bedient sich einer kolonialrassistischen Perspektive und reproduziert viele Rassismen.
Rassismuskritische Memory Lane
Es ist der 19. Oktober 2020. In den letzten acht Jahren durfte ich Tausende Menschen in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Südtirol und Luxemburg auf ihrer rassismuskritischen Reise begleiten. Ich habe Hunderte Workshops geleitet, in Panels diskutiert, Reden gehalten, Individuen und Institutionen beraten. 2017 habe ich das Buch exit RACISM. Rassismuskritisch denken lernen geschrieben. Meine Hoffnung, einige Menschen zu einer rassismuskritischen Auseinandersetzung zu motivieren, wurden deutlich übertroffen. Das Buch wurde ein Bestseller, und Hunderttausende Menschen hörten den Text in der Hörbuchfassung. Seit 2016 berate ich gemeinsam mit meinem Mann Stephen Lawson große Medienunternehmen, Werbeagenturen, Sportvereine, staatliche Fernsehsender, Energiekonzerne, Anwaltskanzleien, Staatstheater und Entwicklungsorganisationen zum Thema Rassismus. Ich mache viel Pressearbeit und beschäftige seit Anfang 2020 ein Team aus vier Mitarbeiterinnen. Stephen und ich haben einen monatlichen Podcast namens tupodcast – Gespräche unter Schwestern, und wir haben ein Atelier, in dem immer wieder empowernde, also stärkende, Projekte stattfinden. Wir haben die TUPOKADEMIE, eine rassismuskritische Online Academy (www.tupokademie.de), gelauncht, und wir sind dabei, Menschen in rassismuskritischer Bildungsarbeit auszubilden, damit wir die Flut der Anfragen weiterhin bewältigen können. Auch meine Kolleg*innen können sich – spätestens seit Sommer 2020 – nicht vor Anfragen retten.
Ich bin dankbar für den Erfolg, dafür, dass immer mehr weiße Menschen rassismuskritische Angebote wahrnehmen und sich auf diese – nicht immer einfache – Auseinandersetzung einlassen. Don’t get me wrong. Ich feiere das. Aber diese Bereitschaft kommt nicht von ungefähr. Und sie liegt auch nicht (nur) daran, dass ich gut bin in dem, was ich tue. Sie steht immer auch im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ereignissen und Bewegungen.
Daher nehme ich dich jetzt ein Stück mit »down Memory Lane«: Noch vor Kurzem befanden wir uns sowohl in vielen privaten, aber auch in öffentlichen Debatten um Rassismus in einer quälenden Endlosschleife des Filmklassikers Und täglich grüßt das Murmeltier. Immer wieder stürzte man sich mit einer gänzlich unzulänglichen Definition von Rassismus, die zudem gepaart war mit einem, wie ich ihn nenne, Betroffenenvoyeurismus, in heftige Diskussionen. Wir diskutierten Rassismus fatalerweise sowohl im privaten als auch im öffentlichen Diskurs unter drei Prämissen: Individuum, Moral und Vorsatz. Diese Vorstellung von Rassismus bezieht sich 1. auf ein bestimmtes Individuum, welches 2. mit moralisch verwerflicher Absicht 3. bewusst rassistisch spricht oder handelt. In dieser Logik konnten also nur moralisch bösartige Individuen situativ rassistisch agieren. Dies war und ist einerseits schlicht falsch. Andererseits verhinderte es erfolgreich immer wieder den so notwendigen Dialog. Übrigens, keine Sorge: Warum das falsch war und wie sich Rassismus definiert, erkläre ich dir gleich, wenn wir richtig loslegen.
Diskussionen hängten sich demnach immer wieder daran auf, ob etwas überhaupt als rassistisch bezeichnet werden darf, weil das absolute individuelle Selbstbild von dem Urteil rassistisch/nicht rassistisch abhing. Rassistisch = schlecht. Nicht rassistisch = gut.
Dann gab es einen rassistischen Übergriff, wie zum Beispiel 2018 die Hetzjagden rechtsextremer Demonstrant*innen auf Schwarze Menschen und PoC in Halle. Menschen, die von Rassismus betroffen sind, begannen – wie schon viele Male zuvor –, in der Öffentlichkeit von ihren Erlebnissen zu sprechen. Direkt im Anschluss gab es in Kommentarspalten und Artikeln, aber auch in Talkshows und Radiosendungen einen Aufschrei aus der gesellschaftlichen Mitte. Nicht etwa ein allgemeines Entsetzen darüber, dass so viele unserer Mitbürger*innen täglich Alltagsrassismus ausgesetzt sind, sondern Diskussionen darüber, ob diese Erfahrungen denn überhaupt valide seien. Ob Rassismus überhaupt benannt werden darf. Ob diese Menschen nicht vielleicht doch zu emotional und übersensibel seien. Ob sie überhaupt ein Recht darauf haben, ihre Erfahrungen zu benennen.
Und dann begann eine nicht enden wollende Diskussion, in der die einen immer wieder fragten: »Ach, ihr erlebt wirklich Rassismus? Seid ihr sicher, dass es Rassismus war?« Und wenn die Gefragten dies dann bestätigten, hieß es: »Das ist aber übertrieben. Das müsst ihr erst einmal beweisen. Wir sind doch keine Rassisten!« Dann dauerte es nicht lange, und es hüllte sich wieder ein medialer Mantel des Schweigens über das Thema. Die einen schwiegen, weil sie ein weiteres Mal nicht gehört worden waren, obwohl sie sich durch das Teilen ihrer persönlichen und schmerzhaften Erfahrungen verletzlich gemacht hatten, die anderen schwiegen, weil sie sich nicht länger sagen lassen wollten, dass sie »Rassist*innen seien«. Und auch (Sarkasmus an), weil sie oft diejenigen sind, die in den Schaltzentralen sitzen und Diskurse an- und abschalten können, wie es ihnen beliebt (Sarkasmus wieder aus). Kurz: Es war frustrierend. Und das Schlimmste war: Es brachte uns weder individuell noch als Gesellschaft auch nur einen Schritt weiter.
Das Schlimmste? Nicht zu voreilig, Tupoka. Denn dann passierte
Doch weder hatten People of Color und Schwarze Menschen Zeit zu trauern und dieses Trauma auch nur ansatzweise zu verarbeiten, noch bekam es gesamtgesellschaftlich die angemessene Aufmerksamkeit.
Denn im März 2020 geriet die gesamte Welt in einen vorher nie gesehenen Ausnahmezustand: Die COVID-19-Pandemie versetzte uns in den Lockdown und legte die Weltwirtschaft und das öffentliche Leben fast vollständig lahm. Und dann, mitten in diesem Ausnahmezustand, ging am 25. Mai 2020 ein Video weltweit viral, in dem die Festnahme und die anschließende grausame Ermordung eines Schwarzen Mannes namens George Floyd durch einen Polizisten von Passant*innen dokumentiert wurde. 8 Minuten und 46 Sekunden kniete der weiße Polizist Derek Chauvin auf dem am Boden liegenden gefesselten George Floyd. Das Video zeigt George Floyds Betteln und Bitten, sein immer schwächer werdendes Flehen, bis er schließlich verstummt und stirbt.
In meiner Verzweiflung schreibe ich folgenden Instagram-Post:
»TWb): Rassistisches Trauma, Gewalt: Ich habe gestern schlecht geschlafen. In einem Halb-Traum-halb-Wachsein-Delirium sah ich vor meinem inneren Auge immer wieder Ausschnitte aus dem Video, in dem George Floyd brutal ermordet wird. Der weiße Polizist, der in wissender Überlegenheit auf sadistische Art und Weise genüsslich sein Knie auf den Hals des wimmernden, sterbenden Mannes drückt. Die hilflose Menge drum herum, die nichts anderes tun kann, als den demütigenden, grausamen Tod des Mannes zu filmen. Ich möchte weinen und schreien. Aber etwas verschließt mir den Mund, schnürt mir die Kehle zu. Vor das Gesicht von George Floyd schieben sich die Gesichter meiner geliebten Brüder, meines Mannes, meiner Söhne. Immer wieder meine Söhne.
Meine Augen füllen sich mit Tränen, ich will zu ihnen laufen, sie halten. Ihnen zurufen, bloß ruhig zu bleiben. Dann wird alles gut … Wird es das?
Ich sehe meine Schwestern, meine Geschwister, rufend, bettelnd, wütend, seit Jahrhunderten kämpfend, immer kämpfend. Ihre verzweifelten Gesichter. Lasst uns atmen. Let us breathe. Ich bekomme immer noch keine Luft. Eine unsichtbare Hand drückt meine Kehle zu. Ich will ihnen zurufen: Seht ihr nicht, dass wir Menschen sind, dass wir um unsere Kinder trauern, so wie ihr? Dass wir lachen wollen, leben wollen? Sein wollen? Seht ihr nicht, was dieses System – white supremacy – mit euch gemacht hat? Was sagt es über euch, wenn ihr uns anschaut und keine Menschen seht?
Mein Magen dreht sich, mir wird schwindelig, die Knie sinken ein. Ich will atmen. Let me breathe, denke ich. Doch die Hand drückt weiter zu.
Ich schrecke hoch, schweißgebadet, fasse mir an den Hals, nehme mehrere tiefe Atemzüge. Was für ein Albtraum, denkst du? Unser Leben, sage ich. #blacklivesmatter #georgefloyd #saytheirnames.«
Weltweit saßen der Schmerz und die Wut tief. Es entbrannten zahlreiche Proteste, sowohl online als auch offline. Im Namen der Black-Lives-Matter-Bewegung, die sich in den USA bereits 2013, nach dem Mord an dem siebzehnjährigen Trayvon Martin formiert hatte1, gingen Tausende auf die Straße. Aber dabei blieb es nicht. In mehr als sechzig Ländern2 protestierten Menschen jetzt gegen Polizeigewalt an Schwarzen Mitbürger*innen.
Diesem weltweiten Aufschrei folgten konkrete Forderungen von Schwarzen Organisationen und Aktivist*innen. So forderte die Black Music Coalition die sofortige Auseinandersetzung mit Rassismus innerhalb der eigenen Reihen der Musikindustrie.
Auf ZEIT ONLINE stellten Daniel Gyamerah und Saraya Gomis von dem Community-basierten Bildungs- und Empowerment-Projekt »Each One Teach One e.V.« einen Forderungskatalog für eine Antirassistische Agenda auf. Die Politikerin und Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtags Aminata Touré forderte gemeinsam mit dem Parteivorsitzenden Robert Habeck, dass der Begriff Rasse im Grundgesetz ersetzt werden solle durch einen zeitgemäßeren und vor allem rassismuskritischeren Begriff.
Alle Menschen, die zum Thema Rassismus arbeiteten oder eben auch lediglich Betroffene von Rassismus waren, wurden mit Presseanfragen überhäuft. Gibt es Rassismus wirklich? Haben wir in Deutschland ein Rassismusproblem? Was erleben Sie denn?
Als mich die vielen Hunderte Anfragen dieser Art erreichen, platzt mir der Kragen. Auf Instagram verfasse ich folgenden Text:
»Ich erhalte dieser Tage Hunderte Presseanfragen. So wie alle meine Kolleg*innen. Die meisten beginnen mit: ›Gibt es Rassismus in Deutschland, und was sind Ihre Rassismuserfahrungen?‹ No. I. AM.DONE. Wir hängen in Deutschland immer wieder in der gleichen elenden Endlosschleife. Ich wurde mit exakt diesen Fragen angerufen nach Hanau, nach Chemnitz. Jedes verdammte Mal kommen die gleichen Fragen. Guess what: Es ist rassistisch zu fragen, ob es in Deutschland noch Rassismus gibt. Es ist ein Schlag ins Gesicht jeder einzelnen BIPoC-Person, die in diesem Land mit Rassismus zu kämpfen hat. Es ist ein Hohn für alle Eltern, die ihre Schwarzen Kinder oder Kids of Color abends ins Bett bringen, wohl wissend, dass sie sie nicht vor Rassismus schützen können. Es ist ein Spucken auf die Gräber von A. Adriano, O. Jalloh, W. Mbobda oder die mehr als 183 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990.
Es ist Ignoranz gegenüber Organisationen und Einzelpersonen, die seit Jahren rassismuskritische Arbeit in Deutschland leisten.
Und die voyeuristische Erwartung, dass wir wieder und wieder unsere schmerzhaften Erfahrungen erzählen, in einer Art ›racism-porn‹. Dass wir in die Bringschuld sollen, beweisen sollen, uns entblößen und unsere Narben preisgeben. Nur damit wir in arenaähnlichen Talkshows dann darüber fachsimpeln können, ob unsere Erfahrungen legitim seien? Nur um dann nach kurzer Zeit achselzuckend wieder in ein kollektives Vergessen zu fallen und bei dem nächsten rassistischen Mord dieselben Fragen zu stellen.
Ich könnte verzweifeln. Wären da nicht die wenigen, aber immer häufiger werdenden Anfragen von Journalist*innen, die neue, progressivere Fragen stellen. Zum Beispiel, was wir tun können, um als Gesellschaft rassismuskritischer zu werden. Wie wir mit Kindern über Rassismus sprechen können oder wie wir als Gesellschaft eine Gesprächskultur entwickeln können, die uns aus dieser Endlosschleife herausbringt. Und wären da nicht die vielen, vielen Menschen, die sich als Individuen auf die so wichtige rassismuskritische Reise begeben. Ihr gebt mir Hoffnung. An Euch denke ich. Euch danke ich.«
Der Beitrag erhielt mehr als 30 000 Likes, er wurde über 3000-mal geteilt, und darunter gab es über 500 Kommentare. Er schien einen Nerv getroffen zu haben. Und tatsächlich veränderten sich die Anfragen danach. Sie wurden zaghafter, vorsichtiger, bewusster. Nach den Presseanfragen kamen die Buchungsanfragen. Große Konzerne aus den Medien, der Werbung, dem Energiesektor, der Telekommunikation, alle wollten »etwas gegen Rassismus im eigenen Unternehmen tun«. Auf einmal hatte ich CEOs am Telefon, die mir versicherten, dass Rassismus bei ihnen überhaupt kein Thema sei, dass sie selbst schon immer antirassistisch gewesen seien. Einer erzählte mir, dass er bereits zwei Schwarze Freundinnen gehabt habe, um mich davon zu überzeugen, dass er keinen Rassismus kenne. Aber es sei eben so wichtig, gesellschaftlich gesehen, jetzt da was zu tun. So hielt ich im zweiten Halbjahr 2020 viele Stunden Online-Keynotes.
»Lovelies. The things I am thinking when I’m smiling at you:
Ich bin heute etwas frustriert. Wir haben in den letzten vier Wochen mehrere Keynotes für sehr große Unternehmen gehalten. Im Bereich Musikindustrie, im Bereich Telekommunikation, im Bereich Energie- und Stromversorgung etc. In den Keynotes saßen bis zu 1000 Menschen. Am Ende jeder Keynote gibt es eine Fragerunde. Fragen, die ich erwarte bzw. erhoffe, sind: Was können wir konkret tun, um rassismuskritischer zu werden? Wie können wir Barrieren abbauen, sodass mehr BIPoC in Führungspositionen kommen? Welche Mechanismen können wir etablieren, um alle Mitarbeitenden zu sensibilisieren? Wie entwickeln wir einen rassismuskritischen Code of Conduct?
Realität ist: Die Frage, die uns mit Abstand am meisten gestellt wird, ist: Warum ist die Frage ›Woher kommst du?‹ problematisch, und wie kann ich sie stellen, ohne einen Rassismusvorwurf dafür zu bekommen?
Wie kann das die wichtigste und erste Frage sein? Wie Menschen kategorisiert werden können? Wie sie so bequem weiterhin kategorisiert werden können, dass es dafür keine Kritik gibt?
Ich wünsche mir, dass sich mehr tut. Dass Menschen sich intensiver und nachhaltiger mit diesem Thema auseinandersetzen. Es ist nicht nur die Verantwortung, sondern auch eine Chance, innerhalb eines Unternehmens rassismuskritische Wege zu gehen. People, we can do better than that!«
Die Frage, die mir in der Folge am häufigsten gestellt wurde, war: »Wird es jetzt besser? Hält diese Welle an Vorwärtsbewegung an?« Well, let me tell you: Das ist eine Frage, die du mir beantworten musst und kannst. Ja, genau, du. Denn Aktivist*innen und Menschen im rassismuskritischen Bildungsbereich werden weiterhin gegen das rassistische System kämpfen müssen. Mit medialem Rampenlicht oder ohne. Ob das Thema weiterhin in Familien und Institutionen diskutiert wird, hängt vor allem von den weißen Menschen in diesen Familien und Institutionen ab.
Also zum Beispiel von dir. Denn Rassismuskritik ist kein Trend und keine Phase. Es ist ein Kampf um Gerechtigkeit und Freiheit, der seit vielen Jahrhunderten gekämpft wird. Ein Kampf gegen weiße Vorherrschaft und die Unterdrückung von Schwarzen Menschen, indigenen Menschen und People of Color.
Dieser Kampf ist nicht nur so alt wie das rassistische System selbst, er ist auch genauso vielfältig wie die Individuen und Bewegungen, die ihn kämpfen. Und Kämpfe verändern sich. Sie passen sich an das Gesicht der Unterdrückung an. So waren es zur Zeit der Maafa – dem transatlantischen Sklavenhandel – die Underground Railroad, die Abolitionist*innen die für das Ende der Sklaverei kämpften. Zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung ging es um das Recht zu wählen, die Aufhebung der »Rassentrennung«.
Rückblickend wirken diese Unterdrückungen offensichtlich und klar. Die meisten Menschen, die ich kenne und kennenlerne, würden sagen: »Ja, natürlich sollten alle Schwarzen Menschen wählen dürfen.« Natürlich ist der Gedanke einer Trennung in Bussen und Restaurants absurd. Geschweige denn die Versklavung von Menschen. Interessant ist aber, dass die Menschen, die von der Unterdrückung profitierten und nicht negativ davon betroffen waren, schon damals die Aufregung um die Forderung nach Gerechtigkeit nicht verstanden. Zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte waren Bemühungen und Kämpfe um Freiheit und Gerechtigkeit begleitet von Backlash, Kritik und Gegenwehr.
Die Gesichter des Rassismus heute in Deutschland sind die Gesichter der NSU-Morde, des Terrors in Hanau, in Chemnitz und Halle. Es sind die über 200 Todesopfer rechter Gewalt seit 19903. Es sind die über 22 000 Delikte mit rechtsextremem Hintergrund allein im Jahr 20194. Aber dies ist nur die Spitze des grausamen Eisbergs. Darunter liegen viele Schichten und eine über Generationen weitergegebene rassistische Struktur. So tief verankert, dass sie in jedem Bereich wirkt. Sie wirkt über institutionelle Ausschlüsse, über die Verteilung von Ressourcen, über verwehrten Zugang, über Auslassung, über Unterrepräsentanz.
Natürlich ist heute vieles besser. Natürlich sind wir auf dem Weg schon weit gekommen. Wir haben die Möglichkeit, über Rassismus in der Sprache zu sprechen, wenn Schwarze Menschen zwei Generationen vor mir noch Angst davor hatten, im KZ umzukommen. Natürlich ist das ein Fortschritt. Und ich bin dankbar für all die, die Kämpfe bereits vor mir ausgetragen haben, sodass ich sie heute nicht mehr kämpfen muss. Dennoch erleben in dieser Minute Hunderttausende BIPoC in Deutschland Alltagsrassismus. Sie bekommen den Job oder die Wohnung nicht. Ihre Kinder erhalten schlechtere Noten. Täglich sind sie schmerzhaften Mikro-, oder Makroaggressionen ausgesetzt. Sie werden übersehen, nicht mitgedacht, ausgegrenzt. Sowohl individuell als auch strukturell. Wir sind weit entfernt von einer rassismusfreien Gesellschaft.
Und deshalb bin ich froh, dass du in diesen Minuten dieses Buch in den Händen hältst! Denn gemeinsam können wir im Kleinen und im Großen dafür sorgen, dass unser Alltag und dadurch auch unsere Gesellschaft jeden Tag ein wenig gerechter wird.
b) TW =Triggerwarnung. Der Hinweis, dass in dem folgenden Text ein Begriff oder ein Thema aufgegriffen wird, das für bestimmte Menschen triggernd – also schmerzhaft bis retraumatisierend – sein kann.
I.
Lass uns anfangen
Warum dieses Buch?
exit RACISM habe ich geschrieben, um Menschen zu motivieren, sich auf eine rassismuskritische Reise zu begeben. Es ist eine Einladung zu einem Gespräch über Rassismus in unserer Gesellschaft. Rassismuskritisch denken zu lernen bedeutet, einen ersten Perspektivwechsel vorzunehmen, um Rassismus als Konstrukt zu verstehen. Mehr noch, um zu verstehen, was dieses Konstrukt mit dir als weißem Menschen zu tun hat. Auch dann, wenn du dich selbst für nicht rassistisch hältst und Rassismus ablehnst. Du solltest verstehen, dass diese Ablehnung nicht reicht. Die Erkenntnis, dass es um ein aktives Entlernen von rassistischen Denkmustern geht, und ein bewusstes Aufmachen auf die eigene rassismuskritische Reise sind die ersten Schritte hin zu einer Gesellschaft, in der Rassismus an Macht verliert.
Denn auch wenn ich dir zu Anfang dieses Spaziergangs down Memory Lane mit einem hoffnungsvollen Präteritum begegnet bin, ist es natürlich so, dass der Diskurs um Rassismus immer wieder Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen unterliegt. Ja, es gab 2020 einen großen Schritt nach vorn. Mit »nach vorn« meine ich eine Art Anschub, einen Meilenstein, eine Tür, die sich öffnete. Und gleichzeitig ist es natürlich so, wie es oft mit offenen Türen ist: Es gibt eine Person, die sie wieder schließen will. Weil es zieht. Weil es ungemütlich wird für die, die im Raum sitzen. Vor allem für die, die es bequem haben in diesem Raum. Es entsteht ein Backlash, ein Aufbäumen gegen Veränderungen. Denn Veränderungen bedeuten immer auch Unsicherheit und Angst. Menschen mögen Veränderungen gar nicht. Vor allem, wenn sie das Gefühl haben, durch diese Veränderung etwas aufgeben zu müssen. Etwas zu verlieren. Mag Alteingesessenes vielleicht schief und krumm sein, vielleicht altbacken und überholt. Aber es scheint auch sicher. Verlässlich. Bekannt. Zumindest für die, die von der vermeintlichen Sicherheit profitieren. Der Slogan »Make America Great Again!« hat Millionen von US-Amerikaner*innen dazu bewegt, einen offensichtlichen Rassisten, Frauenfeind und Betrüger in das Präsidentenamt zu wählen. Mit dem Versprechen von einer alten heilen Welt, in der alles in Ordnung schien.
Denn Veränderungen bedeuten ein Rütteln am Status quo. Veränderung ist Bewegung, sie ist unbequem. Wir müssen uns an Neues gewöhnen und Altbewährtes hinterfragen.
Aber genau in dieser Veränderung liegt auch eine große Chance. Unsere Chance. Als Gesellschaft, als Weltbevölkerung und als Individuen. Denn was ist, wenn ich dir sage, dass wir alle etwas zu gewinnen haben, wenn wir die Tür aufhalten? Wenn wir den Raum renovieren, die Vorhänge aufziehen, durchlüften oder gar Wände einreißen für einen größeren Raum? Einen, in dem wir alle Platz finden?
Hinter Tradition und Alteingesessenem liegt nicht nur die Erinnerung an Omis leckeren Apfelkuchen oder die nebulöse Vorstellung einer heilen Welt wie in Bullerbü. Im Alteingesessenen liegen starre Machtstrukturen und Unterdrückung. Jahrhundertelange Erfahrungen von Gewalt, Trauer und Schmerz. Die bewusste Entscheidung, rassismuskritisch denken zu lernen und ein rassismuskritisches Leben leben zu wollen, bedeutet, diese Machtstrukturen sehr kritisch zu hinterfragen.
Ich weiß, das klingt groß und gewagt und unmöglich. Es erschreckt vielleicht auch. Weil, wie etwas verändern, was seit Hunderten Jahren weltweit wirkt? Selten wird mir selbst meine winzige Existenz in diesem Universum so bewusst, wie wenn ich an die Größe dieser Aufgabe denke. Aber dann denke ich an die Teilnehmenden in unseren Workshops, die mich mit großen, erschreckten Augen ansehen oder hilflos die Schultern hochziehen, wenn ihnen die Größe und der Umfang der Aufgabe bewusst werden. Ihnen sage ich das, was ich auch dir an dieser Stelle sagen möchte:
Atmen. Ein- und ausatmen. Die schlechte Nachricht ist: Wir werden keine rassismusfreie Gesellschaft erleben. Und so wie es aussieht, unsere Kinder wahrscheinlich auch nicht.
Die gute Nachricht ist: Wir haben die Möglichkeit, eine rassismuskritische Gesellschaft zu schaffen. Und noch besser: Jede Person – also auch du – kann an dieser Vision mitarbeiten. Denn das, was groß scheint und ist, sitzt auch im Kleinen. Und genau da müssen und können wir ansetzen, um letztendlich große Veränderungen herbeizuführen. Denn Systeme, Institutionen und Strukturen bestehen aus Individuen. Und diese Individuen sind wir. Du und ich. Und die Menschen in deinem Umfeld, in deinem Alltag. Daher müssen wir dort beginnen. Bei dir und den deinen. In den Worten von Margarete Stokowski:
»Wir können untenrum nicht frei sein, wenn wir obenrum nicht frei sind. Und andersrum. (…) Es geht um die kleinen, schmutzigen Dinge, über die man lieber nicht redet, weil sie peinlich werden könnten, und um die großen Machtfragen, über die man lieber auch nicht redet, weil so vieles unveränderlich scheint. Es geht darum, wie die Freiheit im Kleinen mit der Freiheit im Großen zusammenhängt, und am Ende wird sich zeigen: Es ist dieselbe.«5
Dieses Buch soll dir dabei helfen, die Vision voranzutreiben. Es soll dir Anregungen liefern, wie aus rassismuskritisch denken rassismuskritisch leben werden kann. Ich möchte mit dir gemeinsam in deinen Alltag gehen und schauen, an welchen Stellen du die Möglichkeit hast, aktiv etwas dazu beizutragen, Rassismus in deinem Umfeld zu dekonstruieren. Ich möchte die Institutionen beleuchten, in denen du dich bewegst oder mit denen du zu tun hast, und Fallstricke aufzeigen, dich zum Perspektivwechsel einladen und dir Werkzeuge an die Hand geben, mit denen du deinen Teil dazu beitragen kannst, dass deine Welt rassismusärmer wird.
Das Buch ist kein Regelwerk, nach dem du strikt vorgehst, und dann ist alles gut. Es ist eine Mischung aus Alltagsanekdoten, Kommentaren, Transfer auf eine gesellschaftskritische Analyseebene und Vorschlägen und Anregungen für (d)einen rassismuskritischen Alltag. Die Eröffnung von Denkräumen.
Es darf kein starres Regelwerk sein, weil Starre und Unflexibilität Stillstand bedeuten. Das, was du hier liest, ist ein Ausschnitt. Eine Momentaufnahme. Denn so, wie die Gesellschaft in Bewegung ist, ist es auch die Rassismuskritik. Eine Selbstbezeichnung, die heute passend ist, wird es morgen nicht mehr sein. Denn es geht um das Streben nach rassismusfreien Begegnungen und Räumen. Und dabei geht es mehr um das Streben selbst als um den zu erreichenden Zustand. Quasi: Der Weg ist das Ziel.
Diesen Weg musst du gehen. Bei einem Marathon gibt es Wasserstationen, und die Läufer*innen nehmen Vitamine zu sich. Es gibt Richtungsanweisungen. Das Buch ist die Wasserstation und die Richtungsanweisung. Zumindest für eine gewisse Etappe.
Die Person, die den Marathon läuft, bist du.
Wer schreibt dieses Buch?
Bevor wir weitermachen, finde ich es wichtig, mich so gut es geht zu positionieren.
Ich bin Tupoka. In der Zeit, in der ich das Buch schreibe, bin ich vierzig Jahre alt. Geboren wurde ich 1980 in Leipzig. Also zur Zeit der DDR. Mein Vater ist ein Schwarzer Tansanier und meine Mutter eine weiße Deutsche. Beide Akademiker*innen. Meine Mutter war seit meinem vierten Lebensjahr mit mir alleinerziehend. Als ich acht Jahre alt war, wanderten wir zusammen nach Westberlin aus. In dieser Zeit lebte meine Mutter in einer Beziehung mit einer Frau. In den ersten Jahren hatten wir große Geldsorgen, aber ich habe nie in meinem Leben um Wohnung oder Essen bangen müssen. Ich bin light-skinned, habe also einen hellbraunen Hautton. Ich war immer schon ein pummeliges Kind und bezeichne mich heute als mehrgewichtig oder dick. Ich mag Sport, bin aber nicht sonderlich sportlich. Ich bin heterosexuell und cis-genderc). Ich bin Akademikerin, verheiratet und habe zwei leibliche Kinder, die 1998 und 2010 geboren sind. Ich war lange alleinerziehend. Seit 2016 bin ich verheiratet mit dem wunderbarsten Mann, den ich mir vorstellen kann.
Ich erzähle dir all dies, damit du eine ungefähre Vorstellung davon bekommst, aus welcher gesellschaftlichen Position heraus ich auf diese Welt und die Themen in dieser Welt schaue. Ich schreibe das an dieser Stelle auf, um klarzumachen, dass meine Perspektive nicht objektiv oder neutral ist. Sie ist geprägt durch meine Erfahrungen, meine gesellschaftlichen Positionen. Sie ist aber ebenso geprägt durch Auslassungen und Dinge, die ich nicht erfahren habe. Ich erlebe Rassismus, Sexismus und Bodyshaming bereits mein Leben lang. Damit einher gehen sowohl ein emotionales Wissen als auch ein konkretes Erfahrungswissen über diese Diskriminierungsformen. Auch in ihrer Verschränkung.
Gleichzeitig verfüge ich über gesellschaftliche Privilegien und bin Teil der dominanten Gruppen, wenn es zum Beispiel um Heteronormatismus, Klassismus oder Colorismd) geht. Damit einher geht, dass ich eben kein Erfahrungswissen darüber habe, wie es sich anfühlt, in diesen Bereichen individuell oder strukturell diskriminiert zu werden. Ich muss meine Privilegien erkennen lernen, weil sie ein normalisierter und in weiten Teilen ein unhinterfragter Teil meines Seins sind.
Ich positioniere mich, weil ich fest daran glaube, dass dies für das Sprechen oder Schreiben über gesellschaftliche Schieflagen essentiell ist. Keiner von uns ist in der Lage, neutral oder irgendwie »über den Dingen schwebend« auf Themen wie gesellschaftliche Diskriminierung oder Privilegierung zu schauen. Wir alle, die wir in dieser Welt geboren sind und hier sozialisiert wurden, sind durch diese Sozialisierungen geprägt. Und das betrifft auch dich. Es sei denn, du bist in einem Vakuum groß geworden, hast nie eine Institution durchlaufen (Kita, Schule, Ausbildung, Uni etc.), nie eine Zeitung gelesen, einen Film geschaut, ein Buch gesehen. Nie gesprochen und nie mit anderen Menschen interagiert. Dann, und nur dann wärst du frei von gesellschaftlicher Prägung und hättest die Möglichkeit, rein objektiv auf das Thema zu schauen.
Ich positioniere mich auch, weil es wichtig ist anzuerkennen, dass wir alle in vielen Bereichen immer Lernende sind und Lernende bleiben werden. Heute, fast zehn Jahre, nachdem ich meine Freiberuflichkeit mit Workshops zum Thema interkulturelle Kommunikation begonnen habe, weiß ich ein paar Dinge ganz sicher und zwar:
Ich habe einen Magister in Afrikanistik und Deutsch als Fremdsprache von der Universität Leipzig und einen Master in International Business von der Grenoble Graduate School of Business, Frankreich. Ich bin also keine Rassismus-Wissenschaftlerin. Eine Expertise habe ich darin, vor allem weiße Menschen auf einen rassismuskritischen Weg zu bringen und darauf zu begleiten. Diese Begleitung besteht aus Vermittlung von Input, aber auch aus emotionaler Unterstützung. Ich habe Methoden entwickelt, die meinen Workshopteilnehmer*innen durch den mitunter schwierigen und steinigen, aber so wichtigen und lohnenden Prozess helfen. Dabei geht es vor allem um die eigene Positionierung innerhalb des Konstrukts Rassismus.
Meine Kompetenz habe ich einerseits durch intensives Selbststudium und Fortbildung, aber vor allem durch zehnjährige Leitung von Hunderten von Workshops, Inputs, Keynotes mit Tausenden von Menschen, in Hunderten Institutionen in der gesamten DACH-Region und in allen gesellschaftlichen Bereichen erlangt. Wie vorn schon erwähnt, gehören zu unseren Kund*innen Eltern Schwarzer Kinder, Bildungseinrichtungen, Fernsehsender, Medienunternehmen, Redaktionen von Tageszeitungen und Magazinen, Staatstheater, Kunsthallen, Silicon-Valley-Unternehmen, kleine und mittelständische Firmen, Start-ups, NGOs, Wohlfahrtsverbände, Stiftungen, Vereine.
Vor diesem Hintergrund schreibe ich dieses Buch. Ich habe dabei die Fragen und Bedürfnisse der Menschen im Kopf, denen wir in Workshops und anderen Veranstaltungen begegnen. Ich denke an die unzähligen Diskussionen auf Social Media und an die Mails, die uns täglich erreichen. Ich greife auf Erfahrungen und Erlebnisse aus unseren Workshops zurück, betrachte sowohl den privaten als auch den öffentlichen Raum – kurz alle Bereiche, in denen gesellschaftliche Begegnungen stattfinden und Gesellschaft geprägt wird. Dabei haben die Kapitel zu den Themen Schule und Medien einen besonderen Stellenwert für mich, da dies Bereiche sind, in denen und durch die wir als Individuen und als Gesellschaft besonders geprägt werden.
Disclaimer
Liebe Geschwister,
dies ist ein Disclaimer und eine allgemeine Triggerwarnung. Ich habe dieses Buch geschrieben, um weißen Menschen Anregungen zu geben, was sie tun können, um aktive Verbündete im Kampf gegen Rassismus zu werden. Immer mit dem Hintergedanken und der Hoffnung, dass dann die Räume, die diese Menschen betreten, rassismusärmere Räume für meine BIPoC-Geschwister sind.
Natürlich bist du eingeladen, dieses Buch zu lesen. Bitte tu mir aber den Gefallen und achte während des Lesens gut auf dich. Mach Pausen, wenn es dir zu viel wird, oder leg es ganz beiseite.
Liebe alle,
noch etwas: Mir ist bewusst, dass Schwarz sein in Deutschland nicht EINE homogene Erfahrung ist und dass die Auseinandersetzung mit Rassismus ein Group Effort aus vielen verschiedenen Perspektiven und Positionen ist. Ich habe längst nicht alle Antworten. Ich spreche auch nicht für alle Schwarzen Menschen. Mir ist bewusst, dass Erfahrungen, die ich beschreibe, auch kollektiv sind. Aber dass es darüber hinaus noch viele andere Erfahrungen gibt, über die ich nicht sprechen kann und werde. Auch deshalb ist meine Positionierung oben so wichtig. Daher lade ich dich ein, möglichst viele weitere Perspektiven kennenzulernen. Ein Buch, das ich dir an dieser Stelle zum Beispiel empfehlen kann, ist Schwarz wird großgeschrieben, herausgegeben von Evein Obulor. Darin kommen viele unterschiedlich positionierte Schwarze Perspektiven zu Wort. Die Lösungsansätze, die ich in Und jetzt du. beschreibe, stammen aus meiner zehnjährigen Arbeit mit weißen Menschen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen. Sie stammen aus den Erzählungen von Hunderten von Schwarzen Menschen/People of Color, die ich treffen durfte. Und sie stammen aus eigenen Lebenserfahrungen. Da ich täglich dazulerne, werde ich auch nachdem das Buch geschrieben ist neue Erkenntnisse haben, die nicht Teil des Buches sein werden.
c) Was heißt, dass mein biologisches und mein soziales Geschlecht zusammenpassen.
d) Colorism ist die Diskriminierung innerhalb der Schwarzen Community aufgrund des Hauttons (auch Gesichtsform oder Haarstruktur). Sie ist ein Produkt von weißer Vorherrschaft, die diese Trennung eingeführt hat, wird aber auch innerhalb Schwarzer Communitys reproduziert. So werden Menschen mit hellerem Hautton (lighter skinned) privilegiert und Menschen mit dunklerem Hautton (darker skinned) benachteiligt. Colorism zieht schmerzhafte Trennlinien durch Schwarze Communitys. Er führt ebenso dazu, dass darker skinned Menschen stärkeren Rassismus erfahren, mehr Ausschluss, weniger Repräsentation und mehr rassistische Gewalt.