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Im Zeichen der Mohnblume – Die Erlöserin

Buch

Rin, die Schamanin des Phönix, wurde verraten. Nun zieht sie sich in ihre Heimat zurück, während die Kriegslords und Invasoren das Reich unter sich aufteilen. Doch im Süden, der von Armut und Einfachheit gekennzeichnet ist, entdeckt Rin die größte Macht des Reiches, die noch keiner der Adeligen bemerkt hat: die unzähligen einfachen Leute, welche die junge Frau bereits als Göttin der Erlösung anbeten. Vielleicht ist Rins Traum von Freiheit doch noch möglich! Aber während ihre Macht und ihr Einfluss wachsen, werden auch die verführerischen Einflüsterungen des Phönix lauter. Wird Rin ihnen widerstehen? Oder wird sie ihnen folgen – und die Welt in Brand setzen?

Autorin

Rebecca F. Kuang wanderte im Jahr 2000 aus Guangzhou, China, in die USA aus. Sie hat einen Bachelorabschluss in International History der Georgetown University, wo sie sich auf chinesische Militärstrategien, kollektive Traumata und Kriegsdenkmäler konzentrierte. Im Jahr 2018 erhielt sie ein Stipendium und studiert seitdem an der University of Cambridge Sinologie. Rebecca F. Kuang liebt Corgis, trinkt gerne guten Wein und guckt immer wieder die Fernsehserie »Das Büro«.

R. F. Kuang wurde 2020 der Astounding Award for Best New Writer verliehen, die renommierteste Auszeichnung, die ein Fantasy-Debütautor erlangen kann. Sie wird auf der Worldcon als Teil der Hugo-Awards-Zeremonie verliehen.

Im Zeichen der Mohnblume bei Blanvalet:

1. Die Schamanin

2. Die Kaiserin

3. Die Erlöserin

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R. F. Kuang

IM

ZEICHEN

DER

MOHNBLUME

Die Erlöserin

ROMAN

Deutsch von
Michaela Link

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Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»The Burning God« bei Harper Voyager, New York.

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Copyright der Originalausgabe © 2020 by Rebecca F. Kuang

Published by Arrangement with Rebecca F. Kuang

This work was negotiated through
Literary Agency Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Sigrun Zühlke

Covergestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft

HK · Herstellung: sam

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-28540-1
V001

www.blanvalet.de

Für meine lieben Leserinnen und Leser,

die dieser Serie bis zum Schluss die Treue gehalten

und sich einen Eimer für die Tränen bereitgestellt haben.

Prolog

»Wir sollten es nicht tun«, sagte Daji.

Das Lagerfeuer zuckte und zischte vorwurfsvoll, als spüre es ihre Schuld. Unnatürlich violette Flammenzungen streckten sich wie greifende Hände aus und verwandelten sich in flackernde Gesichter, die Daji immer noch, Monate später, Übelkeit bereiteten, so sehr schämte sie sich. Sie wandte den Blick ab.

Doch die Gesichter der Toten hatten sich innen in ihre Lider eingebrannt, die Münder noch offen vor Schreck über Dajis Verrat. Ihr Flüstern hallte in Dajis Kopf wider, so wie jede Nacht in ihren Träumen.

Mörderin, raunten sie. Undankbare. Hure.

Angst schnürte ihr die Brust zusammen. »Riga, ich finde nicht …«

»Für Zweifel ist es jetzt zu spät, Schätzchen.« Auf der anderen Seite des Feuers fesselte Riga mit routinierten, groben Handgriffen einen zappelnden Hirsch. Er hatte bereits drei Sägemesser, von den toten Bogenschützen der Ketreyiden, zu einem perfekten Dreieck um das Feuer gelegt. Daji hatte ihr Messer nicht angerührt. Zu groß war ihre Angst gewesen – das glänzende Metall sah giftig aus, grollend. »Es gibt schon lange kein Zurück mehr, meinst du nicht?«

Der Hirsch reckte den Hals, um sich loszureißen. Riga packte ihn mit einer Hand am Geweih und schlug ihm den Kopf auf den Boden.

Die Flammen sprangen höher, das Flüstern wurde lauter. Daji zuckte zusammen. »Es kommt mir falsch vor.«

Riga schnaubte. »Seit wann bist du so ein Feigling?«

»Ich mache mir nur Sorgen. Tseveri hat gesagt …«

»Wen interessiert es, was sie gesagt hat?«, fragte Riga brüsk. Daji wusste, dass auch er sich schämte. Sie spürte, dass er sich insgeheim wünschte, sie hätten gar nicht erst damit angefangen. Aber das konnte er unmöglich zugeben, weil er daran zerbrechen würde.

Riga hielt den Hals des Hirsches mit dem Knie am Boden und band ihm die Vorderläufe zusammen. Der Hirsch öffnete das Maul wie zu einem Schrei, brachte jedoch nur ein heiseres, unheimliches Krächzen hervor. »Tseveri hat schon immer Unsinn erzählt. Prophezeiung, dass ich nicht lache – glaub das bloß nicht. Sie hat nur gesagt, was die Sorqan Sira uns hören lassen wollte.«

»Sie sagte, das Ritual würde uns umbringen«, entgegnete Daji.

»Das ist nicht ganz das, was sie gesagt hat.«

»Aber fast.«

»Oh, Daji.« Riga zog mit einem grausamen Ruck den letzten Knoten fest und betrachtete kurz sein Werk. Dann setzte er sich neben sie und massierte ihr in langsamen Kreisen den Rücken. Er wollte sie trösten. Sie fühlte sich gefangen. »Denkst du, ich würde zulassen, dass dir etwas geschieht?«

Daji hatte Mühe, gleichmäßig zu atmen.

Tu, was er sagt, mahnte sie sich. Das war die Abmachung, die sie mit Ziya getroffen hatte. Mach keine Schwierigkeiten und gehorche, sonst findet Riga einen Weg, dich loszuwerden. Sie sollte dankbar für das Ritual sein. Es bedeutete Schutz – die letzte Gewähr, dass Riga sie nicht töten konnte, ohne sich selbst zu töten, ein Schild für sie und Ziya.

Aber sie hatte dennoch schreckliche Angst. Was, wenn es schlimmer war als der Tod?

Sie fand ihre Stimme wieder. »Es muss eine andere Möglichkeit geben …«

»Nein«, blaffte Riga. »So halten wir nicht mehr lange durch. Der Krieg ist zu groß geworden. Unsere Feinde sind zu zahlreich geworden.« Er deutete mit dem Messer auf den Wald. »Und wenn Ziya so weitermacht, wird er keinen weiteren Tag überstehen.«

Er wird nicht überleben, weil du ihn gedrängt hast, hätte Daji gern zurückgeblafft. Aber sie hielt den Mund, aus Angst, seinen Zorn zu erregen. Seine Grausamkeit.

Du hast keine andere Wahl. Sie hatte schon vor langer Zeit erkannt, dass sie sich für Riga unentbehrlich, unersetzlich machen und in seinem Leben fest verankert sein musste, wenn ihr ihre Sicherheit lieb war.

»Komm schon, Ziya.« Riga legte die Hände trichterförmig um den Mund und rief: »Bringen wir’s hinter uns.«

Die Bäume schwiegen.

Riga hob die Stimme. »Ziya! Ich weiß, dass du da bist.«

Vielleicht ist er geflohen, dachte Daji. Schlauer Kerl.

Sie fragte sich, was Riga tun würde, falls Ziya wirklich versuchen würde zu fliehen. Er würde ihm natürlich nachjagen und ihn wahrscheinlich auch kriegen – Riga war immer der Stärkste und Schnellste von ihnen gewesen. Die Strafe würde furchtbar sein. Aber vielleicht gelang es Daji, Riga für ein paar Minuten abzuwehren, um Ziya Zeit zu verschaffen. Dann würde zumindest einer von ihnen verschont bleiben, selbst wenn es sie das Leben kostete.

Doch schon kam Ziya aus dem Wald gestolpert, als sei er betrunken. In seinen Augen stand der verwirrte, wilde Ausdruck, den Daji in letzter Zeit oft bei ihm gesehen hatte. Sie wusste, dass er Gefahr bedeutete. Ihre Hand kroch zu ihrem Messer.

Riga erhob sich und ging Ziya entgegen, die Hände vor sich gespreizt, wie ein Wärter, der sich einem Tiger näherte. »Wie geht es dir?«

»Wie es mir geht?« Ziya legte den Kopf schräg. »Wie meinst du das?«

Daji sah Rigas Kehle pulsieren.

»Kannst du dich zu uns setzen?«, fragte Riga.

Ziya schüttelte kichernd den Kopf.

»Das ist nicht witzig«, knurrte Riga. »Komm her, Ziya.«

»Ziya?« Ziya richtete die Augen zum Himmel. »Wer ist das?«

Riga griff nach seinem Schwert. Daji hob das Messer. Sie hatten sich mit Ziyas Einwilligung auf das Ritual vorbereitet. Sie mussten zuschlagen, unmittelbar bevor er das Portal öffnete …

Ein schreckliches Grinsen teilte Ziyas Gesicht. »War nur Spaß.«

Riga entspannte sich. »Zum Teufel mit dir.«

Daji stieß den Atem aus, um ihren rasenden Herzschlag zu verlangsamen.

Ziya ließ sich im Schneidersitz am Feuer nieder und warf einen flüchtig interessierten Blick auf den gefesselten Hirsch. »Er verhält sich sehr zahm, oder?«

Er nahm sein Messer vom Boden und ließ es vor dem Hirsch hin und her baumeln. Die gezackte Klinge blitzte im Feuerschein auf. Der Hirsch reagierte nicht. Er hätte tot sein können, wäre da nicht sein resignierter, schwerer Atem gewesen.

»Daji hat ihm einen Opiumklumpen ins Maul gestopft«, sagte Riga.

»Ah.« Ziya zwinkerte ihr zu. »Kluges Mädchen.«

Daji wünschte, die Droge hätte schneller gewirkt. Sie wünschte, Riga hätte dem Tier mehr Zeit gelassen. Aber das hätte Mitgefühl erfordert – eine Eigenschaft, die er nicht besaß.

»Jetzt mach schon, Daji.« Riga schwang das Messer nach ihr. »Wir sollten es nicht unnötig in die Länge ziehen.«

Daji saß wie erstarrt da. Für einen flüchtigen Moment spielte sie mit dem Gedanken zu fliehen. Ihre Knie zitterten.

Nein. Es gibt keinen Ausweg. Wenn sie es schon nicht für sich selbst tat, musste sie es zumindest für Ziya tun.

Er machte gern Witze. Er hatte noch nie etwas ernst nehmen können; nur er konnte sich über die Aussicht amüsieren, den Verstand zu verlieren. Aber Dajis Furcht – ihre und Rigas – war echt. Ziya taumelte schon seit Monaten auf dem schmalen Grat zwischen Wahnsinn und Vernunft, und sie wussten nicht, wann er endgültig in die Leere abstürzte. Nur dieses Ritual konnte ihn zurückholen.

Aber sie hatten einen verdammt hohen Preis dafür bezahlt.

»Messer hoch«, befahl Riga.

Sie gehorchten. Der Hirsch lag zahm da, die Augen offen und glasig.

Riga begann zu sprechen. Jedes Wort der Beschwörung, für die sie gelogen, gefoltert und gemordet hatten, ließ das Feuer höher und immer höher steigen, bis drei Meter hohe Flammen in den Nachthimmel schlugen. Als Tseveri diese Worte gesprochen hatte, hatten sie wie Musik geklungen, doch aus Rigas Mund hörten sie sich an wie ein Fluch. Daji kniff die Augen zusammen und bemühte sich, die Schreie in ihrem Kopf auszublenden.

Riga beendete den Gesang. Nichts geschah.

Sie saßen lange da, und ihre Verwirrung wuchs, bis Ziyas Gelächter die Stille durchbrach.

»Was ist denn los mit dir?«, fragte Riga ärgerlich.

»Du sprichst es falsch aus«, sagte Ziya.

»Was zum Teufel soll das heißen?«

»Dein Akzent. Wenn du die Worte dermaßen vergewaltigst, wird das nichts.«

»Dann mach du es.« Riga zischte noch etwas zwischen den Zähnen. Eine mugenische Beleidigung, die er als Kind aufgeschnappt hatte. Pferdehure.

»Ich kenne den Text nicht«, wehrte Ziya ab.

»Oh doch.« Ein boshafter Unterton stahl sich in Rigas Stimme. »Du hast ihn als Erster von ihr gelernt.«

Ziya versteifte sich.

Tu es nicht, dachte Daji. Los, töten wir ihn, und dann nichts wie weg.

Ziya begann die Beschwörung. Seine Stimme verwandelte sich allmählich von einem heiseren Flüstern in einen kraftvollen, flüssigen Ruf. Diesmal klangen die Worte fast wie bei Tseveri. Diesmal hatten sie Kraft.

»Jetzt«, flüsterte Riga, und sie erhoben die Messer, um den letzten notwendigen Unschuldigen abzuschlachten.

Als es vorbei war und die Leere sie in ihre stofflichen Körper zurückschleuderte, traf sie der Schock wie ein eisiger Wasserstrahl. Daji stolperte keuchend ein paar Schritte nach vorn. Sie spürte den Boden unter den Füßen und atmete süße Luft. Die Welt wirkte vertraut und gleichzeitig fremd – fest und schön und rätselhaft. Daji brannte innerlich und bebte von der puren Macht, die sie durchströmte.

Sie fühlte sich lebendiger als je zuvor. Jetzt wohnten drei Seelen in ihr statt einer; jetzt war sie ganz; jetzt war sie mehr.

Sie waren noch nicht ganz aus der Welt des Geistes zurück, waren noch miteinander verbunden. Daji blickte noch immer in Ziyas und Rigas Seelen, deren Gedanken ihren Verstand mit einem solchen Lärm bestürmten, dass sie Mühe hatte, sie von ihren eigenen zu unterscheiden.

Von Ziya empfing sie kalte, nackte Angst, verbunden mit einer gewaltigen Erleichterung. Er wollte dies nicht, hatte es nie gewollt. Er hatte große Angst vor dem, was er werden könnte, war aber auch dankbar für seine Errettung von der Alternative. Er war dankbar für ihre Verbindung.

Von Riga fing sie sowohl ausgelassene Freude als auch einen schwindelerregenden Rausch des Ehrgeizes auf. Er wollte mehr. Er achtete nicht auf die Panik, die von Ziya ausging. Seine Gedanken waren auf Größeres gerichtet. Er sah sie auf dem Schlachtfeld, am Verhandlungstisch, auf drei Thronen.

Für Riga war dies das letzte Hindernis gewesen. Jetzt blickten sie nach vorn in die Zukunft, die er sich immer für sie ausgemalt hatte.

Daji wollte es ebenfalls. Sie war sich nur nicht sicher, ob sie es überleben würde.

Langsam öffnete sie die Augen. Das Blut auf ihren Händen sah im Mondlicht schwarz aus. Das Feuer war fast verloschen, doch der Rauch schnürte ihr die Kehle zu. Daji wäre beinahe in die Glut gestürzt, hätte sich um ein Haar mit dem Gesicht voran in die Asche fallen und es so enden lassen.

Starke Finger packten sie an der Schulter und rissen sie zurück.

»Immer mit der Ruhe.« Riga grinste.

Daji konnte seinen Glücksrausch nicht teilen.

Jahre später, als sie sich mit Erinnerungen an ihre Anfänge quälte, bevor alles so furchtbar schiefgegangen war, wusste sie nicht mehr, was sie empfunden hatte, als sie verankert worden waren. Sie konnte sich nicht an den Rausch der Macht erinnern, an das schreckliche und zugleich wunderbare Gefühl, gekannt zu werden. Ein lähmendes Grauen war alles, was ihr im Gedächtnis geblieben war – die Gewissheit, dass die Geheimnisse, die sie gestohlen hatten, eines Tages mit Blut bezahlt werden würden.

Und Tseveri. Stets sah sie das unglückliche Gesicht des toten Mädchens vor sich und hörte deutlich die letzte Warnung, die es ausgesprochen hatte, bevor Ziya ihm das Herz aus der Brust gerissen hatte.

Ich habe eine Prophezeiung für dich, hatte sie gesagt.

Einer wird sterben.

Einer wird herrschen.

Und einer wird für immer schlafen.

TEIL 1

Kapitel 1

Rins Handgelenk pochte.

Am Morgen eines Hinterhalts herrschte immer eine ganz eigene Atmosphäre, wie nach einem Gewitter, als läge eine knisternde elektrische Spannung in der Luft, die sie und die Soldaten durchrieselte. Als sie noch für die Republik gekämpft hatte, hatte Rin nie solche Energie verspürt. Am Anfang waren Yin Vaisras Männer perfekte Soldaten gewesen – mürrisch, grimmig, nur darauf konzentriert, ihren Auftrag zu erledigen und wieder zu verschwinden. Am Ende waren sie voller Angst und Verzweiflung gewesen.

Doch die Soldaten der Südkoalition waren zornig, und das genügte als Antrieb, um die aufreibenden Wochen der Grundausbildung zu durchlaufen und sich schnell in fähige Mörder zu verwandeln, obwohl viele von ihnen zuvor noch nie ein Schwert in der Hand gehalten hatten.

Außerdem war ihr Kampf etwas Persönliches. Khudla war zwar nicht ihre Stadt, aber die Provinz Affe war ihre Provinz, und alle hatten unter der mugenischen Besatzung gelitten. Vertreibung, Plünderung, Vergewaltigung, Mord, Massenhinrichtungen. Tausend Massaker vom Ausmaß von Golyn Niis hatten sich dort abgespielt, doch niemanden hatte es geschert, denn niemand in der Republik oder im Reich hatte sich je groß für den Süden interessiert.

Doch einige im Süden hatten überlebt und wollten nun Rache für ihre Toten. Das waren die Männer und Frauen, aus denen Rins Truppen bestanden.

Während die Minuten verrannen, verharrten die versammelten Reihen in gespannter Erwartung, wie an der Leine zerrende Jagdhunde. Und Rins Handgelenk brannte wie ein leitfähiger Stab. Jede Sekunde schossen ihr eine Million kleine Schmerzensstiche durch den Ellbogen.

»Hör auf zu reiben«, mahnte Kitay. »Das macht es nur schlimmer.«

»Es tut weh«, klagte sie.

»Weil du dran reibst. Wenn du es in Ruhe lässt, heilt es schneller.«

Rin strich mit den Fingern über die rissige, unebene Haut, die die Stelle bedeckte, wo die Handgelenksknochen in ihre rechte Hand hätten übergehen sollen. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, dem Drang zu widerstehen, die Fingernägel in das wundgekratzte Fleisch zu bohren.

Man hatte ihr noch in der Nacht, in der sie in Ankhiluun angelegt hatten, die Hand amputiert. Nach zwei Wochen auf See war sie durch den Wundbrand fast bis zur Unkenntlichkeit verfault gewesen. Trotz der Bemühungen der Ärztinnen der schwarzen Lilie, die Wunde zu sterilisieren, war die Haut so stark angegriffen, dass es ein Wunder war, dass die Entzündung noch nicht den Arm hinaufgewandert war. Die Operation war kurz. Moags persönliche Wundärztin hatte Rin die Hand abgenommen, das verfaulte Fleisch weggeschnitten, die Haut wie eine Lasche über die freiliegenden Knochen gezogen und sauber vernäht.

Die Wunde selbst heilte gut, doch als Rin das Laudanum absetzte, brannte das Handgelenk wie Feuer. Unerträgliche Phantomschmerzen zuckten mehrmals pro Stunde durch Finger, die sie nicht mehr besaß. Manchmal war es so schlimm, dass sie mit der Hand gegen die Wand schlug, um das Stechen mit einem größeren Schmerz zu dämpfen, nur um daran erinnert zu werden, dass die Hand nicht mehr da war. Sie hatte sich den Schmerz nur eingebildet, und sie konnte keinen Schmerz dämpfen, den es nur in ihrem Kopf gab.

»Wenn du so weitermachst, wird es bluten«, sagte Kitay.

Rin hatte unbewusst wieder zu kratzen begonnen. Sie presste die Finger über den Stumpf, um den Juckreiz durch reinen, betäubenden Druck zu vertreiben. »Es macht mich wahnsinnig. Es ist nicht nur das Jucken, es sind die Finger. Es ist ein Gefühl wie tausend Nadelstiche, nur dass ich nichts dagegen tun kann.«

»Ich weiß, was du meinst«, entgegnete Kitay. »Ich spüre es auch manchmal, so ein plötzliches kleines Zittern. Es ist komisch, wenn man darüber nachdenkt – ich habe noch alle Finger, aber der Schmerz kommt von dir.«

Vor der Operation hatten sie Angst gehabt, dass mit Rins verfaulter rechter Hand womöglich auch Kitays Hand abgetrennt werden würde. Sie wussten nicht, wie weit ihr Ankerband reichte. Sie wussten nur, dass der Tod des einen den Tod für sie beide bedeutete. Sie spürten den Schmerz des anderen, und Verletzungen des einen äußerten sich in blassen, kaum sichtbaren Narben beim anderen. Aber sie wussten nicht, was das für Amputationen bedeutete.

Doch als sie in Ankhiluun vor Anker lagen, war Rins Entzündung so weit fortgeschritten, dass der Schmerz für beide unerträglich war, und Kitay hatte durch zusammengebissene Zähne hervorgestoßen, dass er Rin die Hand persönlich abkauen würde, wenn sie sie sich nicht abnehmen ließ.

Zu beider großer Erleichterung blieb sein Arm unversehrt. Eine wulstige weiße Linie erschien wie ein Armband um sein Handgelenk, wo der Schnitt gemacht worden war, aber die Finger waren noch beweglich, wenn auch etwas steif. Manchmal sah Rin, dass er Mühe hatte, einen Schreibpinsel zu halten, und er brauchte jetzt morgens viel länger zum Anziehen. Aber er hatte seine Hand noch, und obwohl Rin darüber erleichtert war, plagte sie unwillkürlich ständiger Neid.

»Kannst du sie sehen?« Sie wedelte ihm mit dem Handgelenk vor der Nase herum. »Die kleine Geisterhand?«

»Du solltest da einen Haken dran machen«, riet er ihr.

»Ich werde keinen Scheißhaken dran machen!«

»Dann eben eine Klinge. Dann würdest du vielleicht wieder anfangen zu trainieren.«

Sie warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Das tue ich schon noch.«

»Nein, tust du nicht«, sagte er. »Wenn du dich weiter so aufführst, wird das erste Mal, dass du ein Schwert in die Hand nimmst, dein letztes Mal sein.«

»Ich brauche nicht …«

»Oh doch, und das weißt du. Überleg mal, was passiert, wenn …«

»Nicht jetzt«, blaffte sie. »Ich will jetzt nicht darüber reden.«

Sie hasste es, mit dem Schwert zu trainieren. Sie hasste es, dass ihr mit links Handgriffe schwerfielen, die sie früher mit rechts, ohne nachzudenken, ausgeführt hatte, und kam sich deswegen hilflos, dumm und unzulänglich vor. Sie hatte sich lange eingeredet, dass sie nicht mehr machtlos war. Als sie eine Woche nach der Operation das erste Mal ein Schwert in die Hand genommen hatte, hatte ihr linker Arm vor Schwäche so stark gezittert, dass sie die Klinge sofort angewidert zu Boden geworfen hatte. Der Gedanke, das noch einmal zu erleben, war ihr unerträglich.

»Ich verstehe das Problem«, sagte Kitay. »Du bist nervös.«

»Ich werde nicht nervös.«

»Quatsch. Du hast schreckliche Angst. Deshalb bist du auch so unruhig. Du fürchtest dich.«

Aus verdammt gutem Grund, dachte Rin.

Ihr pochendes Handgelenk war nicht das Problem, nur das Symptom. Sie suchte nach irgendetwas, das schiefgehen konnte. Ihre Position könnte verraten worden sein. Die Mugener könnten wissen, dass sie im Anmarsch waren.

Oder sie könnten einfach verlieren.

Sie hatte es noch nie mit einer so guten Verteidigung zu tun gehabt. Die Mugener in Khudla wussten, dass Rins Soldaten kamen; sie waren seit Tagen auf der Hut. Inzwischen rechneten sie auch mit Nachtangriffen, obwohl kaum jemand eine so heikle Operation ohne ausreichendes Licht wagen würde. Dies würde kein leichter, verheerender Überfall werden.

Doch Rin durfte heute nicht versagen.

Khudla war ein Test. Rin hatte den Affenkriegsherrn seit ihrer Flucht aus Arlong um eine Kommandoposition angebettelt, nur um immer wieder zu hören, dass sie erst dann ganze Kolonnen in die Schlacht führen dürfte, wenn sie genug Erfahrung gesammelt hätte. Heute hatte er ihr endlich das Kommando übertragen.

Khudlas Befreiung war einzig und allein ihre Aufgabe. Bis jetzt hatte sie wie eine Einpersoneneinheit gekämpft, eine unaufhaltsame menschliche Waffe aus Feuer, in die Schlacht geworfen von der Südkoalition. Jetzt führte sie eine ganze Brigade an.

Die Soldaten kämpften unter ihrem Kommando, und das machte ihr Angst. Was, wenn sie unter ihrem Kommando starben?

»Wir beherrschen das im Schlaf. Die Wache wechselt alle dreißig Minuten«, sagte Kitay. Sie hatten es bereits ein Dutzend Mal durchgesprochen, aber er wiederholte es noch einmal, um sie zu beruhigen. »Man erkennt es an den anderen Stimmen. Rück vor Sonnenuntergang so nah heran wie möglich, und dann schlag während des Wachwechsels zu. Kennst du die Signale?«

Sie holte tief Luft. »Ja.«

»Dann hast du keinen Grund zur Sorge.«

Wenn es durchs Aussprechen nur wahr werden würde.

Die Minuten krochen dahin. Rin beobachtete, wie die Sonne zögernd hinter den Bergen verschwand, als würde sie von einem Wesen unten im Tal heruntergezogen.

Nachdem Rin auf der Insel Speer den Phönix entfesselt und den Dritten Mohnkrieg beendet hatte, hatte die Föderation von Mugen nie in aller Form kapituliert. Kaiser Ryohai und seine Nachkommen waren auf der Stelle in Statuen aus Kohle unter Aschebergen verwandelt worden. Es hatte in der mugenischen Kaiserfamilie keinen Überlebenden gegeben, der einen Frieden hätte aushandeln können.

Also hatte es weder einen Waffenstillstand noch einen Bündnisvertrag gegeben. Keiner der mugenischen Generäle hatte jemals eine Karte mit Truppenstellungen vorgelegt oder die Waffen den nikarischen Anführern übergeben. Stattdessen waren alle verbliebenen Föderationssoldaten auf dem Festland zu bedrohlichen Marodeuren geworden – hochqualifizierte Soldaten, die ohne Auftrag und Nation durchs Land zogen. Yin Vaisra, der ehemalige Drachenkriegsherr und neu gewählte Präsident der Republik Nikan, hätte sich vor Monaten abschließend mit ihnen befassen können, doch er ließ sie ungehindert ihr Unwesen treiben, um seine Verbündeten langfristig zu schwächen und so seine Herrschaft über das bröckelnde nikarische Reich zu stärken. Jetzt hatten sich die versprengten Einheiten zu mehreren großen unabhängigen Banden zusammengeschlossen, die den Süden in Angst und Schrecken versetzten. Im Grunde genommen führten die Nikara und die Mugener weiter Krieg. Die Mugener hatten den Süden auch ohne Unterstützung der Langbogeninsel innerhalb weniger Monate kolonialisiert. Und Rin, mit Vaisras Aufstand beschäftigt, hatte nichts dagegen unternommen, während der eigentliche Krieg in ihrer Heimat stattfand.

Sie hatte den Süden einmal im Stich gelassen. Sie würde es nicht noch einmal tun.

»Kazuo sagt, es kämen immer mehr Schiffe«, erklang eine Stimme in Mugini. Es war die dünne, helle Stimme eines Jungen.

»Kazuo ist ein Idiot«, entgegnete sein Gefährte.

Rin und Kitay kauerten verborgen hinter hohem Gras. Sie waren so nah an das Lager der Mugener herangeschlichen, dass sie das Gespräch der Patrouille belauschen konnten. In der stillen Nachtluft waren die leisen Stimmen selbst in einiger Entfernung gut zu hören, doch Rins Mugini war eingerostet. Sie hatte es seit einem Jahr nicht mehr gesprochen und musste die Ohren spitzen, um zu verstehen, was die Wachen sagten.

»Diese Sprache klingt wie Insektenzirpen«, hatte sich Nezha einmal beschwert, als sie noch dumme Kinder in einem engen Klassenzimmer in Sinegard gewesen waren und noch nicht wussten, dass der Krieg, für den sie ausgebildet wurden, nicht hypothetisch war.

Nezha hatte die Mugini-Stunden gehasst. Er war nicht in der Lage gewesen, die Sprache zu verstehen, wenn sie mit normaler Geschwindigkeit gesprochen wurde, und so hatte er den täglichen Unterricht damit verbracht, sich darüber lustig zu machen und seine Mitschüler mit einem Kauderwelsch zum Lachen zu bringen, das täuschend echt klang.

»Klick, klick, klick«, hatte er gesagt und zwischen den Zähnen Krabbelgeräusche gemacht. »Wie kleine Käfer.«

Wie Grillen, dachte Rin. Auf dem Land nannte man die Mugener bereits so. Rin wusste nicht, ob es eine neue Beleidigung oder ein altes Schimpfwort aus der Zeit vor ihrer Geburt war, das man zu neuem Leben erweckt hatte. Letzteres hätte sie nicht überrascht. Die Geschichte bewegte sich in Kreisen – das hatte sie inzwischen nur allzu gut gelernt.

»Kazuo sagte, dass Schiffe in die Häfen der Provinz Tiger einlaufen«, berichtete die erste Stimme, die des Jungen. »Sie legen im Dunkeln an und bringen uns nach und nach zurück.«

Der zweite Patrouillenmann schnaubte. »Das ist Blödsinn. Wenn das stimmt, hätten wir es längst erfahren.«

Es entstand ein kurzes Schweigen. Jemand bewegte sich im Gras. Die beiden Wachen legten sich hin, schloss Rin. Vielleicht betrachteten sie die Sterne. Das war dumm von ihnen, völlig unverantwortlich. Aber sie klangen so jung, überhaupt nicht wie Soldaten, sondern wie Kinder. Wussten sie es einfach nicht besser?

»Der Mond ist anders hier«, sagte der erste Patrouillenmann wehmütig.

Rin kannte den Satz. Sie hatte ihn in Sinegard gelernt – es war ein altmuginischer Ausdruck, eine Redensart, abgeleitet von einer Legende über einen Fährmann, der eine Frau auf einem fernen Stern liebte und eine Brücke zwischen den beiden Welten baute, damit sie sich endlich in die Arme schließen konnten.

Der Mond ist anders hier. Er meinte, dass er nach Hause wollte.

Die Mugener sprachen ständig davon, dass sie nach Hause wollten. Rin hörte es jedes Mal, wenn sie sie belauschte. Sie sprachen über ihre Heimat, als würde es sie noch geben, als sei die Langbogeninsel ein schönes Paradies, in das sie mühelos zurückkehren konnten, wenn nur die Schiffe in den Hafen kommen würden. Sie sprachen von ihren Müttern, Vätern, Schwestern und Brüdern, die den heißen pyroklastischen Strömen irgendwie entkommen waren und die sie am Ufer erwarteten.

»Du gewöhnst dich besser an diesen Mond«, sagte der zweite Wächter.

Je mehr sie sprachen, umso jünger klangen sie. Rin stellte sich ihre Gesichter vor; ihre Stimmen ließen an schlaksige Glieder und flaumige Oberlippen denken. Sie konnten nicht älter sein als sie selbst – knapp über zwanzig, wahrscheinlich jünger.

Sie erinnerte sich, wie sie während der Belagerung von Khurdalain gegen einen gleichaltrigen Jungen gekämpft hatte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Sie sah wieder sein breites Mondgesicht und die weichen Hände vor sich. Sah wieder, wie seine Augen aus den Höhlen traten, als sie ihm das Schwert durch den Bauch stieß.

Er musste schreckliche Angst gehabt haben. Vielleicht genauso viel Angst wie sie.

Sie spürte, wie Kitay sich neben ihr versteifte.

»Sie wollen auch nicht hier sein.« Er hatte ihr das schon vor Wochen gesagt. Er hatte mugenische Gefangene verhört und anschließend für ihren Geschmack zu großes Mitgefühl mit ihnen gehabt. »Sie sind noch Kinder. Ein Viertel von ihnen ist jünger als wir, und sie haben sich nicht freiwillig für diesen Krieg gemeldet. Die meisten von ihnen wurden aus ihren Familien gerissen und in grausame Ausbildungslager geworfen, damit ihre Familien nicht ins Gefängnis mussten oder verhungerten. Sie wollen nicht töten, sie wollen einfach nur nach Hause.«

Aber ihr Zuhause gab es nicht mehr. Diese Jungen konnten nirgendwohin fliehen. Falls die Tore der Versöhnung jemals offen gestanden hatten, falls es je die Möglichkeit gegeben hatte, feindliche Kämpfer in ihre Heimat zurückzuführen und langsam auf einen Frieden hinzuarbeiten, so hatte Rin sie vor langer Zeit zugeschlagen.

Sie hatte das Gefühl, an einem gähnenden Abgrund der Schuld zu stehen, ihrer ständigen Begleiterin.

Sie schob die Regung beiseite.

Es war ihr erfolgreich gelungen, ihre Erinnerungen zu begraben; das war ihre einzige Möglichkeit, nicht den Verstand zu verlieren.

Kinder können Mörder sein, rief sie sich ins Gedächtnis. Kleine Jungen können Monster sein.

Die Grenzen des Krieges waren viel zu unscharf. Jeder mugenische Soldat, der eine Uniform getragen hatte, war mitschuldig, und Rin hatte nicht die Geduld, die Schuldigen von den Unschuldigen zu trennen. Speerly-Gerechtigkeit war absolut. Rins Vergeltung war zwingend gewesen. Sie hatte keine Zeit, darüber nachzugrübeln, was hätte sein können; sie hatte ihr Heimatland befreien müssen.

Ihr Handgelenk pochte wieder. Sie atmete langsam aus, schloss die Augen und wiederholte im Kopf wieder und wieder den Angriffsplan, um ihre Nervosität abzuschütteln.

Mit den Fingern fuhr sie die Narben auf ihrem Bauch nach und ließ sie an der Stelle liegen, wo Altans Handabdruck sich eingebrannt hatte. Sie stellte sich die jungen Patrouillengänger vor und verwandelte sie in Zielscheiben.

Ich habe schon Millionen von euch getötet, dachte sie. Das ist inzwischen Routine. Es ist nichts.

Die Sonne war nur noch ein kleiner roter Punkt, dessen Rand über den Berggipfeln kaum mehr zu sehen war. Die Patrouille war abgelöst worden. Jetzt waren die Felder leer.

»Es wird Zeit«, murmelte Kitay.

Rin stand auf. Sie sahen sich an und fassten sich an den Händen.

»Im Morgengrauen«, sagte sie.

»Im Morgengrauen«, stimmte er zu. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und küsste sie auf die Stirn.

So verabschiedeten sie sich für gewöhnlich, so sagten sie alles, was sie nicht laut aussprachen. Kämpfe gut. Schütze uns. Ich liebe dich.

Für Kitay war der Abschied stets besonders schwer, da er jedes Mal, wenn Rin ein Schlachtfeld betrat, sein Leben auf ihres verwettete.

Rin wünschte, sie hätte diese Verletzbarkeit nicht. Wenn sie sich den Teil aus der Seele herausschneiden könnte, der Kitay in Gefahr brachte – und von Kitay in Gefahr gebracht wurde –, dann würde sie es tun.

Aber die Tatsache, dass sein Leben auf dem Spiel stand, machte sie zu einer besseren Kämpferin. Sie war aufmerksamer, wachsamer und vorsichtiger, sie schlug hart und schnell zu, wenn sie konnte. Sie kämpfte nicht mehr aus purem Zorn. Sie kämpfte, um ihn zu beschützen – und das änderte alles.

Kitay nickte ihr ein letztes Mal zu, dann verschwand er zwischen den Soldaten.

»Bleibt er immer hinter den Linien?«, fragte Offizierin Shen.

Rin mochte Offizierin Shen. Sie stammte aus der Provinz Affe und war Veteranin der beiden letzten Mohnkriege. Shen Sainang war schroff, tüchtig und pragmatisch. Sie hasste Fraktionspolitik, und das erklärte vielleicht, warum sie einer der wenigen Offiziere war, die sich freiwillig gemeldet hatten, Rin in ihre erste Schlacht als Kommandantin zu begleiten. Rin war dankbar dafür.

Aber Shen war auch eine aufmerksame Beobachterin und stellte zu viele Fragen.

»Kitay kämpft nicht«, sagte Rin.

»Warum nicht?«, fragte Shen. »Er wurde doch in Sinegard ausgebildet, oder nicht?«

Weil Kitay Rins einzige Verbindung mit dem Himmel war. Weil Kitay an einem sicheren, ruhigen Ort sein musste, damit sein Verstand als Kanal zwischen ihr und dem Phönix dienen konnte. Weil Rins Sterberisiko sich jedes Mal verdoppelte, wenn Kitay schutzlos und verwundbar war.

Das war Rins größtes Geheimnis. Wenn der Affenkriegsherr wüsste, dass Kitay ihr Anker war, würde er die einzige Möglichkeit kennen, sie zu töten. Rin hatte nicht genug Vertrauen zu ihm oder der Südkoalition, um ihnen Gelegenheit dazu zu geben.

»Er ist ein in Sinegard ausgebildeter Stratege«, antwortete Rin. »Kein Fußsoldat.«

Shen wirkte nicht überzeugt. »Er trägt aber ein Schwert wie ein Soldat.«

»Ja, aber sein Verstand ist wertvoller als das Schwert«, sagte Rin knapp und beendete das Gespräch. Sie deutete mit dem Kopf auf Khudla. »Es wird Zeit.«

Anspannung befiel sie. Ihr Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren und zählte Schlag um Schlag die Zeit bis zum Gemetzel herunter. Am gegenüberliegenden Dorfrand waren acht Augenpaare auf sie gerichtet – acht Anführer, die dort auf ihre Flamme warteten.

Endlich sah Rin eine Reihe mugenischer Soldaten über das Feld gehen: die Ablösung der Patrouille.

Sie hob die linke Hand und gab das Zeichen, einen dünnen Feuerstrahl, der drei Meter hoch aufschoss und dann verlosch.

Das Gelände geriet in Bewegung. Ein Meer von Soldaten rückte von den nördlichen und östlichen Fronten an. Sie strömten aus ihren Verstecken an Flussufern, in Felsspalten und Wäldern wie Ameisen aus einem Ameisenhügel. Rin beobachtete zufrieden das Geschehen. Was machte es schon, wenn ihre Kolonnen schmaler waren als die Verteidigung? Die Mugener würden gar nicht wissen, wo sie zuerst hinschauen sollten.

Sie hörte eine Reihe von Signalpfiffen, klare Hinweise darauf, dass jede Einheit erfolgreich Stellung genommen hatte. Offizierin Shens Soldaten übernahmen den Osten, Offizier Lins Soldaten den Norden.

Rin stürmte das Südviertel allein.

Die Mugener waren nicht vorbereitet. Die meisten schliefen oder gingen gerade zu Bett. Sie stolperten aus den Zelten und Baracken und rieben sich die Augen. Rin hätte beinahe darüber gelacht, wie ihre Gesichter alle den gleichen Ausdruck des Entsetzens annahmen, als sie sahen, was die Nachtluft so erwärmt hatte.

Sie hob die Arme. Drei Meter hohe leuchtende Flügel schossen aus ihren Schultern.

Kitay hatte ihr einmal vorgeworfen, zu gern aufzufallen und Effizienz zugunsten von Aufmerksamkeit zu opfern.

Was spielte das für eine Rolle? Es hatte keinen Sinn, sich zurückzunehmen, wenn jeder wusste, was sie war. Und Rin wollte, dass sich ihr Bild in die Augenlider der Mugener einbrannte, wollte, dass es das Letzte war, was sie sahen, bevor sie starben – eine Speerly und ihr Gott.

Männer stoben vor ihr auseinander wie aufgescheuchte Hühner. Ein oder zwei schleuderten geistesgegenwärtig Speere in ihre Richtung, doch die Würfe waren panisch und schlecht gezielt. Rin rückte vor und hielt die gespreizte Hand ausgestreckt, während Feuer alles umschlang, was sie sah.

Dann begannen die Schreie, und Rin geriet in Ekstase.

Rin hatte es lange gehasst, wie sie sich fühlte, wenn sie brannte, hatte ihr Feuer und ihren Gott gehasst. Doch das gehörte der Vergangenheit an. Jetzt konnte sie sich eingestehen, dass es ihr gefiel. Sie mochte es, ihren niederen Instinkten freien Lauf zu lassen. Sie genoss es.

Sie musste nicht lange nachdenken, um den Zorn heraufzubeschwören. Sie brauchte nur an die Leichen in Golyn Niis zu denken, an die Leichen im Forschungslabor und an Altan, wie er auf dem Pier brannte – ein schreckliches Ende für das schreckliche Leben, das man ihm bereitet hatte.

Hass war etwas Seltsames. Er zerfraß sie innerlich wie Gift. Er war der Grund, dass jeder Muskel in ihrem Körper angespannt war und es in ihren Adern so heiß kochte, dass sie dachte, ihr würde der Kopf zerspringen, und doch war er die Kraft, die sie antrieb. Hass war selbst eine Art von Feuer, und wenn man sonst nichts hatte, hielt er einen warm.

Früher hatte Rin das Feuer wie ein stumpfes Instrument benutzt und sich vom Willen des Phönix beherrschen lassen, als sei sie die Waffe und nicht andersherum. Früher hatte sie nur gewusst, wie sie als Pforte für einen Strom göttlichen Feuers dienen konnte. Aber solche unkontrollierten Explosionen waren nur nützlich, wenn man ein ganzes Volk vernichten wollte. Befreiungsfeldzüge erforderten Präzision.

Rin hatte wochenlang mit Kitay die Feinheiten des Feuerrufens geübt. Sie hatte gelernt, die Flammen wie ein Schwert zu formen und sie lang wie eine Peitschenschnur vorschnellen zu lassen. Sie hatte gelernt, daraus bewegliche, tanzende Wesen zu gestalten – Löwen, Tiger, Phönixe.

Sie hatte viele Methoden gelernt, mit Feuer zu töten. Am liebsten nahm sie sich die Augen vor, denn es dauerte zu lange, Arme und Beine zu Asche zu verbrennen. Der menschliche Körper brannte erstaunlich lange, und sie brachte ihre Kämpfe gern schnell hinter sich. Das Gesicht stellte eine ausgezeichnete Zielscheibe dar – Haare brannten immer weiter, und leichte Kopfverletzungen brachten die Kämpfer mehr aus der Fassung als andere leichte Verletzungen. Aber wenn sie auf die Augen zielte, konnte sie die Netzhaut versengen, die Lider schließen oder die umliegende Haut Blasen werfen lassen, sodass ihre Widersacher in Sekundenschnelle erblindeten.

Sie nahm rechts eine plötzliche Bewegung wahr. Irgendjemand versuchte, sie anzugreifen.

Der Phönix kicherte. Diese Kühnheit!

Eine halbe Sekunde, bevor er sie erreichte, öffnete sie die Handfläche vor seinem Gesicht.

Seine Augäpfel zerplatzten einer nach dem anderen. Zähe Flüssigkeit tröpfelte ihm über die Wangen. Als er den Mund öffnete, um zu schreien, warf Rin ihm Flammen in die Kehle.

Es war nur dann grotesk, wenn sie ihre Gegner als Menschen betrachtete. Doch sie sah keine Menschen, denn Sinegard und Altan hatten ihr beigebracht, sich abzuschotten. Lerne hinzusehen, und sieh keinen Mann, sondern einen seelenlosen Körper. Der Körper ist nichts als eine Ansammlung verschiedener Ziele, und alle brennen sie hell.

»Weißt du, von wem die Mugener abstammen?«, hatte Altan sie einmal gefragt. »Weißt du, was das für eine Rasse ist?«

Sie waren den Murui in Richtung Khurdalain hinuntergesegelt. Der Dritte Mohnkrieg hatte gerade begonnen. Sie war frisch von Sinegard gekommen, eine dumme und naive Schülerin, die noch mit der Tatsache zu kämpfen hatte, dass sie jetzt Soldatin war. Altan war ihr neuer Kommandant, und sie hing an seinen Lippen und war so voller Ehrfurcht, dass sie kaum einen ganzen Satz herausbekam.

Ihr wurde bewusst, dass er auf eine Antwort wartete, daher sagte sie das Erste, was ihr in den Sinn kam: »Sie, ähm, sind mit uns verwandt.«

»Weißt du auch, wie?«

Sie hätte ihm jede Lehrbuchantwort aufsagen können. Migration, die durch Dürren oder Überschwemmungen ausgelöst worden war. Verbannte Aristokratie. Clan-Kriege, die bis zurück zu den Tagen des Roten Kaisers gingen. Niemand war sich da ganz sicher. Rin hatte viele Theorien gelernt, die alle gleich plausibel waren. Aber sie vermutete, dass Altan sich gar nicht für ihre Antwort interessierte, daher schüttelte sie stattdessen den Kopf.

Sie hatte richtig vermutet. Er wollte ihr eine Geschichte erzählen.

»Vor langer Zeit hatte der Rote Kaiser ein Haustier«, begann er. »Einen hochintelligenten Affen, den er in den Bergen gefunden hatte. Das Vieh war ein Aas, ein hässliches, boshaftes Miststück. Kennst du die Geschichte?«

»Nein«, flüsterte sie. »Erzähl sie mir.«

»Der Rote Kaiser hielt ihn in einem Käfig in seinem Palast«, fuhr er fort. »Hin und wieder ließ er den Käfig holen, um seinen Gästen den Affen zu zeigen und sie zusehen zu lassen, wie er etwas tötete. Sie ließen Schweine oder Hähne in den Käfig, um zu beobachten, wie er sie in Stücke riss. Ich könnte mir vorstellen, dass sie großen Spaß daran hatten. Bis der Affe eines Tages aus dem Käfig sprang, mit bloßen Händen einen Minister tötete, die Tochter des Roten Kaisers entführte und in die Berge entkam.«

»Ich wusste gar nicht, dass der Rote Kaiser eine Tochter hatte«, erwiderte Rin einfältig. Aus irgendeinem Grund fand sie dieses Detail am interessantesten. Im Gedächtnis der Geschichte waren nur die Prinzen geblieben – die Söhne des Roten Kaisers.

»Das weiß niemand. Er hat sie nach dem, was passiert war, aus den Dokumenten gelöscht. Sie wurde von dem Affen schwanger, fand aber als seine Gefangene keine Möglichkeit, den Fötus auszustoßen, und gebar eine kleine Schar von Halbmenschen, die sie in den Bergen großzog. Jahre später schickte der Rote Kaiser seine Generäle aus, um sie aus dem Reich zu verjagen, und sie flohen auf die Langbogeninsel.«

Rin hatte diese Version der Geschichte noch nie gehört, aber sie ergab Sinn. Die Nikara verglichen die Mugener gern mit Affen und nannten sie kleine Halbmenschen – obwohl Rin, als sie endlich einen Föderationssoldaten mit eigenen Augen sah, nicht in der Lage gewesen wäre, ihn von einem Dorfbewohner aus Nikan zu unterscheiden.

Altan hatte sie danach schweigend beobachtet und auf ihre Reaktion gewartet.

Aber sie hatte nur eine Frage gehabt, die sie nicht stellen wollte, weil sie wusste, dass Altan darauf keine Antwort hatte.

Wenn sie Tiere waren, wie konnten sie uns dann töten?

Wer entschied, wer als Mensch galt? Die Nikara betrachteten auch die Speerlys als Tiere und hatten sie jahrhundertelang als Kriegersklaven gehalten. Der Feind war nicht menschlich – schön. Aber wenn er ein Tier war, dann musste er minderwertig sein. Doch wenn die Mugener minderwertig waren, wie konnten sie dann die Sieger gewesen sein? Bedeutete das, dass man in dieser Welt eine Bestie sein musste, um zu überleben?

Vielleicht war niemand wirklich eine Bestie. Vielleicht wurde Mord so überhaupt erst möglich. Man nahm einem anderen die Menschlichkeit, und dann tötete man ihn. In Sinegard hatte Strategiemeister Irjah ihnen einmal gesagt, dass sie den Gegner in der Hitze der Schlacht als Objekt betrachten sollten, als verschiedene abstrakte Teile und nicht als deren Summe, denn dadurch würde es leichter, ihm eine Klinge ins schlagende Herz zu stoßen. Doch wenn man jemanden nicht als Objekt betrachtete, sondern als Tier, konnte man ihn nicht nur töten, ohne mit der Wimper zu zucken, sondern daran sogar Freude haben. Dann machte es genauso viel Spaß wie Ameisenhügel zu zertreten.

»Affen, die Menschen vergewaltigen. Halbblutbälger. Tierische Missgeburten. Dumme Wilde.« Altan hatte die letzten Worte mit Bitterkeit ausgestoßen, und Rin hatte vermutet, dass dies die gleichen Worte waren, mit denen man ihn zu bedenken pflegte. »Davon stammen die Mugener ab.«

Rin metzelte sich in wenigen Minuten durch das Lager. Die Mugener leisteten keinen nennenswerten Widerstand. Die Soldaten, denen sie in Sinegard und Khurdalain entgegengetreten war, waren gut ausgebildet und tödlich bewaffnet gewesen. Sie hatten Reihen glänzender Schwerter besessen und einen unerschöpflichen Vorrat an chemischen Kampfstoffen, die sie willkürlich in zivile Einrichtungen schleuderten. Doch diese Soldaten flohen, statt zu kämpfen, und sie starben mit einer Leichtigkeit, die Rin erstaunte.

Es war alles viel zu einfach, so einfach, dass Rin ihren Schritt verlangsamte. Sie wollte das Machtgefälle auskosten. Früher war ich euer schreiendes Opfer und habe euch um Gnade angefleht. Und jetzt kauert ihr vor mir.

Sie hätte nicht langsamer werden sollen.

Denn nun bemerkte sie, wie unvorbereitet ihre Gegner waren. Dass sie gar nicht wie Soldaten wirkten. Wie jung sie aussahen.

Der Junge vor ihr trug ein Schwert, aber er benutzte es nicht. Er versuchte nicht einmal zu kämpfen, sondern stolperte nur mit erhobenen Armen zurück und bettelte um Gnade.

»Bitte nicht«, sagte er immer wieder.

Er könnte der Patrouillengänger von vorhin gewesen sein, denn er sprach mit der gleichen hellen, zittrigen Stimme. »Bitte.«

Sie hielt nur deshalb die Hand zurück, weil er Nikara sprach.

Sie musterte ihn. War er ein Nikara? War er ein Kriegsgefangener? Er trug keine mugenische Uniform, er konnte ein Unschuldiger sein …

»Bitte«, wiederholte er. »Tötet mich nicht …«

Sein Akzent besiegelte sein Schicksal. Er sprach zu abgehackt. Er war doch kein Nikara, nur ein schlauer mugenischer Soldat, der dachte, er könnte sie täuschen, damit sie Gnade walten ließ.

»Verbrenne«, zischte sie.

Der Junge fiel nach hinten. Sie sah, wie sein Mund sich öffnete und sein Gesicht sich zu einem kläglichen Schrei verzog, während es schwarz wurde und erstarrte, aber es ließ sie kalt.

Am Ende war es immer so leicht, das Mitgefühl abzutöten. Es spielte keine Rolle, dass sie aussahen wie Jungen, dass sie nicht im Mindesten waren wie die Ungeheuer, die sie einst gekannt hatte. In diesem Rassenkrieg spielte all das keine Rolle. Wenn sie Mugener waren, dann waren sie wie Grillen, und wenn sie sie unter ihrem Absatz zermalmte, würde das Universum ihren Verlust kaum bemerken.

Einmal hatte Altan sie gezwungen, dabei zuzusehen, wie er ein Eichhörnchen bei lebendigem Leib verbrannte.

Er hatte es mit einer einfachen Netzfalle fürs Frühstück gefangen. Es lebte noch, als er es vom Baum holte, und zappelte in seiner Hand. Aber statt ihm das Genick zu brechen, beschloss er, ihr eine Lektion zu erteilen.

»Weißt du, wie man durch Feuer stirbt?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf und sah fasziniert, wie er Feuer in seine Handflächen rief.

Altan war bemerkenswert gut darin gewesen, das Feuer zu formen. Er war ein Marionettenspieler, der wie beiläufig den Flammen die schönste Gestalt verlieh: mal ein fliegender Vogel, dann ein sich windender Drache, schließlich eine menschliche Gestalt, die in dem Käfig tobte, den er aus seinen Fingern bildete, bis er plötzlich die Hände schloss.

Sie beobachtete gebannt, wie seine Finger durch die Luft tanzten. Seine Frage hatte sie überrascht, und ihre Antwort klang unbeholfen und dumm: »Durch die Hitze? Ich meine, ähm …«