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Buch

Coastal-Airways-Flug 416 hat den Flughafen von Los Angeles pünktlich verlassen, als Kapitän Bill Hoffman einen Anruf erhält. Ein Entführer hat seine Frau und Kinder in seine Gewalt gebracht und stellt Bill vor eine schreckliche Wahl: Entweder bringt er das Flugzeug mit 149 Menschen an Bord zum Absturz, oder seine Familie wird getötet. Zwar gelingt es Bill, die Crew über die Lage zu informieren, doch irgendwo in der Maschine befindet sich noch ein Komplize des Entführers. Und Bill weiß nicht, wem er vertrauen kann. In 10 000 Meter Höhe entbrennt ein Kampf auf Leben und Tod, während sich die Maschine unaufhaltsam New York nähert …

Autorin

T. J. Newman, eine ehemalige Buchhändlerin und langjährige Flugbegleiterin, arbeitete von 2011 bis 2021 für Virgin America und Alaska Airlines. Sie schrieb einen Großteil ihres Debütromans »Flug 416«, während ihre Passagiere auf Nachtflügen schliefen. Sie lebt in Phoenix, Arizona.

Mehr Informationen zur Autorin und ihrem Buch unter
www.facebook.com/TJNewmanBooks/
twitter.com/t_j_newman
www.instagram.com/tj_author

T. J. Newman
____________

Flug 416

Thriller

Aus dem Englischen
von Thomas Bauer

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Falling« bei Avid Reader Press, an imprint of Simon & Schuster, Inc., New York

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Deutsche Erstveröffentlichung April 2022

Copyright © der Originalausgabe 2021 by T. J. Newman

Published by arrangement with the original publisher,
Avid Reader Press, an imprint of Simon & Schuster, Inc., New York

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München,
unter Verwendung einer Gestaltung von
David Litman © 2021 Avid Reader Press / Simon & Schuster

Umschlagmotiv: Ingo Vogelmann/EyeEm/Getty Images, Malorny/Getty Images

Redaktion: Claudia Alt

AB · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28609-5
V002

www.goldmann-verlag.de

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Für meine Eltern
Ken und Denise Newman

Was hat Gott getan!

Viertes Buch Mose, 23,23

In dem Schuh, der auf ihrem Schoß landete, steckte noch ein Fuß.

Sie kreischte und schleuderte ihn weg. Das blutige Etwas schwebte kurz schwerelos in der Luft, bevor es durch das riesige Loch seitlich im Rumpf aus dem Flugzeug gesaugt wurde. Auf dem Boden neben ihrem Sitz kroch eine Flugbegleiterin durch den Gang und schrie die Passagiere an, sie sollten ihre Sauerstoffmasken aufsetzen.

Bill beobachtete das alles aus dem hinteren Bereich des Flugzeugs.

Die Passagierin mit dem Schuh verstand offenbar nicht, was die junge Flugbegleiterin brüllte. Wahrscheinlich hörte sie seit der Explosion überhaupt nichts mehr. Ihr flossen aus beiden Ohren dünne Blutrinnsale.

Die Druckwelle hatte die Flugbegleiterin in die Luft geschleudert, dann war sie mit ihrem braunen Lockenkopf auf dem Boden aufgeschlagen. Sie blieb einen Moment regungslos liegen, bis die Maschine in den Sturzflug ging. Als sie durch den Gang rutschte, streckte sie die Hand nach den Metallsprossen der Passagiersitze aus. Sie bekam eine davon zu fassen, ihr Arm zitterte, als sie versuchte, sich gegen die Abwärtsneigung des Flugzeugs nach oben zu ziehen. Dabei kippte sie zur Seite, und ihre Füße baumelten in der Luft. Überall im Flugzeug flogen Dinge herum, Papier und Kleidungsstücke, ein Laptop, eine Getränkedose. Eine Babydecke. Es war wie inmitten eines Tornados.

Bill folgte dem Blick der Flugbegleiterin durch die Kabine … und sah den Himmel.

Wo sich keine halbe Minute zuvor noch der Notausgang über der Tragfläche befunden hatte, schien jetzt durch ein großes Loch die Sonne herein. Die andere Flugbegleiterin hatte eben noch dort haltgemacht, um Abfall einzusammeln.

Bill hatte die ältere rothaarige Flugbegleiterin lächeln und mit behandschuhter Hand einen leeren Becher in einen Plastiksack werfen sehen – dann, einen explosiven Moment später, war sie weg gewesen. Die ganze Sitzreihe war verschwunden. Die Seite des Flugzeugrumpfs war verschwunden. Bill stellte sich breitbeiniger hin, als die Maschine zu schlingern begann, da sie offenbar keinen geraden Kurs mehr halten konnte. Natürlich, das Seitenruder, dachte er. Wahrscheinlich war das ganze Heck beschädigt.

Über dem Kopf der brünetten Flugbegleiterin gingen mit einem Krachen mehrere Gepäckfächer auf. Gepäckstücke fielen heraus und wurden in der Kabine heftig umhergeschleudert. Ein großer rosafarbener Rollkoffer schoss nach vorn, angesaugt von dem Loch im Rumpf. Auf dem Weg nach draußen prallte er gegen den Rand der Öffnung und riss ein Stück der Außenhaut des Flugzeugs mit. Das Gitterwerk der freigelegten Verstrebungen zeugte von menschlicher Ingenieurskunst vor dem Hintergrund des Himmels. Hinter den schlackernden Kabeln, die gelbe und orangefarbene Funken sprühten, sprenkelten Wolken die Aussicht. Die grelle Sonne ließ Bill blinzeln.

Das Flugzeug nahm wieder eine horizontale Lage ein, worauf es der Flugbegleiterin auf dem Boden gelang, auf alle viere zu kommen. Bill beobachtete, wie sie mit ihrem Körper kämpfte, der sich weigerte, ihr zu gehorchen. Sie schaffte es, ein Bein nach vorn zu ziehen, um dann festzustellen, dass der Knochen aus ihrem Oberschenkel ragte. Sie starrte die blutende Wunde an, kniff ein paarmal die Augen zusammen, dann kroch sie weiter.

»Masken!«, schrie sie, während sie im Gang zum Heck des Flugzeugs robbte. Ihre Stimme war wegen der ohrenbetäubenden Windgeräusche kaum zu hören. Sie sah zu einem Mann hinüber, der nach den Sauerstoffmasken griff. Er erwischte eine davon, doch als er sie aufsetzen wollte, riss der Luftzug sie ihm aus der Hand, und ihre Gummibänder schlackerten wie wild.

Stickiger grauer Nebel füllte die Kabine, zahllose Trümmer wirbelten umher. Eine Metalltrinkflasche flog durch die Luft und traf die kriechende Flugbegleiterin voll im Gesicht. Blut strömte ihr aus der Nase.

»Er ist angeschossen worden! Mein Mann! Hilfe!«

Bill sah zu der Frau, die mit den Fäusten auf den leblosen Torso ihres Mannes eintrommelte. Aus zwei kleinen kreisrunden Löchern auf seiner Stirn strömte es rot über seine Augen und seine Wangen. Die Flugbegleiterin zog sich an der Armlehne hoch und wischte sich die Locken aus dem Gesicht, um ihn sich aus der Nähe anzusehen.

Keine Kugeln. Es handelte sich um Nieten aus dem Flugzeugrumpf.

Das Flugzeug vibrierte heftig, der Boden verwand sich. Bill spürte, wie sich alles unter ihm bewegte. Würde der Rumpf halten? Wie viel Zeit blieb ihnen noch?

Die Flugbegleiterin kroch weiter und setzte die Hand genau in dem Moment in einem dunklen Fleck auf dem Teppichboden ab, als Bill den Urin roch. Die Flugbegleiterin sah zu dem Mann hinauf, der auf dem Gangplatz saß. Er wendete schockiert den Blick ab, während sich die Pfütze zu seinen Füßen ausbreitete.

»Eis«, stöhnte jemand.

Die Flugbegleiterin drehte sich um. Bill beobachtete, wie eine Passagierin auf der anderen Seite des Gangs der jungen Frau die Hände hinstreckte, in denen sie einen Fleischklumpen hielt. Die Flugbegleiterin zuckte zurück. Als sie aufblickte, sah sie, dass Kinn und Hals der Passagierin rot verschmiert waren.

»Eis«, wiederholte sie, und ein Schwall Blut ergoss sich aus ihrem Mund.

Bei dem Klumpen handelte es sich um ihre Zunge.

Bill warf einen Blick über die Schulter zur Rückwand und sah das Kabel des Bordtelefons im Luftzug schlackern, während die Flugbegleiterin darauf zurobbte. Dann richtete er den Blick auf die andere Seite der Bordküche. Die dritte Flugbegleiterin lag neben einem umgekippten Tetra Pak Saft verdreht auf dem Boden. Bill legte den Kopf schräg und beobachtete, wie sich die herausschwappende orangefarbene Flüssigkeit mit der roten Pfütze um ihren Körper vermischte.

Die brünette Flugbegleiterin schleppte sich endlich zum hinteren Ende des Gangs. Unter ihr knirschten Zuckertütchen und Mini-Kaffeesahnebehälter. Sie streckte eine Hand nach vorn, zuckte jedoch zurück.

Ein schwarzes Paar Anzugschuhe versperrte ihr den Weg.

Die Flugbegleiterin sah auf. Sie lag zu Bills Füßen, schwer verletzt und blutüberströmt. Ihr Mund stand offen, aber sie brachte kein Wort heraus. Bills Krawatte flatterte in der Zugluft. Die Triebwerke brüllten sie an, als forderten sie sie auf, etwas – irgendetwas – zu unternehmen.

»Aber … warum …«, stammelte die Flugbegleiterin, den Blick zu Bill hinaufgerichtet. Argwohn stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Wer hat die Kontrolle über das Flugzeug, Kapitän Hoffman?«

Bill atmete scharf ein, als wollte er etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus.

Er blickte zur geschlossenen Cockpittür am anderen Ende des Flugzeugs.

Eigentlich hätte er sich hinter dieser Tür befinden sollen.

Bill sprang über die Flugbegleiterin und sprintete durch den Gang in Richtung Cockpit. Er rannte, so schnell er konnte, doch je schneller er lief, desto größer schien die Entfernung zur Tür zu werden. Überall um ihn herum riefen ihm Passagiere zu, flehten ihn an, stehen zu bleiben und ihnen zu helfen. Er rannte weiter. Die Entfernung zur Tür wuchs stetig. Er schloss die Augen.

Dann prallte er ohne Vorwarnung gegen die Tür, stieß mit dem Kopf gegen die undurchdringliche Oberfläche. Taumelte rückwärts, hielt sich den Kopf. Benommen überlegte er, wie er in das verriegelte Cockpit gelangen konnte, doch ihm fiel nichts ein. Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür, bis seine Finger taub waren.

Schwer atmend ging er einen Schritt zurück, um gegen die Tür zu treten. Dann hörte er ein Klicken.

Die Tür wurde entriegelt und öffnete sich einen Spalt. Bill stürmte ins Cockpit.

Fast überall leuchteten rote und dunkelgelbe Warnlichter. Ein lauter Alarm kreischte unablässig, ein schrilles Geräusch, das von den beengten Platzverhältnissen noch verstärkt wurde. Er setzte sich auf seinen Sitz auf der linken Seite, auf den Sitz des Kapitäns.

Er konnte sich nur schwer auf das Display vor sich konzentrieren, da die heftigen Bewegungen des Flugzeugs die Zahlen durcheinanderwirbelten. Wohin er auch blickte, folgte ihm Rot. Jeder Knopf, jeder Schalter, jedes Display schien ihn anzuschreien.

Durch die Fenster sah er die Erde bedrohlich näher kommen.

Mach dich an die Arbeit, befahl sich Bill.

Seine Hände streckten sich vor ihm aus.

Erstarrten.

Verdammt noch mal, du bist der Kapitän. Du musst eine Entscheidung treffen. Dir läuft die Zeit davon.

Die Alarme wurden lauter. Eine Computerstimme forderte ihn wiederholt auf, die Maschine hochzuziehen.

»Wie wär’s mit asymmetrischem Schub?«

Bill wandte den Kopf. Auf dem Co-Piloten-Sitz saß sein zehnjähriger Sohn Scott. Er trug seinen Schlafanzug mit Planetenmotiv. Seine Füße reichten nicht bis zum Boden.

»Du könntest es doch wenigstens mal versuchen«, fügte der Junge mit einem Achselzucken hinzu.

Bill richtete den Blick wieder auf seine Hände. Seine Finger wollten sich nicht bewegen. Sie verharrten einfach in der Luft.

»Also gut, dann versuch’s auf die harte Tour. Geh in den Sturzflug und richte mithilfe der Geschwindigkeit die Maschine wieder aus.«

Bill drehte erneut den Kopf und sah jetzt seine Frau zurückgelehnt neben sich sitzen. Sie musterte ihn mit verschränkten Armen und einem Schmunzeln. Mit dem Schmunzeln, das sie immer dann zeigte, wenn sie beide wussten, dass sie recht hatte. Sie sah einfach umwerfend aus.

Schweiß lief ihm am Hals hinunter, während er verzweifelt versuchte, sich zu rühren und in Aktion zu treten. Doch er war immer noch vor Angst wie gelähmt. Vor Angst, die falsche Entscheidung zu treffen.

Carrie strich sich das Haar hinters Ohr, beugte sich zu ihrem Mann hinüber und legte ihm die Hand aufs Knie.

»Bill. Es wird Zeit.«

Bill setzte sich abrupt auf und schnappte nach Luft. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen drang Mondlicht und warf einen hellen Streifen auf das Doppelbett. Er sah sich im Zimmer nach blinkenden Warnlichtern um. Er lauschte auf Alarme, hörte aber nur den Hund eines Nachbarn draußen bellen.

Er seufzte und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Wieder der gleiche Traum?«, fragte Carrie von der anderen Seite des Bettes.

Er nickte im Dunkeln.

1

Carrie schüttelte die Bettdecke auf und strich sie glatt. Der Geruch von frisch gemähtem Gras lenkte ihren Blick zum offenen Fenster. Der Nachbar auf der anderen Straßenseite wischte sich mit dem Bund seines T-Shirts das Gesicht ab, bevor er den Deckel seiner mit Gras gefüllten Mülltonne geräuschvoll schloss. Er zog die Tonne in den Garten und winkte einem vorbeifahrenden Auto zu. Die laute Musik aus dem Wagen verhallte, als dieser sich entfernte. Hinter Carrie, im Badezimmer, wurde die Dusche abgestellt.

Sie ging aus dem Zimmer.

»Mom, darf ich nach draußen?«

Scott stand mit seinem ferngesteuerten Auto in der Hand am Fuß der Treppe.

»Wo ist denn deine …?«, setzte Carrie an, während sie die Treppe hinunterging.

Elsie kam prustend hereingekrabbelt. Als das Baby bei seinem Bruder anlangte, packte es seine Shorts, zog sich daran hoch, bis es aufrecht stand, und versuchte leicht wackelnd, das Gleichgewicht zu halten.

»Hast du deinen Teller zum Spülbecken gebracht?«

»Hab ich.«

»Also gut, aber nur zehn Minuten. Du kommst wieder rein, bevor Dad geht, okay?«

Der Junge nickte und rannte zur Tür.

»Halt!«, rief Carrie ihm hinterher und setzte sich Elsie auf die Hüfte. »Schuhe.«

Das ungeplante Baby zehn Jahre nach dem ersten Kind war anfangs eine echte Herausforderung gewesen. Doch nachdem die dreiköpfige Familie gelernt hatte, zu viert zu sein, wurde Carrie und Bill bewusst, dass der Altersunterschied auch Vorteile hatte. Der große Bruder konnte das Baby im Auge behalten, wenn Carrie sich anzog oder das Bett machte. Von da an ließ sich vieles leichter bewältigen.

Carrie wischte gerade Süßkartoffel- und Avocadoreste vom Hochstuhl, als sie die Haustür aufgehen hörte.

»Mom?«, rief Scott in leicht verängstigtem Tonfall.

Als sie auf dem Weg zur Tür um die Ecke bog, sah sie Scott zu einem Mann hinaufstarren, den sie nicht kannte. Der Fremde auf der Türschwelle blickte überrascht drein, seine Hand war auf dem Weg zur Türklingel erstarrt.

»Hi«, sagte Carrie und setzte sich das Baby auf die andere Hüfte, während sie sich schützend vor ihren Sohn stellte. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich bin von CalCom«, sagte der Mann. »Sie haben wegen Ihres Internets angerufen?«

»Ach!«, rief Carrie aus und machte die Tür weiter auf. »Natürlich, kommen Sie doch rein.« Ihre erste Reaktion war ihr unangenehm, sie hoffte, dass es dem Mann nicht aufgefallen war. »Entschuldigung, ich habe noch nie erlebt, dass ein Techniker pünktlich kommt, geschweige denn zu früh. Scott!«, rief sie ihrem Sohn hinterher, der sich am Ende der Einfahrt umdrehte. »Zehn Minuten.«

Der Junge nickte und lief davon.

»Ich bin Carrie«, sagte sie, als sie die Tür schloss.

Der Techniker stellte seine Werkzeugtasche im Eingangsbereich ab, und Carrie beobachtete, wie er sich im Wohnzimmer umsah. Hohe Decken und eine Treppe ins erste Obergeschoss. Geschmackvolle Möbel und frische Blumen auf dem Couchtisch. Auf dem Kaminsims Fotos aus einem Zeitraum von mehreren Jahren, die neuesten davon bei Sonnenuntergang am Strand gemacht. Scott war eine Miniaturausgabe von Carrie: Das identisch schokoladenbraune Haar der beiden wehte in der Meeresbrise, mit einem breiten Lächeln kniffen sie ihre grünen Augen zusammen. Bill, über einen Kopf größer als Carrie, mit der damals neugeborenen Elsie auf dem Arm, deren schneeweiße Babyhaut in starkem Kontrast zu seiner südkalifornischen Bräune stand. Der Techniker drehte sich mit einem schmalen Lächeln um.

»Sam«, sagte er.

»Sam«, entgegnete Carrie und erwiderte das Lächeln, »kann ich Ihnen was zu trinken anbieten, bevor Sie loslegen? Ich wollte mir gerade eine Tasse Tee machen.«

»Tee wäre prima. Danke.«

Sie führte ihn durch die lichtdurchflutete Küche in ein mit Spielzeug übersätes zweites Wohnzimmer.

»Danke, dass Sie am Samstag kommen.« Carrie setzte Elsie wieder in den Hochstuhl. Das Baby hämmerte mit den Fäusten auf den Tisch und zeigte lachend seine wenigen Zähnchen. »Das war der einzige Termin für Wochen.«

»Ja, wir haben ziemlich viel zu tun. Wie lange funktioniert Ihr Internet schon nicht?«

»Seit vorgestern«, sagte sie und füllte den Wasserkocher. »Schwarzen oder grünen Tee?«

»Schwarzen, bitte.«

»Ist das normal, dass nur wir in unserem Haus Probleme haben?«, wollte Carrie wissen. »Ich habe ein paar Nachbarn gefragt, die auch bei CalCom sind, und bei ihnen ist alles in Ordnung.«

Sam zuckte mit den Schultern. »Das kommt vor. Vielleicht liegt es an Ihrem Router, vielleicht an der Leitung. Ich seh mir das mal an.«

Aus dem vorderen Wohnzimmer waren schwere Schritte zu hören, die die Treppe herunterkamen. Carrie waren die nun folgenden Geräusche nur allzu vertraut: ein Koffer und eine Kuriertasche, die an der Haustür abgestellt wurden, dann Schuhe mit harter Sohle, die den Flur durchquerten. Ein paar Schritte, und er stand in der Küche: polierte schwarze Anzugschuhe, akkurat gebügelte Hose, Anzugjacke und Krawatte. Über seiner Brusttasche prangte eine Pilotenschwinge, darunter stand in dicken Buchstaben BILL HOFFMAN. Eine dazu passende Schwinge schmückte die goldbesetzte Pilotenmütze, die er behutsam auf die Küchenarbeitsplatte legte. Sein Eintreten wirkte seltsam dramatisch, und Carrie stellte fest, in welchem Kontrast seine autoritäre Aura zu der Atmosphäre im Haus stand. Bislang war ihr das noch nie aufgefallen – schließlich trug er seine Uniform nicht beim Abendessen. Und wahrscheinlich lag es nur daran, dass sich eine fremde Person im Zimmer aufhielt, ein Mann, der ihn nicht kannte, der ihre Familie nicht kannte. Aus welchem Grund auch immer, heute war es nicht zu übersehen.

Bill nickte dem Techniker freundlich zu, ehe er Carrie seine Aufmerksamkeit schenkte.

Sie erwiderte seinen Blick mit zusammengekniffenen Lippen und verschränkten Armen.

»Sam, würden Sie uns bitte …?«

»Ja, ich, ähm, bereite schon mal alles vor«, sagte Sam zu Carrie und ließ die beiden allein.

Die Wanduhr zählte tickend die Sekunden. Die kleine Elsie klopfte mit ihrem speicheltriefenden Beißring so lange auf die Ablage des Hochstuhls, bis er ihr aus den Fingern rutschte und zu Boden fiel. Bill durchquerte die Küche, hob ihn auf, wusch ihn im Spülbecken und trocknete ihn mit einem Geschirrtuch, dann drückte er ihn seiner Tochter in die begierigen Hände. Hinter Carrie fing der Teekessel leise an zu pfeifen.

»Ich ruf dich über FaceTime an, wenn ich im Hotel bin, weil ich wissen will, wie das Spiel …«

»New York, oder?«, fiel Carrie ihm ins Wort.

Bill nickte. »Heute Abend New York, morgen Portland …«

»Nach dem Spiel findet eine Pizzaparty für das Team statt. Bei den drei Stunden Zeitverschiebung schläfst du bestimmt schon, wenn wir nach Hause kommen.«

»Okay, dann melde ich mich gleich morgen …«

»Wir treffen uns morgen Vormittag mit meiner Schwester und den Kids«, sagte sie. »Also mal sehen.«

Bill holte tief Luft und richtete sich auf, wobei sich die vier goldfarbenen Streifen auf seinen Schulterklappen mit seinen Schultern hoben. »Du weißt doch, dass ich nicht absagen konnte. Wenn mich irgendjemand anders gebeten hätte, dann hätte ich es getan.«

Carrie starrte auf den Fußboden. Der Teekessel fing an zu schrillen, sie schaltete die Flamme aus. Der Lärm verstummte langsam, bis abermals nur das Ticken der Wanduhr zu hören war.

Bill warf einen Blick auf die Uhr und fluchte leise. Er küsste seine Tochter auf den Kopf, dann sagte er: »Ich komme noch zu spät.«

»Du bist noch nie zu spät gekommen«, entgegnete Carrie.

Er setzte seine Mütze auf. »Ich ruf dich an, wenn ich eingecheckt habe. Wo ist Scott?«

»Draußen. Spielen. Er kommt jeden Moment rein, um Tschüs zu sagen.«

Das war ein Test, und Carrie wusste, dass Bill sich dessen bewusst war. Sie starrte ihn von der anderen Seite der unausgesprochenen Grenze an, die sie gezogen hatte. Er sah auf die Wanduhr.

»Wir sprechen uns vor dem Start«, sagte Bill und ging aus dem Zimmer.

Carrie sah ihm hinterher.

Die Eingangstür ging auf und kurz darauf wieder zu, und im Haus kehrte Stille ein. Carrie wandte sich zum Spülbecken und betrachtete das Laub der Eiche im Garten, das in der Brise flatterte. Sie hörte, wie Bill seinen Wagen anließ und wegfuhr.

Hinter ihr ertönte ein Räuspern. Sie wischte sich hastig übers Gesicht und drehte sich um.

»Tut mir leid wegen gerade eben«, sagte sie zu Sam und verdrehte verlegen die Augen. »Egal. Sie sagten schwarzen Tee.« Sie riss die Verpackung eines Teebeutels auf und hängte ihn in eine Tasse. Aus dem Teekessel stieg Dampf auf, als sie heißes Wasser in die Tasse goss. »Möchten Sie Milch und Zucker?«

Als er nicht antwortete, drehte sie sich um.

Ihre Reaktion schien ihn zu überraschen. Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, dass sie schreien würde. Dass sie vielleicht die Tasse fallen lassen würde. Dass sie anfangen würde zu weinen, wer weiß. Irgendein Drama hatte er bestimmt erwartet. Wenn sich eine Frau zu Hause in ihrer eigenen Küche umdrehte und sah, dass ein Mann, den sie erst seit ein paar Minuten kannte, eine Pistole auf sie richtete, war eine heftige Reaktion nur natürlich. Carrie hatte gespürt, wie sich ihre Augen reflexartig weiteten, als müsste ihr Gehirn mehr von dem Geschehen aufnehmen, um zu bestätigen, dass es tatsächlich stattfand.

Er kniff die Augen zusammen, als wollte er sagen: Im Ernst?

Carries Herz pochte in ihren Ohren, während ein kühles Taubheitsgefühl an ihrer Wirbelsäule hinunter bis in ihre Kniekehlen wanderte. Es fühlte sich an, als wäre ihr ganzer Körper, ihre ganze Existenz, auf dieses Kribbeln reduziert.

Doch das ging nur sie etwas an. Sie ignorierte die Pistole, konzentrierte sich stattdessen auf ihn und ließ sich nichts anmerken.

Elsie verzog den Mund, krähte und warf ihren Beißring mit einem Kreischen wieder auf den Fußboden. Sam machte einen Schritt auf das Baby zu. Carrie spürte, wie sich ihr unwillkürlich die Nasenflügel blähten.

»Sam«, sagte sie ruhig. »Ich weiß nicht, was Sie wollen, aber es gehört Ihnen. Alles. Ich tue alles. Aber bitte« – ihr versagte die Stimme – »bitte tun Sie meinen Kindern nichts.«

Die Haustür ging auf und knallte wieder zu. Panik stieg in Carrie auf, und sie holte Luft, um zu schreien. Sam entsicherte die Pistole.

»Ist Dad schon weg, Mom?«, rief Scott aus dem anderen Zimmer. »Sein Auto steht nicht mehr da. Darf ich weiterspielen?«

»Sagen Sie ihm, er soll reinkommen«, forderte Sam sie auf.

Carrie biss sich auf die Unterlippe.

»Mom?«, wiederholte Scott mit kindlicher Ungeduld.

»Hier bin ich«, sagte Carrie und machte die Augen zu. »Komm schnell her, Scott.«

»Darf ich draußen bleiben, Mom? Du hast doch gesagt, ich könnte …« Scott erstarrte. Sein Blick ging hektisch zwischen seiner Mutter und der Pistole hin und her.

»Scott«, sagte Carrie und winkte ihn zu sich. Der Junge ließ die Waffe nicht aus den Augen, als er durch die Küche zu ihr ging. Sie stellte sich bewusst vor ihn.

»Ihren Kindern wird nichts passieren«, sagte Sam. »Oder vielleicht doch. Aber das hängt nicht von mir ab.«

Abermals blähten sich Carries Nasenflügel. »Von wem dann?«

Sam lächelte.

Bill spürte die Blicke der Leute auf sich.

Der Grund dafür war die Uniform. Sie hatte diesen Effekt. Er wirkte darin größer.

Bill war vieles, aber alle, die ihn kannten, schienen sich einig zu sein, dass er vor allen Dingen nett war. Seine ehemaligen Lehrer und Ausbilder, seine Ex-Freundinnen und die Eltern seiner Freunde – sie alle hielten Bill für einen netten Kerl. Nicht dass ihm das etwas ausgemacht hätte. Er war nett. Aber wenn er in seine Uniform schlüpfte, veränderte sich etwas. Nett war dann nicht mehr die Haupteigenschaft.

Passagiere hoben den Kopf, als er an der endlos langen Schlange vor der Sicherheitskontrolle am Los Angeles International Airport vorbeiging, doch es bedurfte nur eines kurzen Blickes auf seine Mütze und seine Krawatte, bis sich ihre Verärgerung in Neugier verwandelte. Heutzutage kleidete sich niemand mehr so. Es handelte sich um ein Relikt aus einer Zeit, als Flugreisen noch ein seltenes Privileg waren, ein besonderes Ereignis. Absichtlich unverändert, hielt die Uniform einen gewissen antiquierten Zauber am Leben. Sie rief Respekt hervor. Sie strahlte Pflichtbewusstsein aus.

Bill näherte sich der Mitarbeiterin der Transportsicherheitsbehörde, die allein auf einem kleinen Podium saß, das sich in diskretem Abstand zur Sicherheitskontrolle für die Passagiere befand. Das Gerät piepste, als es den Barcode auf der Rückseite seines Dienstausweises scannte, und der Computer trat in Aktion.

»Morgen«, sagte Bill und reichte der Frau seinen Pass.

»Ist es noch Morgen?«, fragte sie, während sie die Angaben neben seinem Foto studierte. Sie verglich sie mit den Angaben auf seinem Dienstausweis und hielt den Pass unter ein blaues Licht, worauf im unbedruckten Bereich des Dokuments Hologramme und eine verborgene Schrift erschienen. Sie blickte auf, um sich zu vergewissern, dass das Gesicht vor ihr mit dem auf den Ausweisen übereinstimmte.

»Streng genommen wahrscheinlich nicht mehr«, entgegnete Bill. »Aber für mich ist es noch Morgen.«

»Also, für mich ist heute Freitag, deshalb soll sich der Tag beeilen.«

Auf dem Computerbildschirm erschienen das Foto und die Angaben von Bills Dienstausweis. Nachdem die Frau alle drei Identifikationsnachweise dreimal geprüft hatte, gab sie ihm seinen Pass zurück.

»Guten Flug, Mr Hoffman.«

Er entfernte sich von der Sicherheitskontrolle für das Flugpersonal und ging an den Passagieren vorbei, die ihre Schuhe wieder anzogen und Flüssigkeiten und Laptops in ihrem Handgepäck verstauten. Bei seinem letzten Trip war Bill mit einer Flugbegleiterin geflogen, die partout nicht in den Ruhestand gehen wollte, weil sie auf gar keinen Fall auf ihre Mitarbeiter-Sicherheitsfreigabe verzichten wollte. Sie rümpfte die Nase über die Vorstellung, wie eine Normalsterbliche reisen zu müssen: Schlange stehen, Flüssigkeitsbeschränkungen, nur zwei Handgepäckstücke, die jedes Mal durchsucht werden, nicht nur hin und wieder stichprobenartig. Als Bill beobachtete, wie ein Mann in Socken von Kopf bis Fuß abgetastet wurde, musste er ihr im Stillen recht geben.

Bill zog sich an ein unbesetztes Gate zurück und rief wie versprochen zu Hause an. Er sah zu, wie draußen unter ihm auf dem Rollfeld ein Cateringfahrzeug hin und her fuhr und Gepäckabfertiger in gelben Neonwesten den Frachtraum eines Flugzeugs ent- und beluden, während er dem Läuten am anderen Ende der Leitung lauschte. Eine Maschine rollte in Richtung Startbahn, in der Ferne hob eine andere ab.

Carrie und er stritten sich nicht oft. Deshalb waren sie so schlecht darin, wenn es mal dazu kam. Sie hatte allen Grund, sauer zu sein. Scott hatte heute sein Saisoneröffnungsspiel in der Little League, und Bill hatte ihm versprochen, dabei zu sein. Er hatte sichergestellt, dass er am Tag des Spiels sowie am Tag davor und am Tag danach nicht fliegen musste. Aber wenn der Chefpilot anrief und einen bat, ihm einen Gefallen zu tun und einen Flug zu übernehmen, sagte man nicht Nein. Dann konnte man einfach nicht Nein sagen. Bill war der drittdienstälteste Pilot. Als er angefangen hatte, war sich niemand sicher gewesen, ob die Fluggesellschaft überhaupt Fuß fassen würde. Neu gegründeten Airlines gelang das fast nie. Er hatte ihr trotzdem die Stange gehalten. Und jetzt, beinahe fünfundzwanzig Jahre später, war die Fluggesellschaft sowohl bei Passagieren als auch bei Aktionären ein Riesenerfolg. Coastal war sein Baby. Wenn der Boss einem also sagte, das Unternehmen bräuchte einen, dann sagte man Ja. Nein zu sagen kam einfach nicht infrage.

Genau das hatte er Carrie erklärt. Allerdings hatte er ihr nicht gesagt, dass er überhaupt nicht an Scotts Spiel gedacht hatte, als O’Malley sich erkundigt hatte, ob er verfügbar sei. Und er hatte ihr auch nicht gesagt, dass es keinen Unterschied gemacht hätte, wenn er daran gedacht hätte.

Das Telefon läutete und läutete, bis sich schließlich die Mailbox meldete: »Hi! Hier ist Carrie. Ich kann Ihren Anruf gerade …« Er legte auf und sah ein Familienfoto auf dem Display seines Telefons erscheinen, bevor er es in die Tasche steckte.

Bills Blick fiel auf sein Spiegelbild im Fenster, und er betrachtete sein volles dunkles Haar. Ein verräterisches Grau sprenkelte seine Schläfen. Seine Augen waren tiefblau.

Bill schlug auf die Klingel, die in der Mitte des Couchtischs stand.

»Augen. Meine Augen.«

»Ist das deine endgültige Antwort? Es geht ums Ganze.«

»Sie hat gesagt, sie wären wie ein See in der Nacht, durch den man schwimmt. Wenn man den Grund nicht sehen kann. Aber das macht den Reiz aus. Also, ja. Meine Augen. Endgültige Antwort.«

Carrie verschlug es die Sprache.

Bill beugte sich vor. Er roch seine eigene Bierfahne. »Das hab ich dich mal am Telefon zu einer Freundin sagen hören. Ich hab es dir aber nie erzählt. Ich liebe dich so sehr, Schatz.« Er warf Carrie eine Kusshand zu.

Die Frauen jubelten, die Männer spöttelten.

»Also gut, Carrie«, sagte die Gastgeberin der Party. »Seine Augen. War das auch deine Antwort auf die Frage, was dir an deinem Mann am besten gefällt?«

Ihre Wangen liefen rot an. Sie hielt kichernd ein Blatt Papier hoch, auf das sie ihre Antwort geschrieben hatte: sein Po.

Alle brachen in Gelächter aus. Bill lachte am lautesten von allen.

Er rückte seine Krawatte zurecht. Ich bin ein guter Mensch, rief er sich in Erinnerung. Vor seinem inneren Auge tauchte Carries enttäuschter Gesichtsausdruck auf, als er aus der Küche gegangen war. Er kniff kurz die Augen zu, dann wandte er den Blick ab und sah der startenden Maschine hinterher.