Das Buch
»Es ist immer noch ein Schock, wenn mich jemand mit meinem richtigen Namen anspricht. Im Lauf der Jahre hatte ich viele Namen, meistens waren es Abwandlungen meines eigenen: Margaret, Melody, Maggie. Falsche Biografien, die von der Studentin bis zur selbstständigen Fotografin reichten, kürzlich auch Innenarchitektin und Life Coach von Filmstars, alles ausgefeilte Erfindungen. Rollen, die ich nahezu perfekt spielte. Aber heute bin ich als ich selbst hier, jemand, der ich schon lange nicht mehr war.«
Die Autorin
Julie Clark wuchs in Santa Monica auf. Während sich ihre Freunde auf Surfbrettern in die Wellen stürzten, las sie lieber Bücher am Strand. Nach dem Studium arbeitete sie in Berkeley an der University of California. Dann kehrte sie zurück nach Santa Monica, wo sie heute mit ihren beiden Söhnen und einem Goldendoodle lebt und als Lehrerin tätig ist. Mit ihrem gefeierten internationalen Debüt »Der Tausch« eroberte sie die SPIEGEL-Bestsellerliste im Sturm und stand wochenlang auf Platz 1.
Lieferbare Titel
Der Tausch – Zwei Frauen. Zwei Tickets. Und nur ein Ausweg.
JULIE CLARK
DER
PLAN
THRILLER
Aus dem Amerikanischen
von Astrid Gravert und Katja Hald
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe The Lies I Tell erschien erstmals 2022 bei Sourcebooks Landmark, Naperville, Illinois.
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Deutsche Erstausgabe 04/2022
Copyright © 2022 by Julie Clark
Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Lars Zwickies
Printed in Germany
Umschlaggestaltung: zero-media.net unter Verwendung von Arcangel (Lillian Polley), FinePic®, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-29017-7
V002
www.heyne.de
Für Pap-Pap, der mir gesagt hat, dass ich es kann.
Für Mum, die mir gezeigt hat, dass ich es kann.
Sie steht auf der anderen Seite des Raumes in einer kleinen Traube von Gästen. In einer Ecke spielt ein Jazzquartett, die hüpfenden, gleitenden Töne tanzen um uns herum, eine leise Untermalung, die von Geld und Klasse zeugt. Meg Williams. Ich nehme einen Schluck Wein, genieße den teuren Jahrgang in dem schweren Kristallglas und beobachte sie. Es gibt nur wenige Fotos von ihr – ein körniges Bild als Oberstufenschülerin aus einem Highschool-Jahrbuch und ein weiteres aus einem YMCA-Mitarbeiterverzeichnis von 2009 –, aber ich habe sie sofort erkannt. Mein erster Gedanke: Sie ist wieder da. Mein zweiter: endlich.
Sobald ich sie sah, steckte ich meinen Presseausweis in die Handtasche und bewegte mich unauffällig am Rand des Raums entlang. In den letzten drei Monaten habe ich alle Wahlkampfveranstaltungen von Ron Ashton besucht, hielt die Augen offen und wartete darauf, dass Meg auftauchte. Ich war von einem Google Alert alarmiert worden, den ich vor zehn Jahren erstellt hatte – nach einer Dekade der Stille klingelte es im April, als eine neue Website erschien: Meg Williams, Immobilienmaklerin. Ich wusste immer, dass sie zurückkommen würde. Dass sie es unter ihrem richtigen Namen tat, sagte mir, dass sie nicht vorhatte, sich zu verstecken.
Als sie eintrat und lächelnd ihren Mantel an der Tür abgab, wurde mir für einen Moment schwindelig. Man kann sich auf etwas vorbereiten, es sich hundertmal auf unterschiedliche Weise vorstellen, und trotzdem verschlägt es einem den Atem, wenn es tatsächlich geschieht.
Ich habe einmal mit ihr gesprochen, vor zehn Jahren, aber sie wusste sicher nicht, dass ich diejenige war, die an jenem Tag ans Telefon ging. Es war ein Dreißig-Sekunden-Gespräch, das mein Leben veränderte, und es wäre eine Untertreibung zu sagen, dass ich Meg zum Teil dafür verantwortlich mache.
Scott, mein Verlobter, wird sicher einwenden, dass der Preis – finanziell wie emotional – zu hoch sei. Dass wir es uns nicht leisten können, dass ich bezahlte Jobs nicht annehme, um einer Geschichte nachzujagen, die es vielleicht niemals geben wird. Dass es all die Arbeit, die ich in meine Heilung gesteckt habe, zunichtemachen wird, wenn ich mich wieder mit jener Zeit, jenen Ereignissen und jenen Menschen beschäftige. Er versteht nicht, dass diese Story mich endlich befreien wird – nicht nur davon, Artikel zu schreiben, für die ich lediglich ein paar Cent pro Wort bekomme, sondern auch von den Dämonen, die Meg mir vor langer Zeit geschickt hat.
Ich geselle mich zu einem größeren Kreis von Menschen, lausche ihrem Gespräch und nicke immer wieder zustimmend, während ich Meg im Auge behalte. Beobachte, wie sie herumgeht und mit Leuten spricht. Beobachte, wie sie ihn beobachtet. Ich habe Hunderte von Stunden damit verbracht, ihre letzten paar Jahre in Los Angeles zu rekonstruieren, und wie ich es auch betrachte, Ron Ashton steht immer im Zentrum. Ich weiß nicht, was in ihr vorgeht – zumindest noch nicht –, aber ich weiß, sie ist nicht die Art Frau, die eine Gelegenheit zum Abrechnen auslässt.
Sie wirft den Kopf zurück und lacht über irgendetwas, und als Ron sich ihr von hinten nähert, staune ich, dass ich tatsächlich hier bin und diesen Moment miterlebe. Dass ich der einzige Mensch im Raum bin, der weiß, was passieren wird.
Na ja, nicht der einzige Mensch. Sie weiß es ebenfalls.
Ich drehe mich etwas, so als würde ich aus dem großen Fenster sehen wollen, das einen weiten Blick von Downtown bis zum Meer bietet, und beobachte, wie sie sich miteinander bekannt machen. Scherzhaftes Geplänkel, Gelächter. Er beugt sich hinunter, um sie besser zu verstehen, und ich frage mich, wie sie es macht. Wie sie den Menschen vorlügen kann, sie wäre die, die sie vorgibt zu sein, und sie dazu bringt, ihre tiefsten Wünsche zu offenbaren, sich zu öffnen und manipulieren und betrügen zu lassen. Sich bereitwillig täuschen zu lassen.
Ich beobachte, wie eine Visitenkarte ausgehändigt und in die Tasche gesteckt wird. Dann sehe ich weg, in Gedanken bei ihrem Einstieg, der jetzt auch meiner sein wird.
Es beginnt, wie es immer beginnt.
Ich gleite leise neben dich – keine plötzlichen Bewegungen, kein lautes Trara. Als ob ich immer da gewesen wäre. Immer da hingehörte.
Diesmal ist es eine Spendenveranstaltung, bei der pro Gedeck zehntausend Dollar gezahlt werden. Nach fast zehn Jahren fühle ich mich zwischen den Insignien des Reichtums richtig heimisch – den originalen Kunstwerken an den Wänden, den Antiquitäten, die mehr kosten, als die meisten Menschen im Jahr verdienen, und den Hausangestellten, die ich vorgeblich nicht bemerke und die sich leise durch Häuser wie dieses bewegen, das hoch oben auf einem Hügel über Los Angeles thront, während sich die Stadt glitzernd unter uns erstreckt.
Wenn du meine Zielperson bist, dann habe ich dich sorgfältig ausgesucht. Wahrscheinlich befindest du dich gerade in einer Umbruchphase deines Lebens – ein Jobverlust, eine Scheidung, der Tod eines Familienmitglieds. Oder du steckst in der heißen Phase der Kandidatur für ein Amt, bei der es nicht gut für dich läuft. Psychisch angeschlagene Menschen gehen Risiken ein, denken nicht klar und glauben nur zu gerne jedes Märchen, das ich ihnen auftische.
Für meine Recherchen benutze ich hauptsächlich die sozialen Medien mit ihren Check-ins, Geotags und ihrer schamlosen Selbstdarstellung. Und die Ratespiele, die einige deiner Freunde dort veranstalten. Hunde oder Katzen? Anzahl der Brüder und Schwestern? Die meisten der Fragen scheinen harmlos, aber sieh sie dir beim nächsten Mal genauer an. Nenne fünf Orte, an denen du gelebt hast, oder vier Namen, unter denen du bekannt bist – beides ermöglicht mir, mich dir zu nähern. John? Ich bin’s, Meg! Aus Boise, erinnerst du dich? Ich kannte deine Schwester.
Es ist kriminell leicht.
Ich verbringe Hunderte von Stunden mit Beobachten und Recherchieren. Mache mir ein Bild von Menschen, die in deinem Leben eine Rolle spielen, um denjenigen zu finden, mit dem ich mich anfreunden kann und der mich zu dir führt. Am Ende weiß ich alles, was ich über dich und die meisten Menschen in deinem Umfeld überhaupt wissen kann. Wenn du zu mir sagst: Schön, Sie kennenzulernen, kenne ich dich schon seit Monaten.
Beunruhigt dich das? Sollte es.
»Hast du schon die Krabbenküchlein probiert?« Veronica taucht neben mir auf, eine Cocktailserviette in der Hand. In den sechs Monaten, seit ich wieder in Los Angeles bin, sind wir gute Freundinnen geworden. Wir haben uns in einem Yoga-Kurs in Santa Monica kennengelernt, unsere Yogamatten lagen hinten direkt nebeneinander, und aus der freundlichen Begrüßung zweier Fremder am Beginn des Kurses ist schließlich eine dicke Freundschaft geworden. Erstaunlich, wie leicht es mithilfe von Instagram Stories ist, zur richtigen Zeit am richtigen Ort neben der richtigen Person zu sein.
»Nein. Ich habe gehört, es gibt zum Dinner Filet Mignon, und ich spare meinen Hunger dafür auf«, erkläre ich.
Mir wird ganz heiß in der Brust, eine zunehmende Anspannung, die ich immer spüre, wenn ich einen neuen Job beginne. Dieser Teil – den Köder auslegen – gefällt mir am besten. Ich genieße den köstlichen Vorgeschmack dessen, was gleich geschehen wird. Egal wie oft ich es mache, ich bekomme nie genug von dem Nervenkitzel, der immer mit diesem Moment verbunden ist.
Veronica zerknüllt ihre Serviette. »Dir entgeht was, Meg.«
Es ist immer noch ein Schock, wenn mich jemand mit meinem richtigen Namen anspricht. Im Lauf der Jahre hatte ich viele Namen, meistens waren es Abwandlungen meines eigenen: Margaret, Melody, Maggie. Falsche Biografien, die von der Studentin bis zur selbstständigen Fotografin reichten, kürzlich auch Innenarchitektin und Life Coach von Filmstars, alles ausgefeilte Erfindungen. Rollen, die ich nahezu perfekt spielte. Aber heute bin ich als ich selbst hier, jemand, der ich schon lange nicht mehr war.
In diesem Fall hatte ich keine Wahl, denn als Einstieg in diesen Job brauchte ich eine Maklerlizenz, und das ging nicht ohne Sozialversicherungsnummer und Fingerabdruck. Aber es ist in Ordnung, denn diesmal will ich mich zu erkennen geben. Ron Ashton – Bauunternehmer, Lokalpolitiker und Kandidat für den Senat von Kalifornien – soll wissen, wer ihm alles genommen hat. Nicht nur sein Geld, sondern auch seinen guten Ruf, an dem er jahrelang gearbeitet hat.
Ich sehe ihn auf der anderen Seite des Raumes, seine breiten Schultern, die alle anderen um einige Zentimeter überragen, die grauen Haare ordentlich gekämmt, im Gespräch mit Veronicas Mann, seinem Wahlkampfmanager.
Veronica folgt meinem Blick und erklärt: »David sagt, die Wahl wird ein knappes Rennen werden. Ron kann sich in den verbleibenden Monaten keinen einzigen Fehltritt leisten.«
»Wie ist er so?«, frage ich. »Unter uns.«
Veronica überlegt einen Moment und antwortet: »Der typische Politiker. Heimlicher Frauenheld. Hält sich für die Reinkarnation von Reagan. David sagt, er ist von ihm besessen. ›Er hört nicht auf, von dem verdammten Reagan zu reden.‹«
Sie lacht kurz auf und schüttelt den Kopf.
»Und was denkst du?«
Sie sieht mich amüsiert an. »Ich denke, er ist wie jeder andere Politiker da draußen – krankhaft ehrgeizig. Aber er bezahlt David gut, und die Zusatzleistungen sind toll.« Dann stupst sie mich gegen die Schulter. »Schön, dass du kommen konntest. Ich glaube, hier sind einige Leute, die du kennenlernen solltest. Vielleicht neue Kunden.«
Ich nehme noch einen Schluck Wein. Ich bin heute Abend nur hier, um mir einen ganz bestimmten Kunden zu schnappen. »Das könnte ich brauchen«, sage ich. »Es war hart, wieder von vorne anzufangen.«
»Du wirst es schaffen. Schließlich bringst du jahrelange Erfahrung aus Michigan mit. Ich meine, wie du unseren Immobilienkauf in der achtzigsten Straße gedeichselt hast … Ich weiß immer noch nicht, wie du die Verkäufer dazu gebracht hast, so weit mit dem Preis runterzugehen.«
Ich unterdrücke ein Lächeln. Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, hatte Veronica mir nach dem Yoga beim Sushi erzählt, dass sie eine Immobilie als Geldanlage suchten, aber die Maklerin, die sie kontaktiert hatten, fand nichts in ihrer Preisklasse.
»Hat sie euch die Immobilie in Kelton gezeigt?«, hatte ich gefragt, denn ich wusste genau, was sie suchten. »Die Ranch, die für eins Komma sieben auf dem Markt war?«
Veronica bekam große Augen. »Nein, das wäre perfekt gewesen. Ich sollte sie danach fragen.«
»Sie wurde noch am Tag, an dem sie auf den Markt kam, für ein Vielfaches verkauft, es ist also zu spät«, sagte ich. »Eure Maklerin arbeitet für Apex Realty in Brentwood, stimmt’s? Wir bekommen immer interne E-Mail-Benachrichtigungen über ihre Deals – zehn Millionen, zwanzig Millionen.« Ich nahm ein Stück Sushi und hielt es zwischen meinen Stäbchen in der Luft. »Ich kann dir sagen, Transaktionen in der Größenordnung zu managen, kann ziemlich aufreibend sein.«
Meine erfundene Biografie besagte, dass ich nach einer erfolgreichen Karriere als Immobilienverkäuferin in Ann Arbor zurück nach Los Angeles gekommen war. Meine neue Website ist mit einer in Michigan verlinkt, mit Angeboten, die ich einfach von Zillow und Redfin übernommen habe.
Veronica hatte ihre Stäbchen hingelegt und gesagt: »Sie war großartig, als wir das Haus in Malibu gekauft haben, aber vielleicht ist diese Preisgrenze unter ihrer Würde.« Ich nahm einen Schluck von meinem Zitronenwasser und ließ Veronica darüber nachdenken. Schließlich sagte sie: »Ich würde dich gerne mit der Sache betrauen. Du könntest mal deine Fühler ausstrecken, vielleicht findest du was.«
Ich hatte fast sofort etwas gefunden. Ein einstöckiges traditionelles Haus in einer Straße mit vielen Bäumen in Westchester. Holzfußboden, ein Fenster zur Bucht sowie eine komplett renovierte Küche. Als ich Veronica das vollständige Angebot aushändigte, mit der knappen Beschreibung der Besonderheiten des Hauses und dem Preis, hatte sie abgewehrt: »Das liegt fast fünfhunderttausend über unserem Budget.«
In einem anderen Leben hatte ich einmal einen Kurs in Digital Design belegt. In irgendeiner eingelagerten Kiste liegt noch das Abschlusszeugnis. Zugegebenermaßen ist es eine Fälschung, aber ich hatte genug gelernt, um am Anfang zurechtzukommen, und im Lauf der Jahre noch mehr.
»Ich glaube, ich kann sie deutlich runterhandeln. Lass es uns erst mal ansehen. Es gibt einen Schlüsseltresor, wir können also gleich hinfahren, wenn du willst.«
Das Angebot, das ich ihr ausgehändigt hatte, stimmte – zumindest was die Anzahl der Zimmer, Quadratmeter, Heizungs-, Lüftungs- und Klimaanlage usw. anging. Ich erhöhte nur den Preis. Dann versprach ich, ihn auf wenig mehr als zweihunderttausend über dem tatsächlichen Preis »runterzuhandeln«.
Das funktionierte nur, weil Apps wie Zillow und Redfin für Leute wie Veronica und David nicht existieren. In ihrer Steuerklasse tut niemand etwas, das delegiert werden kann. An Wirtschaftsprüfer und Buchhalter, die ihre Rechnungen bezahlen. Hausangestellte, die ihre Einkäufe erledigen und ihre Mahlzeiten kochen. Und einen verlässlichen Immobilienmakler, der für sie auf die Suche geht, mit den Verkaufsagenten vereinbart, die Immobilienangebote vorab zu bekommen, Besichtigungen organisiert und die Transaktion für sie abwickelt.
David und Veronica unterschrieben Papiere, als ich sie dazu aufforderte, überwiesen das Geld dorthin, wo ich es ihnen sagte, und wenn sie jemals bemerkten, dass sie nie einen Makler oder Verkäufer kennengelernt hatten, dann war es nur ein flüchtiger Gedanke, der sofort wieder verflog.
Am Ende hatte David erklärt, es sei die einfachste Transaktion gewesen, die er jemals getätigt habe. Warum auch nicht, da doch jeder genau das bekommen hatte, was er wollte? Die Verkäufer bekamen zweihunderttausend mehr als den geforderten Preis. Veronica und David dachten, sie hätten dank meines Verhandlungsgeschicks das Geschäft des Jahrhunderts gemacht. Und ich erwarb einen glänzenden – und unangreifbaren – Ruf in ihrem Freundeskreis.
Das Wichtigste an einem guten Schwindel ist der Eindruck von Legitimität. Fast zu sein, was man vorgibt zu sein. Wie am Filmset. Ich bin real. Meine Handlungen sind real. Nur der Hintergrund ist Illusion.
David kommt zu uns und legt den Arm um Veronicas Taille. »Du siehst toll aus, Meg«, sagt er. »Ich hoffe, meine Frau hat dich nicht mit Einzelheiten der Renovierung gelangweilt?«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Überhaupt nicht«, erwidere ich. »Wir sprechen gerade über Ron. Wie ich höre, wird die Wahl knapp?«
David nickt. »Unseren internen Umfragen nach sind sie nahezu gleichauf. Die heutige Veranstaltung wird uns einen kräftigen Schub für den Endspurt geben.«
»Du musst erschöpft sein«, erwidere ich. »Veronica sagt, du bist kaum noch Hause.«
David zwinkert Veronica zu. »Danke, dass du ihr Gesellschaft geleistet hast.«
»Es war mir ein Vergnügen.«
Als sich das Gespräch dem jährlichen Urlaub in der Karibik zuwendet, blende ich die beiden aus und beobachte, wie die Gäste sich untereinander vermischen, kleine Trauben bilden und dann in neuen Konstellationen zusammenkommen, während das Quartett in der Ecke einen neuen Song beginnt. Los Angeles ist ganz anders als Pennsylvania, wo ich zuletzt gelebt hatte. Dort hatte ich mich stark umstellen, mich im Auftreten zurücknehmen, dafür sorgen müssen, dass alles an mir zu der Person passt, die ich zu sein vorgebe. Hier sind die Menschen von Natur aus misstrauisch, suchen nach der Ecke, dem Haken, dem Trick. Man geht davon aus, dass niemand genau der oder die ist, die er oder sie zu sein vorgibt.
Ich arbeite hart daran, mich im Freundeskreis anderer Menschen einzunisten, sodass niemand merkt, dass ich keinen eigenen habe. Ich habe seit Jahren keinen wirklichen Freund gehabt, nicht seit der Zeit, bevor ich Los Angeles verließ. Ich versuche, nicht an Cal zu denken oder mich zu fragen, wo er sich gerade aufhält und ob er noch mit Robert zusammen ist. Ich bereue nicht viele Dinge in meinem Leben, aber eines davon ist, wie es mit Cal endete.
Ein Hauch von Angst überkommt mich, als ich wieder darüber nachdenke, wie viel Zeit ich noch habe. Anders als frühere Jobs hat dieser eine Deadline – vierzehn Tage vor der Wahl. Mir bleiben also noch zwanzig Wochen. Einhundertvierzig Tage. Es klingt viel, doch es bleibt nur wenig Spielraum für Fehler oder Verzögerungen. Es gibt bestimmte Etappenziele, die ich auf dem Weg erreichen muss, damit alles funktioniert. Das erste ist die Bekanntmachung mit Ron, und die muss heute Abend geschehen.
Im Rahmen meiner Hintergrundrecherchen habe ich einen Blick in Rons Immobilienbestand geworfen, habe öffentliche Register durchgesehen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, über wie viel Eigen- und wie viel Fremdkapital er verfügt. Dank seiner Kandidatur konnte ich auch seine Steuerunterlagen einsehen. Dabei fiel mir auf, wie viele finanzielle Risiken er eingegangen ist und wie viele davon sich zu seinem Vorteil entwickelt haben. Ich muss daran denken, wie er meine Mutter betrogen und unser Eigentum gestohlen hat, und frage mich, wie viele andere Ron auf seinem Weg zum Amt des Senators benutzt und dann weggeworfen hat.
»Meg, hilf uns. Saint John oder Saint Croix?« Veronica sieht mich flehend an.
Ich weiß, dass sie Saint Croix im Auge hat, also sage ich: »Ich war das letzte Mal vor drei Jahren auf Saint John.« Ich schüttele den Kopf, als hätte ich den Aufenthalt in schlechter Erinnerung. »Sosehr ich die Insel liebe, ich war enttäuscht. Ihr wohnt dort im The Villas, stimmt’s?«
David nickt. »Sie haben sich immer gut um uns gekümmert.«
Ich rümpfe missbilligend die Nase. »Ich glaube, sie haben sich gewerkschaftlich organisiert. Es war definitiv nicht das, was ich mir erhofft hatte.«
»Herrje«, sagt er. »Dann Saint Croix.«
Veronica klatscht in die Hände und sagt: »Ich weiß nicht, warum du nie auf mich hörst.«
Von hinten mischt sich eine Stimme in unser Gespräch. »Ich hoffe, ihr drei besprecht die Party nach meinem Wahlsieg.« Ich drehe mich um und sehe Ron Ashton, den Mann, der mein Leben auseinanderriss und meine Mutter in eine Abwärtsspirale stürzte, von der sie sich nie wieder erholte. Seinetwegen musste ich während meines letzten Highschool-Jahrs und auch noch danach im Auto schlafen.
Ich lächle. »Der Mann der Stunde«, begrüße ich ihn und strecke die Hand aus. »Meg Williams.« Ich bin ein bisschen aufgeregt, weil ich ihm die absolute Wahrheit sage. Jahrelang habe ich mir diesen Moment vorgestellt, mich gefragt, ob er mich erkennen oder sich an meinen Nachnamen erinnern würde. Die Gesichtszüge meiner Mutter entfernt in meinen eigenen erkennen würde. Habe mich gefragt, ob ich umdisponieren und aus unserem Treffen ein freudiges Wiedersehen machen müsste, eine zufällige Begegnung, aus der ein naiver Flirt wird. Genug, um über die Holprigkeit unserer früheren Beziehung hinwegzugleiten und ihn zu überzeugen, dass ich damals nichts begriff und jetzt noch weniger. Aber seine Miene ist ausdruckslos, und ich bin erleichtert, dass er mich nicht erkannt hat. Vorerst.
Sein Händedruck ist warm und fest, und ich erwidere ihn den Bruchteil einer Sekunde länger als üblich, bis ich einen Anflug von Interesse in seinen Augen sehe. Er wird sich an diesen Moment erinnern. In Gedanken hierhin zurückkehren und sich fragen, ob er sich anders hätte entscheiden können. Mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass die Antwort auf diese Frage Nein ist.
»Meg ist gerade von Michigan nach Los Angeles gezogen«, erklärt Veronica. »Sie ist diejenige, die uns den sensationellen Deal mit der Immobilie in Westchester vermittelt hat.«
Wie ich mir dachte, ist Rons Interesse geweckt. Seinen Social-Media-Accounts zufolge arbeitet er seit fünfzehn Jahren mit demselben Makler zusammen. Einem Mann, gegen den es zwei Beschwerden wegen sexueller Belästigung bei der kalifornischen Makleraufsicht gab. Es sollte leicht sein, die Ursache für seine dritte und letzte zu werden, und dann wäre Ron Ashton fast vier Monate lang ohne Vertretung. Für einen Bauunternehmer ist das ein Problem.
»Immobilien«, sagt er. »Wo bewegen sich ihre Spitzenverkäufe?«
»In Michigan gehörte ich in den letzten Jahren zum oberen einen Prozent«, erkläre ich ihm. »Aber hier in Los Angeles? Geht es nur langsam voran.« Es ist immer gut, ein bisschen Bescheidenheit einfließen zu lassen. Menschen schätzen es, besser zu sein als der andere.
»Haben Sie eine Karte?«, fragt er. »Vielleicht rufe ich Sie an.«
Ich ziehe eine aus meiner Clutch und gebe sie ihm. »Schauen Sie sich meine Website an. Ich bin zwar neu in der Stadt, aber nicht neu in der Branche, und ich kenne Los Angeles gut. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten, wenn Sie interessiert sind.« Dann wende ich mich an Veronica und sage: »In Saint Croix müsst ihr unbedingt im The Riverhead essen.«
Während Veronica anfängt, Reisepläne zu machen, spüre ich ein Kribbeln im Nacken. Schon seit Langem weiß ich, dass ich es niemals ignorieren sollte. Ich trete einen kleinen Schritt zurück und blicke kurz nach unten, als wollte ich sichergehen, dass ich nicht stolpere. Beim Aufsehen lasse ich den Blick durch den Raum schweifen und prüfe, ob mich vielleicht jemand beobachtet. Doch ich sehe nur einen Raum voller Menschen, die reden und lachen, trinken und den Mann feiern, den sie nach Sacramento schicken wollen.
Ich lächle Veronica an, höre aber nicht mehr zu. In Gedanken gehe ich meine Ankunft noch einmal durch, die Menschen, mit denen ich gesprochen habe – der Hausdiener, das Wahlkampfteam, das den Vordereingang bewacht, verschiedene Gäste. Harmloser Small Talk, wie er für eine Immobilienmaklerin, die neu in der Stadt ist und sich einen Kundenstamm aufbauen will, nötig ist. Sie sind alle beschäftigt, niemand beachtet mich. Vielleicht ist es nur das vertraute Gefühl, wieder in Los Angeles zu sein. Die Luft ist einzigartig, eine Mischung aus Grasgeruch und Autoabgasen und manchmal, wenn man nah genug ist, der salzige Geruch des Meeres. Ich bin weit entfernt von dem Ort, wo ich aufgewachsen bin, aber unter all den Schichten – all den Identitäten, die ich in den vergangenen Jahren angenommen habe – bin ich immer noch die, die ich war, als ich wegging. Eine Frau auf der Flucht, die wusste, dass sie alles sein konnte. Alles tun konnte. Ich musste einem Mann nur erzählen, was er hören wollte.
LOS ANGELES
ZEHN JAHRE FRÜHER