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Das Buch

Nach der rätselhaften Ermordung seiner Lebensgefährtin ist der Ex-Psychiater Mark Behrendt am Ende. Nur seiner besten Freundin Doreen verdankt er, dass er noch am Leben ist. Doch gerade als Mark den Albtraum überwunden glaubt, geschieht das Unfassbare: Der mysteriöse Mörder kehrt zurück und entführt Doreen. Er stellt Mark ein Ultimatum: Ihm bleiben knapp drei Tage Zeit, ein entsetzliches Verbrechen zu begehen. Wenn er sich weigert oder scheitert, wird Doreen sterben. Mark steht vor einer grausamen Entscheidung, und die Uhr tickt …

Der Autor

Wulf Dorn (*1969) war zwanzig Jahre in einer psychiatrischen Klinik tätig, ehe er sich ganz dem Schreiben widmete. Mit seinem 2009 erschienenen Debütroman Trigger gelang ihm ein internationaler Bestseller, dem weitere folgten. Dorns Bücher werden in zahlreiche Sprachen übersetzt und begeistern eine weltweite Leserschaft. Für seine Storys und Romane wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem französischen Prix Polar, dem ELLE Readers Award und dem Glauser Preis.

Lieferbare Titel

Trigger; Kalte Stille; Dunkler Wahn; Phobia; Die Kinder

WULF DORN

TRIGGER

DAS BÖSE KEHRT ZURÜCK

Thriller

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 03/2022

Copyright © 2021 by Wulf Dorn

Copyright © 2022 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Michelle Landau

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München, unter Verwendung eines Motivs von © Manitchaya / Bigstock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-19682-0
V002

www.heyne.de

Dies ist für euch, treue Leserinnen und Leser.

Lasst uns dorthin zurückkehren,

wo alles begonnen hat.

Und für Flo.

Du wirst trotzdem immer bei uns sein.

»Der Anblick des Bösen zündet Böses in der Seele an.

Das ist unvermeidlich.«

C. G. Jung

»Zivilisation im Übergang«

»Das Dumme am Tod ist nicht,
dass er die Zukunft verändert,
sondern dass er uns mit unseren Erinnerungen
allein zurücklässt.
«

Peter Høeg

»Fräulein Smillas Gespür für Schnee«

EIN BILD AUS DER HÖLLE (I)

So fühlt es sich also an, wenn man den Verstand verliert.

Das war sein erster Gedanke, der auf den Schock folgte. Und ja, es musste so sein, eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Was er da vor sich sah, musste reine Einbildung sein. Eine böse Halluzination.

Aber warum, in Gottes Namen, halluziniere ich ausgerechnet so etwas Schreckliches herbei?

Weil die Grenze, die den klaren Verstand vom Wahnsinn trennt, nur eine feine Linie ist, flüsterte etwas in ihm. Und offenbar hast du diese Linie jetzt überschritten.

Ja, das war die offensichtliche Erklärung.

Er war übergeschnappt.

Einfach so. Als hätte jemand einen Hebel in seinem Kopf umgelegt.

Die ersten siebzehn Jahre seines Lebens war er ein intelligenter und aufgeweckter Junge gewesen, und heute – ausgerechnet am ersten Weihnachtsfeiertag – war er von einem Moment zum nächsten reif für die Klapsmühle geworden.

Aber konnte das wirklich sein? Konnte man ohne jegliche Vorzeichen plötzlich verrückt werden?

Oder war das alles vielleicht nur ein schlimmer Traum?

Auch das wäre gut möglich, überlegte er. Hatte nicht Albert Einstein gesagt, dass die Realität nur eine beharrliche Illusion ist? Jedenfalls behauptete das einer der vielen Aufkleber auf seiner Laptoptasche, deren Tragegurt er nun krampfhaft umklammert hielt.

Demnach könnte alles, was er in diesem Moment wahrzunehmen glaubte, nur eine gewaltige Täuschung sein. Eine von der Art, die sich verteufelt echt anfühlten.

Denn tatsächlich spürte er die Kälte des Winterabends, als würde er jetzt wirklich hier vor seinem Haus stehen. Er sah die Atemwölkchen, die stoßweise aus seinem Mund drangen – hektisch, weil er vor Entsetzen keuchte –, und er roch den Rauch, den der frostige Wind vom Schornstein herabwehte. Diesen unverkennbar würzigen Duft nach verbrannten Buchenholzscheiten, den er mit Winter und Weihnachtszeit verband.

Zudem glaubte er, die blinkenden Deko-Figuren im verschneiten Vorgarten zu sehen. Ihr bläuliches LED-Licht ließ den überfrorenen Schnee wie ein Meer aus winzigen Diamanten funkeln.

Er hatte das Rentier, den Engel mit den ausgebreiteten Flügeln, und den Weihnachtsmann, der sich mit einer »Ho Ho Ho«-Geste den dicken Bauch hielt, zusammen mit seinem Vater eine Woche vor Heilig Abend aufgestellt. Sie hatten erst die Metallgestelle zusammengeschraubt und die Figuren dann an den Steckdosen angeschlossen, die in einer Steinattrappe neben dem Hauseingang verborgen waren.

Das war jetzt acht Tage her. Er konnte sich noch deutlich daran erinnern. Das Kabel an dem blinkenden Weihnachtsmann war defekt gewesen, weshalb er im Baumarkt ein neues gekauft hatte. Bei der Verkäuferin mit der schwarzen Stoppelfrisur, auf die er heimlich stand, auch wenn sie schon über zwanzig sein musste.

Ja, bis zu diesem Punkt schien das Bild vor ihm bis ins Detail stimmig und real zu sein.

Dennoch war etwas anders. Etwas war mit diesem Bild ganz und gar nicht in Ordnung.

Er fühlte sich wie in einem bösen Fiebertraum. Santas starres Lachen kam ihm jetzt keineswegs fröhlich vor, sondern irgendwie boshaft und spöttisch. Ebenso wie das Pfeifen von Bing Crosby, dessen White Christmas aus der weit offen stehenden Haustür trällerte. Das war das liebste Weihnachtslied seiner Mutter, und dieser Tage gehörte es natürlich zu den Stammgästen auf der Playlist in ihrem Küchenradio.

Sein Blick wanderte weiter zu dem Tannenkranz, der über dem Briefkasten neben der Tür hing, verziert mit einer goldenen Schleife und vier roten Glaskugeln.

Auch dieser Kranz gehörte zum üblichen Weihnachtsritual, auf das seine Mutter bestand. Ihrer Meinung nach konnte das Haus sowohl innen als außen gar nicht genug dekoriert sein. Weil Weihnachten doch das schönste Fest von allen ist, sagte sie oft. Ein Fest für die Familie. Deshalb hing auch für jeden von ihnen eine Kugel an dem Kranz.

Aber nun waren drei dieser Kugeln zerborsten. Ihre feinen Scherben waren über den Fußabstreifer und die Stufen zum Vorgarten verstreut. Als wären sie geplatzt oder zerschlagen worden.

Und nicht weit davon entfernt lag …

… dort lag …

Nein!

Sein Verstand weigerte sich mit aller Kraft, das Bild als das anzuerkennen, was es so offensichtlich zu sein schien.

Es ist unmöglich, dachte er und hätte fast hysterisch losgelacht. Völlig unmöglich! Ich bilde mir ein, dort meine Mutter liegen zu sehen. Was für ein Blödsinn! Als ob sie sich einfach so in den Schnee legen würde. Das kann doch nur eine Einbildung sein! In Wirklichkeit ist sie jetzt bestimmt im Haus, läuft in der Küche hin und her und macht das Abendessen, so wie immer. Weil sie doch über die Feiertage ständig am Kochen und Backen ist.

Das stimmte definitiv. Ihre beste Freundin zog seine Mutter gern damit auf, dass sie während der Weihnachtszeit locker eine ganze Kompanie verköstigen könnte. Und da hätte ihr niemand aus der Familie widersprochen.

Also konnte die Frau da vor ihm nicht seine Mutter sein.

Niemals.

Weil sie ja in der Küche war.

Aber die Gestalt, die dort seltsam verrenkt auf dem Bauch lag, als wollte sie wie eine ungelenke Schwimmerin durch den knöcheltiefen Schnee kraulen, sah seiner Mutter täuschend ähnlich. Ihr Gesicht konnte er zwar nicht sehen, doch er erkannte den beigen Strickpullover mit dem Zopfmuster.

Genau so einen Pullover habe ich gestern meiner Mutter geschenkt. Sie hatte ihn sich gewünscht. Ich hatte ihn in rotes Geschenkpapier mit goldenen Weihnachtssternen verpackt. Sie hat sich so sehr darüber gefreut, dass sie ihn gleich angezogen hat. Und sie hat ihn auch heute Nachmittag angehabt, als ich aus dem Haus gegangen bin.

Also warum, zum Teufel, sollte jetzt eine Fremde den Pullover seiner Mutter tragen? Und ihre Jeans. Und die gefütterten Hausschuhe, die seine Mutter trotz Fußbodenheizung und dem Schwedenofen im Wohnzimmer immer trug, auch wenn sich alle anderen im Haus schon wie in einer Sauna fühlten. Wegen ihres niedrigen Blutdrucks klagte sie ständig über kalte Füße. Weshalb hätte sie ihre warmen Schuhe also einer anderen geben sollen?

Weil das da nicht meine Mutter sein darf!

Dieser Gedanke war so laut, dass er wie ein Schrei in seinem Kopf dröhnte. Dann schob sich ein weiterer Gedanke dazu – nicht mehr ganz so laut, aber nicht minder drängend:

Überleg doch mal. Die Frau da ist tot. Sie hat drei Löcher im Rücken. Das sind verdammte Einschusslöcher! Da ist jede Menge Blut, und ihr fehlt fast der halbe Kopf. Der wurde ihr weggeschossen! Ihre Haare, ihr Schädel, ihr Gehirn sind bis zu den Rosenbeeten verteilt!

Ja, das sah er. Oder vielmehr glaubte er, es zu sehen.

So oder so, er konnte und wollte weder die Leiche im Vorgarten akzeptieren noch die blutigen Handabdrücke an den Wänden im Flur, die er durch die offene Tür sehen konnte. Von dort aus musste sich diese Frau

(meine Mutter)

mit letzter Kraft ins Freie geschleppt haben, ehe man sie mit einem vierten Schuss niedergestreckt hatte.

Ebenso wenig wollte er wahrhaben, dass drinnen im Haus, am Ende des Flurs, zwei Beine in einer Blutlache aus der Wohnzimmertür ragten.

Denn das hätten dann die Beine seines Vaters sein müssen, wie man an den Schuhen erkennen konnte. Dann wäre ja auch sein Vater tot, und auch das konnte unmöglich wahr sein.

Aber er sah die Beine, sah das frische Blut, auf dem das Licht der Flurlampe glitzerte wie Sonnenstrahlen auf einem tiefroten Teich.

Und diese Schuhe … es waren dieselben, die sein Vater immer trug, wenn er in den Wald ging. Dasselbe derbe Profil. Dieselben Schnürsenkel. Weiß-rot, weil das die einzigen reißfesten waren, die der Schuhladen in der Innenstadt führte.

Nein, nein, nein!

Niemals würde er das glauben! Lieber zog er die Möglichkeit in Betracht, urplötzlich den Verstand verloren zu haben.

Sollten sie ihn doch in eine Zwangsjacke stecken und mit Medikamenten vollpumpen, das war ihm völlig egal. Irgendwann würde er schon wieder zu sich kommen, und wenn er dann nach Hause käme, wäre alles wie immer. Seine Familie wäre am Leben. Natürlich wäre sie das.

Weil sie, verdammt noch mal, NICHT TOT sein dürfen!

Aber dann dämmerte ihm trotz aller geistiger Gegenwehr, dass das Blinken um ihn herum nicht nur von den Figuren im Garten stammte. Die LED-Dekoration allein hätte diesen dunklen Abend nie so hell erleuchten können. Dazu brauchte es weit mehr als nur drei blinkende Figuren und eine Straßenlaterne.

Das eigentlich auffallende Blinken stammte von den Blaulichtern der Streifenwagen. Die hatte er schon von Weitem gesehen, als er vorhin nach Hause gekommen war. Immerhin bis zu diesem Punkt erklärte sich sein Verstand jetzt bereit, das Gesehene zu akzeptieren.

Und während damit die erste lähmende Welle seines Schocks nachließ, drang eine weitere Wahrnehmung in sein Bewusstsein vor: Jemand hielt ihn fest.

Ja, nun fiel es ihm wieder ein. Da waren diese beiden Polizisten. Sie waren vorhin sofort auf ihn zugelaufen, kaum dass er das Haus erreicht hatte.

Jetzt hielten sie ihn an den Armen gepackt und versuchten, ihn wegzuziehen. Weg von diesem furchtbaren Anblick.

»Komm schon, Junge«, sagte einer von ihnen. Welcher der beiden konnte er nicht sagen. Dafür reichte seine geistige Kapazität noch nicht aus. Aber er hörte sehr wohl das Entsetzen in der Stimme des Mannes.

»Na los, komm endlich mit! Schau da nicht mehr hin!«

Doch das ging nicht. Er fühlte sich wie gelähmt und konnte nur reglos auf diesen schrecklichen Anblick starren.

Eine weitere Männerstimme drang zu ihm. Diesmal von irgendwo aus dem Haus.

»Sanitäter! Hierher! Schnell!«

Das alles vernahm er noch immer seltsam gedämpft, als sei sein Kopf in Watte gepackt. Dennoch begann sein Verstand, wieder Oberhand zu gewinnen.

Er begriff – musste schließlich begreifen –, dass seine Familie wirklich tot war. Mit Schüssen aus dem Leben gerissen. Während er im Zimmer seines Freundes gesessen und auf virtuelle Gegner gefeuert hatte, um einen möglichst guten Score zu erzielen. Und das hatte er. Am Ende hatte er die Runde als Sieger verlassen.

Ein letztes Mal wünschte er sich, dass dies alles nur eine kranke Einbildung war. Nur ein beschissenes Level in einem beschissenen Videospiel. Dass vor ihm gleich Worte wie Game Over oder Neues Spiel starten erscheinen würden.

Aber so war es nicht. Auch wenn er in diesem Moment der feinen Linie zum Wahnsinn sehr nahe kam, erkannte er, dass er noch diesseits davon war. Dass alles, was er sah, die Realität war. Und auf einmal wich alle Kraft aus ihm.

Er taumelte rückwärts, und hätten ihn die Polizisten nicht gehalten, wäre er wie ein gefällter Baum der Länge nach umgefallen.

Als er so völlig erschlafft zwischen den beiden Männern hing, brach sein innerer Widerstand vollends, und er begann zu schreien.

Teil 1 
JAHRESTAG

»So stemmen wir uns voran, in Booten gegen den Strom, und werden doch immer wieder zurückgeworfen ins Vergangene.«

F. Scott Fitzgerald

»Der große Gatsby«