Zum Buch
Luise ist klug, Luise ist unabhängig, Luise ist eine Insel. Als Meeresbiologin hat Luise sich einen exzellenten Ruf erarbeitet, ihr Spezialgebiet: die Meerwalnuss, eine geisterhaft illuminierte Qualle im Dunkel der Ozeane. Als Luise für ein Projekt mit einem renommierten Tierpark nach Graz reisen soll, zögert sie nicht lang. Doch Graz, das ist auch ihre Heimatstadt, das ist die Wohnung ihres abwesenden und plötzlich erkrankten Vaters. Und das ist die Geschichte einer jahrelangen Sprachlosigkeit und Fremdheit zwischen ihnen.
Soghaft und strömend erzählt Marie Gamillscheg von der allmählichen Befreiung aus den Zwängen der eigenen Kindheit, des eigenen Körpers und aus den Gesetzen, die andere für einen gemacht haben. Es ist zugleich der Versuch, die Unmöglichkeit einer Beziehung zu erfassen: zwischen Mensch und Tier, Mann und Frau, Vater und Tochter.
Zur Autorin
Marie Gamillscheg, geboren 1992 in Graz, lebt als freie Autorin in Berlin. Veröffentlichungen in zahlreichen literarischen Zeitschriften und Magazinen. Ihr Roman »Alles was glänzt« landete auf der ORF-Bestenliste, wurde für den aspekte-Literaturpreis nominiert und mit dem Österreichischen Buchpreis für das beste Debüt 2018 ausgezeichnet.
Marie Gamillscheg
Roman
Luchterhand
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Die handelnden Figuren dieses Romans sind fiktiv.
Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt.
Copyright © 2022 Luchterhand Literaturverlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Covergestaltung: buxdesign, München
unter Verwendung einer Illustration von © Ruth Botzenhardt
ISBN 978-3-641-21560-6
V001
www.luchterhand-literaturverlag.de
Für A. und L.
Zuerst überlegten wir, wie immer, was wir tun würden, wenn wir hier vergessen werden.
Die Bergstation war im abendlichen Nebel verschwunden, unter uns der gleiche dicke weiße Himmel wie vor uns. Der Sessellift stand still und schaukelte wild auf und ab. Ganz schwindelig wurde uns davon, aber wir sagten nichts. In unseren Fäustlingen führten die klammen Finger heimliche Tänze auf. Da war diese Geschichte von dem Kind, das den kalten Bügel abschleckte und dem die festgeklebte Zunge dann abgeschnitten werden musste. Und da war die Geschichte von Hermann Maier, der bei den Olympischen Winterspielen in Nagano 1998 drei Tage nach seinem schweren Sturz in der Abfahrt Gold im Super-G gewann. Aber lieber noch ließen wir in Gedanken erst die Ski, dann die Skischuhe fallen, knoteten unsere Anoraks und Hosen aneinander und hofften auf einen weichen Himmel.
Das Problem an Buckelpisten ist, dass man den Ski nicht unkontrolliert laufen lassen kann, wenn man nicht wahnsinnig ist. Wir verstanden nicht, warum eine Buckelpiste mehr Spaß machen sollte als ein frisch präparierter Hang, aber wir wussten, dass Buckelpisten für Hermann Maiers waren, nicht für Kinder. Oben klappte der Liftwart schon die Sitze hoch. Wir standen jetzt nebeneinander. Die Skispitzen über der Kuppe, in der Luft, die Stöcke schon im Hang. In unseren Ohren tickte die Zeituhr, wir trippelten mit den Ski auf und ab. Los. Bei jedem Schwung gingen wir in die Knie, versuchten, die Ski parallel und so nah wie nur möglich beieinanderzuhalten. Wir achteten auf den Stockeinsatz im richtigen Moment, wie wir es gelernt hatten, nicht zu früh, sodass der Ski schon drehte, aber vor allem nicht zu spät, damit der Stock nicht im letzten Buckel hängen blieb. Wir vertrauten dem Tal, dass es in diesem dicken Nebel auftauchen würde, und ließen uns von den Ski tragen, ohne die Kontrolle ganz abzugeben, doch als wir einen Buckel übersahen, hob es uns die Knie in die Brust. Jetzt übernahmen die Ski. Wir rutschten über eine Eisplatte und hielten erst wieder bei der ersten Hütte, knapp vor der Talstation. Wir schlugen mit dem Skistock in den Schnee, als hätten wir den Sieg um nur ein paar Hundertstel verpasst, aber doch verpasst. Dann schauten wir den Hang hoch, auf die vom Wind verwehten Wellen. Lange schauten wir dort hoch. Dein roter Anorak tauchte plötzlich aus dem Nebel auf. Dein Oberkörper ganz gerade ins Tal gerichtet, nur die Ski schwangen in regelmäßigen Abständen zu den Seiten, so eng, dass wir keine Lücke zwischen deinen Beinen sehen konnten. Nichts sagtest du, als du neben uns stehen bliebst. Aber als du einen Ski hochstelltest, machten wir das auch. Als du einen Ski abschnalltest und hoch in die Luft hobst, zur Siegespose, lachten wir dich aus. Wie gut du im Skiurlaub aussahst. Zehn Jahre jünger, sagten wir. Wenn wir noch länger Urlaub machen, sind wir älter als du.
Bald würden wir im Auto die schweren Skischuhe ausziehen und uns freuen, wie die Socken dampften. Wir würden uns zu Hause noch lange nicht duschen, sondern erst stundenlang in Skiunterwäsche vor dem Fernseher liegen und Vanillepudding essen. Aber lieber noch ließen wir in Gedanken erst die Ski, dann die Skischuhe vom Sessellift fallen, knoteten unsere Anoraks und Hosen aneinander und sprangen in die Wolken. Dass es in den Weihnachtsferien bald nur noch Schnee aus der Schneekanone geben würde, erklärtest du uns auf der Rückfahrt. Naturschnee hatte sechs Ecken und war deshalb sehr leicht, angenehm zu fahren, Kunstschnee war rund und kugelig und vereiste schneller. Aber am Ende, sagtest du, war ja alles nur Wasser.