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Zum Buch

Die Schönheit alter Pilgerwege in Norwegen oder unbeleuchteter Gassen in Kairo, die Leichtigkeit Sandalen tragender Bergführer in Guatemala oder in der Sonne Portugals dösender Hunde, bizarre Nächte in Blackpool oder Tokio: Christian Schüle, Philosoph, Reisender, Flaneur und Wanderer, verbindet persönliche Erlebnisse beim Erkunden der Welt mit Reflexionen darüber, wie und warum das Fremde und Ferne ein so vorzügliches Mittel ist, sich selbst zu erkennen und die Welt wie die Zeit anders zu erleben. Sein ebenso faszinierendes wie inspirierendes Buch ist literarischer Roadtrip und philosophische Suche nach dem Sinn des Reisens zugleich.

Zum Autor

Christian Schüle, geboren 1970, ist Philosoph, freier Autor, Essayist und Publizist. Er schrieb für National Geographic und GEO; seine Essays, Feuilletons und Reportagen erscheinen u. a. in ZEIT, mare, Deutschlandfunk und Bayerischer Rundfunk und wurden vielfach ausgezeichnet. Seit 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Er hat eine Reihe viel diskutierter und markanter Debattenbücher zu aktuellen Themen veröffentlicht, von Deutschlandvermessung bis zuletzt In der Kampfzone: Deutschland zwischen Panik, Größenwahn und Selbstverzwergung. Wenn er nicht in der Welt unterwegs ist, lebt er in Hamburg und München.

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CHRISTIAN SCHÜLE

VOM GLÜCK, UNTERWEGS ZU SEIN

Warum wir das Reisen lieben und brauchen

Siedler

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Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildung: © IMAGO / Addictive Stock

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23731-8
V001

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»Werde, der du bist.«

Pindar, Pythische Oden

»Wie man wird, was man ist.«

Friedrich Nietzsche, Ecce homo

INHALT

PROLOG – Von der Kunst, sich einzulassen

I. ZEIT UND ZUFALL

Schule der Irrealität durch spätes Erwachen

Schule der Wahrnehmung durch lange Weile

Schule der Gelassenheit durch Zeitverlust

Schule der Bildung durch das Unvorhersehbare

Schule der Geborgenheit durch das Unendliche

Schule der Demut durch die Macht des Meeres

Schule der Mehrdeutigkeit in der Hitze der Nacht

II. WISSEN UND WEISHEIT

Erkenntnis von der Macht der Nostalgie

Erkenntnis vom Sinn der Geschichte

Erkenntnis vom Triumph des Traums

Erkenntnis von der Weisheit durch Unwissen

Erkenntnis von der Harmonie im Chaos

Erkenntnis vom Scheitern als Sinn der Sehnsucht

Erkenntnis von der Umkehr durch Magie

Erkenntnis von der Eroberung des Eroberers

Erkenntnis vom Irrsinn des Banalen

Erkenntnis vom Schutz durch höhere Mächte

Erkenntnis vom Glück, unterwegs zu sein

III. MORAL UND ­MENSCHLICHKEIT

Lehre vom Respekt vor dem Alter

Lehre vom Verhängnis der ewigen Liebe

Lehre von der Ohnmacht der Moral

Lehre von der List der Lüge

Lehre von der Rebellion durch Handschlag

Lehre vom Wert der Werte

Lehre vom Geschenk der Geste

Lehre von der Lüge aus Liebe

EPILOG – Kurze Philosophie der Versöhnung

PROLOG

Von der Kunst, sich einzulassen

So gut wie immer komme ich von einer Reise zurück und bin versöhnt. Versöhnt mit mir und der Welt, obwohl es zwischen uns gar keinen Streit gegeben hat. Mehr noch: Ich bin auf faszinierende Art verstört, weil ich jedes Mal aufs Neue das erfüllende Gefühl habe, bei einer Reise in mir unbekannte Länder und Regionen auf listige Weise geschult worden zu sein. Geschult? Ja, im Sinne einer Schulung nicht nur der sinnlichen Wahrnehmung dessen, was sich vorfinden lässt – all der herrlichen Nebensächlichkeiten, die einem widerfahren –, sondern einer Schulung in mehreren Disziplinen des Lebens zugleich: in Sittlichkeit, Geborgenheit und Gelassenheit, im Glauben an den guten Gang der Dinge und an ein Wissen, das sich vielleicht schon im Einzugsbereich einer künftigen Weisheit befinden mag, als solche aber noch nicht erkannt ist. Ich fühle mich geschult durch die Lehre von Moral und Menschlichkeit und die Erkenntnis von Liebe, Lüge und Tragik. Und was die Listigkeit betrifft: All das geschieht ohne meinen erklärten Willen. Es geschieht durch sich selbst. In Hinsicht auf Versöhnung und Schulung ist es völlig einerlei, ob man in die Dörfer des Alentejo, in die Weiten der kasachischen Steppe, in die Waldeinsamkeit Nordschwedens, zu den Geysiren Kamtschatkas, an den Fuß des ostanatolischen Bergs Ararat, an die mecklenburgische Seenplatte, ins Epizentrum der Megacity Lagos oder an die Gestade der Seychellen reist.

Obwohl ich meiner Erinnerung nach also nie im Hader oder Unfrieden mit der Welt aufgebrochen bin, komme ich versöhnt und verstört zugleich zurück, weil ich das Gefühl habe, mehr als je zuvor begriffen zu haben und nicht sagen zu können, worin genau der Mehrwert besteht. Ohne dass ich es merke, hat mich das Reisen zu der Überzeugung verführt, etwas Wesentliches verstanden zu haben, ohne zu verstehen, was dieses Wesentliche ist. Ich könnte keineswegs behaupten, dass sich dieses Verstehen willkürlich wiederholen ließe. Was sich hingegen immerzu wiederholt, ist die Erfahrung der lebens­bejahenden Erhabenheit: Es ist, wie es ist, und es war gut so, wie es war.

Die Schule des Reisens pflegt eine subtile, aber einflussreiche Pädagogik, und die Versöhnung mit der unbekannten Welt, so finde ich bis heute, liefert das kostbare Wohlgefühl, mit sich selbst im Frieden zu sein, da das Leben bekanntlich keineswegs immer erfreulich und friedvoll ist. Schenkt einem das Reisen nicht die dafür wichtigsten Fähigkeiten in einer Art Vorleistung, die der Reisende dann mit guter Lebensführung begleicht?

Ich lobe an dieser Stelle die Wette aus, dass sich das Glück, unterwegs zu sein, letztlich als Liebe identifizieren wird: zum Leben an sich, zu den Details, Dezimalen und Differenzen, zum Unbedeutenden, Unspektakulären und Unbedarften, zu den Landschaften, Tieren und Menschen, die überall so großartig wie fehlbar sind, ja, als Liebe zur Wirklichkeit, wie sie ist: schamlos, brutal, gemein, rührend, ergreifend, erregend, verblüffend, poetisch, bisweilen hässlich und meist überwältigend schön. Deshalb ist das Reisen jedes Mal aufs Neue die stets wiederentfachte Bereitschaft zur Neugier auf das, was der Fall ist. Deshalb lieben und brauchen wir es. Wer reist, der sucht. Was? Das Andere. Das Fremde. Und sich selbst.

Wer die Welt nicht aufsucht, wird sich nicht finden.

Wer nicht anschaut, was der Fall ist, wird das Andere nicht erkennen.

Wer vom Anderen nichts weiß, weiß nichts von sich.

Wer vom Anderen und von sich nichts wissen will, ist vermutlich borniert.

Wer aber durch Wissen und Weisheit sich selbst auf die Schliche kommt, könnte zu höherer Erkenntnis befähigt sein.

Warum? Weil die Bereisung der Welt lehrt, dass jeder Mensch überall er selbst und zugleich ein Fremder ist.

Weil man versteht, dass leibhaftige Erfahrung in Zeiten digitaler Ablenkung ein vorzügliches Medium der Selbst­erkenntnis ist.

Weil Reisen das Bewusstsein von der erlebten Welt gegen die vermeintliche Ahnung über die Welt in Szene setzt.

Und weil der Reisende nach der Rückkehr verstanden haben wird, dass er durch die Magie des Moments mit der Wirklichkeit versöhnt ist.

I. ZEIT UND ZUFALL