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Zum Buch

Warmherzig und unvergesslich: Wie ein Junge aus armen Verhältnissen das Glück in der Musik findet – der Überraschungsbestseller aus Italien!

Neapel, 1946: Der 7-jährige Amerigo lebt mit seiner Mutter in einem der ärmsten Viertel und hat ständig Hunger. Als die Mutter von einer wohltätigen Initiative hört, die bedürftige Kinder für ein knappes Jahr zu Familien im reicheren Norditalien schickt, scheint dies die beste Lösung zu sein. Hoffnungsfroh, aber auch etwas bange besteigt Amerigo mit vielen Kindern den Zug. In seiner neuen Familie lebt er sich schnell ein, entdeckt seine Liebe zur klassischen Musik, bekommt sogar eine Geige geschenkt. Nachdem die paradiesische Zeit vorbei ist, erscheint ihm seine Mutter in Neapel ganz fremd. Als er kurz darauf erfährt, dass sie aus Geldnot heimlich seine Geige verkauft hat, fühlt Amerigo sich verraten. Er reißt aus und steigt noch einmal in den Zug, fest entschlossen, Neapel für immer hinter sich zu lassen …

»Der kleine Amerigo erobert von der ersten Seite an die Herzen seiner Leserinnen und Leser.« La Stampa

Zur Autorin

Viola Ardone, 1974 in Neapel geboren, ist ausgebildete Bibliothekarin und studierte Italienische Literatur. Sie arbeitet als Journalistin (u. a. für La Repubblica und Corriere della Sera) und ist Lehrerin für Geschichte, Italienisch und Latein. Sie hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht. Ihr Roman »Ein Zug voller Hoffnung« brachte ihr den internationalen Durchbruch: Der Roman war in Italien ein preisgekrönter Bestseller und erscheint in 30 Ländern.

»Mit großem sprachlichen Feingefühl fängt Viola Ardone den Blick des kleinen Amerigo auf die Welt ein.«   La Repubblica

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VIOLA ARDONE

Ein

Zug

voller

Hoffnung

ROMAN

AUS DEM ITALIENISCHEN

VON ESTHER HANSEN

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Il treno dei bambini bei Einaudi, Turin.

Die Übersetzung dieses Buches wurde durch eine Übersetzungsförderung des italienischen Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und internationale Kooperation unterstützt.

Questo libro è stato tradotto grazie ad un contributo alla traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.

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Copyright © der Originalausgabe 2019

by Giulio Einaudi editore s.p.a., Torino

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Franz

Umschlaggestaltung: Favoritbuero

Umschlagabbildung: © Svetoslava

Madarova/Trevillion Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-25523-7
V001

www.cbertelsmann.de

Erster Teil

– 1946 –

1

Meine Mama geht vor und ich hinterher. Schnell geht sie durch die Gassen im Spanischen Viertel, ein Schritt von ihr sind zwei von mir. Ich sehe auf die Schuhe von den Leuten. Heiler Schuh: ein Punkt dazu; kaputter Schuh: ein Punkt weg; neue Schuhe: Sternchen. Ich hab noch nie Schuhe für mich allein gehabt, ich trage die von den anderen Kindern auf, und immer tun mir die Füße weh. Meine Mama sagt, ich laufe ganz krumm. Kann ich doch nichts für. Das liegt an den Schuhen. Die haben die Form von denen, die sie vorher anhatten. Die machen das, was die anderen vorher gemacht haben, sind woanders herumgelaufen, haben andere Sachen gespielt. Und wenn sie dann bei mir landen, woher sollen sie wissen, wie ich laufe und wo ich hinwill? Sie müssen sich erst an mich gewöhnen, aber bis dahin ist mein Fuß schon wieder gewachsen. Sie werden zu klein und alles fängt von vorne an.

Meine Mama geht vor und ich hinterher. Keine Ahnung, wo wir hinwollen, sie sagt, es ist nur zu meinem Besten. Aber am Ende bin ich der Angeschmierte, wie bei den Läusen. Es ist nur zu deinem Besten, und schon ist meine Rübe kahl. Zum Glück haben sie meinem Freund Tommasino auch die Rübe geschoren, nur zu seinem Besten. Die Jungs aus der Straße haben sich schlappgelacht und meinten, wir sehen aus wie zwei Totenschädel aus der Fontanelle-Gruft. Tommasino war zuerst gar nicht mein Freund. Einmal habe ich gesehen, wie er einen Apfel geklaut hat, vom Handkarren von Capajanca, einem Marktschreier auf der Piazza Mercato, und da dachte ich, wir können keine Freunde sein. Meine Mama Antonietta hat mir nämlich erklärt, wir sind zwar arm, aber wir klauen nicht, wir sind ja kein Lumpengesindel. Aber Tommasino hat mich bemerkt und für mich auch einen Apfel geklaut. Und weil ich den Apfel ja nicht selbst geklaut, sondern geschenkt bekommen habe, hab ich ihn aufgegessen, weil ich hatte wirklich einen Riesenhunger. Und dann waren wir Freunde. Apfelfreunde.

Meine Mama geht mitten auf der Straße und sieht nie nach unten. Ich trotte hinter ihr her und zähle die Punkte für die Schuhe zusammen, gegen die Angst. Mit den Fingern zähle ich bis zehn und dann wieder von vorn. Wenn ich zehn mal zehn habe, passiert etwas Schönes, so geht das Spiel. Bis jetzt ist nie etwas Schönes passiert, vielleicht habe ich die Punkte falsch zusammengerechnet. Ich liebe Zahlen. Buchstaben mag ich nicht so: Einzeln kann ich sie ganz gut erkennen, aber wenn sie hintereinander stehen und Wörter werden, blick ich nicht mehr durch. Mama sagt, dass ich nicht aufwachsen soll wie sie und dass sie mich deshalb in die Schule schickt. Ich bin da auch hingegangen, aber es hat mir nicht gefallen. Erstens, weil meine Klassenkameraden so laut waren und ich immer mit einem Brummschädel nach Hause kam, und das Klassenzimmer war so eng und hat nach Käsefüßen gestunken. Außerdem musste ich immer still in der Bank sitzen und Striche und Balken zeichnen. Die Lehrerin hatte ein ganz spitzes Kinn und lispelte und wenn man darüber Witze gemacht hat, bekam man eins auf die Rübe. In fünf Tagen hab ich zehnmal eins übergezogen gekriegt. Das hab ich an den Fingern abgezählt wie die Schuhpunkte, aber gewonnen hab ich nichts. Deshalb wollte ich nicht mehr in die Schule.

Meine Mama fand das gar nicht gut, aber dann sagte sie, dass ich wenigstens irgendeine Arbeit lernen muss, und hat mich zum Lumpensammeln geschickt. Zuerst fand ich das lustig: Man läuft den ganzen Tag draußen herum und sucht vor den Häusern im Müll nach alten Kleidern, die man dann Capa ’e fierro bringt. Aber nach ein paar Tagen war ich so müde, dass ich sogar die Schläge von der Lehrerin mit dem spitzen Kinn vermisst habe.

Meine Mama bleibt vor einem großen, grau-roten Gebäude stehen, mit riesigen Fenstern. »Wir sind da«, sagt sie. Diese Schule ist viel schöner als die alte. Drinnen ist es ganz still und stinkt überhaupt nicht nach Käsefüßen. Wir gehen in den zweiten Stock hoch und müssen auf einer Holzbank warten, bis eine Stimme ruft: Der Nächste bitte. Und weil sich niemand rührt, weiß Mama, dass wir dran sind, und wir gehen rein.

Meine Mama heißt Antonietta Speranza, und Speranza bedeutet Hoffnung. Das Fräulein, das uns hereingerufen hat, schreibt den Namen auf ein Blatt Papier und sagt: »Mehr als Hoffnung bleibt Ihnen auch nicht.« Und ich denke: Das war’s, jetzt dreht sich Mama um und wir gehen wieder nach Hause. Stimmt aber gar nicht.

»Bekommt man bei Ihnen auch eins auf die Rübe, Frau Lehrerin?«, frage ich und halte mir schon mal die Arme über den Kopf, zur Sicherheit. Das Fräulein lacht und zwickt mich mit Daumen und Zeigefinger in die Wange, aber nur ganz leicht. »Nehmen Sie Platz«, sagt sie und wir setzen uns ihr gegenüber.

Das Fräulein sieht gar nicht aus wie das andere, sie hat kein vorstehendes Kinn und lächelt ganz lieb mit ihren schönen weißen Zähnen. Außerdem hat sie kurze Haare und trägt eine Hose wie ein Mann. Wir schweigen. Sie sagt, sie heißt Maddalena Criscuolo und dass meine Mama sich vielleicht noch an sie erinnert, weil sie für uns gekämpft hat, um uns von der Naziherrschaft zu befreien. Meine Mama nickt, aber man merkt sofort, dass sie keinen Schimmer hat, wer diese Maddalena Criscuolo ist. Maddalena erzählt, sie hat die Brücke im Sanità-Viertel gerettet, weil die Deutschen die mit Dynamit in die Luft sprengen wollten, und am Ende hat sie die Tapferkeitsmedaille in Bronze bekommen und eine Urkunde. Ich finde, sie hätten ihr besser neue Schuhe geben sollen, weil einer ist heil und einer hat ein Loch (null Punkte). Sie sagt, es ist gut, dass wir gekommen sind, weil viele Leute sich schämen. Sie und ihre Genossinnen mussten von Haus zu Haus gehen und die Mütter überzeugen, dass das eine gute Sache ist, für sie und für die Kinder. Und dass ihnen oft die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde und sie beschimpft wurden. Das glaube ich sofort, weil wenn ich nach alten Kleidern frage, werde ich auch oft beschimpft. Die Frau sagt, viele gute Leute vertrauen ihnen, und dass meine Mama Antonietta eine mutige Frau ist und ihrem Sohn ein Geschenk damit macht. Ich habe noch nie ein Geschenk von ihr bekommen, außer einer alten Nähdose, in der ich meine Schätze aufbewahre.

Meine Mama Antonietta wartet, bis diese Maddalena fertig ist, weil viel reden ist nicht so ihre Art. Die sagt, dass man den Kindern eine Chance geben muss. Mir wären Brot und Zucker lieber. Und Ricotta! Den habe ich mal auf einem Fest von den Amerikanern probiert, wo ich mich mit Tommasino hingeschlichen hatte (alte Schuhe: ein Punkt weg).

Mama schweigt immer noch, deshalb redet Maddalena weiter: Sie haben Sonderzüge organisiert, um die Kinder in den Norden zu bringen. Da antwortet meine Mutter: »Sind Sie sicher? Sehen Sie den Jungen hier? Er ist eine wahre Gottesplage!« Maddalena sagt, dass wir im Zug ganz viele sein werden, nicht nur ich allein. »Dann ist das hier ja gar keine Schule!«, sage ich und muss lachen. Meine Mama Antonietta lacht nicht. »Wenn ich eine Wahl hätte, wäre ich nicht hier, außer ihm habe ich keinen mehr. Aber schauen Sie, was Sie tun können.«

Als wir das Gebäude verlassen, geht meine Mama vor, aber jetzt langsamer. Wir kommen an dem Pizzaverkäufer vorbei, wo ich mich sonst immer an sie klammere und so lange bettele, bis ich mir eine Backpfeife einfange. Sie bleibt stehen. »Grieben und Ricotta«, sagt sie zu dem jungen Mann am Stand. »Eine.«

Dabei habe ich diesmal gar nicht gebettelt und da werde ich stutzig, weil wenn meine Mama mir freiwillig mitten am Vormittag eine frittierte Pizza kauft, bin ich am Ende der Angeschmierte.

Der Mann packt eine Pizza ein, so gelb wie die Sonne und größer als mein Gesicht. Ich nehme sie in beide Hände, damit sie nicht runterfällt. Sie ist ganz warm und duftet. Ich puste und mir steigt der Geruch von Öl in Mund und Nase. Meine Mama hockt sich vor mich hin und sieht mich an. »Also, du hast alles gehört. Du bist jetzt groß, bald wirst du acht. Und du kennst unsere Lage.«

Mit dem Handrücken wischt sie mir Öl von der Wange. »Lass mal probieren«, und sie reißt sich ein Stück von der Pizza ab. Dann steht sie wieder auf und wir machen uns auf den Heimweg. Ich frage nichts, sondern folge ihr einfach. Meine Mama geht vor und ich hinterher.

2

Über Maddalena haben wir danach nicht mehr gesprochen. Ich dachte, dass meine Mama sie vielleicht vergessen oder es sich anders überlegt hat. Aber dann klopft ein paar Tage später eine Nonne an unsere Haustür, sie kommt von Pater Gennaro. Meine Mama späht durch das Fenster nach draußen: »Was will denn die Gardinenstange hier?«

Die Nonne klopft noch mal. Meine Mama legt das Nähzeug weg und macht die Tür auf, aber nur einen kleinen Spalt, sodass die draußen ihr Gesicht hereinstrecken kann. Es ist ganz gelb. Die Gardinenstange fragt, ob sie reinkommen darf, und meine Mama nickt, aber so richtig toll findet sie das nicht, das merkt man sofort. Die Nonne sagt, meine Mama ist ein guter Christenmensch und Gott sieht alles und jeden und dass die Kinder weder Vater noch Mutter gehören, weil sie alle Kinder Gottes sind. Diese Kommunistenfrauen wollen, dass wir mit dem Zug nach Russland fahren, wo sie uns Hände und Füße abschneiden, und wir kommen nie mehr zurück. Meine Mama antwortet nicht. Schweigen kann sie richtig gut. Und dann hat die Gardinenstange irgendwann die Nase voll und geht. Ich frage: »Willst du mich wirklich nach Russland schicken?« Sie nimmt wieder das Nähzeug und brummelt vor sich hin: »Russland, von wegen Russland … Was weiß ich schon von Faschisten und Kommunisten. Und von Priestern und Bischöfen weiß ich auch nichts.« Meine Mama redet mit anderen nicht so viel, mit sich selbst schon mehr. »Das Einzige, was ich kenne, sind Hunger und Arbeit … Die wollte ich mal sehen, die Gardinenstange, mit einem Sohn und ohne Mann … die hat leicht reden, so ohne Kinder. Wo war sie denn, als mein Luigino krank wurde?«

Luigi war mein großer Bruder, und wenn er sich nicht als Kind diese blöde Bronchitis geholt hätte, wäre er jetzt drei Jahre älter als ich. Aber so war ich schon bei meiner Geburt Einzelkind. Meine Mama redet fast nie von ihm, aber auf der Kommode steht sein Bild mit einem Totenlicht davor. Die Zandragliona hat mir das alles erzählt, die wohnt im Basso gegenüber und ist eine gute Frau. Meiner Mama ging es so schlecht, dass alle dachten, sie erholt sich nie mehr. Aber dann kam ich und sie war wieder froh. Wenn auch nicht so froh wie mit ihm. Sonst würde sie mich ja nicht nach Russland schicken.

Ich gehe rüber zur Zandragliona, die weiß immer alles, und was sie nicht weiß, erzählen ihr die anderen. Sie sagt, dass wir nicht nach Russland gebracht werden und dass sie Maddalena Criscuolo und die Übrigen kennt: Die wollen uns helfen und uns Hoffnung geben. Was soll ich denn mit Hoffnung? Hoffnung heiße ich doch selbst schon, nämlich mit Nachnamen wie meine Mama Antonietta. Und mit Vornamen Amerigo. Den habe ich von meinem Vater. Ich habe ihn nie kennengelernt, und wenn ich nach ihm frage, verdreht meine Mama immer die Augen zum Himmel, wie wenn es zu regnen anfängt und sie die Wäsche noch nicht reingeholt hat. Sie sagt, er ist ein ganz großartiger Mann. Er ist nach Amerika gegangen, um dort sein Glück zu machen. Und wann kommt er wieder?, habe ich gefragt. Früher oder später, hat sie geantwortet. Er hat mir nichts dagelassen, außer dem Namen. Besser als nichts.

Seit wir das von den Zügen wissen, ist in der Gasse der Teufel los. Jeder sagt was anderes: dass sie uns verkaufen und nach Amerika zum Arbeiten schicken; oder dass wir nach Russland kommen und dort im Ofen verbrannt werden; oder dass nur die bösen Kinder fahren und die lieben bei ihren Mamas bleiben dürfen. Andere scheren sich um nichts und machen einfach weiter wie immer, weil sie gar nichts kapieren. Ich kapiere auch nichts, obwohl sie mich im Viertel den »Nobelpreis« nennen, weil ich so viel weiß, auch wenn ich nicht mehr in die Schule gehe. Das lerne ich alles auf der Straße. Ich gehe herum, höre den Leuten zu und mische mich überall ein. Klug geboren wird keiner.

Meine Mama Antonietta will nicht, dass ich Sachen von ihr herumerzähle. Und ich hab auch keinem erzählt, dass unter unserem Bett lauter Kaffeepackungen von Capa ’e fierro liegen. Und auch nicht, dass Capa ’e fierro nachmittags zu uns kommt und sich mit Mama einschließt. Was der wohl seiner Frau erzählt. Vielleicht, dass er Billard spielt. Mich schickt er auf die Straße, weil sie müssen dann arbeiten, er und sie. Also gehe ich raus, Lumpen sammeln. Alte Stoffe, Fetzen, gebrauchte Kleider von den amerikanischen Soldaten, dreckiges Zeug voll mit Flöhen. Am Anfang wollte ich nicht weg, wenn er kam: Ich wollte nicht, dass Capa ’e fierro bei uns den Boss spielt. Dann hat meine Mama gesagt, dass ich ihm Respekt erweisen muss, weil er viele wichtige Freunde hat und wir Essen von ihm kriegen. Sie hat gesagt, er kennt sich aus mit Geschäften und dass ich viel von ihm lernen kann. Ich habe nichts geantwortet, aber seitdem verziehe ich mich, wenn er kommt. Die Lumpen bringe ich mit nach Hause. Meine Mama wäscht und schrubbt und flickt sie, und am Ende geben wir sie Capa ’e fierro, der auf dem Markt einen Stand hat und sie den Leuten verkauft, die nicht so arm sind wie wir. Und ich gucke auf die Schuhe und zähle die Punkte an den Fingern zusammen, und wenn ich zehn mal zehn habe, passiert etwas Schönes: Mein Vater kommt aus Amerika zurück und ist ganz reich und dann setze ich Capa ’e fierro vor die Tür, nicht er mich.

Aber einmal hat das Spiel doch funktioniert. Vor dem Theater San Carlo habe ich einen Herrn mit so glänzenden, neuen Schuhen gesehen, dass ich gleich hundert Punkte auf einmal hatte. Und als ich dann nach Hause kam, stand tatsächlich Capa ’e fierro vor der Tür. Meine Mama hatte seine Frau auf dem Rettifilo gesehen, mit einem neuen Handtäschchen. Capa ’e fierro hat gesagt: »Du musst warten lernen. Wart nur ab, dann kommt dein Moment von ganz allein.« Meine Mama hat geantwortet: »Heute kannst du mal warten«, und hat ihn den ganzen Tag nicht in die Wohnung gelassen. Capa ’e fierro stand vor dem Basso, hat sich eine Zigarette angezündet und ist dann mit den Händen in den Taschen davon. Ich hinterher, einfach weil ich sehen wollte, wie sauer er war. Ich hab zu ihm gesagt: »Heute keine Arbeit, Capa ’e fierro? Heute Ruhetag?« Er hat sich vor mich hingehockt, hat an seiner Zigarette gezogen, und beim Ausatmen kamen viele kleine Rauchkringel aus seinem Mund. »Guagliò«, hat er gesagt, »Frauen sind wie Wein. Entweder du bestimmst über sie, oder sie bestimmen über dich. Wenn sie über dich bestimmen, verlierst du die Kontrolle und wirst zu ihrem Sklaven. Ich war immer schon ein freier Mann und werde es auch bleiben. Komm, wir gehen in eine Osteria, du darfst Rotwein trinken, heute macht dich Capa ’e fierro zum Mann!«

»Zu schade, Capa ’e fierro, ich kann heute nicht, ich habe zu tun.«

»Was hast du denn schon zu tun, he?«

»Ich muss Lumpen sammeln, wie immer. Die bringen zwar fast nichts ein, aber davon leben wir nun mal. Entschuldigt mich.«

Dann hab ich ihn stehen lassen und die Rauchkringel haben sich in Luft aufgelöst.

Die Lumpen, die ich finde, tue ich in einen Korb, den meine Mama mir gegeben hat. Und weil der Korb immer schwerer wird, je mehr drinnen ist, habe ich ihn mir irgendwann auf den Kopf gestellt, wie ich es bei den Marktfrauen gesehen habe. Aber mit der Zeit sind mir da die Haare ausgefallen, und ich hatte eine kahle Stelle am Kopf. Ich glaube, deshalb hat die Mama mir die Rübe geschoren, von wegen Läuse!

Wenn ich so durch die Gegend laufe, frage ich auch nach der Sache mit dem Zug, aber umsonst. Die einen sagen dies, die anderen das. Tommasino bleibt dabei, er fährt nicht mit, weil er zu Hause alles hat, was er braucht, und seine Mutter Donna Armida hat noch nie um Almosen betteln müssen. Die Pachiochia, die der Boss hier im Viertel ist, sagt, unter dem König hat es das nicht gegeben, dass Mütter ihre Kinder verkaufen. Sie sagt, es gibt keine Würde mehr, keine Wü-hürde! Und immer, wenn sie das sagt, zeigt sie ihr braunes Zahnfleisch, bleckt die paar Zähne, die sie noch hat, und lässt die Spucke nur so durch die Zahnlücken spritzen. Die Pachiochia war schon immer hässlich, glaube ich, deshalb hat sie auch keinen Mann abbekommen. Aber darüber darf man nicht reden, das ist ihr wunder Punkt. Und auch nicht darüber, dass sie keine Kinder hat. Früher hatte sie mal einen Kanarienvogel, aber der ist ihr weggeflogen. Über den darf man mit der Pachiochia auch nicht reden.

Die Zandragliona hat auch keinen Mann. Warum, weiß keiner so genau. Die einen sagen, sie konnte sich nicht entscheiden zwischen denen, die ihr den Hof gemacht haben, und dann stand sie am Ende alleine da, weil in echt ist sie richtig reich und will ihr Geld mit keinem teilen. Die anderen sagen, dass sie einen Verlobten hatte, der dann gestorben ist. Oder dass sie einen Verlobten hatte und dann entdeckt hat, dass der schon verheiratet war. Aber ich glaube, das ist alles dummes Zeug.

Nur ein einziges Mal waren sich die Pachiochia und die Zandragliona einig: Als die Deutschen bis zu uns in die Gasse gekommen sind und nach Essen gesucht haben, da haben die beiden heimlich Taubenkot ins Osterbrot gesteckt und gesagt, das ist Schweinefleisch, eine regionale Spezialität. Und die Deutschen haben das gegessen und immer gesagt gut, gut!, und die Pachiochia und die Zandragliona haben sich in die Seite gestoßen und in sich hineingelacht. Danach haben sich die Deutschen nie mehr blicken lassen, auch nicht für irgendeine Vergeltung oder so.

Meine Mama Antonietta hat mich nicht verkauft, bisher jedenfalls nicht. Aber dann, zwei, drei Tage nach der Sache mit der Nonne, komm ich nach Hause mit meinem Lumpenkorb und da sitzt diese Maddalena Criscuolo. Aha, denke ich, jetzt wollen die mich also doch kaufen! Und während meine Mama mit ihr redet, renne ich wie ein Irrer durchs Zimmer, und wenn sie mich was fragen, sage ich nichts oder stottere nur so vor mich hin. Sollen die mich doch für einen Idioten halten, dann wollen sie mich nicht mehr kaufen. Wer will denn schon ein blödes oder stotterndes Kind?

Maddalena sagt, sie war auch einmal arm und ist es immer noch, und hungern zu müssen ist keine Schuld, sondern eine Ungerechtigkeit. Und dass die Frauen sich verbünden müssen, damit es besser wird. Aber die Pachiochia sagt, wenn alle Frauen so kurze Haare hätten und Männerhosen tragen würden wie diese Maddalena, stünde die Welt kopf. Das sagt aber mal die Richtige, finde ich, die hat ja sogar einen Schnurrbart! Die Maddalena hat jedenfalls keinen Bart. Sie hat einen schönen roten Mund und weiße Zähne.

Maddalena redet jetzt mit leiser Stimme und sagt zu meiner Mama, sie kennt ihre Geschichte und weiß, wie viel Unglück sie erleiden musste, und dass die Frauen sich gegenseitig helfen müssen, mit der Solidarität. Meine Mama Antonietta starrt zwei Minuten an die leere Wand und ich weiß, dass sie jetzt an meinen großen Bruder Luigi denkt.

Vor der Maddalena sind schon andere Frauen zu uns nach Hause gekommen, aber die hatten keine kurzen Haare und keine Hosen. Das waren echte Damen, mit feinen Kleidern und blonden Frisuren. Als sie in die Gasse kamen, hat die Zandragliona das Gesicht verzogen und gesagt: Da kommen die wohltätigen Damen. Am Anfang haben wir uns gefreut, denn sie hatten Pakete mit Essen dabei, aber dann kam langsam heraus, dass in den Paketen keine Nudeln waren und auch kein Fleisch oder Käse. Da war Reis drinnen. Immer nur Reis. Wenn sie kamen, verdrehte meine Mama Antonietta die Augen zum Himmel und sagte: Dann essen wir eben wieder Reis, irgendwann ersticken wir noch an eurem Reis! Die wohltätigen Damen haben zuerst gar nichts kapiert, aber als sie dann merkten, dass niemand mehr ihre Pakete wollte, haben sie gesagt, das ist ein nationales Erzeugnis und das ist ihre »Reis-Kampagne«. Dann haben die Leute ihnen irgendwann die Tür nicht mehr aufgemacht, wenn sie klopfen kamen. Die Pachiochia hat gesagt, wir wüssten ja gar nicht, was Dankbarkeit ist, und wir hätten das nicht verdient und dass es keine Wü-hürde mehr gibt. Aber die Zandragliona meinte, die wollen uns sowieso nur anschmieren mit ihrem Reis, und immer, wenn ihr jemand was schenken wollte, das sie nicht gebrauchen konnte, hat sie gesagt: Schau mal einer an, die wohltätigen Damen sind wieder da.

Maddalena verspricht uns, dass wir im Zug einen Riesenspaß haben werden und dass die Familien in Nord- und Mittelitalien uns wie ihre eigenen Kinder behandeln, uns zu essen geben, sich um uns kümmern, uns neue Kleider und Schuhe kaufen (zwei Punkte). Also spiele ich nicht mehr den Stotter-Idioten und sage: »Mama, verkauf mich an die Frau!« Maddalena öffnet ihren großen roten Mund und fängt an zu lachen, aber meine Mama Antonietta zieht mir eins mit dem Handrücken über. Ich halte mir das brennende Gesicht, keine Ahnung, ob aus Schmerz oder aus Scham. Maddalena hört auf zu lachen und legt meiner Mama eine Hand auf den Arm. Sie zuckt zusammen, als hätte sie sich an einem Kochtopf verbrannt. Meine Mama lässt sich nicht gerne anfassen, auch nicht, wenn es lieb gemeint ist. Dann wird Maddalena plötzlich ganz ernst und sagt, sie will mich nicht kaufen. Dass die Kommunistische Partei etwas organisiert, das es noch nie gegeben hat, dass es in die Geschichte eingehen wird und alle Leute jahrelang daran zurückdenken werden. Wie bei der Sache mit dem Osterbrot und dem Taubenkot?, frage ich. Meine Mama Antonietta sieht mich böse an und ich denke, na schön, jetzt kommt die nächste Backpfeife, aber dann fragt sie: »Was willst du denn?« Ich antworte, wenn ich zwei ganz neue Schuhe bekomme (Sternchen), gehe ich sogar zu Fuß zu den Kommunisten, ganz ohne Zug. Maddalena lächelt. Meine Mama nickt langsam und das heißt: Also gut.

3

Meine Mama Antonietta bleibt vor dem Kommunistenhaus in der Via Medina stehen, wo wir schon beim letzten Mal waren. Maddalena hat gesagt, wir müssen uns in die Liste mit den Zugkindern eintragen. Im ersten Stock stehen drei junge Männer und zwei Fräuleins. Als die Frauen uns sehen, gehen sie mit uns in einen Raum mit einem Schreibtisch und einer roten Fahne dahinter. Wir sollen uns setzen, dann stellen sie ganz viele Fragen. Eine redet, die andere schreibt Sachen auf ein Blatt Papier. Am Ende nimmt die, die redet, ein Bonbon aus einem Kästchen und gibt es mir. Die, die schreibt, legt den Zettel auf den Tisch vor meine Mama, die nicht weiß, was sie damit tun soll. Also drückt die Frau ihr einen Stift in die Hand und sagt, sie soll unterschreiben. Und meine Mama: nichts. Ich wickele das Bonbon aus und der Zitronenduft kitzelt mich in der Nase. Bonbons esse ich ja nicht jeden Tag.

Im Nebenzimmer schreien die drei Männer herum. Die Fräuleins sehen sich stumm an, weil man sieht, dass sie das schon kennen und nichts dagegen machen können. Meine Mama Antonietta sitzt einfach mit dem Stift in der Hand da, die Hand in der Luft, den Zettel vor sich. Ich frage, warum nebenan so rumkrakeelt wird. Die, die geschrieben hat, sagt nichts. Die andere, die geredet hat, sagt, dass die nicht streiten, sondern darüber diskutieren, was man tun soll, damit es allen gut geht, und dass das Politik ist. Dann frage ich: Entschuldigung, aber seid ihr euch denn gar nicht einig hier oben? Sie verzieht das Gesicht, als ob sie in eine faule Nuss gebissen hat, und sagt dann, dass es unterschiedliche Meinungen gibt, verschiedene Strömungen … Da stößt die, die geschrieben hat, sie in die Seite, wie um zu sagen, red nicht so viel. Dann dreht sie sich zu meiner Mama um und sagt, wenn sie nicht schreiben kann, soll sie einfach ein Kreuz machen, sie beide sind ja hier als Zeugen. Meine Mama Antonietta wird ganz rot und malt ein X auf den Zettel, ohne aufzuschauen, ein etwas krakeliges X. Wo sie jetzt das mit den Strömungen gesagt haben, kriege ich ein bisschen Angst, weil die Zandragliona immer sagt, von Luftströmen kriegt man eine Erkältung, und ich habe gehört, dass kranke Kinder nicht mitgenommen werden. Was aber ungerecht ist: Um kranke Kinder muss man sich doch am meisten kümmern, oder? Mit den gesunden ist es leicht, auf Solidarität zu machen, wie die Pachiochia ganz richtig sagen würde, die ja mal abgesehen von ihrem Schnurrbart und dem braunen Zahnfleisch eine gute Frau ist und mir manchmal sogar eine Lira schenkt.

Die Fräuleins schreiben noch Sachen in ein großes Buch und bringen uns dann zur Tür. Als wir am Nebenzimmer vorbeikommen, streiten die drei Männer immer noch über Politik. Der Dünne mit den blonden Haaren sagt alle naselang: Süditalien-Frage und nationale Integration. Ich schaue zu meiner Mama, ob die das versteht, aber sie geht einfach weiter. Da dreht sich der Blonde zu mir, genau als ich vorbeigehe, wie um zu sagen: Los, erklär du es ihnen! Ich will antworten, dass ich nichts davon kapiere und meine Mama Antonietta mich hergebracht hat, nur zu meinem Besten, sonst wäre ich sowieso nicht hier. Meine Mama packt mich am Arm und flüstert mir zu: »Willst du dich da auch noch einmischen? Halt den Mund und geh!«

Also gehen wir, während der Blonde uns nachschaut.