Cover

Buch

Margaret ist 75 und zufrieden, sie erfreut sich an den kleinen Dingen des Lebens. Umso mehr, da ihr routinierter, aber selbstbestimmter Alltag für sie die große Freiheit bedeutet, denn fast ihr ganzes Leben verbrachte sie in einer Klinik für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Als eines Tages geheimnisvolle Briefe ohne Absender bei ihr ankommen, hat sie keine Ahnung, wer dahinterstecken könnte. Margaret vertraut sich Wayne an, ein jüngerer Mann, der sich um sie kümmert und ihr im Alltag hilft. Zusammen mit Wayne kommt Margaret nicht nur dem Ursprung der Briefe auf die Spur, sondern sie geht auch endlich die ersten Schritte, um mit ihrer Vergangenheit Frieden zu schließen …

Neil Alexander

Neil Alexander begann seine berufliche Laufbahn als Journalist für Gesundheitsthemen und schreibt heute noch gelegentlich für Zeitungen und Magazine. Er ist ein Absolvent der Faber Academy und hat bereits Gedichte in verschiedenen Publikationen veröffentlicht. Eines seiner Werke war für den Pighog Poetry Prize nominiert. Neil ist ein regelmäßiger Performer bei Polari, einem literarischen LGBTQ-Salon in der Royal Festival Hall in London. Die Inspiration für »Die geheimnisvollen Briefe der Margaret Small« stammt aus seiner Arbeit mit Menschen mit Lernbehinderungen, die er während seiner Tätigkeit für eine wohltätige Organisation kennenlernte. Momentan unterrichtet Neil auf einer weiterführenden Schule in Süd-Ost-London und arbeitet an seinem zweiten Roman.

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NEIL ALEXANDER

Die
geheimnisvollen Briefe der
Margaret Small

Roman

Deutsch von Susann Rehlein

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Copyright der Originalausgabe © 2022 by Neil Alexander

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Umschlaggestaltung und -motiv: © www.buerosued.de

KO · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-26558-8
V001

www.blanvalet.de

Rot

Ich beobachte dich vom Café in der High Street aus. Du ziehst einen ramponierten karierten Einkaufstrolley hinter dir her. Alles an dir wirkt ramponiert: das durchsichtige Kassengestell, das dir dauernd auf die Nasenspitze rutscht, die dreckigen weißen Pumps mit den lila Schuhbändern, die aufgegangen sind, deine pinken, fingerlosen Handschuhe. Den Kopf gebeugt, die Augen zu Boden gerichtet, schlurfst du mit einem leichten Hinken voran. Es ist, als würdest du versuchen, nicht aufzufallen – und zwar komplett vergeblich.

Du bleibst an der Ampel gegenüber stehen und schaust nach links und rechts. Du bist kleiner, als ich mir dich vorgestellt habe.

Als das grüne Männchen aufleuchtet, schlurfst du los, über die Straße, direkt auf das Café zu. Mein Herz schlägt schnell.

Du machst an dem breiten Fenster halt, unmittelbar vor dem Tisch, an dem ich sitze, reibst mit dem Finger über die feuchte Scheibe und spähst herein, blinzelst in das warme Licht, inspizierst den hölzernen Tresen mit der Kaffeemaschine und der Platte mit Cookies, die Tafel, an der die Sandwiches angeschrieben sind, das Zeitschriftenregal. Ich halte meinen Latte in beiden Händen fest. Es ist, als würdest du durch mich hindurchsehen. Als wäre ich ein Geist.

Deine Brille ist dir wieder auf die Nasenspitze gerutscht, und ohne jede Scheu hältst du das Gesicht direkt an die Scheibe, der Mund steht dir offen, du hast Spucketröpfchen in den Mundwinkeln. Du bist direkt vor mir, das Haar klebt dir in feuchten Löckchen an der Stirn. Ein Teil von mir möchte winken. Ein Teil von mir möchte, dass du mich erkennst, aber natürlich erkennst du mich nicht. Du starrst herein, murmelst etwas, ich kann nicht verstehen, was. Aber freundlich ist es nicht. Dann drehst du mit deinem klappernden Trolley ab und gehst mit einem leichten Hinken davon, in Richtung Hafen. Ich bin versucht, aufzustehen und dir nachzugehen. Aber wieder einmal wage ich es nicht. Scham, Angst, meine Nerven – irgendetwas davon hält mich ab. Eines Tages werde ich meinen Mut zusammenraffen und dich ansprechen. Aber nicht heute. Ich bleibe auf Distanz, bis die Zeit reif ist, bis ich es wage, mich dir endlich vorzustellen.

Margaret

1947

Ich war sieben Jahre alt, als ich verschwunden bin. Der Rattenfänger hat’s gemacht. Er hat mich von Grandma weggeholt. Am Anfang hab ich nämlich bei Grandma gewohnt, weil meine Mutter gestorben ist, als ich geboren bin. Grandma hat immer gesagt, meine Mutter war eine Lügnerin und Betrügerin und dass sie direkt in die Hölle gewandert ist dafür, dass sie mich alleine zurückgelassen hat.

Wenn ich ungezogen war, hat Grandma immer gesagt, dass ein Fluch auf mir lastet. Mein rotes Haar ist nämlich des Teufels, und ich bin ein Wechselbalg, ausgetauscht von den Hexen – alles wegen dem, was meine Mutter getan hatte. Was das war, hat sie mir aber nicht gesagt. Und ich habe schnell gelernt, nicht nachzufragen. Wenn ich es tat, Gott steh mir bei, wurde sie böse und verpasste meinen Waden Schläge mit dem Riemen.

Da war dieser Mann, Mr. Grey hieß der. Der holte die Kinder. Wir haben ihn Rattenfänger genannt. Jetzt ist er tot, aber damals war er ein gefährlicher Petzer. Er hat für die Aufsichtsbehörde gearbeitet, das sind die, die einen für immer verschwinden lassen. Er ist in seinem Auto rumgefahren und hat Kinder aus ihren Häusern geholt und ins St Mary’s verschleppt. Nicht irgendwelche Kinder, bloß solche wie mich, die anders waren. Weil, damals war man nicht sicher, wenn man anders war. Es war schon dunkel, als ich verschwunden bin. Grandma hat in der Küche gekocht und mich in die Spüle gesetzt, damit ich das Feuerwerk anschauen konnte. Ein Teil des Fensters war mit Holz zugenagelt, da, wo das Glas im Krieg weggeflogen war, aber ich kriegte die Leuchträder und das Geglitzer, die lauten Stimmen und hellen Lichter, die sich zum Himmel erhoben, gut mit. Es klopfte an der Tür. Grandma legte ihr Messer weg und ging aufmachen. Ein Mann kam rein. Er hieß Mr. Grey. Ich kannte ihn schon, weil wir einmal mit dem Zug nach London gefahren waren, um ihn in seinem großen Büro zu besuchen. Er hat Tests mit mir gemacht und mich tausend Sachen gefragt, die ich nicht wusste. Sachen wie: »Wo liegt Birmingham?« Ich hab’s ihm gesagt. »Birmingham ist in der Nähe von da, wo Grandma herkommt.« Das stimmt, weil, sie ist aus Dudley, das weiß ich genau. Aber Mr. Grey hat gesagt, das ist falsch. Er hat gesagt: »Es tut mir leid, Margaret, aber du brauchst Betreuung.« Das sagten sie damals, wenn sie dich verschwinden lassen wollten.

Grandma musste gewusst haben, dass er kommt, denn sie gab Mr. Grey meinen Koffer und mir meine Lieblingspuppe – die mit nur einem Auge. Ich griff ihren kleinen Arm und zog sie hinter mir her zur Tür. Dort wandte ich mich um und schaute zu Grandma hoch.

»Du gehst auch mit«, sagte ich und streckte die Hand aus. Doch sie blieb, wo sie war.

»Du musst jetzt los, Margaret, du willst doch den netten Mann nicht warten lassen.«

Das Feuerwerk hatte aufgehört. Der Kohlenwagen ratterte vorbei, Burschen lümmelten auf der Ladefläche und warfen unter Lachen und Gejohle Knaller auf die Straße. Die Nacht roch nach brennendem Holz. Mr. Grey packte mich in das Auto und schlug die Tür zu. Ich kniete mich auf den Sitz und guckte aus dem Fenster hinten raus. Großmutter stand am Tor, rauchte und winkte. Ich winkte auch. Mr. Grey startete den Motor, und ich sah zu, wie sie reinging. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah. Sie ist mich nie besuchen gekommen, nicht ein einziges Mal. Sie hat mich nie in den Ferien zu sich abgeholt. Nicht mal eine Geburtstagskarte hat sie mir geschickt. Das war 1947.

Auszug aus dem South East Kent Courier,
Donnerstag, 6. August 2015

Nachruf

Cilla Black, die im Alter von 72 Jahren in ihrem Haus in Marbella, Spanien, gestorben ist, erlangte in den frühen 1960er-Jahren Berühmtheit als Popsängerin.

In einer maßgeblich von männlich besetzten Bands geprägten Zeit war Cilla Black neben Dusty Springfield, Lulu und Sandie Shaw eine der aufstrebenden jungen Sängerinnen mit Starstatus.

Cilla Blacks Karriere bekam Auftrieb nicht zuletzt durch ihre Verbindung zu einer Liverpooler Band, den Beatles, mit denen sie den Manager, Brian Epstein, teilte.

Lennon und McCartney waren es, die Cilla Blacks größte Hits schrieben, darunter Love of the Loved und Step Inside Love.

Aus ärmlichen Verhältnissen stammend – sie war eines von drei Kindern eines Liverpooler Hafenarbeiters und einer Verkäuferin –, wurde Cilla Black einer der leuchtendsten Sterne am Himmel der Swinging Sixties. 1964 führte sie die Charts an mit You’re My World. Weitere Hits waren You’ve Lost That Lovin’ Feeling (der Song wurde später von den Righteous Brothers gecovert) und Anyone Who Had a Heart, von Burt Bacharach und Hal David ursprünglich für Shirley Bassey geschrieben.

1966 gelangen ihr noch einige Charthits, so zum Beispiel der ihr von Bacharach auf den Leib geschriebene Song Alfie, Titelsong des gleichnamigen Films mit Michael Caine in der Hauptrolle.

Zwischen den 1980ern und 1990ern verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Moderatorin, so zum Beispiel für die Fernsehshows Blind Date und Surprise, Surprise, und war bald eine der wohlhabendsten Frauen im britischen Fernsehen.

Cilla Blacks Ehemann, Bobby Willis, starb 1999. Sie hinterlässt drei Söhne, Robert, Ben und Jack. Sie hatte auch eine Tochter, die jedoch 1975 bei der Geburt starb.

Cilla Black, geboren am 27. Mai 1943, gestorben am 02. August 2015

You’re My World

Margaret

2015

Wie die meisten alten Leute lebe ich allein. Ich kann das gut leiden. Als ich jünger war, in meinen Zwanzigern und so, sehnte ich mich nach einem Ehemann, aber jetzt bin ich fünfundsiebzig. Wenn ich einen Ehemann hätte, wäre der wahrscheinlich inzwischen tot. Da hab ich doch lieber keinen.

Mein Leben lang hat mich nicht ein einziges Mal jemand gefragt, ob ich einen Mann will. Nie hat jemand gesagt: »Warum heiratest du nicht?« Die denken, das geht gar nicht. Die denken, Leute wie ich haben keine Gefühle. Dabei bin ich das, die denen ein, zwei Dinge über Gefühle sagen könnte. Wenn ich mir einen hätte aussuchen dürfen, ich hätte den Sänger Michael Bolton genommen, besonders als er noch die hübschen langen Haare hatte.

Aber wie gesagt, mich hat keiner je gefragt.

Viele Leute leben allein. Kein Grund, Angst zu haben, Margaret. Das hat die Sozialarbeiterin Frances zu mir gesagt, als sie mich damals in den 1980ern in ein Haus an der Cromwell Road wegsiedelten. Man sollte meinen, alleine zu leben, wäre kein Problem für mich, da ich doch nie Familie oder so was hatte. Aber ich hab eben auch nie Ruhe und Stille gehabt, nicht wirklich. Wenn man fast sein ganzes Leben im Krankenhaus verbracht hat, fühlt es sich seltsam an, draußen zu sein. Es dauert ewig, ehe man zurechtkommt. Nicht dass ich mich beschweren will. Gar nicht. Das Leben ist in Ordnung. Natürlich könnte es besser sein, ja, aber es könnte eben auch schlimmer sein. Ich weiß, wovon ich rede, schlimmer hatte ich nämlich schon.

Whitstable ist jetzt mein Zuhause. Ich wohne hier dreißig Jahre und ein paar zerquetschte. Es hat sich ganz schön verändert in der Zeit. Früher gab’s hier Pubs, Discounter und Läden der Wohlfahrt, aber nun ist es schickimicki. Es gibt einen Costa Coffee und Läden, die olle Möbel aufkaufen und weiß anstreichen und dann für ein Schweinegeld weiterverkaufen, auch alte Tassen und Untertassen gibt’s da, Shabby Chic nennt Wayne, mein Helfer, das. Ich werde ganz bestimmt nichts von dem Plunder kaufen. Manche Leute haben wirklich mehr Geld als Verstand. Neuerdings laufen auch mehr Touristen in Whitstable rum. Im Sommer kommt man kaum noch voran, voll wie es ist. Ich mag das nicht. Wie soll ich denn mit meinem Einkaufstrolley die High Street langgehen, wenn ständig irgendwelche Japaner im Weg sind. Aber manches hat sich auch nicht verändert. Der Fischimbiss ist noch da und auch Peter Cushions Bank. Peter Cushion war ein berühmter Schauspieler, der in Vampirfilmen aufgetreten ist. Er hat in Whitstable gewohnt und ist jetzt tot. Das glaube ich zumindest, weil ich ihn nicht mehr auf seiner Bank am Strand sehe, beim Parkplatz in Middle Wall. Freitags hole ich mir immer eine kleine Tüte Fish & Chips, sitze dort und gucke übers Wasser.

Heute Morgen war ein roter Briefumschlag in der Post. Darin waren zwanzig Mäuse und ein Zettel. Abgesehen von Wertcoupons für Pizzas und Rechnungen kriege ich nicht viele Briefe, deshalb war das ganz schön seltsam: mit schwarzer Tinte geschriebene Wörter, in Bögen miteinander verbunden wie ein Spinnennetz. Ich verstand die ganze Sache nicht. Eigentlich liest Wayne immer meine Post durch. Aber er hatte seinen freien Tag. Je länger ich mir den Brief anschaute, desto weniger verstand ich. Wer sollte mir zwanzig Mäuse schicken wollen? Mein Geburtstag war erst im April, und für den Valentinstag war ich viel zu alt. Ich hab nicht viele Freunde und Familie auch nicht. Das Geld tat ich in meine Börse und den Umschlag mit dem Zettel in meine Manteltasche. Vielleicht könnte ich bei Sainsbury’s einen der Verkäufer bitten, mir vorzulesen, was draufstand.

Sainsbury’s hat lange auf. Ich geh da jeden Tag hin, außer wenn sie Ferien haben. Am meisten mag ich den Anfang. Wenn die Türen so aufgleiten und man durchgeht und einen ein Duftschwall von dem ganzen frischen Gemüse anweht. Das ist wie bei der Show Blind Date, wenn die Wand zwischen dem Mann und der Frau weggezogen wird. Ich kann Leute nicht verstehen, die Sachen in ihrem Computer einkaufen. Wollen die denn nicht erst mal anfassen, was sie dann kaufen? Beim Gemüse ist nicht viel los heute. Ich hasse das, wenn es voll ist. Dann gehe ich gar nicht hin. Morgens kurz nach neun ist gut, weil die meisten Leute dann auf der Arbeit sind. Keiner drängelt, und ich kann mir Zeit lassen, kann mit den Verkäufern reden und so Sachen. Nicht selten verbringe ich mehr als eine Stunde damit zu, mir auszusuchen, was ich essen möchte. Heute ist Donnerstag, also gibt es Suppe zum Mittag und am Abend Wurstsalat und Pommes. Ich bin eine gute Köchin. Wenn ich was gelernt habe im St Mary’s, dann Kochen. Und Saubermachen natürlich. Meine Wohnung ist immer tipptopp.

Ich reiße eine Plastiktüte ab und rubbele die Öffnung auf. Nachdem ich sie in meiner Hand gerollt und beschnüffelt habe, um zu prüfen, ob sie frisch ist, lege ich vier Tomaten hinein. Dann arbeite ich mich durch die Salatköpfe, das dauert bestimmt zwanzig Minuten. Am Ende nehme ich den hübschesten.

»Den glasierten Schinken, nicht wahr?«, fragt Gail an der Fleischtheke. Immer gut gelaunt, diese Gail. Und ich mag ihre ganze Schminke. Wenn man sie so sieht, würde man nicht denken, dass ihr Ehemann mit einer blöden Kuh durchgebrannt ist. Noch ein Grund, warum ich mich nicht mit Männern einlasse. Die machen mehr Ärger als Freude. Ich sehe Gail zu, wie sie zwei Scheiben Schinken für mich abschneidet und dann auf die Waage legt. »Ein Pfund, drei Pence«, sagt sie, schlägt die Wurst in Folie ein und macht vorsichtig an der Seite den Preisaufkleber dran, bevor sie mir das Päckchen gibt. Ich halte es eine Weile in der Hand. Es fühlt sich weich an, leicht und kühl, wie eine Babydecke. Ich hole meine Börse raus, klicke sie auf und finde den gefalteten Zwanzigpfundschein. Hatte vergessen, dass ich den habe.

»Sie zahlen am Ausgang, meine Liebe«, sagt Gail. »Vergessen?«

»Nein, nein«, sage ich und halte den Geldschein hoch. »Aber irgendwer hat mir das hier zugeschickt, und ich hab keine Ahnung, wer.«

Gail grinst. »Ich wünschte, mir würde auch mal jemand ein bisschen Taschengeld schicken. Ich arbeite mir den Arsch ab, weil ich für zwei Wochen nach Fuengirola will. Der Euro hat alles teurer gemacht, und an der Wursttheke wird man leider nicht reich.«

Ich hole den Brief aus der Manteltasche und will Gail bitten, ihn mir vorzulesen, aber der Mann hinter mir in der Schlange stöhnt und sagt: »Mach hin, verdammt.« Solche Äußerungen sind wirklich nicht angebracht bei Sainsbury’s, also verabschiede ich mich von Gail und gehe weiter.

Man kann zwischen sehr vielen Suppen auswählen. Manchmal ist es, als würden sie aus den Regalen nach mir rufen: »Nimm mich!« – »Nimm mich!« Es ist ein schönes Gefühl, gewollt zu sein. Die Wörter auf den Etiketten kann ich nicht lesen, deshalb gehe ich nach den Fotos. Heute ist es eine Tomatensuppe von Heinz und Campbell’s Hühnercremesuppe. Flüsternd entschuldige ich mich bei all den Suppen, die ich nicht mit nach Hause nehme.

Ich kann die neuen Kassen nicht leiden – die verwirren mich – , also stelle ich mich in der langen Schlange bei den Zigaretten an, obwohl ich nicht rauche.

»Hier ist immer noch nur Kartenzahlung«, schreit die Kassiererin, als sie mich hinten in der Schlange sieht. Ich hab keine Plastikkarte und gerate in Panik. Ein rothaariger Junge in der Sainsbury’s-Uniform kommt zu mir und fragt, ob ich eine der neuen Selbstbedienungskassen benutzen möchte.

»Ich weiß nicht, wie das geht«, erwidere ich.

Der Junge lächelt. Er sagt, dass sein Name David ist und er mir helfen möchte. Als ich in meiner Manteltasche nach meiner Börse krame, fällt mir der Brief ein, der am Morgen mit der Post gekommen ist.

»David, mein Lieber«, sage ich und reiche ihm den roten Umschlag. »Kannst du mir bitte sagen, was vorne draufsteht? Meine Augen werden immer schlechter.« Das ist zwar mehr oder weniger gelogen, aber mir ist es lieber, David hält mich nur für alt und nicht für alt und dumm.

David nickt und liest lächelnd vor: »Margaret Small. 122 Cromwell Road. Whitstable.«

»Das bin ich«, sage ich. »Und innen, was steht drin?«

David holt den Zettel aus dem Umschlag und faltet ihn auseinander. »Liebe Margaret«, er liest die Wörter so langsam vor, als hätte auch er Probleme mit dem Lesen. »Das Leben findet anderswo statt.« Er dreht den Zettel um, guckt, aber auf der Rückseite steht nichts geschrieben.

»Was heißt das denn?«, frage ich.

»Ich vermute, das heißt, wer immer Ihnen das geschickt hat, möchte nicht, dass Sie wissen, wer er ist.« Der Junge grinst. »Vielleicht haben Sie einen geheimen Verehrer.«

»So wird’s sein«, sage ich und schnappe mir den Brief. »Würdest du jetzt bitte meinen Einkauf regeln?«

Hinterher gehe ich zu Hubbards Bäckerei und kaufe zwei glasierte Küchlein. Die werde ich später zu einer Tasse Tee essen. Als ich die High Street erreiche, fängt es an zu regnen. Mir kommt eine Idee. Auf der anderen Straßenseite ist ein Café, in das Wayne manchmal mit mir geht. Da drin ist es gemütlich, und die machen Kuchen und Süßigkeiten. Vielleicht könnte ich mir von meinen zwanzig Mäusen ein belegtes Sandwich gönnen. Ich überquere mit meinem Trolley die Straße und schaue hinein. Die Scheibe ist nass und mir rutscht die Brille runter, deshalb kann ich kaum was sehen. Es ist ganz schön voll. »Blöde Touristen«, sage ich laut. »So, wie die sich breitmachen, gibt’s kein Eckchen für mich.« Aber der Regen lässt sowieso schon wieder nach, also kann ich auch weitergehen, zum Strand.

Ich setze mich auf Peter Cushions Bank und ziehe meinen CD-Spieler aus der Seitentasche des Trolleys. Wayne hat mir das mit den Audiobooks gezeigt, und nun kriege ich Geschichten zu hören. Für jemanden, der nicht lesen kann, ist das ein richtiges Wunder. Ich mache das erst seit einem Jahr, hab aber schon alle Harry-Potter-Bände durch und die Autobiografie von Rod Stewart. Seit einer Woche höre ich Cilla Black: What’s It All About? Ich habe es schon drei oder viermal durchgehört, nehme es sogar mit ins Bett, weil ich dann besser einschlafe.

Ich drücke auf Play. Sofort fängt Cilla an, zu mir zu sprechen. Ihre Stimme ist weich und sanft, mit ihr ist es wie mit einer alten Freundin. Sie erzählt mir, wie sie den Tod ihres Mannes Bobby verarbeitet hat. Sie sagt, dass sie zuerst wie auf Autopilot war. Ihre Worte sind angenehm. Es ist, als säße sie neben mir auf der Bank. Kurz vergesse ich sogar, dass sie nicht mehr unter uns weilt.

Das Leben findet anderswo statt. Ich denke über den Satz nach, während ich auf das Wasser schaue. Als die Sonne rauskommt, mache ich mir eine Dose Cider auf. Wie Möwen, die den Himmel entlangziehen, kreisen Cillas Worte in meinem Kopf. Wir haben Ebbe. Weit draußen planscht eine Familie im Wasser, das rothaarige Mädchen im Bikini immer schön an der Hand des Vaters. Sie erinnert mich ein bisschen an dich, Cilla, als du klein warst. Eine Woche ist es jetzt her, dass sie gestorben ist. Eine ganze Woche. Ich konnte es kaum glauben, als es in den Nachrichten kam. Ich war am Ende. Geschlagene drei Tage konnte ich nicht aufstehen und nichts essen. Am vierten Tag kam Wayne und machte mir Ringelnudeln in Tomatensoße. »Sie müssen bei Kräften bleiben, Margaret«, hat er gesagt. »Cilla würde Sie in so einer Verfassung nicht sehen wollen.«

Wenn der wüsste …

An dem Morgen haben wir zusammengesessen und eine von Cillas Platten angehört: Cilla Sings A Rainbow, meine Lieblingsplatte. Seit damals, seit den Sechzigern, wollte ich immer so ein Kleid, wie sie es auf dem Cover trägt. Es ist wunderschön: silbern, mit verschiedenfarbigen Streifen.

Red and yellow and pink and green

Orange and purple and blue

I can sing a rainbow

Sing a rainbow

Sing a rainbow too.»«

Wayne wollte, dass ich mitsinge, aber ich war zu durcheinander. Wenn jemand für so lange Teil deines Lebens ist und dann plötzlich stirbt … Es ist viele Jahre her, dass ich so einen Verlust erlitten habe. Es mag seltsam klingen, aber du warst wie meine Familie, Cilla. Ich fand es angenehm zu wissen, dass du noch am Leben bist, noch irgendwo da draußen.

Während des Spanienurlaubs, haben sie gesagt. Schlaganfall. In der Ferne höre ich das Klackern der Takelage und die Schreie der Möwen. Eine Träne läuft mir über die Wange. Ich ziehe ein zerknittertes Taschentuch aus der Tasche und putze mir die Nase. »Du wurdest mir zu früh weggenommen, Cilla«, flüstere ich. »Du und ich, wir hätten mehr Zeit miteinander haben sollen.«

Wie durch Zauberei flattern nun die Erinnerungen herbei. Jahr um Jahr um Jahr. »Das Leben findet anderswo statt«, hast du geschrieben. Ich schließe die Augen und spüre den Flügelschlag der regenbogenbunten Erinnerungsvögel, das rote Glühen des Sonnenuntergangs. Ich stecke die Hand in meine Manteltasche, und Papier kitzelt meine Fingerspitzen. Der Brief kann nur eines bedeuten.

Cilla hat mir eine Nachricht zukommen lassen. Cilla kehrt zu mir zurück.

Margaret

1947

Von Mr. Greys Auto aus bestaunte ich das gewaltige Anwesen mit dem Eisentor: nichts als dunkler Wald, durch den sich eine Zufahrt schlängelte. Ich rieb über die beschlagene Scheibe des Seitenfensters und blickte hinaus. Im Mondlicht sah das Haus aus wie ein Geisterschloss.

Mr. Grey hielt und stieg aus. Man konnte den Lärm schon hören: Menschen schrien und schimpften. Es war wie ein Irrenhaus.

Der Lärm machte mir Angst. Nicht nur die Schreie, auch die Geräusche, die die Schuhe von Mr. Grey auf dem Kies machten – krr, krr, krr – , als er um das Auto herum kam, um mich rauszuholen. Durch das Fenster sah ich, wie er ein Streichholz anzündete und an seine Pfeife hielt. Er machte die Tür an meiner Seite auf.

Die kalte Luft schlug mir ins Gesicht, der Rauchgeruch. Wie der Teufel hatte Mr. Grey ein rotes Gesicht. Die werden mich wegsperren, dachte ich. Die haben mich in die Hölle geschafft, zu meiner Mutter. Ich zog die Knie an die Brust und machte Fäuste, schloss die Augen in der Hoffnung, Mr. Grey und das laute Haus würden einfach verschwinden.

»Steig aus, Margaret«, sagte er. »Du bist jetzt zu Hause.« Seine Hand griff in das Auto.

Der Rattenfänger.

Ich hatte an dem Tag mein Lieblingskleid an: lila, mit einem gerüschten weißen Kragen. Normalerweise trug ich es sonntags in der Kirche. Ich wusste genau, dass Grandma mich absichtlich hineingesteckt hatte, wahrscheinlich um vor den Krankenschwestern anzugeben. Das hätte sie lassen können. Unterwegs hatte ich mich nämlich eingepullert. Das Kleid war patschnass, meine Beine klebten am Ledersitz.

Mr. Grey griff nach meinen Füßen und zog an ihnen. Seine Hände waren heiß und schweißig an meinen Fußgelenken wie die der Jungs, wenn sie mir die Arme verdrehten, bis die Haut brannte, Brennnessel nannten sie das. Ich hielt mich mit aller Kraft an der Tür fest, aber er war einfach zu stark für mich. Die Füße voran zerrte er mich umstandslos aus dem Auto, hob mich hoch, sodass ich kopfüber in der Luft hing, und der Himmel kippte. Alles stand kopf. Ich hatte Angst. Ich tat das einzig Mögliche, ich schlug so fest, wie ich konnte, nach ihm.

»Verdammt«, ächzte er, »was fällt dir ein?«

»Brauchen Sie Hilfe, Mr. Grey?« Zuerst eine Frauenstimme, dann wieder Knirschen auf dem Kies, aber schneller diesmal – krr, krr, krr, krr, krr. Die Frau war Violet Cunningham, Pflegeleiterin im St Mary’s. Sie war eine kleine, fette Dame mit einem roten Gesicht. Sie trug eine Schürze und ein spitzes weißes Hütchen, das aussah wie eine Eiswaffel. Alle Schwestern hatten diese komischen Dinger auf.

»Die kleine Missgeburt hat mir in die Weichteile geboxt, wäre mir fast entkommen.«

Zu diesem Zeitpunkt schrie ich schon aus Leibeskräften, schleuderte meine Arme nur so herum.

»Alice!«, sagte Mrs. Cunningham, »Alice! Wir könnten hier Hilfe gebrauchen.«

Eine jüngere Schwester kam aus dem Haus gelaufen. Das war Miss Fitts. Sie war so groß, wie Mrs. Cunningham klein war, größer als Mr. Grey, und schlaksig.

»Wir müssen sie bändigen«, sagte Mrs. Cunningham. »Gerade hat sie Mr. Grey angegriffen.«

Miss Fitts nickte und rannte zurück ins Haus.

Mein ganzes Blut war mir in den Kopf geflossen, ich sah nur noch unscharf. Mrs. Cunningham nahm mich bei den Armen und Schultern. Zusammen mit Mr. Grey legte sie mich auf dem Kies ab. Lange lag ich nur so da, zuckte von einer Seite zur anderen.

Miss Fitts kam zurück, hockte sich neben mich und begann, etwas um meinen Mund zu wickeln. Ihre knochigen Finger bohrten sich in meine Wangen, dann in meinen Hinterkopf, wo sie einen Knoten machte und ihn festzog. Kiesel drückten sich gegen meine Wangenknochen. Ich blickte zur Seite, alles, was ich sehen konnte, war mein Gesicht, das sich in Mrs. Cunninghams glänzendem Stiefel spiegelte.

Dann wurde ich ohnmächtig.

Auszug aus dem Magazin Good Life, 1928

Das Idiotenhospital in Canterbury, auch bekannt als St Mary’s Klinik, ist ein roter Ziegelbau in der Grafschaft Kent. Gegründet wurde es 1917 in der noblen Absicht, diese Menschen von den Straßen zu holen und zudem allerlei soziale Probleme zu verhindern, die sie andernfalls verursachen würden – angefangen von Diebstahl und kleineren Straftaten bis hin zum wohl größten Problem, vor das sie die Gesellschaft stellen, indem sie sich haltlos fortpflanzen (vor allem den Frauen wird nachgesagt, zweimal so fruchtbar zu sein wie Frauen von normaler geistiger Gesundheit). Mittlerweile ist die Klinik St Mary’s Heimstatt für an die zweitausend solcher Schwachköpfe und harmloser Verrückter, die meisten von ihnen Frauen.

Das Hauptgebäude ist ein von Efeu und Moos umhüllter, imposanter Ziegelbau aus dem achtzehnten Jahrhundert. Es dient als Verwaltungstrakt und ist rechts von zwölf Männertrakten und links von genauso vielen Frauentrakten flankiert. Hinzu kommen etliche Nebengebäude – Werkstätten, eine Schule, eine Turnhalle – und eine landwirtschaftliche Sektion, die fünfundsiebzig Morgen Land umfasst. All das ist verborgen hinter einer sechs Meter hohen, unüberwindbaren Umfriedung.

Margaret

1947

Als ich wieder zu mir kam, saß ich auf einem Holzstuhl, und meine Sachen wurden mir ausgezogen.

»Was für ein schmutziges kleines Mädchen«, sagte eine Stimme.

Ich war noch halb bewusstlos und begriff nur nach und nach, was mit mir passierte.

»Schau her, Alice«, sagte sie und zog mir mein Lieblingskleid über den Kopf, »dieser Schlüpfer ist nass gepinkelt.«

Es roch nach Bleiche und, ja, etwas anderem.

»Gleich ab in den Müll mit diesem Kleidungsstück«, sagte Mrs. Cunningham, nachdem sie mein Kleid inspiziert hatte. »Schade, aber das ist nicht mehr zu gebrauchen. Hätte es gern für eine meiner Töchter gehabt.«

»Von dem Gestank wird mir übel, Violet«, jammerte Miss Fitts und machte Würgegeräusche.

»Bring sie ins Bad«, sagte Mrs. Cunningham. »In diesem Zustand kann sie nicht auf die Station, das würde die anderen nur aufregen.« Sie begann, an meinem Schlüpfer zu ziehen. »O nein, meine Güte, schau doch nur, Alice, ich glaube, sie hat sich auch eingekackt.« Mrs. Cunningham baute sich vor mir auf und schimpfte: »Überall Kacke! Auf meinen Händen, auf den Fliesen – überall! Wirklich, Alice, ich hab allmählich genug von dem Dreck.«

»Apropos Dreck«, sagte Miss Fitts, »es wurde doch gesagt, ein paar der neumodischen Urinale sollen im Männerbereich eingebaut werden. Das wird einen großen Unterschied machen, meinst du nicht?«

»Ich hab da meine Zweifel«, erwiderte Mrs. Cunningham, »so wie manche der Debilen zielen, werden wir am Ende des Tages eher mehr Pisse wegzuwischen haben als weniger. Erst letzte Woche habe ich es zu Dr. Firmin gesagt. Dr. Firmin, habe ich gesagt, es ist eine Schande: zwölf Stationen und nur sechs Waschbecken, um uns die Hände zu waschen. Und dann wundern die sich, wenn wir so viele Tote haben. Hygiene, das ist alles eine Frage der Hygiene, ich sag’s dir. Und ich könnte mich schon wieder aufregen, wenn ich nur daran denke, dass sie aber alles picobello haben wollen, wenn die Inspektion ansteht, da sollen wir dann auch noch Vasen mit frischen Blumen hinstellen und solchen Mumpitz. Die ganze Bleiche, die wir da letztens wieder verbraucht haben … Alice, wirklich, nächstes Mal, wenn wieder jemand vom Vorstand da ist, nehmen wir kein Blatt vor den Mund, sondern sagen, wie es ist. Dann begreifen die vielleicht endlich.«

Mrs. Cunningham drehte den Hahn auf, Wasser spritzte heraus.

»Oh, und was für eine Überraschung, wir haben mal wieder kein warmes Wasser«, sagte sie. »Dann muss sie eben mit kaltem zurechtkommen. Ich kann sie so nicht ins Bett stecken. Gibst du mir bitte den Krug, Alice, und hilfst mir, sie hochzuheben?«

Eine am Kopf, eine an den Füßen, hoben sie mich hoch und schafften mich zur Badewanne, setzten mich hinein. Was dann kam, war ein Schock, ich dachte, ich muss sterben. Sie gossen den Krug mit dem eiskalten Wasser über meinem Kopf aus.

»Das wird dich lehren, nicht mehr einzukacken. Alice, gib mir die Seife und den Luffaschwamm. Die braucht eine Abreibung.«

Sie begann, mich mit dem harten Schwamm abzuschälen.

Hinterher hängte Miss Fitts ein Handtuch über meinen Kopf und klopfte mit den Händen darauf herum, um meine Haare abzutrocknen. Keine der beiden kümmerte es, dass ich die ganze Zeit weinte.

Alle neuen Kinder kamen zuerst in die Aufnahmestation, einen großen Raum mit Gittern vor den Fenstern – wie im Gefängnis. Es gab wahnsinnig viele Betten, vielleicht zwanzig auf jeder Seite, in einer langen Reihe, die Wand entlang.

Miss Fitts warf meinen Koffer auf eins der Betten und klappte ihn auf. Darin waren all mein Anziehsachen, Spielzeug und ein paar Bilderbücher. Ich sah zu, wie sie eins meiner Kleider gegen das Licht hielt, wie auf einem Werbefoto in einer Zeitschrift, auf dem die Hausfrau nachsieht, ob die Wäsche sauber geworden ist.

Mrs. Cunningham kam mit einem großen Sack in den Raum. »Schmeiß alles hier rein, Alice«, sagte sie und hielt den Sack auf.

»Was macht ihr mit meinen Sachen?«, fragte ich.

»Sei still«, sagte sie. »Du hast uns wirklich genug geärgert.«

»Hier sind ein paar hübsche Sachen dabei, Violet«, sagte Miss Fitts, hob meinen Koffer hoch und drehte ihn herum. »Ich schaue mir das alles nachher noch genauer an.«

All meine Kleider, Petticoats, Socken und Schlüpfer fielen in den Sack. Hinterher wuchtete Mrs. Cunningham den Sack aufs Bett und schnürte ihn mit einem Stück Schnur zu. Sie zeigte auf einen großen, offen stehenden Schrank, in dem Kleiderstapel zu sehen waren. Keine schönen Sachen, sondern solche, wie Bettler sie trugen.

»Dort drin sind Sachen für dich. Die Mädchen teilen sie sich. Bei uns werden alle gleich behandelt.« Sie fing an, in dem Schrank zu kramen, durchsuchte einen Stapel Lumpen und förderte ein fadenscheiniges Kleid zutage.

»Schau nur, Alice«, sagte sie. »So viele Löcher. Das fällt ja gleich auseinander.«

»Ich lasse meine Näherinnen nächste Woche den Stapel durchgehen und das eine oder andere reparieren«, erwiderte Miss Fitts und zupfte an Dolly herum, dem einzigen Spielzeug aus meinem Koffer, das sie mir gelassen hatten.

»Reparieren? Die sind jenseits des Reparierbaren.«

»Der Vorstand hat letzte Woche mitgeteilt, wir dürfen nichts wegwerfen, das repariert werden kann. Ein paar von den Kleidern kann man sicher noch retten.«

»Diese Einrichtung geht vor die Hunde«, sagte Mrs. Cunningham. »Gib mir dein Handtuch«, wandte sie sich an mich. Ich zog es von meinen Schultern und reichte es ihr. »Arme hoch.« Ich gehorchte, und sie streifte mir das Kleid über den Kopf, zog es über meine Hüfte, bis zu meinen Knien. Wenn ich kräftiger gewesen wäre und einige Jahre älter, hätte es mir sicher gepasst, aber so hing es an mir herab wie ein Sack. Man konnte sich keine Sachen in seiner Größe aussuchen, nicht damals. Man hat angezogen, was man gekriegt hat. Das Kleid roch wie die Sachen von den toten Leuten, die man beim Wohltätigkeitsbasar kaufen kann. Es hatte überall Flicken, und der Stoff war kratzig und steif. Mein ganzer Körper juckte deswegen. Ich fühlte mich schmutziger darin als vorhin, bevor sie mich gewaschen hatten. Die Schuhe, die ich bekam, waren auch schlimm: hässliche alte Quadratlatschen aus schwarzem Leder und mit Schuhbändern bis hoch zu den Knien. Wenn man die anhatte, fühlte man sich immer, als hätte man Gewichte an den Füßen, aber die Schwestern wurden ziemlich sauer, wenn sie einen ohne erwischten. Es war, als hätten sie Angst, ohne diese Schuhe könnte man entkommen – hoch zur Decke schweben oder vom Wind weggeweht werden.

Am schlimmsten aber waren die verfluchten Schlüpfer, die sie da hatten: altmodische gestreifte Dinger, wie die Liegestühle am Margate Beach. Man sah darin aus, als wär man beim Zirkus. Schnell kriegte ich mit, dass man froh sein konnte, wenn sie keine gelben Flecken drin hatten – oder noch schlimmere. Das war schlimm am St Mary’s: Du durftest nicht deine eigenen Sachen anziehen, musstest die von fremden Leuten tragen. Alles, was du anzogst – Kleider, Schuhe, sogar diese elenden Schlüpfer – , hatte deine Nummer draufgeklebt, Nummer sieben, Station sowieso. Das haben die gemacht, damit du nicht weglaufen konntest. Und wenn du es trotzdem gemacht hast, fanden sie dich. Und dann gnade dir Gott.

Das war das letzte Mal, dass ich meine Sachen gesehen habe. All meine hübschen Kleider und Schuhe verschwanden. Es ist nicht nett, das zu sagen, aber ich könnte mir vorstellen, dass Mrs. Cunningham alles geklaut hat, um es ihren eigenen Kindern zu geben. Nicht dass es eine Rolle spielen würde. Ich war einundvierzig Jahre alt, als ich das St Mary’s verließ. Diese Kleider wären mir da längst viel zu klein gewesen.

Margaret

2015

Warum schreibst du an mich, Cilla? Warum gerade jetzt? Es ist Dienstagmorgen, ich bin auf dem Weg zu Sainsbury’s. Ich versuche, alles in meinem Kopf zu ordnen. Hast du mir etwas Wichtiges mitzuteilen? Eine Nachricht? Der Brief, den du mir an diesem Morgen geschickt hast, war in einem gelben Umschlag. In dem Umschlag ein weiterer Zwanzigpfundschein und eine Postkarte mit einem Foto von der Royal Albert Hall vorne drauf, hinten die gleiche Spinnwebenschrift. Ich hoffe, David ist heute im Laden, er wird mir vorlesen, was draufsteht. Ich habe überlegt, Wayne die Karte zu zeigen, aber ich will ihm nichts von dir sagen, noch nicht. Ihm rede ich sowieso zu oft von Cilla, er kriegt schon zu viel, wenn ich nur deinen Namen nenne. Du musst versuchen, über das hinwegzukommen, was passiert ist, Margaret, sagt er. Das ist aber schwierig.

Cilla flüstert mir Sachen ins Ohr. Sie redet von Bobbys Tod und dass sie lange gebraucht hat, um darüber hinwegzukommen. Sie hat den Schmerz besiegt, indem sie sich an ihren gewohnten Alltag geklammert und Tee gekocht hat. Und als es richtig schlimm wurde, ist sie nach Barbados geflogen. Meine Invalidenrente reicht nicht für Barbados, also muss Sainsbury’s herhalten.

Im Supermarkt gehe ich als Erstes zu den Milchprodukten, um eine Schachtel mit Schmelzkäseecken zu kaufen. Über meine Kopfhörer ist Cilla bei mir, so fühlt es sich an, sie plaudert mit mir, während ich meine Einkäufe erledige. Es ist angenehm, zur Abwechslung mal Gesellschaft zu haben.

»Den Käse von Dairylea oder Laughing Cow?«, frage ich Cilla. Ein Mädchen in einem engen weißen T-Shirt und Jeansshorts guckt mich komisch an, und mir wird klar, dass ich laut geredet habe. Sie sagt irgendwas zu mir, aber ich kann sie nicht hören und nehme die Kopfhörer ab.

»Haben Sie mich gefragt?«, sagt sie.

»Nein, meine Liebe«, erwidere ich. »Ich rede mit meiner Freundin Cilla.« Als mir klar wird, dass sie mich für dumm halten muss, ergänze ich eilig: »Oh, am Telefon. Einfach unglaublich, was diese Telefone heutzutage alles können. Wie nennt man das gleich noch? Freisprechanlage?«

Das Mädchen starrt auf die Kopfhörer in meiner Hand, von denen ein Kabel zum CD-Spieler in meiner Manteltasche geht. Sie nickt, nimmt eine Schachtel Schmelzkäseecken aus dem Regal, wirft sie in ihren Korb und geht weg.

Ich setze meine Kopfhörer wieder auf und stehe eine ganze Weile einfach nur da und betrachte die Käseecken. Wenn ich bei Sainsbury’s einkaufe, hetze ich nicht gern.

Auf dem Weg in den nächsten Gang sehe ich den netten David. Er kniet vorm Keksregal und füllt es auf. Ich brauche Cracker für meine Schmelzkäseecken, hab also einen Grund, ihn anzusprechen.

Es dauert ganz schön, ehe er mitbekommt, dass ich hinter ihm stehe. Cilla erzählt mir derweil, wie sie im Musical Gypsy eine Stripperin gespielt hat und eine Lichterkette am Hintern tragen musste. Ich lache laut los. David hält inne und dreht sich nach mir um, sieht, wie ich in mich hineinkichere. Er muss denken, dass ich verrückt bin.

Ich nehme die Kopfhörer ab. »David, kannst du mir bitte sagen, wo die Creamcracker sind? Ich kann sie nicht finden.«

David steht auf und lächelt mich an. »Ich hole Ihnen gern welche. Nur ein Päckchen?«

Ich nicke. Er ist so ein feiner, hilfsbereiter junger Mann.

»Oh, und David«, sage ich, als er die Cracker schließlich in meinen Korb legt, »würdest du eventuell diesen Brief für mich lesen? Ich hab schon wieder meine Brille nicht dabei.«

Gelb

Gelb. Die Farbe von Vanille. Vanilleeis mit Feige. Ein feiger Feigling bin ich nämlich, Margaret. Ein Duckmäuser, ein Hasenfuß, ein lahmer Löwe. So habe ich das nicht gewollt. Ich dachte, es wird gut. Das Leben steckt voller Überraschungen. Sagt man nicht so? Ähm … Überraschung! Hier bin ich!

Ich hoffe, du fühlst dich nicht herabgesetzt, weil ich dir Geld schicke. Ich will dir nämlich wirklich helfen, Margaret. Ehrlich gesagt, fühle ich mich schuldig, weil du und ich so verschiedene Leben gelebt haben. Ich hatte eine privilegierte Kindheit – ein schönes Haus, liebende Eltern und Verwandte. Urlaube im Ausland. Es macht mich traurig, dass du all das nicht erleben durftest. Du hast ohne eigenes Verschulden so viel verpasst, und ich möchte das wiedergutmachen. Wirklich. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, aber bezüglich der Zukunft können wir eine Menge machen.

Bitte nimm das kleine Zeichen meiner Zuneigung an und gönn dir etwas Schönes, neue Schuhe oder einen Haarschnitt vielleicht?

Alles Liebe, C.

A Fool Am I

Margaret

1947

Sie ließen mich zwei Wochen in der Aufnahmestation. Am Anfang schlief ich kaum. Ich weinte die Nächte durch. War ich dann doch weggenickt, wusste ich beim Aufwachen nicht, wo ich war, und meinte, all das müsste ein Traum sein. »Wo ist Grandma?«, sagte ich zu den Schwestern. »Wann kommt sie mich abholen?« Wieder und immer wieder stellte ich dieselbe Frage. Einmal hatte Mrs. Cunningham es so satt, dass sie mir ein Glas Wasser ins Gesicht schüttete. Deshalb hörte ich aber noch lange nicht auf. Ich schrie mir die Lunge aus dem Leib. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als Miss Fitts zu rufen, damit die ihr half, mich zu bändigen.

»Anders geht es bei ihr nicht, Alice«, sagte sie und presste mich aufs Bett. Miss Fitts half ihr, Schlaufen an meinen Hand- und Fußgelenken festzuziehen, damit ich mich nicht mehr regen konnte. Die Schlaufen waren wie Gürtel von großen Männern – schwarzes Leder, mit Schnallen aus Metall. Wenn man sich dagegenstemmte, hinterließen sie rote Striemen auf der Haut.

Als sie mich fertig gebändigt hatten, lehnte sich Mrs. Cunningham über das Bett, stützte sich auf meine Schultern und sagte so dicht über meinem Gesicht, dass ich ihren vergorenen Atem riechen konnte: »Da kannst du heulen und toben, wie du willst, deine Großmutter kommt nicht zurück. St Mary’s ist jetzt dein Zuhause, gewöhn dich besser dran.«

Der Ausdruck in ihrem Blick ließ mich verstummen. Ich wollte nicht wissen, wozu sie fähig wäre, falls ich nicht gehorchte.

Sie haben mir die Haare abgeschnitten. Meine schönen langen Haare fielen in eine große Schüssel, Mrs. Cunningham machte das. Sie war nicht gut im Haareschneiden. Es war schrecklich. Als sie mir den Spiegel hinhielt, damit ich mich betrachten konnte, weinte ich. Sofort war Miss Fitts mit einer Schachtel Haarspangen zur Stelle.

»Schau nur, Margaret, sind die nicht hübsch?« O ja, das waren sie. »Such dir eine aus«, sagte sie.

Sally, bist du das, da unten in der Grube? Ich bin’s, deine Mama, kannst du mich hören, mein Liebling? Es ist kalt hier oben, sehr kalt.

Wahrscheinlich hatten sie nicht gewusst, wohin mit der Frau.