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Zum Buch

Für die preisgekrönte Journalistin Vivian Gornick sind Bücher Lebensbegleiter. In neun Essays, die sich zwischen scharfsinniger Literaturkritik und persönlichen Erinnerungen bewegen, denkt sie über die Bedeutung des Lesens – und Wieder-Lesens – nach. Warum sprechen Bücher in verschiedenen Lebensphasen so unterschiedlich zu uns? Und was verraten diese Leseerfahrungen über uns? Gornick schreibt über die Erinnerung in Marguerite Duras’ Der Liebhaber, entdeckt die psychologische Raffinesse von Elizabeth Bowens Prosa oder erzählt, wie Natalia Ginzburg sie immer wieder dazu bringt, »das Leben mehr zu lieben«.

Erhellende, sehr persönliche Texte über die Lebendigkeit von Büchern im Spiegel der eigenen Lebenserfahrungen von einer der brillantesten Denkerinnen unserer Zeit. Nominiert für den PEN Award.

»Wundervoll!« The Paris Review

Zur Autorin

VIVIAN GORNICK, 1935 als Tochter einfacher jüdischer Einwanderer in der Bronx geboren, ist Autorin, Journalistin, Literaturkritikerin und bekennende Feministin. Sie veröffentlichte bisher elf Sachbücher mit oft autobiografischem Hintergrund. Vivian Gornick, die Grande Dame der amerikanischen Frauenbewegung, wird gerade in vielen Ländern entdeckt beziehungsweise wiederentdeckt. Ich und meine Mutter, 2019 erstmals auf Deutsch erschienen, wurde 2019 von der New York Times zum besten Memoir der vergangenen fünfzig Jahre gewählt. Eine Frau in New York, wurde für den National Book Critics Circle Award nominiert und für Offene Fragen erhielt sie den Windham Campbell Prize für Literatur und war für den PEN Award nominiert.

Vivian Gornick

Offene Fragen

Notizen einer passionierten
Wiederholungsleserin

Aus dem amerikanischen Englisch
von pociao

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
Unfinished Business, Notes of a Chronic Re-Reader
bei Farrar, Straus and Giroux, New York.

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Copyright © 2020 der Originalausgabe by Vivian Gornick

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
München, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Sabine Kwauka

Umschlagfoto: © Mitchell Bach

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-26696-7
V001

www.penguin-verlag.de

Dieses Buch ist Randall Jarrell gewidmet, dem Mann, der glaubte, wir seien dem Schreiben verpflichtet, weil es dem Lesen diene.

Anmerkung der Autorin

Manche Sätze, Absätze – sogar ganze Passagen in diesem Buch – sind bereits in anderen meiner Veröffentlichungen erschienen. Ich war so frei, gewissermaßen bei mir selber »abzukupfern«, weil es mir hier darum geht, Texte erneut zu lesen, und ich fand es nützlich, auch mich selbst noch einmal neu zu lesen, indem ich den Kontext veränderte, in dem die Gedanken in diesen Passagen zum ersten Mal erschienen. Ich hoffe aufrichtig, dass diese Vorgehensweise den Leser nicht abschreckt.

Einleitung

Wenn ich heute ein Buch, das mir früher in meinem Leben einmal wichtig war, erneut lese, habe ich oft das Gefühl, auf der Couch eines Analytikers zu liegen. Das Narrativ, das ich jahrelang sozusagen auswendig konnte, wird plötzlich auf beunruhigende Weise infrage gestellt. Es scheint, als hätte ich vieles von diesem oder jenem Protagonisten oder Handlungsablauf falsch in Erinnerung behalten: Sie lernten sich in New York kennen, dabei war ich mir sicher, es war in Rom; sie begegneten sich 1870, ich dachte, es sei 1900 gewesen; und was hat die Mutter dem Protagonisten angetan? Trotzdem rückt beim Lesen des Buches die Außenwelt nach wie vor in den Hintergrund, und ich kann nicht umhin, mich zu fragen: Wenn ich dies und das und auch das da falsch verstanden habe, wie kann es dann sein, dass mich das Buch noch immer dermaßen fesselt?

Wie die meisten Buchliebhaber denke ich manchmal, ich sei lesend auf die Welt gekommen. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich kein Buch in der Hand hatte und für meine Umgebung ansprechbar war. In den Ferien mit Familie oder Freunden kann ich mich ohne Weiteres mit einem Buch auf die Wohnzimmercouch eines schönen Landhauses legen und die wunderbare grüne Landschaft, deretwegen wir alle gekommen sind, einfach ignorieren. Einmal, als ich mit dem Zug durch die peruanischen Anden fuhr, konnte ich den Blick nicht von der Frau in Weiß lösen, während alle anderen begeistert und staunend aus dem Fenster sahen. Ein anderes Mal saß ich mit Diane Johnsons Lesser Lives (einer imaginären Biografie von George Merediths erster Frau) auf dem Schoß in der gleißenden Sonne eines Karibikstrands und wunderte mich beim Aufblicken, nicht vom kalten englischen Nebel der 1840er Jahre umgeben zu sein. Was für herrliche Begleiter diese Bücher waren! Alle Bücher. Es gibt nichts Vergleichbares. Es ist die Sehnsucht nach der im Buch enthaltenen Stimmigkeit – diesem seltsamen Versuch, das Unausgereifte in Worte zu fassen –, es erzeugt Frieden und Erregung, Geborgenheit und Trost. Vor allem aber ist es die schiere Erlösung von dem Chaos im eigenen Kopf, die das Lesen mit sich bringt. Manchmal habe ich das Gefühl, allein das schenkt mir Lebensmut, und zwar seit frühester Kindheit.

Wir wohnten in einem proletarischen Einwandererviertel in der Bronx, wo die zahlreichen Geschäfte in der einzigen Einkaufsstraße sämtliche Bedürfnisse befriedigten. Metzger, Bäcker, Lebensmittelhändler, Bank, Apotheke, Schuster: eine einzige lange Ladenfront. Eines Tages, als ich noch recht klein war, sieben oder acht, nahm mich meine Mutter an der Hand mit in ein Geschäft, das mir noch nie aufgefallen war: eine Zweigstelle der New Yorker Leihbibliothek. Es handelte sich um einen langen Raum mit nackten Holzdielen, dessen Wände vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt waren. In der Mitte des Raums stand ein Tisch, an dem Eleanor Roosevelt saß (damals sahen alle Bibliothekarinnen so aus wie Eleanor Roosevelt): Eine große, vollbusige Frau, die ihr dichtes graues Haar im Belle-Époque-Stil auf dem Kopf aufgetürmt hatte, mit einer randlosen Brille auf der unglaublich geraden Nase und einem Ausdruck ruhigen Interesses in den Augen. Meine Mutter trat an den Tisch, deutete auf mich und erklärte Eleanor Roosevelt: »Sie liest gern.« Die Bibliothekarin stand auf, sagte »Komm mal mit« und ging mit mir zurück in den vorderen Teil des Raums, wo die Kinderbuchabteilung war. »Fang hier an«, sagte sie, und das tat ich. Von diesem Augenblick an las ich mich bis zum Ende der High School durch den ganzen Raum hindurch. Fragt man mich heute, was ich damals alles aus der Leihbibliothek mitnahm, erinnere ich mich nur, dass ich mich von Grimms Märchen über Little Women bis Von Zeit und Fluss vorkämpfte. Dann kam ich ins College und entdeckte, dass ich die ganze Zeit Literatur gelesen hatte. Ich glaube, in diesem Moment fing ich an, Bücher wiederzulesen, denn seitdem kehrte ich immer wieder zu den Werken zurück, die meine Vertrauten geworden waren, nicht nur wegen der mitreißenden Freude an der Geschichte an sich, sondern auch um zu verstehen, was ich durchlebte und was ich daraus lernen konnte.

Ich wuchs in einem diskussionsfreudigen linken Haushalt auf, in dem Karl Marx und die internationale Arbeiterklasse Glaubensgrundsätze bildeten: Sensible Antennen für soziale Ungerechtigkeit waren eine Selbstverständlichkeit.

Daher waren von Anfang an fast alle konkreten Erfahrungen von einem politischen Bewusstsein gefärbt, Lesen natürlich eingeschlossen. Ich las immer und ausschließlich, um die Macht des Lebens zu spüren. Diese manifestierte sich (auf erregende Art) im Umgang des Protagonisten mit jenen äußeren Kräften, die sich seiner oder ihrer Kontrolle entzogen. So berührten mich die Werke von Dickens, Dreiser und Hardy gleichermaßen intensiv, aber auch die von Mike Gold, John Dos Passos und Agnes Smedly. Als ich vor einigen Jahren auf einen Aufsatz von Delmore Schwartz stieß, in dem dieser sich über Edmund Wilsons schockierenden Mangel an Interesse für die literarische Form wundert, musste ich lachen. Für Schwartz ist Form für die Bedeutung eines literarischen Werkes wesentlich, für Wilson jedoch kam es nicht darauf an, wie die Bücher geschrieben waren, sondern wovon sie handelten und wie sie die Kultur in ihrer Gesamtheit beeinflussten. Er stellte ein Buch immer in einen sozialen und politischen Kontext, das war typisch für ihn. Diese Perspektive erlaubte es ihm, einen Gedankengang zu verfolgen, bei dem er Proust und Dorothy Parker im selben Satz erwähnen oder Max Eastman im Vergleich über André Gide stellen konnte. Für Schwartz war das eine echte Qual. Für mich war es unbeschreiblich lohnend. Und so erschien es mir ganz natürlich, dass die Art, wie ich las, auch die Art sein würde, in der ich zu schreiben begann.

Ende der sechziger Jahre besuchte ich ein »Speak-out« im Vanguard, einem berühmten Jazz Club in Greenwich Village. Der Abend wurde unter dem Titel »Kunst und Politik« angekündigt, und auf dem Podium saßen der Dramatiker LeRoi Jones (später Amiri Baraka), der Saxofonist Archie Shepp und der Maler Larry Rivers. Das Publikum umfasste sämtliche Linke der weißen Mittelschicht von New York. Sehr schnell wurde klar, dass die Kunst gegen die Politik keine Chance hatte. Jones dominierte das Ereignis, indem er gleich zu Beginn erklärte, dass nicht nur die Bürgerrechtsbewegung die sogenannte weiße Intervention satt habe, sondern auf den Plätzen des Theaters der Revolution bald Blut fließen werde, und wer auf diesen Plätzen sitze, das wisse man ja. Der Saal explodierte, alle johlten und schrien irgendwelche Versionen von »Unfair!« durcheinander, doch eine Stimme erhob sich über alle anderen. »Ich habe meinen Beitrag geleistet, LeRoi«, schrie sie. »Du weißt, dass ich meinen Beitrag geleistet habe!« Jones ließ sich von dem Tumult weder beeindrucken noch einschüchtern und erklärte, dass wir »ofays«* alles vermurkst hätten, und wenn sie, die Schwarzen, an die Macht kämen, wollten sie alles anders machen: Sie würden die Welt, wie wir sie kannten, zerstören und noch einmal ganz von vorn anfangen. Ich weiß noch, wie ich dachte: Er will nicht die Welt, wie sie ist, zerstören, er will seinen rechtmäßigen Platz darin einnehmen, wie es sich gehört, nur ist sein Kopf im Augenblick so voller Blut, dass er es gar nicht weiß.

Das wollte ich unbedingt in die Welt hinausschreien, so wie all die anderen das hinausschrien, was sie jeweils am meisten verletzte, doch er machte mir Angst (man kann sich Barakas mächtige öffentliche Ausstrahlung in jener tragischen Zeit kaum vorstellen), deshalb hielt ich den Mund und ging nach Hause; da ich jedoch einen starken Drang verspürte, den ich mir nicht recht erklären konnte, blieb ich die halbe Nacht wach und hielt das ganze Ereignis aus der Perspektive meiner eigenen großartigen Erkenntnisse fest. Beim Schreiben entdeckte ich dann das, was mein natürlicher Stil werden sollte. Aus der Perspektive der teilnehmenden Erzählerin heraus baute ich die Geschichte instinktiv so auf, als wäre es Fiktion (»Neulich Abend im Vanguard …«), damit die Leser sie durch meine Augen sahen, das Ereignis so erlebten, wie ich es erlebt hatte, es genauso instinktiv spürten, wie ich es gespürt hatte (»Ich habe meinen Beitrag geleistet, LeRoi. Du weißt, dass ich meinen Beitrag geleistet habe!«), und am Ende nicht von der Brisanz von Kunst und Politik, sondern vom Leben und der Politik bewegt und belehrt nach Hause gehen würden. Obwohl ich mir damals dessen nicht bewusst war, hatte ich begonnen, subjektiven Journalismus zu schreiben.

Am Morgen steckte ich das, was ich in der Nacht geschrieben hatte, in einen Briefumschlag, ging zum Briefkasten an der Ecke und schickte es an The Village Voice. Ein paar Tage später klingelte mein Telefon. Ich nahm ab, »Hallo«, und hörte die Stimme eines Mannes. »Ich bin Dan Wolf, Herausgeber der Voice, und wer zum Teufel sind Sie?« Noch ehe ich nachdenken konnte, rutschte es mir heraus: »Keine Ahnung, sagen Sie es mir.« Wolf lachte und forderte mich auf, ihm mehr von meiner Arbeit zu zeigen. Ein Jahr später schickte ich ihm einen neuen Text. Und ich glaube, bis zum dritten Mal verging noch fast ein weiteres Jahr.

Ich hatte es ernst gemeint, als ich sagte, ich hätte keine Ahnung, wer ich sei. Zwar konnte ich jederzeit ohne Punkt und Komma reden, sodass mein Gegenüber gelegentlich sagte: »Das solltest du aufschreiben«, wurde aber fast immer, wenn es darauf ankam, von lähmenden Selbstzweifeln befallen. Nur selten erlaubte mir dieses glühende Gefühl von Nicht-anders-Können, einen Text auf befriedigende Weise abzuschließen. Hier war ich nun, nach diesem Abend im Vanguard, mit einer offenen Einladung, der quälenden Unfähigkeit entgegenzutreten und mich zumindest ansatzweise meinem lebenslangen Bestreben zu stellen, eine professionelle Schriftstellerin zu werden. Und was tat ich? Ich heiratete. Ich heiratete und verließ New York, um irgendwo tief in der amerikanischen Provinz zu leben, wo jede Verbindung, die ich zum Schreiben hatte, erst einmal drastisch gekappt wurde. Doch es dauerte nicht lange, bis ich mich scheiden ließ und in die Stadt zurückkehrte, wo ich dann ziellos umherstreifte und hin und wieder eine Stelle annahm, die irgendwie mit dem Verlagswesen zu tun hatte: ein in die Jahre gekommener Teenager, der nicht erwachsen werden wollte.

Eines Tages jedoch betrat ich das Büro der Voice – woher ich den Mut nahm, ist mir bis heute ein Rätsel – und bat Dan Wolf um eine Stelle. »Sie sind eine neurotische Jüdin«, sagte er, »die nur einmal im Jahr einen Text zustande bringt, wie soll ich Ihnen da einen Job geben?« Ich antwortete, nein, das sei vorbei, ich würde tun, was immer er verlangte – und wie es sich herausstellte, war mir damit ernst. Zwei Aufträge später hatte ich den Job.

Doch worin genau bestand dieser Job?

The Voice war ein Meinungsblatt, das 1955 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gegründet worden war, als die Meinung eines Linksliberalen als radikal galt. Das Schlüsselwort war »Meinungsmache«. Die Zeitung war dermaßen sensationsheischend aufgemacht, dass sämtliche Mitarbeiter sich anhörten, als hielten sie der Gesellschaft routinemäßig eine Knarre an die Schläfe. In gewisser Hinsicht ähnelte der Betrieb dem sozialem Realismus meiner Kindheit, weshalb ich ganz gut dazu passte. Andererseits kollidierte mein Faible für den subjektiven Journalismus bald mit der verführerischen Reduzierung auf »die« gegen »uns«, die in der Berichterstattung der Voice vorherrschte. Mich bei der Erforschung eines Themas als Werkzeug der Erleuchtung zu betrachten, weckte in mir das wachsende Bedürfnis, sowohl nach innen als auch nach außen zu schauen: das »Subjektive« und das »Journalistische« proportional zusammenzuführen und herauszufinden, wie die einzelnen Teile wirklich zusammenpassten, wie sich die Situation vor Ort tatsächlich anfühlte. Es kam mir vor, als arbeitete ich eine ganze Weile mit nur mäßigem Erfolg an der Lösung dieses Problems. Dann setzte die Befreiungsbewegung der siebziger Jahre ein, Politik fühlte sich allmählich existenziell an, und das Dilemma, wie man subjektiven Journalismus schreibt, war für mich längst erledigt.

Ende der siebziger Jahre sagte ein Redakteur der Village Voice zu mir: »In der Bleecker Street versammeln sich diese Emanzen. Geh doch mal hin und guck dir das an!«

»Was sind Emanzen?«, fragte ich. Eine Woche später war ich selber eine.

Innerhalb von wenigen Tagen hatte ich Kate Millett, Susan Brownmiller, Shulamith Firestone und Ti-Grace Atkinson kennengelernt. Es war, als redeten sie alle auf einmal, und trotzdem hörte ich jedes einzelne Wort, das sie sagten. Vielleicht hatten sie aber auch alle dasselbe gesagt, denn nach dieser Woche war ich nur von einem einzigen Gedanken beseelt, dass nämlich die Vorstellung, Männer nähmen von Natur aus ihren Verstand ernst und Frauen nicht, keineswegs eine natürliche Tatsache ist, sondern ein Aberglaube. Er dient den herrschenden Wertvorstellungen und ist von wesentlicher Bedeutung dafür, wie unser aller Leben sich gestaltet. Die Unfähigkeit, sich vorrangig als arbeitender Mensch zu betrachten – das war, wie ich jetzt erkannte, das zentrale Dilemma im Leben der Frauen.

Diese Einsicht fühlte sich neu und tiefsinnig an, vor allem aber unwiderstehlich. Plötzlich sah ich das ungelebte Leben von Frauen nicht nur als ein Verbrechen von historischem Ausmaß, sondern als ein psychisches Drama, das genau in dem Moment perfekt zum Leben erwachte, als das Wort »Sexismus« erfunden wurde – und dieses Wort beherrschte nun meine Tage. Überall sah ich Sexismus: roh und brutal, gewöhnlich und intim, uralt und omnipräsent. Ich sah ihn in den Straßen und in den Kinos, in der Bank und im Lebensmittelladen. Ich sah ihn, wenn ich die Schlagzeilen las, mit der U-Bahn fuhr und wenn man mir die Tür aufhielt. Und was mich am meisten schockierte: Ich sah ihn auch in der Literatur. Die meisten Bücher, mit denen ich aufgewachsen war, das erkannte ich nun, hatten weibliche Charaktere, die wie blutleere Strichfigürchen wirkten und nur dazu dienten, das Schicksal der Hauptfiguren, die, wie mir erst jetzt bewusst wurde, fast durchweg männlich waren, entweder zu behindern oder voranzutreiben. Es kam mir vor, als hätte ich mich beim Lesen mein ganzes Leben lang mit Charakteren identifiziert, deren Entwicklung sich erheblich von der unterschied, die ich hoffentlich selbst machen würde.

Was für ein Hochgefühl überkam mich bei dieser Analyse! Ich wachte mit ihr auf, tanzte den ganzen Tag mit ihr herum und schlief lächelnd mit ihr ein. Es war, als könnte allein diese Offenbarung mich ins gelobte Land nicht nur der politischen Gleichberechtigung, sondern auch der inneren Unabhängigkeit katapultieren. Dass uns Frauen unsere Rechte verweigert wurden, reichte mir als Erklärung meines Verhaltens. Was für eine fröhliche kleine Anarchistin ich wurde! Was für eine Freude war es, in all der Aufregung konventionelle Einstellungen beiseite zu schieben! Wie ungeniert konnte ich sagen: »Keine Gleichheit in der Liebe? Dann verzichte ich eben! Kinder und Mutterschaft? Überflüssig! Gesellschaftliche Ächtung? Quatsch!« Damals fühlte sich das Leben gut an. Ich hatte den Durchblick, ich war nicht allein. Wohin ich auch sah, überall gab es Frauen wie mich, die dasselbe sahen wie ich, dachten wie ich, sprachen wie ich.

Trotzdem war keineswegs alles eitel Sonnenschein. Zum Beispiel hatte niemand mit dem Ausmaß an Wut gerechnet, die die Frauenbewegung in Männern und Frauen gleichermaßen auslösen würde: Manchmal war sie so stark, dass sie die ganze Welt in Brand zu setzen schien. Jeden Tag gingen Ehen zu Bruch, endeten Freundschaften, wurden Familienmitglieder einander fremd – und vollkommen anständige Menschen warfen sich die abscheulichsten Dinge an den Kopf oder taten sich Gott weiß was an. So lauschten eines Abends zwei Akademiker – eine großgewachsene, schlanke Frau und ein dicker, kleiner Mann – auf einer Dinnerparty aufmerksam einem angesehenen Historiker, auf dessen Fachgebiet sich die Frau sehr gut auskannte. Gelegentlich stellte sie eine Frage oder äußerte einen Kommentar, woraufhin ihr Kollege sie ungeduldig bat, nicht ständig »dazwischenzureden«. Früher hätte diese Frau nach einer solchen Zurechtweisung den Mund gehalten, jetzt aber verhärtete sich ihr Gesicht, und sie zischte ihm zu: »Es reicht, du hässlicher Zwerg, was bildest du dir ein, mir das Wort zu verbieten?« Alle am Tisch verstummten, und innerhalb von Minuten löste sich die Gesellschaft auf. Ich blieb verdutzt zurück. Einerseits war ich von dem Gefühlsausbruch der Frau begeistert, andererseits hinterließ der Verlust an Höflichkeit einen bitteren Nachgeschmack. Wer hätte gedacht, dass in so vielen von uns so lange so viel Hass und Angst gegärt hatten?

Innerhalb eines Jahrzehnts wurde den Feministinnen der siebziger Jahre bewusst, dass wir uns in der politischen Analyse zwar einig waren, die Ideologie allein uns jedoch nicht von unserem eigenen beschädigten Ich erlösen konnte. Zwischen der Inbrunst unserer Rhetorik und dem Diktat der tagtäglichen Realität schien ein Niemandsland ungeprüfter Überzeugungen zu liegen. Viele von uns wurden zu Paradebeispielen für die Kluft zwischen Theorie und Praxis: die Diskrepanz zwischen dem, was zu fühlen wir vorgaben und der erbärmlichen Komplexität dessen, was wir tatsächlich mit jedem Tag deutlicher spürten.

Die quälenden Widersprüche innerhalb meiner Persönlichkeit offenbarten sich Tag für Tag, und Verhaltensmuster, denen ich bislang keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, spielten plötzlich eine wichtige Rolle. Ich hatte mich immer für eine im Großen und Ganzen angenehme Zeitgenossin gehalten, die Wert auf das legte, was man normalerweise als anständig bezeichnet. Jetzt sah ich, dass das keineswegs stimmte. In Unterhaltungen fiel ich anderen ins Wort und gab Kontra, Familienangelegenheiten fand ich langweilig und uninteressant, und in der Redaktion spielte ich mich übertrieben auf. Obwohl ich mich ständig nach einer festen Beziehung sehnte (zumindest glaubte ich das), sabotierte ich eine nach der anderen, indem ich mich fast ausschließlich auf das konzentrierte, was ich für meine Bedürfnisse hielt, statt auf die meiner jeweiligen Freundin oder des aktuellen Liebhabers. Wie entsetzlich fühlte sich nun die eingeschränkte Erfahrung an, zu der mich meine eigene Selbstspaltung geführt hatte!

Im Nullkommanichts tat sich ein unvorstellbares Universum von Emotionen vor mir auf, das seine eigene Theorie, eigene Gesetze und eine eigene Sprache hatte und eine Weltsicht darstellte, die mehr Wahrheit zu enthalten schien – das heißt, mehr innere Realität – als jede andere; damit nahm das Drama »Innere Quälerei« seinen Lauf. Jetzt kämpfte ich jeden Tag mit mir, und ein Teil von mir ging auf den anderen los. Die Vernunft sagte mir, von welchen Verhaltensweisen ich mich lösen sollte, während allerlei Zwänge verlangten, die Vernunft zu ignorieren. Immer wieder erlebte ich die Erniedrigung fortwährender Selbstdemontage. Im Verlauf einer langen Analyse wurde klar, dass Erkenntnis allein niemals genug sein würde, doch es dauerte Jahre, um das zu verinnerlichen. Die Anstrengung, die notwendig war, um so etwas Ähnliches wie ein ganzheitliches Ich zu entwickeln, würde ein ganzes Leben in Anspruch nehmen. Wie der große Anton Tschechow es so unvergesslich formuliert hatte: »Während andere mich zu einem Sklaven hätten machen können, war ich derjenige, der tropfenweise den Sklaven aus sich herauspresst.«

Einmal mehr stellte ich fest, dass ich Texte jetzt anders las. Ich nahm mir die Bücher vor – zumeist Romane –, die ich ein erstes und ein zweites Mal gelesen hatte, und las sie noch einmal. Diesmal erkannte ich, dass ungeachtet der Handlung, des Stils oder der Epoche das zentrale Drama im literarischen Werk immer von der Schädlichkeit der menschlichen Selbstspaltung abhängt: von der Angst und der Ignoranz, die sie auslöst, der Scham, die sie verursacht, dem lähmenden Geheimnis, in das sie uns hüllt. Mehr noch, ich erkannte, dass das, was einen unweigerlich an der Lektüre eines guten Buches berührt – etwas, das im Text mitschwingt und irgendwo in seinem Innersten gefangen ist –, die vage Vorstellung (als käme sie aus dem urzeitlichen Unbewussten) von einer menschlichen Existenz mit geheiltem Riss ist, von zusammengefügten Teilen, von der zur Perfektion getriebenen Sehnsucht nach Verbindung. Große Literatur, so dachte ich damals und denke es heute noch, ist nicht die Aufzeichnung einer errungenen Ganzheit des Seins, sondern die einer tiefen Anstrengung, die in ihrem Namen unternommen wurde.

Ich lese noch immer, um die Macht des Lebens zu fühlen. Ich sehe den Protagonisten noch immer im Bann von Kräften, die sich seiner Kontrolle entziehen. Und wenn ich schreibe, hoffe ich noch immer, dass ich den Leser dazu bringe, alles mit meinen Augen zu sehen, damit er die Dinge, um die es geht, so erlebt, wie ich sie erlebt habe, sie intuitiv so spürt, wie ich es tat.

Es folgt eine Sammlung von Texten, geschrieben in Würdigung der literarischen Abenteuer, die mir durch das Lesen und Wiederlesen von Büchern ermöglicht wurde und mir all das oben Gesagte auf neue Art vermittelte.

* rassistischer Ausdruck für »Weiße« {Anm. d. Ü.)