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Die hundert Jahre von Lenni und Margot

Marianne Cronin

Die hundert Jahre
von Lenni und Margot

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von
Charlotte Breuer und Norbert Möllemann

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2021

unter dem Titel The hundred years of Lenni and Margot

bei Doubleday, London.

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Die Übersetzung des Gedichts Der alte Sternenkundler an seinen Schüler
(The Old Astronomer / The Old Astronomer to His Pupil)
von Sarah Williams erfolgte durch Sebastian Wohlfeil.

Copyright © 2021 der Originalausgabe by Marianne Cronin

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by C. Bertelsmann

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
nach einem Entwurf von Irene Martinez Costa / TW
unter Verwendung von ©Shutterstock Bildern.

Redaktion: Lisa Wolf

Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-27440-5
V002

www.cbertelsmann.de

Teil eins

Lenni

Wenn die Leute von »Terminal« sprechen, denke ich immer zuerst an einen Flughafen.

Vor meinem geistigen Auge erscheint dann eine Abfertigungshalle mit hohen Decken und Glaswänden, Flughafenangestellte in Uniform, die mich um meinen Namen und meine Bordkarte bitten, die mich fragen, ob ich meinen Koffer selbst gepackt habe, ob ich allein reise.

Ich sehe die ausdruckslosen Gesichter von Reisenden vor mir, die auf Bildschirmen nach Abflugzeiten suchen, Familien, die einander zum Abschied umarmen und versichern, dass man sich bald wiedersehen wird. Ich stelle mir vor, wie es wäre, einer von ihnen zu sein, meinen Rollkoffer über den auf Hochglanz polierten Boden zu ziehen und mich auf den Bildschirmen zu vergewissern, dass mein Flug pünktlich geht.

Doch ich muss mich von dieser Vorstellung verabschieden und mir bewusst machen, dass »terminal« für mich nun etwas anderes bedeutet.

Heutzutage nennt man es auch »lebensverkürzend«. »Kinder und junge Erwachsene mit einer lebensverkürzenden Krankheit …«

Die Schwester spricht in einem sanften Ton, als sie mir erklärt, dass das Krankenhaus einen Beratungsservice für junge Patienten eingerichtet hat, deren Zustand »terminal« ist. Sie stockt und läuft rot an. »Entschuldigung, ich meinte lebensverkürzend.« Ob ich mich anmelden möchte? Ich kann mir aussuchen, ob eine Beraterin zu mir ans Bett kommt oder ob ich lieber in das Beratungszimmer für Jugendliche möchte. Da gibt es jetzt auch einen Fernseher. So viele Möglichkeiten. Nur das Wort ist mir nicht neu. Ich habe schon viel Zeit wartend am Flughafen verbracht. Jahre.

Und doch bin ich noch nie irgendwohin geflogen.

Ich betrachte die gummiummantelte Uhr, die kopfüber an der Brusttasche der Schwester hängt. Bei jedem ihrer Atemzüge baumelt sie hin und her.

»Soll ich deinen Namen eintragen? Die Beraterin, Dawn, ist echt nett.«

»Nein, danke. Ich hab meine eigene Therapie.«

Sie runzelt die Stirn und legt den Kopf schief. »Ach?«

Lenni und der Priester

Ich habe Gott einen Besuch abgestattet. Schließlich gibt es hier sonst kaum was zu tun. Die Leute sagen, wenn man stirbt, dann bedeutet das, dass Gott einen zu sich ruft, also dachte ich mir, am besten stelle ich mich schon mal vor. Außerdem habe ich mitbekommen, dass die einen in die Kapelle lassen müssen, wenn man religiös ist, und die Vorstellung, einen Raum zu sehen, den ich noch nicht kannte, und gleichzeitig dem Allmächtigen zu begegnen, reizte mich irgendwie.

Eine Schwester, die ich noch nie zuvor gesehen hatte und deren Haare kirschrot gefärbt waren, hakte sich bei mir unter, dann liefen wir durch die endlos langen Flure zwischen den Toten und Sterbenden hindurch. Begierig sog ich jeden neuen Eindruck auf, jeden neuen Geruch, jeden Schlafanzug, bei dem die Hose nicht zum Oberteil passte.

Man könnte meine Beziehung zu Gott als kompliziert bezeichnen. In meiner Vorstellung ist er so etwas wie ein kosmischer Wunschbrunnen. Ich habe ihn schon öfter um was gebeten, und ein paarmal hat er sogar geliefert. Manchmal kam auch nichts. Aber mittlerweile denke ich, vielleicht habe ich die ganzen Male nur angenommen, Gott wäre still, während er mir in Wirklichkeit jedes Mal irgendwas Fieses in den Körper gesteckt hat, was ich erst Jahre später bemerkt habe, so eine Art stilles »f… – dich«, weil ich es gewagt habe, ihn infrage zu stellen.

Als wir uns der Tür zur Kapelle näherten, war ich enttäuscht. Ich hatte mir einen beeindruckenden gotischen Torbogen vorgestellt, und stattdessen standen wir vor einer schweren, grauen, doppelflügeligen Tür mit viereckigen Milchglasfenstern. Ich dachte nur: Was macht er da drin?

Die neue Schwester und ich stolperten in die Stille hinter der Tür.

»Ah!«, sagte er. »Hallo!«

Er war so um die sechzig und trug ein schwarzes Hemd, eine schwarze Hose und ein weißes Hundehalsband. Und er grinste von einem Ohr zum anderen.

Ich salutierte. »Euer Ehren.«

»Das ist Lenni … Peters?« Die Schwester schaute mich fragend an.

»Pettersson.«

Sie ließ meinen Arm los und fügte leise hinzu: »Sie ist von der Mai-Station.«

Es war die netteste Art, es auszusprechen. Ich nehme an, sie wollte ihn warnen, denn er strahlte mich an wie ein Kind, das eine mit einer roten Schleife verpackte elektrische Eisenbahn zu Weihnachten geschenkt bekommt und noch nicht weiß, dass sie kaputt ist. Er konnte sein Herz an das Geschenk hängen, wenn er wollte, aber die Räder waren schon lose, und das Ding würde kaum bis zum nächsten Weihnachten halten.

Ich ging auf ihn zu. Mit meinem Infusionsschlauch, der am Infusionswagen befestigt war.

»In einer Stunde komme ich wieder«, erklärte die Schwester mir, und dann sagte sie noch etwas, aber ich hörte schon gar nicht mehr zu, denn ich hatte den Blick nach oben gerichtet. Durch ein Fenster fiel Sonnenlicht in allen Schattierungen von Pink bis Lila.

»Gefällt es dir?«, fragte er.

In der Mitte des Bleiglasfensters befand sich ein braunes Kreuz, umgeben von gezackten Glaselementen in Lila, Aubergine, Pink und Rosa. Es sah aus, als würde es in Flammen stehen. Das Licht fiel auf den Teppichboden, die Kniebänke, auf ihn und auf mich.

Er wartete geduldig, bis ich mich zu ihm umdrehte.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Lenni«, sagte er. »Ich bin Arthur.« Er schüttelte mir die Hand, und ich rechnete es ihm hoch an, dass er nicht zusammenzuckte, als seine Finger die Stelle berührten, wo der Tropf an meiner Hand befestigt war.

»Möchtest du dich setzen?«, fragte er und zeigte auf die leeren Kirchenbänke. »Es freut mich, dich kennenzulernen.«

»Das haben Sie schon gesagt.«

»Hab ich das? Tut mir leid.«

Ich schob meinen Infusionswagen hinter mich und zog den Gürtel meines Bademantels fester. »Können Sie Gott sagen, dass mir das mit dem Schlafanzug leidtut?«, fragte ich und setzte mich.

»Du hast es ihm gerade selbst gesagt. Er hört immer zu«, sagte Pater Arthur und nahm neben mir Platz.

Ich betrachtete das Kreuz.

»Dann erzähl doch mal, Lenni – was führt dich heute in die Kapelle?«

»Ich überlege, ob ich mir einen gebrauchten BMW kaufen soll.«

Damit wusste er nichts anzufangen, also nahm er eine Bibel von dem Platz neben sich, blätterte darin, ohne hinzusehen, und legte sie wieder weg.

»Wie ich sehe … äh … gefällt dir das Fenster.«

Ich nickte.

Schweigen.

»Machen Sie Mittagspause?«

»Wie bitte?«

»Na ja, ich meine, müssen Sie die Kapelle abschließen und wie alle anderen in die Kantine gehen, oder machen Sie hier drin Pause?«

»Ich … äh …«

»Es kommt mir nur ein bisschen unverschämt vor, eine Mittagspause zu machen, wo Sie doch eigentlich den ganzen Tag nichts zu tun haben.«

»Nichts zu tun?«

»Also, in ’ner leeren Kirche rumzusitzen ist ja nicht gerade Schwerstarbeit.«

»So ruhig wie jetzt ist es hier nicht immer, Lenni.«

Ich sah ihn an, um herauszufinden, ob ich ihn beleidigt hatte, aber wenn es so war, ließ er sich das zumindest nicht anmerken.

»Samstags und sonntags ist Messe, mittwochnachmittags findet hier die Bibelstunde für Kinder statt, und es kommen mehr Besucher her, als du glaubst. Ein Krankenhaus macht Angst, da tut es gut, mal in einem Raum zu sein, wo keine Ärzte und Schwestern sind.«

Ich war wieder mit dem Fenster beschäftigt.

»Also, Lenni, gibt es einen Grund für deinen Besuch?«

»Ein Krankenhaus macht Angst«, sagte ich. »Es tut gut, mal in einem Raum zu sein, wo keine Ärzte und Schwestern sind.«

Er lachte.

»Soll ich dich allein lassen?«, fragte er und klang dabei nicht einmal beleidigt.

»Eigentlich nicht.«

»Möchtest du über irgendwas Bestimmtes reden?«

»Eigentlich nicht.«

Pater Arthur seufzte. »Soll ich dir von meiner Mittagspause erzählen?«

»Ja, bitte.«

»Ich mache von eins bis zwanzig nach eins Pause. Meine Haushälterin serviert mir gekochtes Ei und Kresse auf Weißbrot, das sie in kleine Dreiecke schneidet. Hinter dieser Tür da …«, er zeigte darauf, »… ist mein Büro. Ich nehme mir eine Viertelstunde Zeit zum Essen und fünf Minuten, um meinen Tee zu trinken. Dann komme ich wieder aus dem Büro. Aber die Kapelle ist immer geöffnet, auch wenn ich in meinem Büro bin.«

»Werden Sie dafür bezahlt?«

»Niemand bezahlt mich.«

»Und wovon bezahlen Sie dann die Eier und die ganze Kresse?«

Pater Arthur lachte.

Eine Weile saßen wir schweigend da, dann fing er wieder an zu reden. Für einen Priester schien ihm das Schweigen schwerzufallen. Ich hätte erwartet, dass die Stille Gott Gelegenheit gegeben hätte, sich bemerkbar zu machen. Aber Pater Arthur behagte sie offenbar nicht, also unterhielten wir uns über seine Haushälterin Mrs. Hill und darüber, dass sie ihm aus dem Urlaub immer Ansichtskarten schickte, die sie, wenn sie zurückkam, aus seiner Postablage fischte und an den Kühlschrank klebte. Er erklärte mir, wie die Glühbirnen hinter dem bunten Fenster ausgewechselt werden (es gibt einen Geheimgang hinter der Wand). Wir sprachen auch über Schlafanzüge. Als die neue Schwester kam, um mich abzuholen, sah er ziemlich müde aus, aber er sagte mir, er würde sich freuen, wenn ich wiederkäme.

Trotzdem glaube ich, dass er überrascht war, als ich am nächsten Nachmittag wieder vor ihm stand, in einem frischen Schlafanzug und ohne meinen Tropf. Jacky, die Oberschwester, war nicht begeistert, dass ich gleich am nächsten Tag wieder zur Kapelle wollte, aber ich hielt ihrem Blick stand und sagte leise: »Es ist mir wichtig.« Und wer kann einem sterbenden Kind schon einen Wunsch abschlagen?

Als Jacky dann nach einer Schwester rief, die mich begleiten sollte, kam die neue, die mit den kirschroten Haaren, die sich von ihrer blauen Schwesternkleidung abhoben. Sie war erst seit ein paar Tagen auf der Mai-Station, und sie war nervös, vor allem den Flughafenkindern gegenüber, und man musste ihr immer wieder versichern, dass sie ihre Sache gut machte. Als wir durch die Flure gingen, habe ich ihr gesagt, wie toll ich es fand, dass sie mich begleitete. Ich glaube, das gefiel ihr.

Die Kapelle war wieder leer, bis auf Pater Arthur. Diesmal saß er in einer Kirchenbank. Über seinem schwarzen Anzug trug er ein langes, schwarzes Gewand und las. Aber nicht in der Bibel, sondern in einem großen Buch mit billiger Bindung und einem laminierten Umschlag. Als ich durch die Tür ging, die die neue Schwester mir aufhielt, drehte der Pater sich nicht gleich um. Die neue Schwester ließ die Tür los, und als sie hinter uns mit einem dumpfen Rumms ins Schloss fiel, drehte der Pater sich um, setzte die Brille auf und lächelte uns an.

»Herr Pfarrer … äh … Reverend?«, stotterte die Schwester. »Sie, äh, Lenni hat gefragt, ob sie eine Stunde hier in der Kapelle verbringen darf. Geht das?«

Arthur klappte das Buch auf seinem Schoß zu.

»Aber sicher«, sagte er.

»Danke, äh, Herr Vikar …?«, sagte die Schwester.

»Pater«, flüsterte ich.

Sie schnitt eine Grimasse, und ihr Gesicht wurde ganz rot, was sich mit ihrer Haarfarbe biss. Dann drehte sie sich um und lief wortlos davon.

Ich setzte mich neben Pater Arthur in die Kirchenbank. Die Farben des Fensters waren genauso schön wie am Tag zuvor.

»Heute ist es schon wieder so leer hier«, sagte ich. Es hallte.

Pater Arthur entgegnete nichts.

»War hier früher mehr los? Ich meine, als die Leute noch religiöser waren?«

»Hier ist immer viel los«, sagte er.

Da habe ich ihn angesehen. »Wir beide sind die Einzigen hier.«

Er wollte es offenbar nicht wahrhaben.

»Ist in Ordnung, wenn Sie nicht drüber reden wollen. Muss ja auch peinlich sein. Das ist ungefähr so, als würde niemand zur eigenen Party kommen.«

»Findest du?«

»Klar. Sie haben Ihr bestes Outfit an, mit Trauben und allem Möglichen bestickt, und …«

»Das ist kein Outfit, das ist ein Gewand.«

»Na gut, dann eben ein Gewand. Sie haben also Ihr schönstes Gewand an, Sie haben den Tisch gedeckt …«

»Das ist ein Altar, Lenni. Und das nennt sich Eucharistie. Es ist das Brot Christi.«

»Wie? Er will es ganz für sich alleine?«

Pater Arthur sah mich komisch an.

»Das ist für die Sonntagsmesse, kein Mittagessen. Und ich nehme mein Mittagessen auch nicht am Altar ein.«

»Ach ja, stimmt, Sie essen ja immer Brot mit Ei und Kresse. Jetzt fällt’s mir wieder ein.«

»Genau«, sagte er und schien sich zu freuen, weil ich mir was über ihn gemerkt hatte.

»Sie haben also alles vorbereitet. Sie haben für Musik gesorgt …« Ich zeigte auf die traurige CD/Kassetten-Kombi in der Ecke und den Stapel CDs daneben. »… und es gibt genug Sitzplätze für alle.« Ich deutete auf die leeren Kirchenbänke. »Und trotzdem kommt keiner.«

»Zu meiner Party?«

»Genau. Jeden Tag findet hier so eine Jesusparty statt, und keinen interessiert’s. Fühlt sich doch bestimmt doof an.«

»Das ist … na ja … das ist eine Art, die Sache zu betrachten.«

»Tut mir leid, wenn ich’s noch schlimmer für Sie mache.«

»Du machst es nicht schlimmer, aber das hier ist nun wirklich keine Party, Lenni. Die Kapelle ist ein Ort des Gebets.«

»Ja. Nein, das weiß ich, ich wollte nur sagen, dass ich mir vorstellen kann, wie Sie sich fühlen. Als ich acht geworden bin und wir gerade aus Schweden nach Glasgow gezogen waren, hat meine Mum alle Kinder aus meiner neuen Klasse eingeladen, aber fast keiner ist gekommen. Natürlich konnte meine Mum damals noch fast kein Englisch, und es ist gut möglich, dass alle zur falschen Adresse sind und mit Geschenken und Luftballons darauf gewartet haben, dass es endlich losgeht. So hab ich’s mir jedenfalls damals erklärt.«

Ich wartete.

»Erzähl weiter«, sagte er.

»Als ich im Wohnzimmer auf einem der Stühle saß, die meine Mum im Kreis aufgestellt hatte, und auf meine Gäste gewartet hab, da hab ich mich ganz schrecklich gefühlt.«

»Das tut mir leid«, sagte er.

»Genau das wollte ich eben sagen. Ich weiß, wie es ist, wenn keiner kommt. Und deshalb tut es mir sehr leid. Aber Sie sollten aufhören, es zu leugnen. Man kann ein Problem erst lösen, wenn man sich ihm stellt.«

»Aber hier ist wirklich etwas los, Lenni. Und zwar, weil du hier bist. Und weil der Geist unseres Herrn hier ist.«

Diesmal sah ich ihn fragend an.

Er setzte sich etwas anders hin. »Außerdem ist es auch nicht schlimm, allein zu sein. Das hier ist nicht nur ein Ort des Gebets, sondern auch ein Ort des Friedens.« Sein Blick ging zu dem bunten Fenster. »Ich mag es, mich mit Patienten unter vier Augen zu unterhalten; so kann ich jedem meine volle Aufmerksamkeit widmen, und, Lenni, bitte, versteh das nicht falsch, aber ich glaube, der Herr möchte, dass ich dir ganz besonders viel Aufmerksamkeit schenke.«

Darüber musste ich lachen.

»Heute beim Mittagessen hab ich an Sie gedacht«, sagte ich. »Haben Sie wieder Ei und Kresse gegessen?«

»Ja.«

»Und?«

»Es war lecker. Wie immer.«

»Und Mrs. …?«

»Hill. Mrs. Hill.«

»Haben Sie Mrs. Hill von unserem Gespräch erzählt?«

»Nein. Alles, was hier in der Kapelle besprochen wird, ist vertraulich. Deswegen kommen die Leute so gern hierher. Sie können sich alles von der Seele reden, ohne sich zu sorgen, wer davon erfahren könnte.«

»Wie eine Art Beichte?«

»Nein. Aber falls du beichten möchtest, kann ich das gern für dich organisieren.«

»Wenn das hier keine Beichte ist, was ist es dann?«

»Was auch immer du möchtest. Diese Kapelle ist für dich das, was du brauchst.«

Ich sah mich um. Da waren die leeren Kirchenbänke, das E-Piano unter einer beigefarbenen Abdeckhaube, das Schwarze Brett, an dem ein Jesusbild hing. Was konnte dieser Raum für mich sein, wenn er alles sein konnte, was ich brauchte?

»Ich möchte, dass die Kapelle für mich ein Ort der Antworten ist.«

»Das kann sie sein.«

»Wirklich? Die Religion kann Fragen beantworten?«

»Lenni, die Bibel lehrt uns, dass Christus dich zur Antwort auf jede Frage führen kann.«

»Aber kann sie auch eine Frage beantworten, die mich jetzt gerade ziemlich beschäftigt? Ehrlich? Können Sie mir eine Frage beantworten, ohne mir zu erzählen, dass das Leben ein Mysterium und alles in Gottes Plan vorgesehen ist oder dass ich die Antworten, die ich suche, irgendwann finden werde?«

»Stell mir doch einfach deine Frage, und dann überlegen wir gemeinsam, wie Gott uns helfen kann, die Antwort zu finden.«

Als ich mich zurücklehnte, quietschte die Kirchenbank so laut, dass es in der ganzen Kapelle widerhallte.

»Warum sterbe ich?«

Lenni und die Frage

Nachdem ich ihm die Frage gestellt hatte, sah ich nicht Pater Arthur, sondern das Kreuz an. Ich hörte, wie er neben mir langsam ausatmete, und nahm an, er würde mir antworten, aber er atmete einfach nur weiter aus. Vielleicht hatte er nicht gewusst, dass ich sterben musste. Andererseits hatte die Schwester ihm doch gesagt, dass ich von der Mai-Station kam, und keiner von der Mai-Station hat ein langes, erfülltes Leben vor sich.

»Lenni«, sagte er schließlich leise, »diese Frage ist größer als alle anderen Fragen.« Dann lehnte er sich zurück, und die Bank quietschte wieder. »Weißt du, es ist seltsam: Die meisten Fragen, die man mir stellt, fangen mit warum an. Und die Warum-Fragen sind immer die kniffligsten. Mit Fragen, die mit wie oder was oder wer anfangen, komme ich zurecht, aber auf ein Warum weiß ich einfach keine Antwort. Als ich noch ein junger Priester war, habe ich versucht, auf das Warum zu antworten.«

»Aber jetzt nicht mehr?«

»Ich glaube nicht, dass die Antwort in meine Zuständigkeit fällt. Die kann nur Er geben.« Er zeigte auf den Altar, so als könnte Gott dahinter hocken und uns zuhören.

Aber ich zeigte auf ihn, wie um ihm zu sagen: »Siehst du, hab ich’s doch gewusst.«

»Das bedeutet nicht etwa, dass es keine Antwort gibt«, sagte er hastig. »Aber nur Gott kann sie geben.«

»Pater Arthur …«

»Ja, Lenni?«

»Das ist der größte Scheiß, den ich je gehört hab. Ich sterbe hier! Ich bin zu einem offiziellen Vertreter Gottes gekommen, um ihm eine wirklich wichtige Frage zu stellen, und alles, was Ihnen einfällt, ist, auf ihn zu verweisen? Ich hab’s schon längst bei ihm probiert, aber auch keine Antwort bekommen.«

»Lenni, Antworten kommen nicht immer in Form von Worten, sondern auf ganz viele verschiedene Arten.«

»Warum haben Sie dann gesagt, dass das hier ein Ort der Antworten ist? Sie hätten doch auch einfach ehrlich zu mir sein können: ›Also, die biblischen Theorien sind nicht wasserdicht, und wir können dir leider keine Antworten geben, aber dafür haben wir ein schönes buntes Bleiglasfenster.‹«

»Wenn es eine Antwort gäbe, wie könnte die denn deiner Meinung nach lauten?«

»Vielleicht würde Gott mir sagen, dass er mich umbringt, weil ich zu unruhig und zu nervig bin. Oder vielleicht ist Vishnu ja der wahre Gott, und der ist jetzt total angepisst, weil ich nicht mal versucht hab, zu ihm zu beten, und lieber meine Zeit mit eurem Christengott vergeudet hab. Oder vielleicht gibt es ja auch überhaupt keinen Gott, es hat nie einen gegeben, und das Universum wird von einer total überforderten Schildkröte beherrscht.«

»Würdest du dich dann besser fühlen?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Hat man dir schon mal eine Frage gestellt, die du nicht beantworten konntest?«, wollte Pater Arthur wissen.

Ich muss zugeben, dass es mich beeindruckte, wie ruhig er blieb. Anscheinend war ich nicht die Erste, die ihn mit der »Warum sterbe ich?«-Frage nervte. Irgendwie fühlte ich mich auf einmal gar nicht mehr so besonders.

Ich schüttelte den Kopf.

»Es ist wirklich schrecklich«, fuhr er fort, »jemandem sagen zu müssen, dass man eine wichtige Frage nicht beantworten kann. Aber das bedeutet doch nicht, dass das hier kein Ort der Antworten ist. Es ist nur so, dass es möglicherweise nicht die Antworten gibt, die man gerne hören möchte.«

»Dann sagen Sie mir doch einfach geradeheraus, wie die Antwort lautet, Pater Arthur. Warum sterbe ich?«

Er schaute mich mit seinen sanften Augen an. »Lenni, ich …«

»Nein, sagen Sie’s mir einfach. Bitte. Warum sterbe ich?«

Und als ich schon dachte, er würde jetzt davon anfangen, dass eine ehrliche Antwort gegen die Regeln der Kirche verstieß, rieb er sich seine grauen Bartstoppeln und sagte: »Darum.«

Vermutlich habe ich die Brauen zusammengezogen, oder vielleicht ärgerte er sich auch einfach darüber, dass ich ihn dazu überlistet hatte, mir eine ehrliche Antwort zu geben, auf jeden Fall konnte er mir nicht in die Augen sehen.

»Die Antwort, die ich dir geben kann, die einzige, die ich habe«, sagte er, »ist, dass du stirbst, weil du stirbst. Nicht, weil Gott dich bestrafen oder dir nicht beistehen will, sondern einfach nur, weil es so ist. Weil es zu deiner Geschichte gehört.«

Dann saß er lange still da, bevor er schließlich wieder den Blick auf mich richtete. »Versuch doch mal, es so zu sehen: Warum lebst du?«

»Keine Ahnung.«

»Ich glaube, dasselbe gilt für das Sterben. Wir können ebenso wenig wissen, warum du stirbst, wie wir wissen können, warum du lebst. Das Leben und das Sterben sind große Geheimnisse, und man kann beides nicht verstehen, solange man es nicht selbst erlebt hat.«

»Das klingt ziemlich poetisch. Und irgendwie auch verrückt.« Ich rieb mir die Stelle an der Hand, wo die Kanüle gesteckt hatte. Sie tat noch weh. »Haben Sie was Religiöses gelesen, als ich eben reingekommen bin?«

Arthur hielt das Buch hoch, das er neben sich auf die Bank gelegt hatte. Es war gelb mit einer Spiralbindung und Eselsohren – ein Straßenatlas von Großbritannien.

»Haben Sie nach Ihrer Herde gesucht?«, fragte ich.

Als die neue Schwester mich abholen kam, dachte ich, Arthur würde sich vor Erleichterung vor ihr auf den Boden werfen und ihr die Füße küssen oder schreiend aus der Kapelle rennen, aber stattdessen begleitete er mich geduldig zur Tür, drückte mir eine Broschüre in die Hand und sagte, er würde sich freuen, mich bald wiederzusehen.

Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass er sich von mir nicht aus der Ruhe hatte bringen lassen, oder daran, dass die Kapelle so schön und so kühl war, doch in dem Moment, als ich die Broschüre entgegennahm, wusste ich, dass ich wiederkommen würde.

Ich habe mir mir sieben Tage Zeit gelassen. Er sollte gar nicht mehr mit mir rechnen. Und dann, wenn er sich gerade wieder an sein einsames Leben in der Kapelle gewöhnt hatte, zack!, würde ich langsam auf ihn zugehen, in meinem besten rosa Schlafanzug und bewaffnet mit neuer Munition gegen den christlichen Glauben.

Doch er hatte mich offenbar schon durch die Milchglasscheiben kommen sehen, denn gerade als ich eintreten wollte, hielt er mir die Tür auf und sagte: »Hallo, Lenni, ich habe mich schon gefragt, wann ich dich wiedersehen würde.« Damit war mein dramatischer Auftritt natürlich versaut.

»Ich wollte die Unnahbare spielen.«

Er lächelte die Schwester an. »Wie lange werde ich das Vergnügen von Lennis Gesellschaft heute haben?«

»Eine Stunde«, sagte sie lächelnd. »Reverend.«

Er korrigierte sie nicht, hielt ihr nur höflich die Tür auf, während ich den Mittelgang entlangstapfte. Diesmal setzte ich mich in die erste Reihe, damit Gott mich besser sehen konnte.

»Darf ich?«, fragte Pater Arthur, und als ich nickte, nahm er neben mir Platz.

»Na, Lenni, wie geht es dir denn heute Morgen?«

»Ach, eigentlich gar nicht so übel. Und Ihnen?«

»Heute kein Kommentar dazu, dass die Kapelle so leer ist?«, fragte er mit einer ausholenden Geste in den Raum.

»Nee. Wenn mal außer uns beiden irgendwann noch einer hier ist, werde ich vielleicht was dazu sagen. Ich will Ihnen Ihren Job nicht vermiesen.«

»Das ist sehr nett von dir.«

»Vielleicht brauchen Sie jemanden, der für Sie die PR macht.«

»Die PR

»Na, Sie wissen schon, das Marketing: Poster, Werbeanzeigen und der ganze Kram. Man muss dafür sorgen, dass die Leute über einen reden. Dann füllen sich die Kirchenbänke wie von selbst, und Sie machen vielleicht sogar ein wenig Gewinn.«

»Gewinn?«

»Klar. Im Moment können Sie doch bestimmt nicht mal Ihre Kosten decken.«

»Ich nehme den Leuten kein Geld dafür ab, dass sie in die Kirche kommen, Lenni.«

»Ich weiß, aber überlegen Sie mal, wie beeindruckt Gott wäre, wenn Sie eine Kirche hätten, die so richtig gut läuft, dass Sie ganz nebenbei sogar noch ein bisschen Geld für ihn verdienen könnten.«

Darüber musste er grinsen. Es roch nach ausgeblasenen Kerzen, was mir das Gefühl gab, dass irgendwo ein Geburtstagskuchen auf mich wartete.

»Kann ich Ihnen eine Geschichte erzählen?«, fragte ich ihn.

»Natürlich.« Er verschränkte die Hände.

»Als ich noch in der Schule war, bin ich abends immer mit ein paar Mädchen durch Glasgow gezogen. Es gab so einen tierisch teuren Nachtclub, wo wir nie hingegangen sind, weil wir dafür kein Geld hatten. Draußen stand nie eine Schlange, aber an den schwarzen Samtkordeln und den silbernen Türen konnte man erkennen, dass der Club was Besonderes war. Vor den Türen standen zwei Türsteher, aber wir haben nie Leute rein- oder rausgehen sehen. Wir wussten nur, dass die siebzig Pfund Eintritt verlangen. Das war natürlich viel zu teuer für uns, aber jedes Mal, wenn wir an dem Club vorbeigegangen sind, wurden wir neugieriger. Wir mussten unbedingt rausfinden, warum der Eintritt so hoch war und was da hinter den silbernen Türen vor sich ging. Also haben wir gespart, sind mit unseren gefälschten Ausweisen hin, und sie haben uns tatsächlich reingelassen. Und wissen Sie was?«

»Was denn?«

»Es war ein Striplokal.«

Pater Arthur hob die Brauen. Dann ließ er sie ganz schnell wieder sinken, vielleicht aus Angst, ich könnte denken, so ein Striplokal könnte ihn interessieren oder gar erregen.

»Ich glaube, ich verstehe nicht so ganz, worauf du hinauswillst«, sagte er.

»Was ich sagen wollte, ist, bloß weil der Eintritt so teuer war, dachten wir, es müsste sich lohnen, in den Club zu gehen. Wenn Sie also hier Eintritt verlangen würden, würde das die Leute vielleicht auch neugierig machen. Sie könnten auch ein paar Türsteher engagieren.«

Arthur schüttelte den Kopf. »Ich habe es dir ja schon ein paarmal gesagt, Lenni, die Kapelle ist durchaus gut besucht. Ich führe zahlreiche intensive Gespräche mit Patienten und deren Angehörigen. Mich besuchen hier viele Leute, es ist nur …«

»Und nur wenn ich herkomme, ist die Kapelle zufällig leer?«

Eine ganze Weile betrachtete Pater Arthur das Buntglasfenster, und ich konnte beinahe seine innere Stimme hören, mit der er Gott um die Kraft bat, nicht zu schreien. »Hast du noch mal über das nachgedacht, worüber wir bei deinem letzten Besuch gesprochen haben?«

»Ein bisschen.«

»Du hast mir ein paar gute Fragen gestellt.«

»Und Sie haben mir ein paar nützliche Antworten gegeben.«

Stille.

»Pater Arthur, würden Sie wohl was für mich tun?«

»Was denn?«

»Können Sie mir eine Wahrheit sagen? Eine wirklich neue, überraschende Wahrheit? Kein Kirchenblabla, kein geschwollenes Zeug, nur das, was Sie ganz tief drinnen für echt halten, selbst, wenn es wehtut, und selbst, wenn man Sie feuern würde, wenn Ihre Chefs das hören würden.«

»Meine Chefs, wie du dich ausdrückst, sind Jesus und der Herrgott.«

»Na, die werden Sie bestimmt nicht feuern, die stehen doch auf die Wahrheit.«

Ich dachte, er würde mehr Zeit brauchen, um sich etwas Wahres auszudenken. Dachte, er würde sich vielleicht bei einem Papst oder einem Bischof die Erlaubnis dafür holen müssen, dass er die Wahrheit ohne offizielle Richtlinien preisgab. Aber kurz bevor die neue Schwester kam, drehte er sich zu mir und wirkte dabei irgendwie verlegen, wie jemand, der einem ein Geschenk gibt und befürchtet, dass es einem nicht gefällt.

»Sagen Sie mir eine Wahrheit?«, fragte ich ihn.

»Ja«, erwiderte er. »Du hast gesagt, du möchtest, dass die Kapelle ein Ort der Antworten ist und … na ja, das wünsche ich mir auch. Wenn ich die Antworten hätte, dann würde ich sie dir geben.«

»Das wusste ich schon.«

»Okay, wie wär’s hiermit: Ich habe sehr gehofft, dass du wiederkommen würdest.«

Als ich an meinem Bett ankam, lag da ein Zettel von der neuen Schwester: Lenni, sprech mit Jacky vom Sozialdienst.

Ich habe ihren Grammatikfehler mit dem Bleistift korrigiert, den sie liegen gelassen hatte, dann ging ich zum Schwesternzimmer. Jacky, die Oberschwester mit Haaren wie ein Reiher, war nicht da. Aber etwas anderes fiel mir auf.

Neben dem Schwesterntresen wartete der Müllkarren auf Paul den Hausmeister. Es ist ein riesiges Teil mit Rädern und vier Müllcontainern darauf. Jemand hatte mal mit einem dicken Filzstift »Kampfmaschine« auf den Griff geschrieben, aber das ist inzwischen übermalt. Normalerweise interessiert mich Pauls Karren kein bisschen, aber an dem Tag hing eine ältere Dame halb in einer Tonne und wühlte mit beiden Armen darin herum, sodass ihre kleinen Füße, die in lila Pantoffeln steckten, kaum noch den Boden berührten. Dann schien sie gefunden zu haben, was sie suchte, denn sie stand auf einmal da, mit ganz zerzausten Haaren und einem Zettel in der Hand, den sie schnell in der Tasche ihres lila Bademantels verschwinden ließ.

Im nächsten Moment machte die Tür zum Schwesternzimmer ein klickendes Geräusch, als jemand die Klinke betätigte, und die alte Dame schaute direkt zu mir. Ich hatte den Eindruck, dass sie bei dem, was sie da tat, nicht beobachtet werden wollte.

Als Jacky und Paul der Hausmeister aus dem Schwesternzimmer kamen, Jacky mit einem müden, Paul mit einem gelangweilten Blick, schrie ich kurz auf.

Sie starrten mich an.

»Hey, Lenni!« Paul grinste.

»Was gibt’s, Lenni?«, fragte Jacky. Der Teil von Jackys Gesicht, wo sie eigentlich einen Schnabel haben müsste, bildete eine dünne Linie, so gereizt war sie.

Ich wollte verhindern, dass sie ihren Blick von mir abwendeten, weil hinter ihnen die alte Dame in dem lila Bademantel dabei war, sich ganz langsam wegzuschleichen.

»Ich … also … auf der Mai-Station«, sagte ich, »ist ’ne dicke Spinne.«

Jacky verdrehte die Augen, als wäre das meine Schuld.

»Ich kümmere mich darum, Kleines«, sagte Paul, dann liefen sie beide an mir vorbei zur Mai-Station.

Die alte Dame drehte sich noch ein letztes Mal zu mir um und zwinkerte mir zu.

Zu meiner großen Überraschung fand Paul tatsächlich in der Ecke am Fenster ganz hinten in der Mai-Station eine Spinne. Ich fragte mich, ob das wohl ein biblisches Zeichen war. Suchet, und ihr werdet finden. Er hatte sie in einem Plastikbecher gefangen, den er mit der Hand zuhielt. Wir durften alle mal reinschauen. Mir fiel auf, dass er das Wort »frei« auf die Knöchel seiner Hand tätowiert hatte. Beim Anblick der Spinne meinte Jacky zu mir, ich soll mich zusammenreißen, und wenn ich ’ne richtige Spinne sehen wollte, sollte ich mal im Sommer in ihren Garten kommen, wenn sie Würstchen grillte. Die Spinnen, die unter ihrer Holzveranda leben, sind anscheinend so groß, dass man Gefahr läuft, ihnen die Beine abzuschneiden, wenn man ein großes Wasserglas über sie stülpt. Ich lehnte die Einladung höflich ab und beeilte mich, zurück in mein Bett zu kommen.

Pater Arthurs Broschüre lag auf einem Stapel ähnlich gruseliger Broschüren auf meinem Nachttisch. Auf jeder war ein anderer Jesus abgebildet. Ein besorgt dreinblickender Jesus, Jesus mit Schafen, Jesus umringt von hellhäutigen Kindern, Jesus auf einem Felsen. Und auf jedem Bild sah er ein bisschen jesusmäßiger aus.

Ich zog den Vorhang um mein Bett zu, um in Ruhe nachdenken zu können. Pater Arthur hatte gesagt, er wünschte, er könnte mehr Antworten geben. Ich stellte mir vor, wie frustrierend es für ihn sein musste, dass er ständig mit Fragen gelöchert wurde, auf die er keine Antwort wusste. Ein Priester ohne Antworten ist irgendwie wie ein Nichtschwimmer, von dem man verlangt, dass er Schwimmunterricht gibt. Außerdem war der Pater offensichtlich extrem einsam. Ich wusste und hatte schon immer gewusst, dass ich hinter diesen schweren Türen der Kapelle keine Antworten finden würde. Was ich stattdessen dort gefunden hatte, war jemand, der dringend meine Hilfe benötigte.

Ich brauchte ein paar Tage, um meinen vielschichtigen Plan zu entwickeln, wie ich mehr Leute in die Kapelle locken konnte. Ich würde ein paar Plakate entwerfen, die sofort ins Auge sprangen und neugierig machten. Außerdem musste ich versuchen, die Medien auf die Sache aufmerksam zu machen. Die vom Krankenhausradio würden sich bestimmt dazu überreden lassen, für die Kapelle zu werben. Anstatt über Religion zu reden, würde ich den therapeutischen Wert meiner Gespräche mit Pater Arthur in den Vordergrund stellen und vielleicht nebenbei immer mal wieder erwähnen, wie kühl es in der Kapelle war. Das würde den Patienten gefallen, denn es scheint irgendein ungeschriebenes Gesetz zu geben, das besagt, dass die Temperatur in einem Krankenhaus immer über dem zu liegen hat, was angenehm ist. Gerade so hoch, dass man dauernd leicht verschwitzt ist, aber auch nicht so heiß, dass man Marshmallows rösten könnte.

Die neue Schwester begleitete mich zur Kapelle, und um mich zu vergewissern, ob Pater Arthur in der Stimmung für ein bisschen Nachhilfe in Sachen Marketing war, spähte ich erst mal durch den Türspalt. Doch er war nicht allein.

Pater Arthur stand vor einem Mann, der genauso angezogen war wie er – weißer Kragen, schwarzes Hemd, schwarze Hose. Sie schüttelten sich gerade die Hände, und der Fremde hatte seine zweite Hand darübergelegt, so als wollte er sie vor Kälte und Sturm schützen – oder als ob jemand sie auseinanderreißen und rückgängig machen könnte, was die beiden gerade mit dem Handschlag besiegelt hatten.

Der Mann hatte dunkle Augenbrauen und dunkles Haar. Es war schwer zu schätzen, wie alt er war. Er lächelte. Wie ein Hai.

»Ist jemand da drin?«, fragte die neue Schwester.

»Ja«, flüsterte ich.

In dem Moment kam der alterslose Mann zur Tür. Ich hatte gerade genug Zeit, um mich aufzurichten, dann wurde die Tür aufgerissen, und die beiden standen direkt vor mir.

»Lenni, was für eine Überraschung!«, rief Arthur. »Wie lange wartest du denn schon hier draußen?«

»Sie haben es geschafft!«, sagte ich. »Sie haben einen reingelockt.«

»Wie bitte?«, fragte er.

»Sie haben einen neuen Kunden.« Dann sah ich den alterslosen Mann an. »Schön, dass noch ein Freund von Jesus oder von Pater Arthur hier ist.«

»Ach so, Lenni, das ist Derek Woods.«

Derek streckte eine Hand aus. »Hallo«, sagte er aalglatt. Ich klemmte mir die Rettet-die-Kapelle-Pläne unter den Arm und schüttelte Derek die Hand.

»Derek, das ist Lenni«, sagte Pater Arthur. »Sie kommt regelmäßig in die Kapelle.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Lenni.« Derek lächelte mir und der neuen Schwester zu, die verlegen neben der Tür stand.

»Ich bin echt froh, dass ich hier mal jemand sehe. Seit Wochen komme ich jetzt schon her, und Sie sind der erste Mensch, dem ich hier außer Pater Arthur begegnet bin.« Arthur senkte den Blick. »Deswegen möchte ich Ihnen hiermit im Namen der Rettet-die-Kapelle-Initiative meinen Dank dafür aussprechen, dass Sie sich für die Kapelle als Ihren religiösen Zufluchtsort entschieden haben.«

»Die Rettet-die-Kapelle-Initiative?« Derek blickte fragend zu Arthur.

»Tut mir leid, Lenni, ich kann dir nicht ganz folgen«, sagte Arthur mit einem Seitenblick zur Schwester.

»Kein Problem, ich erklär’s Ihnen beim nächsten Mal.« Dann wandte ich mich an Derek: »Ich hoffe, es geht Ihnen jetzt besser.«

»Derek ist kein Patient«, sagte Pater Arthur, »er betreut die Kapelle im Lichfield Hospital.«

»Egal, Besucher ist Besucher. Ich hab hier einen Plan ausge…«

»Derek hat sich gerade bereit erklärt, meine Nachfolge anzutreten.«

»Was?«

»Ja, leider. Ich gehe in den Ruhestand, Lenni.«

Mir wurde ganz heiß.

»Ich würde mir deine Pläne für die Kapelle sehr gern anhören«, sagte Derek und legte mir eine Hand auf die Schulter.

Doch ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte weg.

Lenni und die Aushilfe

Letzten September stellte das Krankenhaus eine Aushilfe ein.

In der Verwaltung waren zwei Mitarbeiter in Rente gegangen, eine andere Frau war in Elternzeit. Die Aushilfe, überqualifiziert wie fast alle Aushilfen, hatte gerade an einer guten Uni mit guten Noten in einem guten Fach ihr Studium abgeschlossen. Leider war sie nicht die einzige gut ausgebildete Akademikerin, die einen Job suchte, und deswegen bewarb sie sich sofort, als das Glasgow Princess Royal Hospital eine befristete Stelle für eine Verwaltungsassistentin ausgeschrieben hatte. Die Arbeit hatte zwar nicht das Geringste mit ihrem Kunststudium oder ihren Berufswünschen zu tun, aber das war ihr egal; sie war einfach nur froh, nicht mehr zusammen mit all den anderen Leuten, die frisch von der Uni kamen, auf der Straße zu stehen.

Die Aushilfe wurde in ein Büro gesetzt, wo sie mehrere Monate lang Daten in einen Computer tippte, Kopien anfertigte und sehnsüchtig aus dem Fenster auf den Krankenhausparkplatz schaute, während sie sich wünschte, wieder an der Uni zu sein. Einmal erwähnte sie in einem Gespräch mit ihrem Chef, einem dicken Mann, der gefälschtes, auf dem Markt gekauftes Designerparfüm benutzte, einen Artikel über eine gemeinnützige Kunststiftung, den sie kurz zuvor gelesen hatte. Diese Stiftung – jetzt kommt der Teil, der den Chef dazu brachte, von seinem Smartphone aufzublicken – stellte Krankenhäusern und Pflegeheimen eine beachtliche Summe für kunsttherapeutische Programme in Aussicht.

Der Chef versprach der Aushilfe, an dem Nachmittag seinen Krempel eigenhändig zu kopieren, und wenige Wochen später war der ganze Verwaltungskram von ihrem Schreibtisch verschwunden. Sie erstellte einen Kostenvoranschlag, holte Angebote von Firmen ein, die Kunstbedarf anbieten, und füllte die endlosen Formulare zum Thema Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen aus, die einzuhalten sind, wenn man vorhat, Schwerkranke mit Scheren und Stiften hantieren zu lassen, mit denen sie sich versehentlich verletzen könnten.

Der Antrag auf die finanziellen Zuwendungen durch die Kunststiftung musste in deren Hauptsitz in London präsentiert werden. Als sie vor dem Sitzungszimmer stand, schwitzten die Hände der Aushilfe so sehr, dass ihre Unterlagen in kürzester Zeit total beschmiert waren und sie die Sekretärin der Stiftung bitten musste, ihr neue Kopien zu machen.

Die Nachricht kam an einem Donnerstagmorgen um kurz nach elf. Den ersten Absatz mit Geschwafel, in dem die Stiftung sich für den Antrag bedankte, übersprang sie, um gleich den zweiten Absatz zu lesen: … gewähren wir Ihnen einen Zuschuss in Höhe von … Sie hatte es geschafft. Das Glasgow Princess Royal Hospital würde einen Kunstsaal bekommen.

Noch nie in ihrem Leben war die Aushilfe so engagiert gewesen wie bei der Einrichtung des Kunstsaals. Sie langweilte ihre Freunde beim Quizabend im Pub mit den letzten Neuigkeiten über die Fortschritte der Renovierungsarbeiten, verbrachte ihre Wochenenden damit, Blumentöpfe zu bemalen, die die Patienten abzeichnen konnten, entwarf drei verschiedene Werbeplakate für den neuen Kunstsaal und sorgte dafür, dass in zwei örtlichen Tageszeitungen und in den lokalen Fernsehnachrichten über das Projekt berichtet wurde.

Am Tag vor der großen Eröffnung ging die Aushilfe in den Kunstsaal, um sich zu vergewissern, dass alles bereit war. Man hatte zwei ehemalige Lagerräume für Computerteile zusammengelegt, und der so entstandene Kunstsaal hatte nicht nur eine gute Größe, sondern auch breite Fenster an zwei Seiten. Es gab Regale mit Kunstmaterial und Kunstbüchern, ein Whiteboard für die Lehrerin, unterschiedlich hohe Tische und Stühle und alles Mögliche, um es den Patienten so komfortabel wie möglich zu machen. Es gab ein Becken, wo man Pinsel auswaschen konnte, und eine Wand mit Schautafeln, an der man an Schnüren auf unterschiedlicher Höhe mit Wäscheklammern seine Werke zum Trocknen aufhängen konnte.

Sie ging durch den fertig eingerichteten Raum, der darauf wartete, in Betrieb genommen zu werden. Die Stifte waren angespitzt, die Tische sauber, das Becken war blütenweiß und der Fußboden frei von Farbklecksen. Schon bald, dachte sie, würde hier alles bunt und lebendig sein. Dieser Raum würde für die Patienten ein Ort werden, wo ihre Seele Trost fand. Wo sie gehört wurden. Ein Ort, wo sie eine Zeit lang keine »Kranken« waren und einfach Mensch sein konnten. Bevor sie die Tür verschloss, atmete sie den Geruch der frischen Wandfarbe ein und rief sich in Erinnerung, dass hier bis vor wenigen Monaten lauter wahllos mit Computerzubehör vollgestopfte Regale gestanden hatten.

Am Morgen der großen Eröffnung war die Aushilfe so aufgeregt, dass sie Angst hatte, sich übergeben zu müssen. Sie konnte es kaum erwarten, allen von dem Kunstsaal zu erzählen, aber noch mehr freute sie sich darauf, den Patienten den Raum zu zeigen. Wie es wohl sein würde, wenn die Patienten den Raum betraten und mit dem Malen anfingen? Welche Geschichten würden die ersten Bilder erzählen?

Als sie in ihrem Outfit, das sie sich extra für den Anlass zugelegt hatte, im Büro erschien, wunderte sie sich darüber, dass ihr Chef so reserviert war, dass er ihrem Blick auswich und dass die Stimmung so … bedrückt war. Sie zeigte ihm den Twitter-Post auf ihrem Handy und erklärte ihm kurz das Programm der großen Eröffnung.

»Hören Sie, es tut mir leid, wenn ich Sie in Verlegenheit bringe, vor allem am heutigen Tag«, sagte der Chef und fuhr sich mit den Fingern durch den kläglichen Rest seiner Haare, »aber wir brauchen einen Kunstlehrer, und bei den Etatkürzungen und den vielen Aushilfen, denen wir jetzt schon Urlaubsgeld zahlen müssen …«

Der Aushilfe schlug das Herz bis zum Hals; es wäre gelogen, wenn sie behauptet hätte, nicht gehofft zu haben, dass er das Thema ansprechen würde. Schließlich war klar, dass ein Kunstlehrer gebraucht wurde, und auch, dass der Chef immer noch keinen eingestellt hatte. Dabei wusste er genau, dass sie Kunst studiert hatte – wer würde sich also besser eignen?

»Jedenfalls kostet uns die Frau, die ich eingestellt habe, mehr als erwartet, was bedeutet, dass wir Ihren Vertrag am Ende dieses Monats leider nicht verlängern können. Aber Sie sind herzlich eingeladen, an der Eröffnung teilzunehmen. Und Sie haben ja noch drei Wochen, bis Ihr Vertrag offiziell ausläuft.«

Die Aushilfe lächelte noch drei oder vier Sekunden lang, bis ihr Gehirn ihrem Mund klargemacht hatte, dass es keinen Grund zum Lächeln gab.

Dann war es Zeit für das Fernsehinterview. Sie führte die Journalisten in den Kunstsaal und half ihnen beim Fotografieren der kranken Kinder, die zu der Eröffnungsfeier eingeladen worden waren. (»Nur Arm- und Beinbrüche, bitte, nichts Deprimierendes, keine Krebspatienten«, hatten die Anweisungen des Chefs gelautet.) Ein Reporter gruppierte die Aushilfe und die Kinder, dann wurde gefilmt, wie sie den Kindern half, mit gelber Plakatfarbe einen Stern auf schwarzen Karton zu malen. Anschließend wurde die Kamera auf den Chef gerichtet, der sich sehr entschlossen gab, nach falschem Gucci-Parfüm roch und keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass er der Projektleiter war. Man klemmte ihm ein Mikro an den Kragen, dann war er für das Interview bereit, das sowohl um achtzehn Uhr als auch um zweiundzwanzig Uhr dreißig in den Abendnachrichten gesendet werden würde. Die Aushilfe stand langsam auf und verließ den Raum.