Cover

Das Buch

Er sah zu mir hoch, als gäbe es im ganzen Königreich niemanden außer mir. Ich musste mich nicht auf ihn konzentrieren, um zu wissen, was er empfand. Seine Gefühle waren wie ein Kaleidoskop, das sich ständig veränderte. Sie schmeckten kühl und herb, schwer und würzig, süß wie in Schokolade getauchte Beeren. Seine unbeugsamen und doch so unglaublich sanften Lippen öffneten sich, und seine Fangzähne blitzten auf. »Meine Königin«, hauchte er.

Poppy hat all das erreicht, was sie nie zu hoffen wagte: In Prinz Casteel Da’Neer hat sie die Liebe ihres Lebens gefunden. Und sie soll die über Atlantia herrschen – nicht nur weil sie nun mit Casteel vermählt ist, sondern weil ein lange verborgenes magisches Erbe in ihr erwacht. Bevor das königliche Paar den Thorn besteigen kann, müssen die beiden Casteels Bruder finden, der noch immer von den Aufgestiegenen gefangen gehalten wird. Dass ihre Mission gefährlich wird, ist Poppy von Anfang an klar, aber dann geschieht etwas, das ihre Aufgabe beinahe unmöglich macht: Weit im Westen erhebt sich die Blutkönigin – eine jahrhundertealte Feindin der Atlantianer – und sie will Rache. Rache und die Zerstörung des Königreiches. Poppy ist entschlossen, ihr Volk vor dem Untergang zu bewahren. Doch indem sie sich der Blutkönigin entgegenstellt, bringt sie Casteel in allerhöchste Gefahr. Poppy muss sich entscheiden: Opfert sie ihre Untertanen oder die Liebe ihres Lebens?

Die Autorin

Jennifer L. Armentrout ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der USA. Immer wieder stürmt sie mit ihren Romanen – fantastische, realistische und romantische Geschichten für Erwachsene und Jugendliche – die Bestsellerlisten. Ihre Zeit verbringt sie mit Schreiben, Sport und Zombie-Filmen. In Deutschland hat sie sich mit ihrer Obsidian-Reihe und der Wicked-Saga eine riesige Fangemeinde erobert. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in West Virginia.

JENNIFER L.

ARMENTROUT

CROWN

AND

BONES

LIEBE KENNT KEINE GRENZEN

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Sonja Rebernik-Heidegger

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE CROWN OF GILDED BONES

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Deutsche Erstausgabe 05/2022

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2021 by Jennifer L. Armentrout

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Karte: Hang Le

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung des Originalentwurfs von Hang Le

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-27676-8
V001

www.heyne.de

Dieses Buch ist den Helden unserer Zeit gewidmet – den Angestellten im Gesundheitswesen, den ErsthelferInnen, den Schlüsselarbeitskräften und den ForscherInnen, die auf der ganzen Welt unermüdlich Leben gerettet und Läden offen gehalten haben, obwohl sie damit ihr eigenes Leben und das Leben ihrer Lieben riskierten. Danke!

1

»SENKT DIE SCHWERTER«, BEFAHL Königin Eloana, und ihre Haare glänzten in der Sonne wie schwarzer Onyx, als sie vor mir niederkniete. Ihre ungefilterte, bittere, heiß brennende Angst und die hilflose Wut breiteten sich über den Boden des Tempels aus und bohrten sich wie spitze Nadeln in meine Haut, um sich mit diesem … urtümlichen Ding in mir zu verbinden. »Und verbeugt Euch vor der letzten Nachkommin der Urältesten, die das Blut des Königs der Götter in sich trägt. Verbeugt Euch vor Eurer neuen Königin.«

Das Blut des Königs der Götter? Vor Eurer neuen Königin? Nichts davon ergab Sinn. Weder ihre Worte noch dass sie ihre Krone abgelegt hatte.

Ein viel zu flacher Atemzug setzte meine Kehle in Flammen, und mein Blick huschte zu dem Mann neben der Königin von Atlantia. Die Krone saß noch auf dem blonden Haar des Königs, und die Knochen waren blendend weiß, während die Krone der Königin vor der Statue des Nyktos golden schimmerte. Mein Blick glitt weiter über die schrecklich zugerichteten Leiber auf dem ehemals makellos weißen Steinboden. Ich hatte diesen Leuten das angetan und ihr Blut vergossen, das zusammen mit dem Blutregen in die Ritzen des Marmors gesickert war. Doch mein Blick verweilte nicht auf ihnen – mein ganzes Inneres konzentrierte sich auf ihn.

Er kniete noch immer vor mir und starrte durch das V zu mir hoch, das die beiden überkreuzten Schwerter vor seiner Brust bildeten. Rotes Blut lief über die hohen, kantigen Wangenknochen, das stolze Kinn und über die Lippen, die mein Herz einst in tausend Scherben hatten zerbersten lassen. Lippen, die die Scherben am Ende mithilfe der Wahrheit wieder zu einem Ganzen verbunden hatten. Seine golden leuchtenden Augen drangen in meine, und obwohl er sich vor mir verbeugte und so reglos schien, dass ich mich fragte, ob er noch atmete, erinnerte er mich an die wilde, atemberaubend schöne Höhlenkatze, die ich als Kind in Königin Ileanas Palast gesehen hatte.

Er war viele Dinge für mich gewesen. Ein Fremder in einem spärlich erleuchteten Zimmer, mit dem ich meinen ersten Kuss erlebte. Ein Wächter, der schwor, sein Leben zu opfern, um mich zu beschützen. Ein Freund, der hinter den Schleier der Jungfräulichen sah und mein wahres Ich erkannte, und der mir ein Schwert in die Hand drückte, um mich selbst zu verteidigen, statt mich in einen goldenen Käfig zu sperren. Eine in Dunkelheit und Albträume gehüllte Legende, die vorhatte, mich zu verraten. Der Prinz eines Königreiches, das angeblich im Krieg zerstört worden war, und der unvorstellbares Grauen erlebt, aber trotzdem Teile des Mannes wiedergefunden hatte, der er einst gewesen war. Ein Bruder, der alles für seine Familie – und sein Volk – tun würde. Ein Mann, der mir – und nur mir – die tiefsten Abgründe seiner Seele offenbart hatte.

Meine erste Liebe.

Mein Leibwächter.

Mein Freund.

Mein Verräter.

Mein Partner.

Mein Ehemann.

Mein Herzverwandter.

Mein Ein und Alles.

Casteel Da’Neer sah zu mir hoch, als gäbe es im ganzen Königreich niemanden außer mir. Ich musste mich nicht auf ihn konzentrieren, um zu wissen, was er empfand. Er war wie ein offenes Buch. Seine Gefühle waren wie ein Kaleidoskop, das sich ständig veränderte. Sie schmeckten kühl und herb, schwer und würzig, süß wie in Schokolade getauchte Beeren. Seine unbeugsamen und doch so unglaublich sanften Lippen öffneten sich, und seine Fangzähne blitzten auf.

»Meine Königin«, hauchte er, und diese zwei Wörter beruhigten mich schließlich. Sie bezwangen das urtümliche Ding in mir, das die Wut und die Angst der Anwesenden umkehren und auf sie richten wollte, um ihnen etwas zu geben, wovor sie sich wirklich fürchten mussten. Um sie genau wie die anderen zu zerschmettern. Einer seiner Mundwinkel wanderte nach oben, und ein tiefes Grübchen erschien auf seiner rechten Wange.

Die Erleichterung beim Anblick dieses verdammten – aber auch bezaubernden – Grübchens ließ meinen ganzen Körper erschaudern. Ich hatte Angst gehabt, er würde vor mir zurückweichen, wenn er sah, was ich getan hatte. Ich hätte es ihm nicht verübelt. Es hätte jeden in Furcht und Schrecken versetzt, aber nicht Casteel. Die Hitze, die seine Augen wie warmen Honig erscheinen ließ, war ein Zeichen, dass er alles andere als Angst empfand. Was verstörend war. Andererseits war er der dunkle Sohn, ob er den Namen nun mochte oder nicht.

Der Schock und der Adrenalinschub ließen nach, und plötzlich spürte ich den Schmerz. Meine Schulter und mein Kopf pochten. Meine linke Gesichtshälfte war geschwollen, meine Arme und Beine schmerzten, und mein ganzer Körper fühlte sich seltsam an, als würden bald die Knie unter mir nachgeben. Ich schwankte in der warmen, salzigen Brise …

Casteel sprang auf, und ich war wieder einmal überrascht, wie schnell er sich bewegen konnte. Innerhalb eines Wimpernschlags stand er aufrecht und trat auf mich zu …

Und dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig.

Die Männer und Frauen hinter Casteels Eltern, die dieselben weißen Tuniken und weiten Hosen trugen wie die Toten am Boden, setzten sich ebenfalls in Bewegung. Licht brach sich in den goldenen Armreifen um ihre Oberarme, als sie die Schwerter zogen und näher an den König und die Königin herantraten. Einige griffen nach den Armbrüsten, die sie am Rücken trugen. Offensichtlich waren sie eine Art Leibwächter.

Der riesige Wolf zu meiner Rechten stieß ein Knurren aus. Jasper war Kierans und Vonettas Vater und hatte Casteels und meine Hochzeit in Spessa bezeugt. Er war dabei gewesen, als Nyktos aus Freude über die Verbindung den Tag in tiefste Nacht verwandelt hatte. Doch nun kräuselten sich seine stahlgrauen Wolfslippen, und er fletschte die Zähne. Er war Casteel normalerweise treu ergeben, doch ich wusste instinktiv, dass sein warnendes Knurren nicht nur den Wächtern galt.

Auch zu meiner Linken erklang ein Knurren. Aus dem Schatten des Blutbaumes, der an der Stelle aus dem Boden geschossen war, an der mein Blut auf die Steine getropft war, trat ein Wolf mit hellbraunem Fell. Er hielt den Kopf gesenkt, und seine winterblauen Augen schimmerten.

Kieran.

Ich verstand nicht, warum die beiden Wölfe so reagierten, vor allem nicht Kieran. Er war seit seiner Geburt durch ein besonderes Band mit Casteel verbunden. Sie waren wie Brüder, und ich wusste, dass sie einander liebten.

Doch im Moment erweckten Kierans zurückgelegte Ohren einen ganz anderen Eindruck.

Ich sah entsetzt zu, wie Kieran in Angriffsposition ging.

Mein Magen zog sich zusammen. Das war nicht richtig. »Nein«, hauchte ich mit rauer Stimme, die ich selbst kaum wiedererkannte.

Doch Kieran schien mich nicht zu hören. Oder es war ihm egal. Normalerweise wäre ich davon ausgegangen, dass er mich ignorierte, aber das hier war anders. Er war anders. Seine Augen leuchteten heller als je zuvor, und … irgendetwas stimmte nicht mit ihnen. Sie waren nicht einfach blassblau, seine Pupillen schimmerten in einem silbrigen Weiß, das sich in zarten Fäden über das Blau ausbreitete. Ich fuhr zu Jasper herum. Auch seine Augen hatten sich verändert. Ich hatte dieses seltsame Licht schon einmal gesehen. Genauso hatte meine Haut geleuchtet, als ich Becketts gebrochene Beine geheilt hatte. Und auch vor wenigen Minuten hatte mein Körper dieses Licht verstrahlt.

Ich spürte Casteels Überraschung, als er die Wölfe musterte, doch im nächsten Augenblick machte sie Erleichterung Platz.

»Ihr wusstet es.« Casteels Stimme war voller Ehrfurcht, die keiner der sonst Anwesenden empfand. Selbst Emils Grinsen war verblasst, und er musterte uns mit großen Augen. Genau wie Naill, der sonst nie aus der Ruhe zu bringen war – nicht einmal, als wir in der Schlacht vor Spessa beinahe überrannt worden wären.

Casteel steckte seine Schwerter weg und hielt die leeren Hände gesenkt. »Ihr wusstet, dass sich etwas in ihr verändert. Deshalb habt ihr …« Er verstummte und biss die Zähne zusammen.

Mehrere Wächter traten vor den König und die Königin, sodass sie von allen Seiten geschützt waren und …

Ein weißer Blitz schoss nach vorne. Delano setzte sich auf die Hinterbeine, legte den Kopf in den Nacken und heulte. Der unheimliche, aber auch wunderschöne Klang ließ meine Haare zu Berge stehen.

In der Ferne hörte man leises Jaulen und Bellen, das mit jeder Sekunde lauter wurde. Die Blätter der hohen, kegelförmigen Bäume zwischen Saion und dem Tempel erzitterten, als ein Rumpeln die Erde vibrieren ließ. Vögel mit blau-gelbem Gefieder stiegen aus den Bäumen in den Himmel.

»Verdammt.« Emil wandte sich der Eingangstreppe des Tempels zu und griff nach seinen Schwertern. »Sie rufen die ganze Stadt zusammen.«

»Das ist Penellaphe.« Die tiefe Narbe, die über die Stirn des älteren Wölfischen verlief, trat hervor, und ich spürte Alastirs tiefe Ungläubigkeit.

»Nein«, erwiderte Casteel erbost.

»Doch«, widersprach König Valyn und starrte mich an. Sein Gesicht war wie ein Blick in Casteels Zukunft. »Sie reagieren auf sie. Deshalb haben sich die Wölfe auf der Straße ohne Vorwarnung verwandelt. Sie hat sie zu sich gerufen.«

»Ich … ich habe niemanden gerufen«, erklärte ich Casteel, und meine Stimme brach.

»Ich weiß.« Casteel klang sanft, als er mir in die Augen sah.

»Du magst es nicht bewusst getan haben, aber du hast sie dennoch zu dir gerufen«, erklärte Casteels Mutter.

Mein Blick huschte zu ihr, und meine Brust zog sich zusammen. Sie war genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Atemberaubend. Königlich. Mächtig. Und ruhig, obwohl sie immer noch vor mir kniete. Obwohl sie ihren Sohn bei meinem Anblick gefragt hatte: »Was hast du getan? Was hast du zurückgeholt?« Ich wand mich bei dem Gedanken daran und befürchtete, dass mich diese Worte noch lange nicht loslassen würden.

Casteels Gesicht wurde hart, seine goldenen Augen musterten mich. »Hätten diese Idioten hinter mir ihre Waffen niedergelegt, anstatt sie gegen meine Frau zu erheben, würden wir jetzt nicht einer Armee aus Wölfen gegenüberstehen«, zischte er. »Sie reagieren lediglich auf die Bedrohung.«

»Du hast recht«, stimmte sein Vater ihm zu und half seiner Frau vorsichtig auf die Beine. Ihr violettes Kleid war an den Knien und am Saum voller Blut. »Trotzdem solltest du dich fragen, warum dein wölfischer Begleiter nicht dich, sondern deine Frau beschützt.«

»Das kümmert mich im Moment herzlich wenig«, erwiderte Casteel, während das Trommeln Hunderter Pfoten immer näher kam. Das konnte nicht sein Ernst sein. Es war nämlich eine verdammt gute Frage.

»Es sollte dich aber kümmern«, warnte ihn seine Mutter, und ihre sonst so feste Stimme zitterte kaum merklich. »Die Bänder wurden durchtrennt.«

Die Bänder? Mit zitternden Händen und geweiteten Augen sah ich hinüber zur Eingangstreppe, wo Emil gerade langsam zurückwich. Naill hatte mittlerweile ebenfalls beide Schwerter gezogen.

»Sie hat recht«, erklärte Alastir, und die Haut um seinen Mund erschien noch weißer. »Ich kann es spüren, das urtümliche Notam … Gute Götter!« Seine Stimme zitterte, während er nach hinten taumelte und dabei beinahe auf die Krone trat. »Sie wurden alle durchtrennt.«

Ich hatte keine Ahnung, was ein Notam war, aber trotz der Verwirrung und der aufkeimenden Panik kam mir etwas an Alastirs Behauptung seltsam vor. Wenn er recht hatte, warum hatte er sich dann nicht in einen Wolf verwandelt? Vielleicht, weil er das Band, das ihn zum wölfischen Begleiter des ehemaligen Königs von Atlantia gemacht hatte, schon vor Hunderten Jahren durchtrennt hatte?

»Sieh in ihre Augen«, befahl die Königin sanft und wies Casteel auf das hin, was mir bereits aufgefallen war. »Mir ist klar, dass du das nicht verstehst. Es gibt Dinge, die musstest du niemals lernen, Hawke.« Ihre Stimme brach, als sie ihn mit seinem zweiten Vornamen ansprach, von dem ich einst geglaubt hatte, er wäre ebenfalls eine Lüge. »Im Moment musst du nur eines wissen: Die Wölfe dienen nicht mehr den Elementaren. Du bist nicht sicher. Bitte«, flehte sie. »Bitte, hör mich an, Hawke.«

»Aber wie?«, krächzte ich. »Wie konnte das Band durchtrennt werden?«

»Das ist im Moment doch egal.« Casteels bernsteinfarbene Augen leuchteten. »Du blutest«, meinte er, als gäbe es nichts Wichtigeres.

Aber das gab es. »Wie?«, wiederholte ich.

»Es hat damit zu tun, was du bist.« Eloanas linke Hand ballte sich um den Stoff ihres Rockes. »Du hast das Blut eines Gottes in dir …«

»Ich bin eine Sterbliche«, erklärte ich.

Eine dunkle Locke löste sich aus ihrem Haarknoten, als sie den Kopf schüttelte. »Ja, du bist eine Sterbliche. Aber du stammst von einer Gottheit ab – von einem Kind der Götter. Es ist nur ein Tropfen göttliches Blut notwendig …« Sie schluckte schwer. »Wobei du vielleicht mehr in dir trägst. Jedenfalls ist das, was in deinem Blut – und damit in dir – ist, stärker als jeder Schwur, den die Wölfischen geleistet haben.«

Ich dachte an das, was Kieran mir in Neuanfurt über die Wölfischen erzählt hatte. Die Götter hatten den einst wild lebenden Kiyou-Wölfen sterbliche Körper gegeben, damit sie den Göttlichen als Beschützer dienen und sie durch die noch unbekannte Welt führen konnten.

Aber da war noch etwas gewesen, und es erklärte die Reaktion der Königin.

Mein Blick fiel auf die Krone zu Nyktos’ Füßen. Ein Tropfen göttliches Blut würde jeden Anspruch auf den Thron Atlantias zunichtemachen.

Oh Götter, jetzt bestand tatsächlich die Gefahr, dass ich bald in Ohnmacht fiel. Was unendlich peinlich gewesen wäre.

Eloana wandte sich wieder an ihren Sohn. »Wenn du dich ihr jetzt näherst, sehen sie dich als Bedrohung und reißen dich in Stücke.«

Mein Herz setzte vor Schreck aus. Casteel sah aus, als hätte er genau das vor. Ein kleinerer Wolf sprang hinter mir hervor, bellte und schnappte in die Luft.

Ich versteifte mich. »Casteel …«

»Es ist alles gut.« Casteel wandte keine Sekunde den Blick von mir ab. »Niemand wird Poppy etwas antun. Das erlaube ich nicht.« Er atmete tief ein und aus. »Das wisst ihr doch, nicht wahr?«

Ich nickte, und mein Atem ging viel zu flach. Das war das Einzige, dessen ich mir im Moment vollkommen sicher war.

»Es ist alles gut. Sie beschützen dich nur.« Casteel lächelte verkniffen. Dann wandte er sich an Kieran. »Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber du und deine Freunde wollen sie nur beschützen. Das verstehe ich. Du weißt, dass ich ihr nie wehtun würde. Vorher würde ich mir selbst das Herz herausreißen. Sie ist verletzt. Ich muss sichergehen, dass es ihr gut geht. Und nichts und niemand wird mich davon abhalten.« Er sah Kieran ohne zu blinzeln in die Augen, während das Donnern der Pfoten der herannahenden Wölfe die Eingangstreppe erreicht hatte. »Nicht einmal du. Keiner von euch. Ich werde jeden töten, der sich zwischen sie und mich stellt.«

Kierans Knurren wurde lauter, und ich spürte etwas Unbekanntes in ihm. Es glich unbändiger Wut, aber es war älter. Es fühlte sich an wie das Summen in meinem Körper. Uralt. Urtümlich.

Und in diesem Moment sah ich vor mir, was passieren würde. Kieran würde angreifen. Oder vielleicht Jasper. Ich wusste, welchen Schaden ein Wolf anrichten konnte, aber Casteel würde sich nicht kampflos ergeben. Er würde sein Versprechen halten. Er würde jeden vernichten, der sich zwischen uns stellte. Wölfe würden sterben, und wenn er Kieran verletzte oder tötete, würde das Blut nicht nur an seinen Händen kleben, sondern sein restliches Leben seine Seele schwärzen.

Dutzende Wölfe kamen die Eingangstreppe empor. Kleine, große, in allen möglichen Farben. Und mit ihnen kam eine schreckliche Erkenntnis. Casteel war unglaublich stark und schnell. Er würde viele töten. Aber am Ende würde er mit ihnen fallen.

Er würde sterben.

Meinetwegen. Weil ich diese Wölfe zu mir gerufen hatte und nicht wusste, wie ich dem ein Ende bereiten konnte. Mein Herz pochte. Ein Wolf ging drohend auf Emil zu, der immer weiter zurückwich. Ein weiterer hatte sich an Naill gehängt, der beruhigend auf ihn einredete. Die anderen umringten die Wächter, die um den König und die Königin Aufstellung bezogen hatten, und einige … oh Götter, einige hatten sich von hinten an Casteel herangeschlichen. Gleich würde alles im Chaos versinken. Die Wölfe würden jegliche Kontrolle verlieren, und …

Ich holte tief Luft, und meine Gedanken lösten sich vom Schmerz und der Verwirrung. Etwas in mir hatte dazu geführt, dass die Bänder zwischen den Wölfen und den Atlantianern durchtrennt worden waren. Ich hatte sämtliche Schwüre aufgelöst, und das musste bedeuten … es musste bedeuten, dass sie nun mir gehorchten.

»Aufhören!«, befahl ich, gerade als Kieran nach Casteel schnappte, der ebenfalls die Zähne fletschte. »Kieran! Hör auf! Du wirst Casteel nichts tun.« Meine Stimme wurde lauter und lauter, während das Summen in meine Adern zurückkehrte. »Ihr alle hört jetzt damit auf. Sofort! Niemand greift irgendjemanden an.«

Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Gerade noch waren die Wölfe bereit zum Angriff gewesen, und jetzt ließen sie sich nieder und legten die Köpfe auf die Vorderpfoten. Ich konnte ihre Wut – und die alte Kraft in ihnen – immer noch spüren, aber sie verblasste allmählich.

Emil senkte das Schwert. »Das kam gerade noch rechtzeitig. Ich danke dir.«

Ich stieß zitternd die Luft aus. Kaum zu glauben, dass es funktioniert hatte. Im ganzen Tempel legten sich die Wölfe der Reihe nach auf den Boden. Mein Verstand wehrte sich gegen das, was die Königin behauptet hatte, aber ich konnte mir selbst auch nur bis zu einem gewissen Grad etwas vormachen. Mit trockenem Mund wandte ich mich an Casteel.

Er starrte mich mit großen Augen an. Ich bekam keine Luft mehr, und mein Herz schlug so schnell, dass ich es nicht schaffte, seine Gefühle einzuordnen.

»Er wird mir nichts tun. Das wisst ihr«, erklärte ich mit bebender Stimme, während ich zuerst Jasper und dann Kieran in die Augen sah. »Du hast einmal gesagt, er wäre der Einzige in beiden Königreichen, bei dem ich sicher bin. Daran hat sich nichts geändert.«

Kierans Ohren zuckten, dann erhob er sich, wich zurück, drehte sich um und stieß mit der Nase gegen meine Hand.

»Ich danke dir«, flüsterte ich und schloss einen Moment lang die Augen.

»Nur damit du es weißt«, murmelte Casteel. »Was du gerade getan und gesagt hast, bringt mich auf allerlei höchst unangemessene Gedanken.«

Ein schwaches, zitterndes Lachen entfuhr mir. »Irgendetwas stimmt definitiv nicht mit dir.«

»Ich weiß.« Sein Mundwinkel wanderte nach oben, und das Grübchen war wieder da. »Aber gerade das liebst du so an mir.«

Und das tat ich. Bei den Göttern, das tat ich wirklich.

Jasper schüttelte das Fell aus, und sein riesiger Kopf fuhr zu Casteel herum. Dann wandte er sich mit einem ruppigen Schnauben ab. Auch die anderen Wölfe setzten sich in Bewegung und kamen nach und nach hinter dem Blutbaum hervor. Sie trotteten mit gespitzten Ohren schwanzwedelnd an mir und Casteel vorbei und gesellten sich zu den anderen, die gerade die Treppe nach unten stiegen und den Tempel verließen. Nur Jasper, sein Sohn und Delano blieben bei mir, und die Spannung ließ endlich nach.

Eine dicke schwarze Locke fiel in Casteels Stirn. »Du hast silbern geleuchtet, als du den Wölfen den Befehl erteilt hast«, erklärte er. »Nicht so stark wie zuvor, aber du hast ausgesehen wie gesponnenes Mondlicht.«

Tatsächlich? Ich sah auf meine Hände hinunter. Sie wirkten normal. »Ich … ich weiß nicht, was hier los ist«, flüsterte ich, und meine Knie zitterten.

Ich hob den Blick und sah ihn an. Er trat einen Schritt auf mich zu, und dann noch einen. Kein warnendes Knurren erklang. Nichts passierte. Meine Kehle brannte. Ich spürte, wie die Tränen in mir hochstiegen. Aber ich durfte nicht weinen. Ich würde nicht weinen. Es war auch so schon alles grauenhaft genug, ohne dass ich auch noch hysterisch zu heulen begann. Aber ich war so müde, und der Schmerz war so groß, dass er über das Körperliche hinausging.

Als ich vorhin zum ersten Mal einen Fuß in diesen Tempel gesetzt und den Blick über das reine Wasser des Meeres von Saion schweifen hatte lassen, hatte ich das Gefühl gehabt, zu Hause zu sein. Ich hatte gewusst, dass es schwer werden würde. Der Beweis, dass unsere Verbindung echt war, war nicht annähernd so schwer zu erbringen gewesen, wie von Casteels Eltern und seinem Volk akzeptiert zu werden. Wir mussten immer noch seinen Bruder, Prinz Malik, finden. Und meinen. Wir mussten gegen die Königin und den König der Aufgestiegenen in den Kampf ziehen. Nichts daran würde einfach werden, aber ich hatte Hoffnung in mir gespürt.

Jetzt fühlte ich mich albern und schrecklich naiv. Der alte Wolf in Spessa, den ich nach dem Kampf geheilt hatte, hatte mich vor den Leuten in Atlantia gewarnt. Sie haben Euch nicht auserwählt. Inzwischen bezweifelte ich, dass sie mich jemals akzeptieren würden.

»Ich wollte das alles nicht«, hauchte ich.

Casteel presste die Lippen aufeinander. »Ich weiß.« Seine Stimme klang rau, doch seine Berührung war sanft, als seine Hand die Wange umfasste, die nicht geschwollen war. Er legte seine Stirn auf meine, und ein Schaudern durchfuhr mich, als ich seine Haut auf meiner spürte und er mit der Hand durch meine zerzausten Haare fuhr. »Ich weiß, Prinzessin«, flüsterte er, und ich presste die Augen zusammen, um die immer stärker drängenden Tränen zurückzuhalten. »Es ist alles gut. Alles wird gut. Das verspreche ich dir.«

Ich nickte, auch wenn ich wusste, dass er es mir nicht versprechen konnte. Nicht mehr. Ich zwang mich, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken.

Casteel küsste meine blutverschmierte Stirn, dann wandte er sich an Emil. »Kannst du Delanos und Kierans Kleider aus den Satteltaschen holen, damit sie sich verwandeln können, ohne alle zu Tode zu erschrecken?«

»Sehr gern«, antwortete der Atlantianer.

Ich hätte beinahe aufgelacht. »Ich glaube, ihre Nacktheit wäre heute das, was wohl am wenigsten erschreckt.«

Casteel sagte nichts, sondern berührte erneut meine Wange und drückte meinen Kopf sanft zur Seite. Sein Blick huschte zu den Steinen, die vor mir auf dem Boden lagen. Ein Kiefermuskel zuckte, dann sah er mich erneut an. Seine Pupillen waren geweitet, sodass nur ein kleiner Kreis Bernstein zu sehen war. »Wollten sie dich steinigen

Jemand schnappte leise nach Luft, und ich nahm an, dass es seine Mutter war, aber ich sah nicht hin. Ich wollte ihre Gesichter nicht sehen. Ich wollte nicht wissen, was sie fühlten. »Sie haben mir vorgeworfen, mit den Aufgestiegenen zusammenzuarbeiten. Sie haben mich Seelenfresserin genannt. Ich habe ihnen gesagt, dass ich nichts dergleichen bin. Ich habe versucht, mit ihnen zu reden.« Die Worte brachen aus mir heraus, und ich hob die Hände, um ihn zu berühren, doch dann hielt ich inne. Ich wusste nicht, welche Auswirkungen meine Berührung womöglich hatte. Bei den Göttern, man hatte ja gesehen, wozu ich fähig war, ohne jemanden zu berühren. »Ich habe versucht, vernünftig mit ihnen zu reden. Aber sie haben mit Steinen nach mir geworfen. Ich sagte, sie sollten aufhören. Dass es genug wäre. Und dann … ich weiß nicht, was ich dann getan habe.« Ich wollte einen Blick über seine Schulter werfen, doch Casteel hielt mich davon ab. »Ich wollte sie nicht töten.«

»Du hast dich bloß verteidigt.« Seine Pupillen zogen sich zusammen. »Du hast getan, was du tun musstest.«

»Aber ich habe sie nicht angerührt, Casteel«, flüsterte ich. »Es war wie während des Kampfes vor Spessa. Erinnerst du dich, als wir umzingelt wurden? Als die Soldaten fielen, habe ich etwas in mir gespürt. Und vorhin war es genauso. Als wüsste etwas in mir, was zu tun ist. Ich habe ihre Wut genommen, und dann habe ich genau das getan, was ein Seelenfresser tun würde. Ich habe die Wut umgekehrt und gegen sie gerichtet.«

»Du bist keine Seelenfresserin«, erklärte Königin Eloana von irgendwo ganz in der Nähe. »Die Angreifer hätten ganz genau wissen müssen, was du bist, sobald der Äther sichtbar wurde.«

»Der Äther?«

»Das, was einige als Magie bezeichnen«, antwortete Casteel und trat einen Schritt zur Seite, als wollte er sich zwischen mich und seine Mutter stellen. »Du hast ihn auch schon einmal gesehen.«

»Du meinst den Nebel, oder?«

Er nickte. »Er ist die Essenz der Götter. Er ist in ihrem Blut, und er gab ihnen ihre Fähigkeiten und die Macht, all das hier zu erschaffen. Doch seit die Götter sich schlafen gelegt haben und die letzte Gottheit starb, nennt die Magie niemand mehr bei diesem Namen.« Er sah mich an. »Ich hätte es wissen müssen. Bei den Göttern, ich hätte es sehen sollen.«

»Das ist im Nachhinein immer einfach«, merkte seine Mutter an. »Aber warum hättest du überhaupt auf diesen Gedanken kommen sollen? So etwas hat niemand erwartet.«

»Abgesehen von dir«, erwiderte Casteel, und er hatte recht. Sie hatte es zweifellos gewusst. Natürlich hatte ich bei ihrer Ankunft gerade geleuchtet, aber sie hatte es von Anfang an mit unbestreitbarer Sicherheit gewusst.

»Ich kann es euch erklären«, meinte sie, gerade als Emil mit den beiden Satteltaschen zurückkam. Er machte einen großen Bogen um uns, legte sie vor Jasper ab und wich zurück.

»Offensichtlich musst du uns einiges erklären«, erwiderte Casteel kühl. »Aber das kann warten.« Sein Blick huschte zu meiner linken Wange, und sein Kiefermuskel begann erneut zu zucken. »Ich muss sie zuerst an einen sicheren Ort bringen, wo ich mich um sie kümmern kann.«

»Du kannst dein altes Zimmer in meinem Haus benutzen«, bot Jasper an, und ich zuckte zusammen. Ich hatte nicht gehört, wie er sich verwandelte. Ich sah zu ihm hinüber, wandte aber eilig den Blick ab, als ich sah, dass er nackt war.

»Das reicht fürs Erste«, erwiderte Casteel. »Danke.«

»Ist es dort auch sicher für dich?«, fragte ich, und Casteel grinste schief.

»Ja, er ist dort sicher«, antwortete Kieran.

Der Klang seiner Stimme überraschte mich so sehr, dass ich mich umdrehte, und im nächsten Moment stand auch er mir nackt gegenüber. Offenbar machte es ihm nichts aus, dass ihn alle Anwesenden sehen konnten, und zur Abwechslung schaffte sogar ich es, zu ignorieren, dass er nichts anhatte. Ich sah ihm in die Augen. Sie waren wie immer – ein strahlendes Blau ohne silberne Fäden. »Du wolltest Casteel angreifen.«

Kieran nickte und griff nach seiner Hose.

»Ja, das wollte er«, bestätigte Casteel.

Ich wandte mich an meinen Ehemann. »Und du hast gedroht, ihn zu zerfleischen.«

Das linke Grübchen war wieder da. »Ganz genau.«

»Warum grinst du? Das ist nicht witzig.« Ich starrte ihn an, und Tränen brannten in meinen Augen. Mir war egal, wie viele uns gerade zusahen. »Das darf nie wieder vorkommen! Habt ihr verstanden?« Ich fuhr zu Kieran herum, der eine Augenbraue hob, während er die Hose über seine schlanken Hüften zog. »Habt ihr gehört? Das werde ich nicht zulassen. Ich werde …«

»Schhh.« Casteel strich sanft über meine Wange und kam so nahe, dass ich seine Brust bei jedem Atemzug an meiner spürte. »Es wird nicht wieder vorkommen, Poppy.« Er wischte mir unauffällig eine Träne aus dem Auge. »Habe ich recht?«

»Ja.« Kieran räusperte sich. »Ich werde …« Er brach ab.

Stattdessen ergriff Jasper das Wort. »Solange der Prinz uns keinen Grund für das Gegenteil gibt, werden wir ihn genauso erbittert verteidigen wie dich.«

Wir. Als meinte er alle existierenden Wölfe. Das hatte Alastir also damit gemeint, dass alle Bänder durchtrennt worden waren. Ich hatte so viele Fragen, doch stattdessen ließ ich den Kopf auf Casteels Brust sinken. Ein brennender Schmerz schoss durch meinen Schädel, doch es war mir egal, denn als ich tief Luft holte, roch ich den satten Duft von Gewürzen und Kiefernholz. Casteel legte mir sanft einen Arm um die Schultern, und mir kam es vor, als würde er erschaudern, als er mich an sich zog.

»Moment«, meinte Kieran plötzlich. »Wo ist Beckett? Er war doch vorhin bei dir.«

Casteel löste sich von mir. »Das stimmt. Er wollte dir den Tempel zeigen.« Seine Augen wurden schmal. »Er hat dich hergeführt.«

Ich bekam Gänsehaut. Beckett. Meine Brust zog sich zusammen, als ich an den jungen Wolf dachte, der beinahe auf dem ganzen Weg nach Atlantia Schmetterlingen hinterhergejagt war. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass er mich in dem Wissen hergeführt hatte, was danach passieren würde. Doch ich erinnerte mich an den bitteren Geschmack der Angst, als er mir in Spessa gegenübergestanden hatte. Er hatte Angst vor mir gehabt.

Oder war es etwas anderes gewesen?

Er war schrecklich durcheinander gewesen. Zuerst hatte er sich normal verhalten und glücklich gegrinst, dann plötzlich schien er verängstigt und unruhig.

»Er ist verschwunden, bevor die anderen kamen«, erklärte ich Casteel. »Ich weiß nicht, wo er hin ist.«

»Findet Beckett«, befahl Casteel, und Delano, der noch als Wolf vor uns stand, neigte den Kopf. »Naill? Emil? Ihr begleitet ihn. Ich will ihn lebendig.«

Die beiden Atlantianer nickten und verneigten sich. Ich befürchtete, dass lebendig in diesem Fall nichts Gutes verhieß. »Er ist doch noch ein Kind«, meinte ich und beobachtete, wie Delano, Naill und Emil verschwanden. »Er hatte Angst. Und jetzt, wo ich so darüber nachdenke …«

»Poppy.« Casteels Lippen strichen sanft über meine verletzte Wange. »Ich habe dazu zwei Dinge zu sagen. Erstens: Wenn Beckett etwas mit der Sache zu tun hatte, ist es mir egal, was oder wer er ist, und es kümmert mich einen Dreck, was er dabei empfunden hat.« Er erhob die Stimme, sodass ihn alle im Tempel hören konnten, einschließlich seiner Eltern.

»Jeder, der meine Frau angreift, erklärt mir damit persönlich den Krieg, und sein Schicksal ist besiegelt. Und zweitens?« Er senkte den Kopf noch weiter, und dieses Mal berührten seine Lippen meinen Mund. Sein Kuss war sanft wie eine Feder. Ich spürte ihn kaum, dennoch zog sich mein Inneres zusammen. Als er den Kopf wieder hob, sah ich in seinem Gesicht den Jäger, der sein Opfer ins Visier nimmt. Er sah aus wie damals, kurz bevor er in Neuanfurt Landell das Herz aus der Brust gerissen hatte.

Casteel wandte sich an den einzigen Wolf, der noch hier war und auf zwei Beinen stand. »Du!«