Zum Buch
Kalifornien, 1913: Der Privatdetektiv Isaac Bell rettet einen US-Senator vor einem Attentat, und gerät so auf die Fährte einer Verschwörung, die nicht weniger als zwei Nationen in die Knie zwingen will. Denn der gerettete Senator ist ein energischer Befürworter des sich gerade im Bau befindlichen Panama-Kanals, und er ist überzeugt, dass seine politischen Gegner hinter dem Anschlag stecken. Isaac Bell erhält den Auftrag, vor Ort zu ermitteln. Doch am Panama-Kanal erwarten ihn nicht nur die tödlichen Partisanen der Roten Vipern, sondern auch der Verdacht, dass es hier um mehr geht als das größte Bauprojekt des 20. Jahrhunderts.
Autoren
Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman von Clive Cussler ein New York Times-Bestseller. Auch auf der deutschen Spiegel-Bestsellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2020 in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.
Jack DuBrul studierte an der George-Washington-Universität, Washington, D. C. Kaum hatte er seinen Abschluss in der Tasche, veröffentlichte er seinen ersten Roman. Er lebt mit seiner Frau Debbie in Burlington, Vermont.
Liste der lieferbaren Isaac-Bell-Romane:
1. Höllenjagd
2. Sabotage
3. Blutnetz
4. Todesrennen
5. Meeresdonner
6. Die Gnadenlosen
7. Unbestechlich
8. Der Attentäter
9. Teufelsjagd
10. Die Rückkehr der Bestie
11. Die Titanic-Verschwörung
12. Das Panama-Attentat
Clive Cussler
& Jack DuBrul
DAS
PANAMA-ATTENTAT
Ein Isaac-Bell-Roman
Deutsch von Wolfgang Thon

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Saboteurs (IB 12)« bei G. P. Putnam’s Sons, New York.
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By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc.
350 Fifth Avenue, Suite 5300
New York, NY 10118 USA
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Blanvalet Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com
(badahos, Primada, domnitsky, Marco Rimola, Jenny Thompson, Netfalls, ysbrandcosijn) und Shutterstock.com
(Everett Collection, BERNATSKAIA OKSANA, Andrii Rudyk)
Redaktion: Jörn Rauser
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-27692-8
V001
www.blanvalet.de
ARGENTINIEN
Otto Dreissen – deutscher Industrieller
Heinz Kohl – Dreissens Kammerdiener und Leibwächter
Matías Guzmán – Außenminister Argentiniens
KALIFORNIEN
Isaac Bell – Chefermittler
Marion Bell – Isaac Bells Ehefrau
Renny Hart – Privatdetektiv der Van Dorn Detective Agency
J. William Densmore – Senator von Kalifornien
Major Courtney Talbot (U. S. Army, ret.) – ehemaliger Soldat, Abenteurer
Elizabeth Densmore – Senator Densmores Nichte
Jefferson »Keno« Wilson – Polizeichef von San Diego
PANAMA
George Washington Goethals – Leiter der Panamakanalbehörde
Sam Westbrook – Verwaltungschef des Kanals
Jack Scully – Chefmechaniker des Kanals
Jeremiah Townsend – Archivar des Kanals
Rinaldo Morales – Court Talbots Fahrer
Raúl Morales – Rinaldos Bruder
Felix Ramirez – Eigentümer des Central Hotel
Ernst Leibinger-Holte – Schweizer Geschäftsmann
Benedict »Tats« Macalister – Hotelgast
Guillermo Acosta – Argentinischer Bauingenieur
Whittier und Juliet Webb – Hotelgäste
Jorge Nuñez – Panamaischer Reiseführer
Detective Ortega – Polizist in Panama-Stadt
Ruth Buschman – Krankenschwester
Er war sich ziemlich sicher, dass man ihm die Waffe in New York gegeben hatte und dazu wohl auch etwas Geld. Dies hatte es ihm ermöglicht, seine Zielperson durch acht Staaten zu verfolgen, häufig in denselben Hotels zu übernachten und denselben Zug wie sie zu nehmen. Vor allem aber hatte er den Geist noch einmal hören können. Und der Geist gab denselben Befehl, den er ihm schon elf Jahre zuvor gegeben hatte, nur hatte John damals nicht die Kraft gehabt zu handeln. Heute war das anders.
John Flammang Schrank verbrachte den größten Teil des Nachmittags in einer Bar, die sich dem Gilpatrick Hotel gegenüber befand, in dem, wie er wusste, seine Zielperson zu Abend essen würde, bevor sie zum Milwaukee Auditorium fuhr, um dort eine Rede zu halten, die ihr profanes Vorhaben fortsetzen sollte. Der aus Bayern stammende Schrank, ein ehemaliger Kneipenbesitzer, trank sechs Maß Bier. Aber er fühlte sich vollkommen ruhig, während die Menschenmenge vor dem nahe gelegenen Hotel immer mehr anschwoll, in der Erwartung, einen Blick auf ihren Helden zu erhaschen.
Verräter, dachte er mürrisch. Das Gewicht der Waffe zerrte an seiner Manteltasche. Verräter und Mörder.
Er bezahlte bei dem Barmann und überquerte die Straße. Es war kurz vor acht, und aus den Fenstern des Hotels drang Licht. Die Luft war kühl, die Leute trugen lange Mäntel und hatten die Hüte tief in die Stirn gezogen. Schrank war ein korpulenter Mann mit einem mächtigen Bauch und einem freundlichen Gesicht, das von dem großen vorspringenden Kinn dominiert wurde. Es fiel ihm nicht schwer, sich durch die fröhlichen Menschenmassen zu drängen.
Er fragte sich, wie sie nur eine solche Bewunderung an den Tag legen konnten. Kannten sie denn die Wahrheit nicht?
Diese Wahrheit war ihm kurz nach dem Amtsantritt seiner Zielperson bewusst geworden. Es war die erste Erscheinung des Geistes gewesen – in einem Traum, einem lebhaften Traum, den er nie hatte abschütteln können. Und nun, mithilfe seiner neuen Wohltäter, war dieser Traum zurückgekehrt, nur dass sein Ziel diesmal im Gewand eines Priesters daherkam, was aber keinen Unterschied machte. Schrank erkannte den Usurpator sofort.
Schrank sah sich um. Bei dem Gedanken, ihr Idol zu sehen, gerieten die Leute geradezu aus dem Häuschen. Der Geist hatte gesagt, ihr Held habe ihn ermordet, indem er den polnischen Anarchisten Leon Czolgosz in die Panamerikanische Ausstellung in Buffalo geschmuggelt habe. Die zwei Schüsse in den Bauch hatten genügt, um den Mann in den Geist aus John Schranks Träumen zu verwandeln.
Schrank erkannte ein Gesicht in der Menge. Es war das des freundlichen Mannes, der ihm zuhörte. Der andere, der Wortkarge, der immer nur forderte und schimpfte und ihn erniedrigte, war nicht bei ihm, wie so oft, wenn er versucht hatte, das Attentat auszuführen. Dies war das Omen dafür, dass es heute Abend geschehen würde. Er drängte sich noch näher an die Spitze der Menge und ignorierte die gereizten Blicke der Leute, die so lange auf diese heiß begehrten Plätze gewartet hatten.
Er spürte den harten Kunststoffgriff des Colts Kaliber .38 in seiner Manteltasche. Er befand sich dicht an der ersten Reihe der Schaulustigen. Der Hoteleingang war nur ein paar Schritte entfernt, und der offene Wagen mit der langen Motorhaube und den geschwungenen Trittbrettern stand mit laufendem Motor am Bürgersteig.
»Ich kann nicht fassen, dass ich gleich den Helden von San Juan Hill sehen werde«, sagte eine Frau atemlos zu ihrem Mann.
»Ich habe gehört, dass er nicht Teddy genannt werden möchte, sondern nur ›TR‹«, erklärte ein anderer aus der Menge.
Schrank fingerte an der Pistole herum. Er durfte auf keinen Fall zulassen, dass dieser Mann eine dritte Amtszeit bekam. Kein Präsident hatte jemals eine dritte gehabt. Selbst George Washington hatte sich geweigert, zum dritten Mal anzutreten, weil er befürchtete, es könnte die Präsidentschaft in eine Monarchie verwandeln, eine wie die, von der sich Amerika so mühsam befreit hatte. John Schrank betrachtete sich selbst als Patriot, als einer jener Minutemen, die gegen die Tyrannei eines Mannes kämpften, der König werden wollte.
Plötzlich brach die Menge in wilden Jubel aus. Theodore »Teddy« Roosevelt schritt die paar Stufen vor dem Eingang des Gilpatrick herunter und winkte den Leuten zu, die dort auf ihn gewartet hatten und die neuntausend Menschen beneideten, die ein Stück weiter im Auditorium selbst auf seine Rede warteten. Roosevelt schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln, und seine Augen leuchteten hinter der randlosen Brille vor Freude. Sein Walross-Schnauzbart zuckte.
Er stieg auf das Trittbrett des Wagens und sank langsam neben seinem Stenografen Elbert Martin auf den Rücksitz. Ihnen gegenüber saß ein weiterer Adjutant im Fond, Harry Cochems. Die Menge johlte weiter und ließ die Luft mit ihrem Beifall erzittern. »TR« lächelte Harry wissend zu und erhob sich noch einmal, den Zylinder in der Hand, um den Leuten erneut zuzuwinken. Für diese Geste liebten sie ihn, und er liebte sie für ihre Loyalität und Unterstützung.
John Flammang Schrank erkannte seine Chance und trat einen Schritt näher an sein Ziel heran. Ohne eine Miene zu verziehen und auch ohne echte Bosheit, da er den ehemaligen Präsidenten gar nicht hasste, sondern ihn nur daran hindern musste, wieder ins Oval Office einzuziehen, hob er die Pistole und zielte auf Roosevelts Kopf, nur wenige Schritte von ihm entfernt.
Er drückte in dem Augenblick ab, als hinter ihm jemand gegen seinen Arm schlug. Die Waffe ging los, ein Donnerschlag ertönte, laut genug, um die Menge sofort verstummen zu lassen. Der Geruch von verbranntem Pulver hing beißend in der Luft.
Roosevelt taumelte nur leicht und ging in die Knie, bevor er sich wieder aufrichtete, den Hut immer noch erhoben. Elbert Martin reagierte als Erster. Er hatte auf dem College Football gespielt und verfügte über blitzschnelle Reflexe. Er sprang aus dem Auto und stürzte sich auf Schrank, bevor dieser erneut feuern konnte. Beide Männer landeten auf dem Bürgersteig, und Martin nutzte seine überlegene Körpergröße, um Schrank am Boden festzuhalten, während er die Handgelenke des Attentäters umklammerte. A. O. Girard, ein Leibwächter der Van Dorn Detective Agency und ehemaliges Mitglied einer von Roosevelt selbst gegründeten Gruppe von Raubeinen, der Kavalleriekompanie »Rough Riders«, schnappte sich reaktionsschnell die Pistole, während sich zwei Polizeibeamte des Milwaukee Police Departments auf sie warfen.
Harry Cochems sprang auf. »Sind Sie getroffen worden, Mr. President?«
»Er hat mich nur gestreift, Harry«, gab Roosevelt zurück.
»Gütiger Gott.«
Die Menge verlangte nach Blut, brüllte »Tötet ihn!« und »Hängt ihn!«.
TR schwenkte seinen Hut und brüllte: »Tut ihm nichts. Bringt ihn zu mir. Ich will ihn sehen.« Die Menge konnte kaum glauben, dass ihr Held unversehrt geblieben war, und nun brandete sogar Jubel auf. »Mir geht es gut! Es geht mir gut!«
Die Polizisten zerrten Schrank unsanft auf die Füße.
»Bringt ihn doch her!«, befahl Roosevelt. Der Möchtegernattentäter wurde im Polizeigriff zu der wartenden Limousine geführt.
Roosevelt betrachtete das Gesicht des Mannes, legte die Hände auf seinen Kopf und versuchte, sich zu erinnern, ob er diese beschränkt aussehende Kreatur schon einmal gesehen hatte. Aber kein Funke des Erkennens flammte auf. »Warum haben Sie das getan?«
Schrank starrte ihn nur an, bewegte den Kiefer, sagte aber nichts.
»Ach … na gut.« Roosevelts Stimme klang schärfer, da die Schmerzen größer wurden. »Officer, kümmern Sie sich um ihn und sorgen Sie dafür, dass ihm keine Gewalt angetan wird.«
Er sank auf den Sitz zurück, als Schrank unter lautem Buhen und Schimpfen der Menge ins Hotel geführt wurde.
Der Wagen fuhr vom Bordstein weg. Als er außer Sichtweite seiner Anhänger war, öffnete Roosevelt Mantel und Anzugjacke. Auf dem feinen weißen Leinen seines Hemdes breitete sich auf der rechten Seite ein karmesinroter Fleck aus. Seine Adjutanten waren fassungslos – so viel Blut!
»Fahrer!« Harry Cochems schrie förmlich. »Bringen Sie uns ins nächste Krankenhaus.«
»Ignorieren Sie das! Sie halten Kurs auf das Auditorium!«, konterte Roosevelt und ließ sich von Elbert ein frisches Taschentuch geben, das er auf die Wunde drückte. Dann hielt er sich eine Hand vor den Mund und hustete. Er zeigte seinen Assistenten die weiße Handfläche. »Wäre die Lunge getroffen worden, wäre da Blut. Das wird schon wieder heilen.«
Er fischte zwei Gegenstände aus der Innentasche seines Jacketts. Das eine war die fünfzigseitige Rede, die er halten wollte, fein säuberlich in zwei Teile gefaltet. Die Kugel hatte ein Loch in den Stapel Papiere gerissen. Der zweite Gegenstand war sein lederbezogenes Brillenetui aus Stahl. Es war ebenfalls durchbohrt worden. Die Kugel musste dabei so viel Schwung verloren haben, dass sie beim Aufprall auf Roosevelts Brust lediglich die Haut durchschlagen hatte und in seinem Brustkorb stecken geblieben war.
»Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, ob Sie ganz ermessen können, dass gerade auf mich geschossen wurde, aber es braucht mehr als nur eine Kugel, um einen Elchbullen zur Strecke zu bringen.«
Wie ein Konvoi zu Kriegszeiten säumte eine riesige Armada von Frachtschiffen die belebte Wasserstraße der Stadt. Über ihnen erhoben sich die massiven Getreidesilos, mehrstöckige Holzkonstruktionen mit beweglichen Schütten, aus denen Kaskaden aus goldenem Weizen in ihre Laderäume rauschten. Weiter unten am Kai wurden besondere Kühlschiffe mit großen Platten von Rindfleisch aus der Pampa beladen, das für Haushalte und Restaurants in ganz Europa bestimmt war. Andere Schiffe mit Waren aus Europa und Nordamerika wurden entladen, zumeist handelte es sich dabei um Produkte, die Argentinien nicht selbst herstellen konnte.
Otto Dreissen war seit sechs Monaten nicht mehr hier gewesen, in BA, wie fast jeder die argentinische Hauptstadt nannte, und ihm schien es, als ginge es im Hafen heutzutage noch hektischer zu als jemals zuvor. Dampfschlepper standen bereit, um ein beladenes Schiff wegzuschleppen, sobald seine Laderäume gefüllt waren, damit ein anderes Schiff seinen Platz einnehmen konnte. Stauer und Hafenarbeiter wimmelten wie ein Ameisenheer herum, schleppten Bündel einheimischer Wolle die Gangways hinauf oder schwangen Fässer mit pflanzlichen Ölen in Netzen zu den Schiffen, wo wartende Hände sie entgegennahmen und unter Deck verstauten.
Sein Dampfer passierte eine – wie es ihm vorkam – ganze Meile belebter Docks, bevor er den Passagieranleger erreichte und das Horn endlich zur Begrüßung ertönte. Nur eine Handvoll Gratulanten wartete auf der Pier. Wie so viele Schiffe, die in Südamerika anlegten, beförderte auch die ehrwürdige São Paulo der Hamburg-Süd-Amerika-Linie vor allem Immigranten, die auf ein besseres Leben fernab der strengen sozialen Schranken ihrer Heimat hofften. Hier in Argentinien stammten die meisten aus Spanien oder Italien, während der Norden von Brasilien bei den Portugiesen schon immer beliebter war.
Dreissen selbst hatte den Atlantik nicht überquert. Er operierte normalerweise von Panama aus und hatte gerade einige Geschäfte in Brasilien abgeschlossen. Das Schiff hatte er bestiegen, als es in Belém am Südufer des Amazonas angelegt hatte, um Kohle an Bord zu nehmen. Für ihn und seinen Kammerdiener und Leibwächter Heinz Kohl war dies nur eine kurze Reise gewesen.
Kohl stand einen Schritt hinter Dreissen am oberen Ende des Stegs. Hinter ihm wartete ein Träger mit dem großen – mit Monogramm versehenen – Koffer auf einem Handkarren. Unten am Kai stand ein gelber Rolls-Royce Silver Ghost, der vom Plaza Hotel zur Verfügung gestellt worden war. Da es ein schöner Sommertag war, hatte man das Lederverdeck des Luxuswagens heruntergelassen. Wie ein Zinnsoldat stand der Fahrer in der grauen Livree mit der Schirmmütze unter dem Arm regungslos neben dem Fahrzeug.
Die Gangway war schnell befestigt, und der Erste Offizier des Schiffes bezog daneben Position, um den Passagieren der ersten Klasse alles Gute zu wünschen. Die Passagiere in der Zwischendecksklasse verließen das Schiff durch eine Luke weiter unten, aber erst, nachdem die besser betuchten Reisenden von Bord gegangen waren.
»Schön, Sie an Bord gehabt zu haben, Herr Dreissen«, sagte der blonde Senior Officer. Die goldenen Paspeln auf seiner weißen Tropenuniform schimmerten wie Schmuckstücke.
»Ich bin seit der Jahrhundertwende nicht mehr an Bord der São Paulo gesegelt. Sie machen ihr alle Ehre. Sie scheint mir in bester Verfassung zu sein.«
»Unsere Regierung hat dem Geschäft zugestimmt, Herr Dreissen. Sie hat sich bereit erklärt, sie von der Schifffahrtslinie zu übernehmen.«
»Dann bin ich froh, dass ich noch eine letzte Fahrt mit dem alten Mädchen genießen konnte. Ihnen einen schönen Tag!«
Dreissen ging als Erster die Gangway hinunter und saß schon im Rolls-Royce, als Kohl und der Gepäckträger den Koffer auf dem Gestell über der hinteren Stoßstange befestigt hatten. Es war nur eine kurze Fahrt zum Plaza Hotel in der Calle Florida, aber da für den Bau der ersten U-Bahn Südamerikas gerade so viele Straßen aufgerissen wurden, dauerte sie erheblich länger als sonst. Sie mussten einen Umweg um den San Martín Square machen und näherten sich dem neunstöckigen Hotel im Stil des Second Empire von der Seite.
Der Manager wartete am Eingang und begrüßte Dreissen mit einem herzlichen Lächeln und einem Handschlag. Wie viele in BA bemühten sich auch das Plaza Hotel und seine Mitarbeiter darum, dass sich hier alle europäischen Gäste wie zu Hause fühlten. Dass die Argentinier lieber die Alte Welt kopierten, als sich das amerikanische Modell zum Vorbild zu nehmen, war eine bewusste Brüskierung ihrer Nachbarn hoch oben im Norden. Die Feindseligkeit gegenüber den Vereinigten Staaten ging auf die Gründung der Nation und die Umsetzung der Monroe-Doktrin ein paar Jahre später zurück.
»Willkommen, Herr Dreissen. Ich habe Ihre übliche Suite für Sie vorbereiten lassen.«
Dreissen antwortete in fließendem Spanisch: »Scheint Ihnen gut zu gehen, Raoul.«
Der Hotelier rieb sich grinsend über seinen Bauch. »Es sind gute Zeiten für Argentinien, warum sollte ich also nicht mit unserem Land wachsen?«
Ein Gast von Otto Dreissens Stellung brauchte sich um Formalitäten wie das Einchecken nicht zu kümmern. Der Manager hatte den Schlüssel für die Suite in der Tasche, und die Träger waren bereits zum Heck der Hotellimousine unterwegs, um den Schrankkoffer zu sichern. Kohl behielt sie im Auge und suchte die belebten Bürgersteige nach möglichen Bedrohungen ab.
»Darf ich so kühn sein zu fragen, was Sie nach BA führt, Herr Dreissen?«, erkundigte sich Raoul.
»Diese verdammten Briten haben zwar die Konzession für die Lieferung der U-Bahn-Waggons für die ersten Linien erhalten, die sich im Bau befinden, aber wir wollen die Wagen und Lokomotiven für die von der Lacroze Company geplante Linie bauen. Ich treffe mich in zwei Tagen mit ihren leitenden Mitarbeitern.«
Der Argentinier runzelte die Stirn. »Die Engländer haben hier beinahe ein Monopol auf alles, was mit der Eisenbahn zu tun hat. Da kann ich Ihnen nur viel Glück wünschen.«
Sie fuhren in der Messingkabine des Aufzugs in den obersten Stock, und Raoul stieß die schwere Tür der Suite auf. Aus den Fenstern hatte man einen Blick auf die belebten Straßen, aber die Sicht wurde durch den Abgasqualm eines Dampfbaggers verdeckt, der die Straße gerade für die neue U-Bahn aufriss. Dreissen bemerkte die Champagnerflasche, die in einem silbernen Eimer kühlte, und eine Flasche Napoléon-Cognac auf einem Tablett neben einem Schwenker aus geschliffenem Kristall.
»Kann ich noch etwas für Sie tun, Herr Dreissen?«, erkundigte sich der Manager, während Kohl und der Portier den großen Koffer in die Suite bugsierten. Kohl machte sich sofort daran, die Sachen seines Herrn auszupacken.
Dreissen ließ den Korken des Pol Roger knallen und schenkte etwas von dem schäumenden Getränk in eine Champagnerflöte. »Sie könnten gleich noch eine Flasche davon hochschicken. Die alte São Paulo ist nicht gerade für ihren Weinkeller berühmt.«
»Selbstverständlich.« Hotelier und Dienstmann verabschiedeten sich, nachdem sie von Kohl ein üppiges Trinkgeld für ihre Bemühungen erhalten hatten.
Dreissen aß in seiner Suite zu Abend und öffnete gerade die zweite Flasche Champagner, als sein bereits erwarteter Gast anklopfte. Kohl öffnete die Tür. Der argentinische Außenminister trug zwar einen schwarzen Anzug, aber keinen Hut. Sein Name war Matías Guzmán Im Gegensatz zu dem kräftig gebauten Dreissen war Guzmán gertenschlank, hatte einen struppigen Schnauzbart und die schlanken Hände eines Pianisten. Wie Dreissen verfügte er über einen scharfen Verstand und war ein ausgezeichneter Stratege. Nach ihren gelegentlichen Schachpartien waren beide Männer meistens erschöpft gewesen.
Dreissen erhob sich vom Esstisch, ging seinem Freund entgegen und schüttelte ihm die Hand. Als zusätzliches Zeichen der Zuneigung berührte Guzmán die Schulter des Deutschen. »Wie schön, Sie zu sehen, Otto. Es ist schon viel zu lange her, dass Sie das Paris Amerikas besucht haben.«
»Wenn man für meine Familie arbeitet, geht man dorthin, wo sie einen hinschickt.«
Sie setzten sich, und Dreissen schenkte Champagner ein.
»Verstehe ich das richtig? Wir feiern Ihren jüngsten Erfolg?« Guzmán toastete Dreissen mit seiner Champagnerflöte zu.
»Meinen Erfolg?«
»Gerüchte aus Manaus zufolge haben Sie sich einen lukrativen Vertrag über die gesamte Kautschukernte von Don Antônio Oliveira für dieses und nächstes Jahr gesichert.«
»Das trifft zu. Die neue Automobilsparte des Werks in Essen ist nun in der Lage, ihre Reifen selbst zu produzieren.«
»Es kursierte auch das Gerücht, dass der französische Vertreter von Michelin Insiderinformationen für diese Verträge besaß. Er wurde tot aufgefunden … im Amazonas treibend. Ein großes Glück für Sie.«
Dreissen blieb ungerührt. »Ich neige dazu, mir mein Glück selbst zu schmieden.«
Seine Aussage mit all ihren Implikationen hing mehrere Sekunden lang in der Luft. »Was führt Sie jetzt nach BA?«, brach Guzmán schließlich das Schweigen. »Ihr Telegramm war eher … kryptisch. Und warum treffen wir uns unter einem falschen Vorwand hier und nicht in meinem Büro?«
»Weiß jemand, dass Sie hier sind?«
»Natürlich. Ich habe mit meiner Geliebten hier im Hotel zu Abend gegessen. Sie schmollt jetzt unten in unserem Zimmer, weil ich sie dort habe sitzenlassen.« Guzmán sah den Anflug von Besorgnis im Gesicht seines Gastgebers. »Wir sind in Lateinamerika. Freitagabende sind für die Geliebte reserviert, bevor man in sein Landhaus fährt, um das Wochenende mit Frau und Kindern zu verbringen. Das wissen Sie doch sicher.«
»Gewiss. Ich möchte nur nicht, dass jemand eine Verbindung zwischen uns beiden herstellt, weil wir uns im selben Hotel befinden.«
»Sie machen sich zu viele Sorgen.« Guzmán stellte sein Getränk ab. »Und jetzt verraten Sie mir bitte, was diese ganze Geheimniskrämerei soll!«, fuhr er dann fort.
Dreissen ignorierte die Frage. »Mir ist aufgefallen, dass der Hafen jetzt noch geschäftiger ist als bei meinem letzten Besuch.«
Guzmán lehnte sich zurück. Ihm war sofort klar, dass ihr Gespräch so anstrengend werden könnte wie eine ihrer Marathon-Schachpartien. »Ja, das ist wahr. Die Exporte sind im Vergleich zum letzten Jahr um drei Prozent gestiegen. Wir verzeichnen eine Rekordzahl von Einwanderern aus Europa, die hier ein besseres Leben für sich zu finden hoffen.«
»Und die Importe?« Dreissen war klar, dass dies ein heikles Thema war.
»Die Zahlen steigen ebenfalls«, erwiderte Guzmán zurückhaltender.
»Und ausländische Investitionen? Ich höre, dass die U-Bahn dieses Jahr eröffnet werden soll. Sie ist mit englischem Geld finanziert worden, nicht wahr?«
»Das wissen Sie doch. Und um Ihre Frage zu beantworten: Wir erhalten viel ausländisches Kapital.«
»Tatsächlich?« Dreissen hob eine Braue, und seine grauen Augen funkelten. »Der Eisenbahnbau ist dramatisch zurückgegangen, weil alle rentablen Strecken bereits verlegt sind. Ihre Regierung ist jetzt gezwungen, besonders großzügige Bedingungen anzubieten, um Investoren dazu zu bringen, die Eisenbahn auch in entlegeneren Gebieten im Landesinneren auszubauen. Die besten Landstriche sind bereits gerodet und von der Landwirtschaft in Beschlag genommen worden. Mittlerweile sind nur noch wenige europäische Investoren an der Ansiedlung von Industrieunternehmen in Ihrem Land interessiert. Es gibt hier weder Kohle noch Erdöl, weswegen es niemandem sinnvoll erscheint, eine energieintensive Fabrikanlage zu eröffnen.«
Der Minister kniff den Mund zu einem schmalen Strich zusammen. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich möchte sagen, dass eure Investoren aus Argentinien genau das gemacht haben, was sie brauchten, nämlich einen Absatzmarkt für ihre teuren Industriegüter zu schaffen und gleichzeitig einen Lieferanten von qualitativ hochwertigem, aber preiswertem Rindfleisch, Hammelfleisch und anderen landwirtschaftlichen Produkten zu finden. Sie haben zwar Ihre Unabhängigkeit von Spanien erkämpft, das ist schon wahr, aber Ihre Nation bleibt trotzdem ein Kolonialstaat, vollständig abhängig von Europa.«
In dem folgenden langen Schweigen starrten sich die beiden Männer an. Guzmán wandte den Blick zuerst ab. »Ich glaube nicht, dass ich unsere Situation so beschreiben würde.«
»Es klingt vielleicht etwas hart, trifft im Wesentlichen aber zu. Und schon bald wird der nächste Schlag kommen. Damit wird jede Hoffnung, die Sie noch haben, Fertigungsfabriken und Industrie hierher zu locken, bereits im Keim erstickt werden.«
Guzmán nickte. Er hatte das Eröffnungsgambit verloren. »Der Kanal.«
»Die Eröffnung erfolgt voraussichtlich nächstes Jahr im August.«
»Damit gelingt es Ihnen, Südamerika vom internationalen Handel abzuschneiden, so wie Afrika bereits durch den Bau des Suezkanals ausgegrenzt wurde. Sie selbst haben mich darauf aufmerksam gemacht, Otto.«
»Ich erinnere mich an unser Gespräch. Mit Ausnahme von Südafrika wird dort so wenig investiert, dass dieses Land auf Generationen kolonialisiert und arm bleiben wird. Der Suezkanal ist der Grund, warum meine Familie in Afrika nicht so vertreten ist wie in Amerika, Argentinien und im Orient.«
»Und Sie sind sicher, dass hier das Gleiche passieren wird?«
»Wir haben in der Vergangenheit schon darüber gesprochen«, erinnerte ihn Dreissen. »Die neu entdeckten Ölfelder um Maracaibo in Venezuela könnten sich auszahlen und ihnen etwas geben, was die Staaten des Nordblocks haben wollen. Aber im Rest von Südamerika werden die Volkswirtschaften ohne Investitionen von außen stark schrumpfen. Sie werden sich in einem Würgegriff wiederfinden, aus dem es kein Entkommen gibt.«
Guzmán verfluchte die Amerikaner leidenschaftlich und sprang sichtlich erregt auf. Er wusste, dass sein Gastgeber recht hatte. Der Kanal würde Südamerika isolieren, als hätte der gesamte Kontinent aufgehört zu existieren. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und marschierte einen Augenblick lang aufgewühlt in der Suite umher. Dreissen konnte deutlich erkennen, wie sehr Guzmán sein Land liebte. Der Außenminister verstand sein Amt gut genug, um das unausweichliche Scheitern vorherzusehen. Ihm gefiel, dass Guzmán so leidenschaftlich reagierte. Solche Männer waren ein leichteres Ziel. Er ließ den Minister zwei Runden über den Teppich des Salons stampfen, bevor er ihm eine unerwartete Rettungsleine zuwarf.
Er zündete sich eine dünne Zigarre an. »Vielleicht kann man ja etwas tun, um die Fertigstellung des Kanals zu verzögern und euch die Zeit zu geben, die ihr braucht, um genügend Kapital für den Aufbau einer Industrieproduktion zu sammeln«, sagte er gedehnt.
Guzmáns Augen funkelten, dann kehrte er zum Tisch zurück. »Was sagen Sie da? Bitte, verspotten Sie mich nicht, alter Freund.«
»Zu diesem Zeitpunkt möchte ich nur anmerken, dass bestimmte technologische Fortschritte erzielt worden sind, die es einer interessierten Partei ermöglichen könnten, die amerikanischen Bauarbeiten drastisch zu verzögern. Und zwar eher um Jahre als um Monate.«
»Das könnten Sie wirklich tun?«
»Ich nicht, aber ein Team von speziell ausgebildeten und entschlossenen Männern. Sie könnten die Eröffnung des Kanals lange genug hinauszögern, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, die argentinische Wirtschaft zu stärken und Ihrem Volk eine weit bessere Zukunft zu sichern, als es sonst der Fall wäre.«
»Wie schnell kann das bewerkstelligt werden?« Guzmán wusste, dass die Zeit drängte. Je schneller so etwas passierte, umso besser. Der Bau des Kanals war für mehrere mögliche Investoren, die er derzeit umwarb, ein großes Problem.
»Es würde einige Monate dauern, um die Grundlagen für die Operation zu schaffen«, räumte Dreissen ein. »Die Sicherheitsvorkehrungen sind zwar nicht besonders streng, aber der Zugang ist schwierig. Die Kanalbehörde ist beinahe eine Nation für sich.«
Guzmán nahm sich einen Moment Zeit, um sein Glas zu füllen und sich zu beruhigen.
Die Erkenntnis, dass noch nicht alles verloren war, ließ seiner Fantasie und seinen Ambitionen freien Lauf. Aber er riss sich zusammen, denn ihm war klar, dass Dreissen ihm mit einem Läufer oder einem Turm eine Falle gestellt hatte, während seine Dame irgendwo auf dem Brett lauerte, jederzeit bereit zuzuschlagen.
»Ich verstehe, warum Sie das vorerst inoffiziell handhaben wollen. Mir ist auch klar, warum Sie sich an mich wenden und nicht an die Brasilianer. Sie können Ihnen keine allzu großen Gegenleistungen bieten. Aber ich muss Sie noch fragen, was Sie dafür im Gegenzug von mir erwarten.«
»Die Züge für die Lacroze-Linie. Ich möchte, dass die Gussstahlwerke in Essen die Wagen und Lokomotiven bauen und Exklusivverträge für sämtliche weitere Strecken, die unter den Straßen von Buenos Aires gebaut werden, erhalten werden.«
»Abgemacht«, willigte Guzmán sofort ein und machte Anstalten aufzustehen. Ihn erstaunte, dass Dreissens Preis so niedrig war.
»Der Rest …« Dreissen ließ Guzmán mitten im Aufstehen erstarren. Dem Argentinier gefror das Lächeln auf den Lippen. »… wird von den Mitgliedern des Diplomatischen Korps unserer jeweiligen Nationen vereinbart.«
»Ihre Regierung steckt dahinter?«
»Wir haben ihre Aufmerksamkeit darauf gelenkt. Unternehmen wie unsere Gussstahlwerke und Krupp sind so groß, dass wir den Kaiser und seine Minister über einige unserer Aktivitäten auf dem Laufenden halten müssen. So können sie die Wirtschaft mit größtmöglicher Effizienz steuern. Es ist eine Partnerschaft von Industrie und Staat. Ich glaube, der Begriff dafür lautet Synergie. Das Beste für das Werk Essen muss auch das Beste für das Vaterland sein und umgekehrt.«
»Ich verstehe.« Guzmáns Freude war erloschen. Der U-Bahn-Vertrag deckte mehr oder weniger Dreissens Kosten für die Operation. Die deutsche Regierung dagegen würde weitaus mehr verlangen, wenn sie Argentinien eine Zukunft jenseits der eines hinterwäldlerischen Agrarstaates ermöglichen sollte. »Haben Sie eine Vorstellung, was der Kaiser für seine Hilfe erwartet?«
»Es ist gar nicht so schlimm, wie Sie befürchten, Matías. Ich werde Ihnen jetzt etwas Strengvertrauliches erzählen, und das wird Ihnen am Verhandlungstisch gewiss helfen. Als ich der Regierung zum ersten Mal diesen Plan unterbreitete, gefiel dem Kaiser selbst die Idee, den Fortschritt der Amerikaner zu verlangsamen. Seit sie Spanien besiegt und Kuba und die Philippinen erobert haben, behagt ihm ihr schneller Aufstieg auf der Weltbühne nicht. Er würde ihren Aufstieg gern etwas bremsen. Er hat schon einmal versucht, sich in ihre inneren Angelegenheiten einzumischen und ist damit gescheitert; nun hat er vor, einen neuen Anlauf zu nehmen. Meine Regierung wird zweifellos viel von der Ihren verlangen, aber sie ist auch fest entschlossen, es zu verwirklichen. Also werden die Verhandlungen erfolgreich verlaufen.«
Guzmán begriff, welches Geschenk er da gerade erhalten hatte. »Danke, dass Sie mir das mitteilen.«
»Ich kann Ihnen außerdem noch verraten, dass sie so viel von diesem Plan halten, dass sie einen Vertreter nach Panama entsenden werden, um unsere Fortschritte zu überwachen.«
»Darüber scheinen Sie nicht sonderlich erfreut zu sein.«
»Das ist der Preis für eine Zusammenarbeit mit der Regierung, vermute ich. Sie verstehen die Beweggründe eines Kapitalisten nicht. Ich verkaufe Maschinen – Züge, Automobile und Flugzeuge. Und je mehr Kunden ich halten kann, desto besser florieren meine Fabriken. Synergie eben.« Er zog an seiner dünnen Zigarre und blies eine Wolke aromatischen Rauchs in Richtung Decke. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf … In der Zeit, die Ihnen diese Operation verschafft, empfehle ich Ihnen, sich mit den Venezolanern zusammenzutun und Verträge für Öllieferungen abzuschließen. Wenn Sie bis zur endgültigen Öffnung des Kanals über die für eine industrielle Wirtschaft erforderlichen Brennstoffe verfügen, spielt der Kanal keine große Rolle mehr. Denn dann wird Argentinien längst Zielhafen für den Handel mit jeder zivilisierten Nation der Erde sein.«
Als sich die Coronado-Fähre der Mitte der San Diego Bay näherte, drehte sich Isaac Bell um und blickte auf die Stadt zurück. Sie war dabei zu wachsen. Die Skyline wirkte noch bescheiden, es gab nur wenige Gebäude mit mehreren Stockwerken, aber er wusste, dass die Zukunft der Stadt – ja, die der gesamten Westküste – vor einem gewaltigen Umbruch stand. Los Angeles, diese Stadt, San Diego und sogar sein geliebtes San Francisco, das sich noch immer von dem Erdbeben und der anschließenden Feuersbrunst acht Jahre zuvor erholte, würden in den kommenden Jahren ein beispielloses Wachstum erleben.
Es war nicht so schwer zu glauben, dass sich das Wesen des ganzen Landes aufgrund der Ereignisse in Mittelamerika verändern würde, sagte er sich.
Er warf einen Blick in die andere Richtung und auf die beiden Kriegsschiffe, die in der Nähe eines Trockendocks ankerten. Die Navy erwog bereits die Einrichtung eines neuen Stützpunkts an der kalifornischen Küste, und diese beiden Schlachtschiffe erkundeten zusammen mit anderen alle größeren Häfen. Der große gepanzerte Kreuzer USS Maryland war über fünfhundert Fuß lang und hatte den unverwechselbaren hellen Rumpf und die kakifarbenen Aufbauten der Great White Fleet von Theodore Roosevelt. Ihre vier Schornsteine ragten so gerade wie Ofenrohre empor, während ihr Rumpf und ihre Türme mit Kanonen bestückt waren. Sie wurde von einem kleineren Zerstörer eskortiert, der USS Whipple. Um beide Schiffe herum ruderten Männer in schlanken Langbooten, um Torpedoschutznetze auszubringen, die an Hunderten von Korkschwimmern hingen und bis unter den Kiel jedes Kampfschiffes hinabreichten.
Allerdings stand nicht zu befürchten, dass in diesen Gewässern ein feindliches U-Boot lauern könnte. Vielmehr ging es um eine gründliche Überprüfung, dass keine Hindernisse auf dem Meeresgrund Löcher in den Rumpf der Schiffe reißen könnten.
Kurze Zeit später erreichte der Schaufelraddampfer die Kais von Coronado. Die Holzpfähle rochen nach frisch aufgetragenem Teer. Die Passagiere gingen von Bord, bevor ein mit Silage beladener Pferdewagen von der Fähre geführt wurde. Ein vom Hotel zur Verfügung gestelltes Kutschgespann wartete darauf, die Passagiere, die auch Gäste des Hotels waren, an ihr Ziel zu bringen. Die anderen Passagiere unternahmen einen Tagesausflug nach Tent City, einem familienfreundlichen Vergnügungs- und Restaurantviertel, das in den letzten Jahren auf der Nehrung entstanden war. Sie zahlten entweder einen Penny für die Draisine oder gingen zu Fuß.
Vom Fähranleger an der 1st Street ging es geradewegs die Orange Avenue hinunter. Dort lag Bells Ziel. Das Hotel del Coronado, von den Einheimischen liebevoll »The Del« genannt, erinnerte mit seinen weiß lackierten Wänden und dem roten Zuckergussdach an die Traumhochzeitstorte einer jeden Braut. Das Hotel hatte die alterslose Qualität eines europäischen Schlosses, war aber durch seine skurrilen Türmchen und zahllosen Giebel und Gauben viel heller und stand zufrieden auf Sand, statt in einem nebelverhangenen Moor zu brüten.
Bell konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er das Resort im Queen-Anne-Stil zum ersten Mal sah. Er bedauerte, diesen Moment nicht mit seiner Frau Marion teilen zu können. Sie liebte solche Skurrilitäten.
Auf der rechten Seite, entlang des Silver Strand, der Landzunge, die Coronado mit dem Festland verbindet, sah Bell Tent City. Neben unzähligen, oft bunt gestreiften Zelten verfügte das Vergnügungsviertel auch über feste Holzständerhäuser – also Badehäuser, Restaurants und Pensionen. In der Mitte der Hauptstraße fuhr eine elektrische Schmalspurbahn, deren Glocke fröhlich bimmelte, um die Fußgänger aus dem Weg zu scheuchen.
Bell bemerkte auch ein Bootshaus, das auf Pfählen über der Glorietta-Bucht zu schweben schien. Es sah wie eine Miniaturausgabe des Hotels selbst aus. Der Kutscher bemerkte sein Interesse an dem weiß-roten Gebäude. »Der Architekt hat die Zimmerleute den Queen-Anne-Stil erst beim Bau des Bootshauses üben lassen, bevor er sie dann auf das Haupthaus losließ.«
»Das hat offenbar funktioniert«, erwiderte Bell. Er blickte auf die ausgedehnte Anlage zurück. »Was für eine erstaunliche Leistung.«
Ein Heer von uniformierten Pagen erschien, als die Kutsche den Eingang erreichte, und schon bald wurden Bell und ein Paar, das zur gleichen Zeit wie er eincheckte, in das Hotel geführt. Die Lobby war dunkel getäfelt und wirkte trotz ihrer Größe und der hohen Kassettendecke intim. Die Anmeldung befand sich auf der linken Seite, während auf der rechten eine große Treppe um einen Käfigaufzug herum nach oben führte. Die Gäste unterhielten sich angeregt oder trafen mit dem Concierge Arrangements für ihre Vorhaben am nächsten Tag.
Obwohl die Zimmer mit Blick auf den zentralen Innenhof mit seiner dschungelartigen Landschaft als die besten Unterkünfte galten, bat Bell um ein Zimmer mit Veranda, von der aus er das sich ständig verändernde Meer beobachten konnte. Nicht, dass er heute viel Zeit dafür hatte. Morgen war es jedoch etwas ganz anderes. Marion würde zwei glückliche Wochen im The Del mit ihm verbringen, ein längst überfälliger Urlaub.
Ein Page führte Isaac auf sein Zimmer. Er pries die Annehmlichkeiten des Hotels einschließlich des Salzwasser-Schwimmbads und erwähnte, dass die vielen Badezimmer des Hotels heißes und kaltes Salz- und Süßwasser hatten und dass The Del bei seiner Eröffnung eines der größten elektrifizierten Gebäude des Landes gewesen war. Etwas prahlerisch setzte er noch hinzu, dass hier auch der erste mit elektrischen Lichtern geschmückte Weihnachtsbaum gestanden hatte.
Nachdem Bell dem Mann ein Trinkgeld gegeben und ihn hinausgeschickt hatte, zog er ein frisches Hemd aus seiner ledernen Reisetasche, nahm ein Handtuch vom Wäschestapel und griff nach seiner Kulturtasche. Er ging durch den Flur zu einem der Bäder. Ein dunkelhaariger schlanker Mann kam ihm entgegen, und Bell musste feststellen, dass dieser den gemeinsamen Waschraum ziemlich unordentlich hinterlassen hatte. Er blickte zurück und sah, wie der Mann ein Zimmer betrat. Er überlegte, ob er ihn wegen des Verstoßes gegen die Etikette zur Rede stellen sollte, entschied aber, dass es die Mühe nicht wert wäre.
Am Waschbecken zog sich Bell bis auf die Hose aus, wusch sich am Waschbecken mit warmem Süßwasser und wechselte dann zum Einschäumen und Rasieren seines Gesichts zu heißem Salzwasser. Das Wasser spannte seine Haut. Er betrachtete sein Spiegelbild einen Moment lang. Er war noch keine fünfunddreißig, aber sein Gesicht sah um Jahre jünger aus, mit feinen Zügen, großen blauen Augen und einer Welle blonden Haares, das er jetzt zurückgekämmt trug. Er massierte einen Klecks Haarcreme in sein Haar ein und glättete es. Dann nahm er sich einen Augenblick Zeit und stutzte seinen Schnurrbart mit einer Schere aus dem Kulturbeutel. Er warf einen Blick auf seine Santos-Armbanduhr von Cartier, ein Geschenk von Marion. Sie hatte sie ihm in England nach ihrer beinahe verhängnisvollen Reise an Bord der Titanic geschenkt. Schnell zog er sich ein frisches Hemd an.
Eine große Gestalt in einem hellbraunen Anzug wartete vor seinem Zimmer, als er wieder in den Flur trat. Als der Mann Bell sah, setzte er seinen steifen Strohhut ab und behielt ihn in der Hand. Er hatte ein hageres, waches Gesicht und die misstrauischen Augen aller Van-Dorn-Detektive.
»Tut mir leid, Mr. Bell, als der Page mir sagte, dass Sie hier sind, war ich gerade im Bootshaus.«
»Keine Sorge, Renny. Kommen Sie rein.« Bell schloss seine Tür auf und hielt sie für den jüngeren Mann offen. »Wie sieht’s aus?«
Bell band ohne Hilfe des Spiegels seine Krawatte, während der Mitarbeiter aus dem Büro der Agentur in Los Angeles, Renny Hart, seinen Bericht ablieferte.
»Das Hotel war kooperativ und hat mir erlaubt, mit allen Gästen zu sprechen, deren Reservierungen nach dem Treffen zwischen Senator Densmore und Courtney Talbot getätigt worden sind. Alle sind sauber.« Bell wollte eine Frage stellen, aber der jüngere Mann hob schnell einen Finger. »Um auf Nummer sicher zu gehen, habe ich auch die Gäste überprüft, die ihre Reservierung bereits eine Woche vor Densmores Gipfel vorgenommen haben.«
Bell nickte. Er erwartete nichts anderes von einem Mann, der für Joseph Van Dorn arbeitete, den legendären Gründer der gleichnamigen Agentur.
Er legte die lederne Schultertasche mit einem Holster für seine Colt 1911 Kaliber .45 Pistole und einer separaten Tasche für zwei Ersatzmagazine an. Eine Schnappschlaufe, mit der er das Holster unten am Gürtel befestigte, sorgte dafür, dass es sich unauffällig an seinen Körper anschmiegte, gleichgültig, wie er sich bewegte. Die cremefarbene Leinenjacke, die er anzog, war so weit geschnitten, dass die Waffe nicht zu sehen war. Ohne das Schulterholster schien der Anzug schlecht zu sitzen, aber wenn er es trug, würde nur der aufmerksamste Beobachter erkennen, dass Bell bewaffnet war.
»Wo ist der Senator jetzt?«, wollte er wissen.
»Er ist zum Angeln gegangen, auf einem Charterboot des Jachthafens. Deshalb war ich am Bootshaus. Ich habe auf seine Rückkehr gewartet.«
»Und der Major?«
»Talbot hat etwa eine Stunde vor Ihnen eingecheckt. Er ist auf seinem Zimmer.«
»Okay. Dieses Treffen sollte ein Routine-Briefing sein. Talbot weiß nicht, dass ich hier bin, aber das dürfte keine Rolle spielen. Ich möchte, dass Sie die ganze Sache als eine Trainingsübung betrachten. Van Dorns Detektive werden oft als Leibwächter und Sicherheitsleute engagiert. Ihr Vorgesetzter sagte, Sie hätten in beidem nicht viel Erfahrung, also bleiben Sie wachsam, aber diskret.«
»Sie können sich auf mich verlassen, Mr. Bell.«