Für Gesina,
meine Schwester für alle Jahreszeiten
Noch fünf Minuten. Yella sprintete von der Straßenbahnhaltestelle über den Europaplatz Richtung Hauptbahnhof. Panisch glitten ihre Augen über den Zuganzeiger, bis sie an Amsterdam Centraal kleben blieben. Gleis 14, oberste Ebene, auch das noch. Sie hatte zu Hause wertvolle Zeit damit vertan, in letzter Minute für ihre Familie den Frühstückstisch besonders schön zu decken. Mit Obstteller, frisch gepresstem Orangensaft, selbst gemachtem Granola, perfekt gekochten Eiern und drei Schokoladenherzen, um David und ihren beiden Jungs ihre ungewohnte Abwesenheit zu versüßen.
Noch vier Minuten. Wieso gehörte sie nicht zu der Sorte Frauen, die dank frühmorgendlicher Joggingrunden im Park mühelos einen Stadtmarathon absolvierten, oder wenigstens zu denjenigen, denen Zuspätkommen dank Yoga, Meditation und Tiefenentspannung egal war? Sie musste diesen Zug erreichen. Mit halbherzigen Entschuldigungen quetschte Yella sich durch eine Gruppe Geschäftsreisender, die ihre ultrawichtige Verhandlung über die Verteilung der Frühjahrsboni bereits auf der Rolltreppe aufgenommen hatte und nicht im Traum daran dachte, sie vorzulassen. Morgens um halb sieben hatten es alle eilig.
Noch drei Minuten. Vorfreude ist das Schönste am Reisen, sagte man. Die Plötzlichkeit der Einladung hatte Yella nicht allzu viel Zeit gelassen, sich vorzubereiten oder gar zu freuen. In letzter Minute hatte sie relativ wahllos Klamotten eingepackt, die das Spektrum der Wettereventualitäten zwischen tropischer Hitze und klirrender Eiszeit abdeckten. Der Rest des überdimensionierten Koffers war bis zum Rand gefüllt mit Mitbringseln für ihre Familie, die sie im Handumdrehen aus ihrer gut bestückten Geschenkeschublade hervorgezaubert hatte. Die Dusche allerdings hätte sie sich sparen können oder wenigstens die dicke Daunenjacke. Der Schweiß rann ihren Rücken hinunter, während sie mit letzter Kraft das schwere Gepäckstück die Zugtreppe hochwuchtete. Das T-Shirt klebte an ihrem Körper, ihre Lungen brannten, und die Wangen glänzten vermutlich in Tomatenrot. Aber wen interessierte schon ihre Gesichtsfarbe? Das Ergebnis allein zählte. ICE 240 rollte bereits Richtung Holland, als Yella sich überglücklich auf ihren Platz fallen ließ. Ihr blieben sechseinhalb Stunden, um wieder zu Atem zu kommen.
Yella hatte sich kaum aus ihrer Jacke geschält, den Koffer verstaut und den Ratgeber zum Thema Selbstoptimierung aufgeschlagen, der seit Ewigkeiten auf ihrem Nachttisch verstaubte, als ein Kind markerschütternd durchs Abteil rief: »Mama, aufstehen. Mama. Ich bin wach. Mama, darf ich aufstehen? Mama, was gibt es zum Frühstück? Mama. Mama aufstehen.« Die Stimme ihres Sohns schallte in peinlicher Lautstärke durch den Großraumwagen. Vorwurfsvolle Blicke prasselten auf sie nieder, während ihre Finger zwischen Mascara, Playmobilfiguren, einer halben Tüte Haribo-Schlümpfe, Feuchttüchern, Hausschlüssel, Notizblock und Ladekabel nach ihrem Handy fischten.
»Mama aufstehen. Mama. Ich bin wach«, begann der Text von vorne, diesmal noch etwas lauter.
In der morgendlichen Hektik hatte Yella vergessen, ihren Handywecker zu deaktivieren, dessen Sound Leo mithilfe seines Vaters für sie gestaltet hatte. Vor drei Jahren hatten sie Leos heisere Stimme und sein Gelispel, mit dem er die Worte kichernd für sie eingesprochen hatte, unter dem Weihnachtsbaum zu Tränen gerührt. Inzwischen hatte sie den Text so oft in Endlosschleife gehört, dass sie Davids Idee verfluchte. Dennoch brachte sie es nicht übers Herz, die Ansage zu löschen. Schließlich stieß ihr Erstklässler schon lange nicht mehr mit der Zunge an, und selbst sein kleiner Bruder Nick konnte schwierige Wörter unfallfrei aussprechen.
»Mama, darf ich aufstehen? Mama, ich bin wach. Mama, was gibt es zum Frühstück?«
Eine wohlfrisierte Businessfrau mit Angela-Merkel-Mundwinkeln feuerte vernichtende Blicke auf sie ab und stach ihren Zeigefinger wie einen Degen in Richtung des Logos Ruhebereich, das die Zone für Leute markierte, die Entspannung suchten. Für Yella im Moment ein unerreichbarer Zustand. Wie oft hatte sie sich, wenn sie vor ihren Söhnen beim abendlichen Vorlesen einnickte, ein paar Tage alleine gewünscht, ohne Pflichten, Termine, Wäscheberge und Wecker? Endlich war es so weit, und die Zeichen standen auf Sturm. Selbst mit stumm geschaltetem Handy gelang Yella das Kunststück, sich gleichzeitig an zwei Orten aufzuhalten. Ihre eine Hälfte versuchte den Kopf in die zusammengerollte Daunenjacke zu kuscheln und den verpassten Schlaf der letzten Wochen nachzuholen, die andere raste unentwegt durch ihre Wohnung in Berlin und organisierte den Tag. Pausenbrote, Turnbeutel, der Zettel für den Schulfotografen, die Zustimmung für den Kindergartenausflug: Im Geiste hakte sie die Punkte ihrer imaginären To-do-Liste ab, bevor es ihr siedend heiß einfiel: Nicks Schlammhose hängt noch auf der Wäscheleine, schrieb sie auf WhatsApp. Sie bekam weder ein blaues Häkchen noch eine Antwort. Entweder war David im Stress oder immer noch sauer.
Als der Zug Stendal erreichte, hatte sie sich in der Vorstellung verloren, wie er versuchte, die Jungs pünktlich in Schule und Kindergarten abzuliefern. Keine Nachrichten waren gute Nachrichten, sagte sie sich vor und unterdrückte das quälende Bedürfnis, alle fünf Minuten nachzufragen, ob zu Hause alles in Ordnung war. Das tat sie sonst auch nicht, wenn David dienstags und donnerstags an der Reihe war, die Kinder wegzubringen, und Yella die Frühaufsteherschicht übernahm. Als Officemitarbeiterin eines rund um die Uhr operierenden Start-ups war sie damit betraut, Termine für andere zu organisieren. Sie selber war ungeübt in Reisen. Yella staunte, wie seltsam es sich anfühlte, ohne ihre kleine Familie unterwegs zu sein. Im Geiste hörte sie die Schulglocke klingeln und die Tür zur Kita geräuschvoll zufallen. Sie sah David vor sich, der in die leere Wohnung zurückkehrte, den Frühstückstisch ab- und die Spülmaschine einräumte, Müll und Altpapier entsorgte, den tropfenden Wasserhahn im Badezimmer reparierte, seufzend die Matschhose entdeckte und noch eine Tasse Kaffee trank, bis er keinen weiteren Grund fand, seiner Arbeit noch länger auszuweichen. In Yellas Kopf klangen seine schweren Schritte auf dem endlosen Gang und das charakteristische Knarzen seiner Bürotür, die sich ächzend hinter ihm schloss. Seit die Kinder aus dem Babyalter waren, hatte der Schriftsteller das Eckzimmer mit dem Bogenfenster für sich und seine Arbeit reklamiert. Das Muster der Tapete verschwand unter einer Fülle handschriftlicher Notizen, unter Fotos, Zeitungsausschnitten, Kunstpostkarten, fiktiven Grundrissen, Rechercheergebnisse und dem selbst gefertigten Steckplan, auf dem David die farbigen Karteikarten mit Kurzangaben zu den hundertsiebzehn Kapiteln seines zweiten Romans jeden Tag aufs Neue umsortierte. Yella mied das Zimmer, das von Davids Seufzern durchtränkt war. Die unterdrückten Nachfragen, ob er vorankam, hatten sich im Lauf der Jahre, in denen der einst so gefeierte Autor auf seinem Material herumkaute, in ihrem Magen zu einer Art Klumpen geformt. Yella schob den nagenden Zweifel vorerst beiseite und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass das ungute Ziehen in der Bauchgegend Hunger sein musste. Als sie das Käsebrot aus der Tasche hervorkramte, fiel ihr der mysteriöse Umschlag entgegen.
Draußen jagten Wolfsburg und das endlose VW-Werk vorbei, in ihr tobten widerstreitende Gefühle, als sie den rätselhaften Brief vom Boden des Abteils aufnahm. Obwohl sie die Nachricht erst vor vierzehn Tagen erhalten hatte, zeigte das Kuvert deutliche Gebrauchsspuren. Yella hatte das Schreiben in den Händen gedreht und gewendet, hatte es in die Ecke gepfeffert, neu hervorgeholt und jedes einzelne Wort so angestrengt angestarrt, bis die Buchstaben vor ihren Augen tanzten. Sie hatte tief aufgestöhnt, als die den Umschlag aufriss, sie stöhnte auch zwei Wochen später noch.
H.T. prangte in großen, selbstbewussten Lettern als Absender auf der Rückseite. Ihr Blut geriet angesichts der kunstvoll kalligrafierten Tintenschrift in Wallung. Die raumgreifenden Buchstaben, abgesetzt durch dicke Punkte, thronten wie zwei Ausrufezeichen auf dem Papier und verrieten das Temperament ihrer Mutter. Das hellgraue Seidenpapier knisterte leise, als Yella den Umschlag, dessen Inhalt sie längst auswendig kannte, öffnete. Ihr Lieben, lautete die seltsam unspezifische Anrede, die Henriette Thalberg mit energischer Hand auf die altmodische Briefkarte gesetzt hatte. Ich möchte gerne etwas in Ruhe mit euch allen besprechen. 4. bis 8. Mai. Ihr müsst euch um nichts kümmern, Unterkunft ist geregelt.
Beigefügt lag ein kopierter Straßenplan, der mit einem roten X markiert war.
»Ist das eine Schatzkarte?«, hatte Leo aufgeregt gefragt und mit Marmeladenfingern nach dem Papier gegriffen.
»Oma lädt uns ein«, hatte sie verwirrt erklärt.
»Oma Lila?«, hatte Nick begeistert gerufen und seinem Bruder die Karte aus der Hand gerissen. »Hat sie einen Schatz für uns versteckt?«
Ihre Söhne liebten Davids Mutter, die ihren Spitznamen der leuchtend fliederfarbenen Haarfarbe verdankte, die sie alle zweiundzwanzig Tage in einem noblen Salon erneuern ließ. Die Jungs besuchten die Großeltern regelmäßig in ihrem Potsdamer Schrebergarten, wo Oma mit den beiden über offenem Feuer Hexensuppe aus selbst angebautem Gemüse kochte, während Opa Peter seine Enkel liebevoll in die Geheimnisse von Bienenzucht und Komposthaufen einweihte.
»Die andere«, hatte Yella gesagt. »Die Oma aus Köln.«
Ihre Söhne verloren augenblicklich das Interesse an der Einladung. Yella konnte es ihnen nicht verübeln. Ihre Mutter, gewöhnt an vier Töchter, hatte weder Geduld noch Verständnis für die lebhaften Jungen.
»Sie sind so beweglich«, klagte sie gerne. So abfällig, wie sie das Wort hinwarf, klang es, als wäre Temperament ein Schwerverbrechen.
Yellas Katastrophen-Radar hatte beim Lesen sofort Alarm geschlagen. Ein kurzfristiges Familientreffen? In nur zwei Wochen? Was für eine merkwürdig kryptische Einladung! Was um alles in der Welt wollte ihre Mutter besprechen? Das Rätselhafteste war jedoch das Ziel, das Henriette Thalberg für ihre Enthüllung auserkoren hatte. Der Ton war zwingend, der Anlass mysteriös, die Lokalität nachgerade alarmierend. Warum musste das Treffen ausgerechnet an dem Flecken Erde stattfinden, den die gesamte Familie Thalberg kollektiv seit zwanzig Jahren mied? Sie war fast zusammengebrochen, als sie erkannte, dass die Landkarte ein Stück niederländischer Nordseeküste zeigte. Warum Holland? Warum ausgerechnet Bergen? Warum das Dorf, wo ihr Vater vor über zwanzig Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war? Yella konnte immer noch nicht fassen, welch aufgeladenen Ort ihre Mutter für das Familientreffen gewählt hatte. Hatte Henriette Thalberg diese symbolträchtige Stelle ausgesucht, um gute oder schlechte Nachrichten zu überbringen?
»Was will sie von euch?«, hatte David gefragt, nachdem er den Brief ausführlich studiert hatte. Ihre Mutter hatte sich wenig Mühe gegeben, ihren Schwiegersohn in der Familie Thalberg willkommen zu heißen. Jetzt ging er selbstverständlich davon aus, dass mit Ihr Lieben vor allem die vier Schwestern gemeint waren. Auch jetzt konnte Yella mit keiner überzeugenden Antwort auf die Frage, was hinter der Einladung steckte, aufwarten. Ein Anfall von Nostalgie? Heimweh nach gestern und der intakten Familie, die sie einmal gewesen waren? Sehnsucht nach ihren Töchtern? Wollte sie den fünfundsechzigsten Geburtstag nachfeiern, der vor zwei Jahren wegen Covid ausgefallen war? Oder das Ende ihres Arbeitslebens? Aber das lag auch schon wieder Jahre zurück. Gab es irgendein Jubiläum bei einem der zahlreichen Ehrenämter, die sie innehatte? War sie in den Kirchenvorstand gewählt oder für ihre Arbeit bei der Kölner Tafel mit einem Orden bedacht worden? Was um alles in der Welt wollte ihre Mutter ihnen auf diese umständliche Weise mitteilen? Und warum mussten sie dafür Hals über Kopf an die holländische Nordseeküste reisen? Gab es ein altes Familiengeheimnis, das man nur dort lüften konnte?
Yella wusste nicht, was sie fühlen sollte. Ihre größte Angst war, dass die Einladung etwas mit dem Unfall ihres Vaters zu tun haben könnte. Aber was gab es nach zwanzig Jahren Neues über ein Verkehrsunglück zu erfahren, bei dem ein Sturm Ursache und einziger Zeuge gewesen war? Es hatte sie und ihre Familie unendlich viel Zeit und Kraft gekostet, das Leben nach seinem Tod neu zu sortieren, und Yella legte nicht den geringsten Wert darauf, in die Erinnerungen an den fatalen Tag einzusteigen, der ihre Biografie in zwei Teile trennte. Ihr Familienalltag war auch ohne zusätzliche Baustellen aus der Vergangenheit fordernd genug.
Henriette Thalbergs Brief war wie eine Bombe in das Leben der Schwestern eingeschlagen. Ihre eilige Nachfrage hatte Yellas Mutter mit einer kühlen SMS abgeschmettert: Ich will nicht alles viermal erklären, hatte sie geschrieben.
Während sie hungrig ihr Käsebrot verschlang, scrollte Yella noch einmal durch die Diskussion, die nach dem Eintreffen der Einladung in der WhatsApp-Gruppe der Schwestern entbrannt war. Sie studierte jeden einzelnen Kommentar und suchte nach Informationen, die ihr bislang entgangen waren. Yella wünschte sich die Abgeklärtheit ihrer kleinen Schwester Helen, die, ganz kühle Naturwissenschaftlerin, auf die Faktenlage verwies: Ich weigere mich, mir präventiv Sorgen zu machen, schrieb sie. Dazu ist immer noch Zeit, wenn wir wissen, worum es geht.
Ich habe es nicht ausgehalten, mischte sich Amelie ein, Helens Zwillingsschwester. Ich habe Mama so lange gestalkt, bis sie ans Telefon gegangen ist. Sie wollte mir nichts verraten. Sie will nur mit allen gemeinsam sprechen.
Warum sagt sie nicht einfach, was los ist, empörte sich Helen. Wir sind doch nicht im Kino, wo man künstlich Spannung erzeugen muss.
Ihre Reaktion offenbarte, dass sie die Angelegenheit nicht ganz so entspannt sah wie behauptet. Helen pflegte nur losen Kontakt mit ihren Schwestern. »Ich bin eben kein Telefonierer«, sagte sie immer. In Wahrheit ließ die ehrgeizige Wissenschaftlerin andere nur ungern an ihrem Leben und ihren Problemen teilhaben. Sie legte wenig Wert auf Familie. Weder darauf, mit ihrem langjährigen Freund Paul eine eigene zu gründen, noch, die bestehende zu pflegen. Yella hatte oft Probleme mit Helens Strenge und mangelnder Flexibilität. Jetzt war sie ausnahmsweise mit ihrer jüngeren Schwester einer Meinung.
Das muss nichts Schlechtes bedeuten, reagierte Amelie, ohne auf Helens wütende Bemerkung einzugehen. Vielleicht will Mama uns wieder zusammenbringen. Es ist ewig her, dass wir etwas gemeinsam unternommen haben. Und das in Holland, schöner geht es nicht.
Die ungebundene Amelie hatte leicht reden. In der Übergangsphase zwischen verschiedenen Jobs und ständig auf der Flucht vor chronisch unsteten Beziehungen und Wohnsitzen hielten sie keinerlei Verpflichtungen von einer spontanen Reise in die Vergangenheit ab.
Die Einzige, die sich nicht an den Spekulationen beteiligte, war ihre große Schwester Doro. Die viel beschäftigte Kostümbildnerin navigierte im Eiltempo durch ein beneidenswert glamouröses Leben. Mit ihren preisgekrönten und extravaganten Bühnenoutfits hatte Doro Thalberg es zu internationaler Berühmtheit gebracht. Yella hütete die Ausgabe der Vogue, die den Entwürfen ihrer großen Schwester beeindruckende acht Hochglanzseiten gewidmet hatte, wie einen Schatz. Doro jettete unablässig zwischen ihrem Kölner Atelier, diversen Bühnen und Filmsets hin und her und managte ganz nebenbei auch noch ihre halbwüchsige Tochter. Sie konnte von Glück sagen, im zweiten Eheanlauf das bayerische Urgestein Ludwig gefunden zu haben, dessen Hobby es war, Lucy zu betreuen und seiner erfolgreichen Frau beruflich und familiär den Rücken freizuhalten. Niemand kam an dem fast zwei Meter großen, schweren Mann vorbei, an dem ein Rausschmeißer verloren gegangen war. Doro hatte anscheinend Besseres zu tun, als sich an der tobenden Diskussion um die Mutter zu beteiligen. Vermutlich war sie im Stress, in einer Besprechung, bei der Anprobe oder alles zusammen.
»4. bis 8. Mai, fünf Tage!«, hatte David gestöhnt. Er hatte die Einladung kritisch beäugt, während ihr Erstklässler stolz an den Familienkalender getreten war, um den Ausflug ans Meer einzutragen. Seit er zur Schule ging, versuchte Yella ihn darin zu unterstützen, seine Termine selbst zu organisieren.
»4. Mai«, hatte Yella vorgelesen.
Leo hatte die richtige Zahl gefunden und war postwendend in Tränen ausgebrochen, als ihm bewusst wurde, dass der Urlaub mit Penelopes Geburtstag kollidierte. Seit zwei Wochen hatte Leo über nichts anderes mehr gesprochen als über das Ritterfest seiner Schulfreundin und das Elsa-Kostüm, das er zu diesem Anlass tragen wollte.
Der Blick auf den übervollen Familienkalender am Kühlschrank hatte genügt, Yella endgültig in Panik zu versetzen. Erschreckend, wie viele soziale Verpflichtungen eine Familie mit einem Vier- und einem Sechsjährigen haben konnte. Nick feierte Ländertag im Kindergarten, wo er in der Gruppe »Italien« beim Pizzabacken eingeteilt war, bei Leo standen ein Zahnarztbesuch, die Chorprobe, Schwimmunterricht und Penelopes Rittergeburtstag an. Zu allem Überfluss hatte David an dem betreffenden Freitag den lang ersehnten Termin beim Chiropraktiker (»das verdammte Sitzen«) und am Wochenende ein zweitägiges Seminar mit seinen Schreibschülern. Wo sollten sie da ein verlängertes Überraschungswochenende an der holländischen Küste reinquetschen?
Nach einem halben Tag Nachdenken war die Sorge bei Yella einer guten Portion Ärger gewichen. Was konnte so wichtig sein, dass es unaufschiebbar war? Warum konnte ihre Mutter nicht langfristiger planen? Warum konnte sie den Termin nicht mit ihnen abstimmen? Wie stellte sie sich das vor?
Ich passe, hatte Yella getippt. Für nur fünf Tage nach Holland mit den Jungs ist ein Albtraum. Und David kommt um vor Arbeit.
Mitten in der Nacht hatte sie sich alle Einwände von der Seele geschrieben und nach zehn Minuten das Trommelfeuer an Argumenten, warum sie auf keinen Fall nach Holland kommen konnte, wieder gelöscht. Nach Amelies Beschwichtigungen in der Familiengruppe tauchte achtmal hintereinander ihr eigener Name und der Hinweis Nachricht gelöscht auf.
Was stand da?, hatte Amelie am nächsten Morgen unumwunden nachgefragt.
Dass ich im Stress bin, hatte Yella ehrlich geantwortet.
Amelie hatte postwendend eine Ladung Emojis mit vielen Herzen abgefeuert. Fühl dich umarmt.
Mir geht es genauso, schrieb Helen. Ich musste alles umorganisieren.
Yella war schon fast so weit, ihrer Mutter endgültig abzusagen, als endlich eine Nachricht von Doro einging. Mit keinem einzigen Wort ging ihre große Schwester auf die Diskussion über die Hintergründe der Einladung ein. Ich freue mich so auf uns, schrieb sie. Ich kann es kaum erwarten. Und darunter stand der entscheidende Hinweis, der für Yella alles veränderte. Beim Einrichten der Chatgruppe hatte Helen den prosaischen und ultrakurzen Namen 4T gewählt, als wären sie eine der chemischen Zusammensetzungen, mit denen sie tagtäglich im Labor eines Pharmagiganten experimentierte. Später ergänzte Amelie die allzu sachliche Benennung mit vier Glückskleeblättern. Jetzt hatte Doro das Profil erneut angepasst. Ihr Herz schlug höher, als Yella las, welchen Namen ihre große Schwester gewählt hatte. Es war, als hätte sie das Zauberwort gefunden, das den Zugang zu einer geheimen Welt öffnete. Doro hat den Gruppennamen zu »Sommerschwestern« geändert. Sommerschwestern! In dem Wort schwangen Tausende Erinnerungen an glücklichere Zeiten mit. Wie lange hatten Doro, Yella, Amelie und Helen sich nicht mehr als eine Einheit und als Sommerschwestern verstanden? Nie waren die vier Mädchen sich so nahe gewesen wie in den endlosen Ferien, die sie traditionell an der holländischen Nordseeküste in Bergen verbrachten. Jeden Sommer verwilderten sie im Dreieck zwischen Campingplatz, Strand und Dorf. Wenn die vier Mädchen nicht am Meer spielten und badeten, stromerten sie zwischen den Zelten herum, traten auf der improvisierten Bühne auf (ihre Gruppe hieß »Doro und der Rest«), verkauften Limonade, selbst gekochte Suppe, Muffins oder bemalte Steine. Wenn die Sonne am Ende eines langen Tages ins Wasser abtauchte, tobten sie durch die verwunschenen Dünenwälder rund um den Campingplatz, bis die Dunkelheit sie verschluckte. Die Erinnerungen an das Kindheitsparadies zauberten ein Lächeln auf Yellas Gesicht. Die Sommerschwestern hatten chronisch Sand zwischen den Zehen, den Wind in den Haaren und aßen den ganzen Sommer das, was sich auf den zwei Flammen des Gaskochers ohne allzu große Mühe zubereiten ließ: wochenlang Strand, Camping und Nudeln mit wahlweise roter, grüner und weißer Soße. Mehr brauchte es nicht zum Kinderglück! Am Ende jedes Sommers weinte Yella bitterlich, wenn sich im Rückfenster des dreireihigen Volkswagenbusses die Schranke zum Campingplatz schloss und kurz darauf Schule und Streitereien begannen. »Wir taugen nicht für den Alltag«, hatte Doro immer gesagt. »Wir sind eben Sommerschwestern.«
Doro war sechzehn, Yella dreizehn, die Zwillinge Helen und Amelie gerade mal neun, als ihr Vater auf der Straße zwischen Bergen Binnen und Bergen aan Zee mit dem Wagen tödlich verunglückte und ihre Kindheit und die Ferien an der holländischen Küste für immer endeten. Das war zwanzig Jahre her. Zwanzig Jahre, in denen ihre Leben auseinandergedriftet waren. Die Sommerschwestern existierten nur noch als losgelöste Satelliten, jede der Schwestern gefangen auf ihrer eigenen Umlaufbahn. Yella war nach ihrem abgebrochenen Architekturstudium in Berlin hängen geblieben, Amelie nach ihrer letzten Beziehungspleite in Wuppertal gestrandet, wo sie eine Freundin beim Aufbau eines Unverpackt-Supermarkts unterstützte. Helen wohnte im Frankfurter Speckgürtel, und Doro gab als Wohnsitz Rimowa an, ihre bevorzugte Koffermarke. Dabei war sie die Einzige, die Köln nie verlassen hatte. Ihre Mutter sah sie aufgrund ihres anspruchsvollen Jobs dennoch wenig.
Die Großfamilie unter einen Hut zu bekommen, war mehr als schwierig. Das lag nicht an Covid oder den Kilometern, die zwischen ihnen lagen. Henriette Thalberg verpasste keine von Doros glamourösen Premieren, glänzte darüber hinaus im Leben ihrer Töchter jedoch vor allem durch Abwesenheit. »Ich will mich nicht aufdrängen«, sagte ihre Mutter oft, nicht ohne eine Prise Vorwurf in der Stimme. In Wahrheit begab sie sich nur ungern auf ein Terrain, wo sie sich an die Gewohnheiten und das Tempo anderer anpassen musste. Kompromisse lagen ihr nicht.
Die Sommerschwestern? Wollte ihre Mutter das einstige Ferienritual aufgreifen? Wollte sie die unbeschwerte und glückliche Familie heraufbeschwören, die sie einmal gewesen waren? Das mit so vielen Emotionen verbundene Zauberwort bewegte Yella schlussendlich zum Einlenken. Vielleicht bot das verlängerte Wochenende die letzte Chance, an die alte Familientradition anzuknüpfen und den Sommerschwestern neues Leben einzuhauchen?
Das Vibrieren ihres Handys riss Yella aus ihren Gedanken. Eine Push-up-Benachrichtigung informierte sie, dass Amelie eine Instagram-Story gepostet hatte.
Das kurze Stück Film zeigte startende Flugzeuge am Flughafen Köln/Bonn. »Flying into the weekend«, lautete die glitzernde Unterschrift.
Dann drehte die Kamera und zeigte Amelie, die mit einem Rucksack auf dem Rücken vor einem Flixbus Richtung Amsterdam herumtanzte. »Not. Kein Geld fürs Flugzeug«, gestand sie mit verblüffender Ehrlichkeit den 14.500 Followern ihres Accounts Sachensuchen mit Amelie. Anders als Yella, die häufig mit Heiserkeit kämpfte, und Doro, die ohnehin alle übertönte, klang Amelies Stimme wie weiches Karamell. Mit ihren langen blonden Locken, dem ultrakurzen schwarz-weiß karierten Kleid und den dicken Doc-Martens-Schuhen mit Blumenmuster sah sie immer noch aus wie eine Abiturientin. Ein ganzer Schwarm männlicher Follower und Bewunderer überhäufte sie in den Kommentaren mit Komplimenten. Viele machten keinen Hehl daraus, dass sie sich nur zu gerne einmal im realen Leben mit Amelie verabreden würden. Der kurze Film stammte bereits vom Vorabend. Es folgten Bilder aus dem nächtlichen Bus, auf denen kaum mehr zu sehen und zu hören war als das penetrante Schnarchen eines Sitznachbarn, dahinter reihten sich Aufnahmen von der endlosen Schlange vor dem Klo am Rastplatz, dem trostlosen Busbahnhof Amsterdam Sloterdijk im Regen und den Ringen unter ihren Augen, die außer Amelie natürlich niemandem auffielen. Am Ende stand ein Post mit einem Leihfahrrad. Yella beneidete ihre Schwester. Sie war längst in Holland angekommen.
Amelie fand sich besonders verwegen. Nach der unbequemen Nacht im Flixbus und der kurzen Zugfahrt von Amsterdam Sloterdijk nach Alkmaar war sie am Bahnhof auf eines dieser blau-gelben Leihfahrräder der niederländischen Bahn umgestiegen, die man über eine App für ein paar Euro mieten konnte. Mithilfe der vorinstallierten Expander befestigte sie ihren Rucksack auf dem Gepäckträger. Skeptisch blickte sie auf die dunklen Wolken, die sich über Alkmaar zusammenbrauten. Zu Hause würde sie nie im Leben auf die Idee kommen, sich bei derart trüben Wetteraussichten mit dem Fahrrad auf die Landstraße zu wagen. Neben ihr nahm ein älteres Paar ungerührt seine Fahrräder in Betrieb. Amelie beschloss, sich an den Ortsansässigen zu orientieren, die sich über möglichen Regen keinerlei Sorgen zu machen schienen. Die mussten es doch am besten wissen. Sie schwang sich aufs Rad und trat energisch in die Pedale.
»Ich bin fast schon eine Holländerin«, sprach sie kichernd in die Linse ihres Telefons und postete das kurze Filmchen auf ihrem Instagram-Account. Google Maps wies ihr den Weg. Auf herrlich glattem Asphalt, unbehelligt von den anstrengenden Steigungen, die ihr in Wuppertal das Leben schwer machten, und mit reichlich autofreier Knautschzone um sich herum fühlte sich Radfahren selbst bei tief hängenden Regenwolken so viel natürlicher an als im Stadtverkehr zu Hause. Mit ein bisschen Glück schaffte sie vor der nächsten Dusche die zehn Kilometer bis zum Ferienhaus.
Ihre Laune stieg mit jedem Meter, den sie trocken zurücklegte. Die Beziehungen in ihrer Familie bildeten ein kompliziertes Geflecht, aber in diesem Moment hatte sie trotzdem das Gefühl, einem familiären Neuanfang entgegenzuradeln.
Amelie teilte den perfekt ausgebauten Fahrradweg mit Trauben von Teenagern, die aus den Alkmaarer Schulen kilometerweit in die umliegenden Dörfer nach Hause radelten. Während in Deutschland für diese Distanzen bestimmt Schulbusse eingesetzt wurden, war es für Niederländer offenbar die normalste Sache der Welt, ein paar Kilometer Schulweg bei Wind und Wetter mit dem Drahtesel zurückzulegen. Kein Wunder bei einer Straßenführung, die Zweiräder und Autos fein säuberlich voneinander trennte. Die Teenies zogen fröhlich schnatternd an ihr vorbei und sahen dabei wahnsinnig lässig aus. Als ob sie auf dem Fahrrad geboren waren. Ihre Schulrucksäcke transportierten sie auf dem vorderen Gepäckträger in ausladenden Apfelkisten, die die Fahrräder so breit machten, dass sie Amelie beinahe in den Wassergraben abdrängten, wenn sie sie zu dritt überholten. Amelie fühlte sich unglaublich einheimisch, bis sie am Stadtrand von Alkmaar die volle Wucht des Gegenwindes traf. Eine unsichtbare Wand bremste sie aus. Ihre Haare flogen um ihren Kopf, der Wind zerrte an ihrem dünnen Kleidchen. Auf Google Maps hatte die Strecke überschaubar gewirkt. Leider hatte die App nicht berücksichtigt, dass die Naturgewalten, sobald man einmal die Stadt mit ihrer schützenden Bebauung hinter sich gelassen hatte, im butterbrotflachen Holland freies Spiel hatten. Der Wind fegte ihr kalten Nieselregen ins Gesicht, drang durch den Stoff ihrer Kleidung und setzte alles daran, sie vom Rad zu reißen. Ihre Oberschenkel fühlten sich an wie Pudding, während sie sich mit tränenden Augen verzweifelt gegen die steife Brise stemmte.
Das Ferienhaus war weiter entfernt als erhofft. Scheinbar endlos erstreckte sich die schnurgerade Straße vor ihr. Zwischen den Grün-, Braun- und Ockertönen leuchteten vereinzelt rote, gelbe und lila Streifen, als wären sie mit Lineal und Farbstift in die Landschaft hineingezeichnet worden. Tulpenfelder, stellte sie begeistert fest. Amelie passierte eine Art Mähdrescher, der über das Feld donnerte und die letzten Tulpen kurz unter der Blüte köpfte. Stängel und Blätter blieben stehen. Doro arbeitete gerade in Berlin an einer Musicalversion von Alice im Wunderland. Drohte in dieser Geschichte die Herzkönigin nicht allen Blumen mit Enthauptung? Hier war die blutrünstige Dame in Gestalt einer Maschine bereits erfolgreich über die Felder gerast, denn am Rand der meisten Ackerflächen vertrockneten die Tulpenköpfe auf einem großen Haufen. So wie beim Radeln alle Kraft in ihre Beine ging, sollte die Pflanze sich nicht mit überschwänglichem Blühen aufhalten, sondern neue Knollen bilden, die von Holland aus in alle Welt verschickt wurden.
Das Thalberg’sche Urlaubsarchiv enthielt zahlreiche Schwesternporträts. Jedes Jahr wurden die vier beim obligatorischen Ausflug in den Amsterdamer Tierpark vor einem ewig schrumpfenden steinernen Gorilla vom Zoofotografen aufgestellt und abgelichtet. Es existierte auch eine Aufnahme, die das Quartett im knallbunten Tulpenfeld zeigte. Obwohl die Porträts ihre Anwesenheit bei allen Familienaktivitäten eindrucksvoll bewiesen, konnte Amelie sich kaum an die Holland-Trips erinnern. Weder an Tulpen noch an den Zoo oder an Unternehmungen mit ihrem Vater. Als ob jemand die Ordner Papa und Holland auf ihrer Festplatte gelöscht hätte.
Vollkommen aus der Puste bremste Amelie vor einem Bauernhof, dessen niedriges Erdgeschoss von einem pyramidenförmigen Dach fast erdrückt wurde. Für ein paar Euro boten die Bauersleute in einem Holzverschlag die überlebenden Tulpen an. Normalerweise konnte sie sich Schnittblumen nicht leisten, direkt vom Züchter reichte es für einen ganzen Arm voller Blumen. Sie hatte ihre Ausbeute kaum am Expander befestigt, als die Wettergötter auf einmal ein Einsehen mit ihr hatten. Über ihr riss der Himmel auf. Vorwitzige Sonnenstrahlen drängten durch das Grau und malten magische Flecken auf das flache Gebiet. Ein unerwartetes Glücksgefühl durchströmte Amelie, als sie die Landschaft endlich genauer aufnehmen konnte. Welcher Ignorant behauptete, dass man fürs Wetter nicht an die Nordsee fahren musste? Holland zählte vielleicht nicht zu den Urlaubszielen mit Sonnengarantie, aber das rasante Himmelsschauspiel entschädigte tausendfach für jegliche Wetterunbill. Der ständige Wind sorgte für ein nie enden wollendes flüchtiges Spektakel. In Wuppertal begrenzten Häuser, Straßenschluchten und die steilen Hügel des Bergischen Landes den Blick. Hier umarmte der Himmel sie geradezu. Die Wolken spiegelten sich in Pfützen, im Asphalt der regennassen Straße und in den Kanälen, die das Land schraffierten. Überall reflektierte Wasser jeden noch so kleinen Sonnenstrahl und verlieh den sattgrünen Wiesen einen eigentümlichen Glanz. Dünen und Nordsee waren allenfalls am Horizont zu erahnen, auch wenn sie sich einbildete, bereits den charakteristischen salzigen Duft des Meers wahrzunehmen. Amelie hatte vergessen, wie überwältigend die holländische Landschaft sein konnte. »Als Wolkenfänger darfst du nichts aufschieben«, sagte eine leise männliche Stimme. »Wenn du nicht aufpasst, nimmt der Wind den Moment einfach mit sich mit.«
Amelie fiel fast vom Fahrrad, so sehr überrumpelte sie das unerwartete Aufblitzen der Erinnerung. Es war die Stimme ihres Vaters, die zum ersten Mal seit Jahren aus den Tiefen ihres Gedächtnisses zu ihr durchdrang. Sie sah ihn förmlich vor sich, wie er auf freier Strecke innehielt, aus seiner Anzugjacke Wasserpinsel und seine winzige Winsor-Farbpalette hervorzauberte, um eine besondere Lichtkonstellation auf Papier zu bannen. Seine Skizzenbücher, die auf dem Dachboden überlebt hatten, belegten eindrucksvoll seine grenzenlose Faszination für die Schönheiten Nordhollands: Er verewigte die menschenleere Landschaft, das morgendlich verlassene Meer, den Sonnenuntergang in den Dünen, Moose, einen besonderen Pilz, knotige Bäume, die sich dem Westwind beugten, am liebsten aber zeichnete er Wolken, einfach nur Wolken, immer und immer wieder. Als Kind war Amelie oft genervt gewesen, wenn er, anstatt sie wie versprochen ins Schwimmbad oder an den Strand zu bringen, haltmachte für eine Zeichnung. Einmal ganz zu schweigen von seinen todlangweiligen Vorträgen über das besondere holländische Licht, das schon die alten Meister gefangen genommen hatte. Als erwachsene Frau begriff sie mit einem Augenaufschlag, was ihn an dieser Landschaft fasziniert hatte. Sie wünschte sich, sie hätte damals schon verstanden, wie weit ihr Vater seiner Zeit voraus gewesen war. Er predigte Achtsamkeit, lange bevor es Mode wurde. Wie gerne hätte sie noch ein einziges Mal gemeinsam mit ihm in den Himmel geschaut. Sie stellte sich vor, wie sie sich gegenseitig auf besondere Wolkenkonstellationen aufmerksam machten und auf die Windmühle zur Linken.
Im Gepäck hatte Amelie einen Stapel alter Familienfotos, die ihre Mutter vor ein paar Monaten beim Ausmisten des Dachbodens in einem Schuhkarton aufgestöbert hatte. Neben einem alten Wollpullover ihres Vaters gehörten die wiederentdeckten Aufnahmen zu den wenigen Schätzen, die ihr von Johannes Thalberg geblieben waren. Wann immer das Gespräch die Sommerschwestern tangierte, übermannte sie das beunruhigende Gefühl, bei den Holland-Urlauben gefehlt zu haben. Die Abzüge aus dem Schuhkarton bewiesen das Gegenteil. Sie hatte sich fest vorgenommen, die Plätze, an denen die Familienfotos aufgenommen waren, zu identifizieren. Vielleicht würde die Wiederbegegnung mit den Orten ihrer Kindheit die verschütteten Bilder nach oben spülen. Ihre Hoffnung war, die verstummte Stimme ihres Vaters in Bergen zu neuem Leben zu erwecken.
Die Kilometer ratterten unter Yella weg. An Schlaf war nicht zu denken. Mit jeder Stunde, die sie von ihrem Berliner Alltag trennte, wuchs ihre Anspannung. Das merkwürdige Gefühl in ihrem Bauch ließ ihr keine Ruhe. Gegen elf Uhr erreichte der Zug die Grenze bei Bad Bentheim. Niederländische Sprachfetzen wehten an ihr Ohr. Gefühlt eine wahllose Aneinanderreihung von unbegreiflichen Tönen tief aus dem Rachen, die herrlich fremd und vertraut zugleich klangen. Während in Berlin für Sohn Leo die vierte Stunde begann, donnerte der Zug Richtung Vergangenheit.
Gerührt betrachtete sie die Tulpenfotos, die Amelie auf Instagram postete, als Doro sich mit einem Bildanruf meldete. »Tippen ist Zeitverschwendung«, sagte sie immer. Atemholen offenbar auch, denn Doro stand wie üblich unter Strom und legte sofort los.
»Hat Henriette dich erreicht?«, sagte sie, ohne sich Zeit für eine Begrüßung zu nehmen.
»Nein, wieso?«, fragte Yella alarmiert.
»Unsere Mutter lässt ausrichten, dass sie es nicht schafft …«, begann Doro einen ihrer berühmten Halbsätze, als im Hintergrund eine Figur schemenhaft durchs Bild huschte. Ihre Schwester unterbrach sich sofort.
»Maria, sind das die Federn aus Italien?«, fragte sie entzückt und verschwand aus dem Bild.
Offenbar hatte sie ihr Handy auf ihrem Arbeitstisch aufgestellt. Yella erkannte die raumhohen industriellen Stahlregale, in denen Doro Stoffe, Latex, Felle und Schaumgummi lagerte. Sie konnte das Kostümatelier förmlich riechen, die einzigartige Mischung aus Kleber, Farbe, Staub, Textilien, heißem Kaffee, Aufregung und elektrischer Spannung vermittelte sich selbst auf Abstand. An einer Nähmaschine schwitzte ein junger Mann über einem Ballen Tüll, im Hintergrund bügelte ein Mädchen mit einem Dampfglätter eine lange Batterie froschgrüner Kostüme, die an einem sperrigen Drahtgestell baumelten. Doros Gesicht schob sich wieder ins Bild.
»Bist du noch im Atelier?«, fragte Yella überflüssigerweise. Doros Look, ein eisblauer perfekt sitzender Overall, der über und über mit dekorativen Farbspritzern bekleckst war, dazu eine hippe Mütze, unter der ihre weißblonden Haare scheinbar unabsichtlich hervorblitzten, sagte eigentlich genug. Yella musste neidlos anerkennen, dass die Kostümbildnerin selbst in Arbeitskleidung unfassbar stylish aussah.
»Unsere Mutter hätte mal fragen können, bevor sie einen Termin festsetzt«, seufzte Doro. »Die Einladung kommt zur Unzeit.«
Yella gab ihr recht. Aber machte das für Doro wirklich einen Unterschied? Ihre große Schwester pflegte seit Jahren diesen gehetzten Tonfall. Ihr Stresslevel hatte sich jedoch auf neue Höhen geschraubt, seit sie mit dem neuesten britischen Regie-Wunderkind an einer aufwendigen Musicalversion von Alice im Wunderland arbeitete. War die Premiere für Berlin vorgesehen? Oder war es Hamburg? Stuttgart? München? Yella hatte angesichts der Vielzahl an Projekten den Überblick verloren und den Moment verpasst, an dem man hätte nachfragen können, ohne sich wie die unaufmerksamste Schwester der Welt zu fühlen. Kurz-vor-irgendwas-Ultrawichtigem war ein chronischer Zustand bei Doro. Ihre Schwester wirkte nicht, als litte sie unter Reisefieber oder übertriebener Aufbruchsstimmung. Doro nahm das Handy hoch. Im Stechschritt eilte sie durch ihr Lager.
»Mir ist eine Anprobe dazwischengekommen«, sagte sie. »Ich hatte schlechte Coronajahre. Ich muss alle Aufträge annehmen, um die Schulden abzuarbeiten.«
Besonders unglücklich klang sie nicht. Doro zählte zu der Sorte Mensch, die von extrastarkem Kaffee und Adrenalin lebte. In ihrer Stimme klang die Begeisterung mit, eine Aufgabe zu haben, die sie in ein unabkömmliches, absolut unersetzliches Mitglied der Gesellschaft verwandelte. Doro hatte es sogar zu einem eigenen Wikipedia-Eintrag gebracht, der von ihren Praktikanten akribisch auf dem neuesten Stand gehalten wurde. Yella genoss es, beruflich Teil eines Teams zu sein. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie kräftezehrend es sein musste, immer alleine an vorderster Front zu stehen. Wenn sie selbst nach einem Arbeitstag voller Termine und Meetings, dem Essen und abendlichen Kinderritualen erschöpft auf ihr Sofa sank, zu müde, auch noch ein einziges Spielzeugauto vom Boden aufzuheben, besuchte ihre Schwester im Zweifel noch eine Vorstellung in Berlin, München oder London. Wie schaffte sie das bloß? Woher nahm sie die Energie? Doro sah selbst fix und fertig besser aus als Yella im Gala-Outfit.
»Was ist mit Mama?«, fragte Yella ungeduldig.
»Kleinen Moment, ich bin gleich bei dir.«
»Was hast du gesagt?«, schrie Yella.
»Was ist los?«, wiederholte Yella so laut, dass ihre Zugnachbarn aufmerksam wurden.
»Was hast du mit Mama ausgemacht?«, fragte sie erschöpft.
Ein Schatten schob sich ins Bild, die Kamera wackelte und fing einen jungen Mann ein. Yella erkannte den Schauspieler sofort. Sie hatte Simon Carlson in einer Krankenhausserie angeschmachtet und heimlich davon geträumt, dass er sie aufpäppeln würde, wenn sie abends todmüde auf dem Sofa zusammenbrach. Seit wann hatte der etwas mit Theater zu tun?
»Hallo, Schwester«, säuselte der smarte Assistenzarzt von Station 17.
»Es tut mir leid, Schwester, aber ich brauche meine liebe Doro einen Moment ganz alleine für mich. Ich muss ihr gratulieren zu dem fantastischen Kostüm, das sie mir auf den Leib geschneidert hat. Keine versteht mich so gut wie Doro«, sagte die butterweiche Stimme, die Yella schon so oft in den Schlaf gesäuselt hatte. »Sie meldet sich gleich wieder. Tschüss, Schwester.«
Yella seufzte schwer auf. Sie liebte ihre eigene Arbeit. Trotzdem fühlte sie sich nach so einem Telefonat jedes Mal auf Zwergengröße reduziert, unbedeutend und gescheitert. Während die Kostümbildnerin sich mit schillernden und berühmten Menschen umgab und eine glanzvolle Karriere vorzuweisen hatte, waren die bunten Tupfer in Yellas Leben im Zweifel vergessene Legosteine, auf die sie trat, wenn sie frühmorgens barfuß Richtung Kaffeemaschine taperte. Gespräche mit ihrer großen Schwester saugten die letzte Energie aus ihr heraus. Wann immer sich ihre Pfade kreuzten, hinterließ die Begegnung einen schalen Beigeschmack. Müsste ihr Leben nicht größer, dramatischer und bunter sein? Ihre Chefin im Büro hatte nur kurz genickt, als sie Urlaub einreichte. Ihre Arbeit würde nicht wegrennen. Und niemand würde je an ihrem Schreibtisch erscheinen, um sich überschwänglich für eine perfekte Reisekostenabrechnung zu bedanken.