Buch
Weiße Sandstrände, strahlend blauer Himmel und das satte Grün des Regenwalds: Für die Londoner Kinderärztin Tara ist Costa Rica das Paradies auf Erden. Aber seit zehn Jahren ist sie nicht mehr dort gewesen – seit ihre Jugendliebe Alex ihr das Herz gebrochen hat. Erst eine große Familienfeier bringt Tara dazu, ins Land ihrer Träume zurückzukehren. Doch statt sich am Strand zu entspannen, muss sie tief in den Dschungel vordringen, um einen schwer kranken Jungen zu retten. Und der Einzige, der ihr dabei helfen kann, ist ausgerechnet Alex – der Mann, den sie vergeblich zu vergessen versucht …
Karen Swan
Sommer im Paradies
Roman
Aus dem Englischen
von Gertrud Wittich
Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
»The Secret Path« bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, London.
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Deutsche Erstveröffentlichung April 2022
Copyright © der Originalausgabe 2021 by Karen Swan
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH
nach einem Design von Pan Macmillan
Covermotive: Frau: Getty Images/Sven Hansche/EyeEm;
Hintergrund: Shutterstock
Redaktion: Ann-Catherine Geuder
LS · Herstellung: ik
Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-28853-2
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für Wallcoot.
Keiner lacht so wie wir.
Erzähl mir dein größtes Geheimnis«, flüsterte Tara in die Stille hinein.
»Mein größtes Geheimnis? Was denn für ein Geheimnis?« Alex hörte sich schläfrig an.
»Na ja, irgendwas, das du noch keiner Menschenseele erzählt hast.«
»Ach, so was.«
Sie gab ihm einen Klaps auf die Brust, küsste die Stelle aber gleich darauf. Er roch nach ihrem Duschgel – Jasmin und Vanille.
»Hm.« Der Laut vibrierte aus seiner Brust direkt in ihr Ohr. Tara war vollkommen überwältigt – von seinem Atem, seinem Duft, seinen Küssen. Seiner Liebe.
Stille trat ein, seine Brust weitete sich, als würde der Gedanke Raum einnehmen. »Na ja … ich hab mir immer eine süße kleine Ziege gewünscht.«
Taras Kopf zuckte hoch, sie blickte Alex vorwurfsvoll an. »So war das nicht gemeint!«
Er grinste schelmisch. »Nein?«
»Nein!«
»Aber ich hab das noch keiner Menschenseele erzählt, du bist die Erste. Es fällt mir nicht leicht, dir meine tiefsten, geheimsten Sehnsüchte anzuvertrauen! Ich steh nun mal auf Ziegen – da hast du’s! Ich liebe ihre niedlichen Bocksprünge, die süßen kleinen Ziegenbärte und wie ihre Schwänzchen zucken …«
Tara musste lachen und gab Alex einen weiteren Klaps. »Das zählt nicht!«
»Sagst du.«
Sie starrte ihn an. Wenn er bloß nicht so gut aussähe! Oder so witzig wäre. »Dann verrate mir wenigstens, wovor du am allermeisten Angst hast.«
»Das ist leicht. Am allermeisten Angst habe ich vor dem, was die Menschen mit dieser Welt anstellen.«
Tara stöhnte. »Argh! Kannst du nicht mal eine Sekunde lang aufhören, den Umweltaktivisten zu spielen? Wir sind schließlich im Bett!«
»Ich spiele nicht. Ich bin Biologe«, konterte er, »und die Wissenschaft schläft nie. Im Gegensatz zu dir.« Er zog vielsagend eine Braue hoch. Er hatte wunderschöne Augenbrauen, kräftig und gerade, an den Außenkanten spitz zulaufend. Sie unterstrichen die Wirkung seiner blassgrünen Augen, die bei schwachem Licht fast grau wirkten.
»Na und? Mein Körper und mein Gehirn brauchen nun mal viel Ruhe und Erholung.«
»Schönheitsschlaf brauchst du jedenfalls nicht, so viel ist sicher.«
»Schmeichler!« Tara stieß Alex schmunzelnd mit der Schulter an. »Überlegst du eigentlich auch manchmal, was wohl aus uns geworden wäre, wenn wir uns nicht in diesem Coffeeshop über den Weg gelaufen wären?«
»Nö.« Bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr Alex grinsend fort: »Weil wir uns auf jeden Fall begegnet wären. Wenn nicht dort, dann eben woanders.«
»Wie kannst du nur so fatalistisch sein?« Tara schnappte gespielt entsetzt nach Luft. »Ich dachte, du wärst Wissenschaftler.«
»Das schon, aber eben auch ein guter Sohn. Und meine Mom sagt, wenn ein Mensch für dich bestimmt ist, läufst du ihm notfalls auch zweimal über den Weg.«
Tara runzelte skeptisch die Stirn. »Echt? Und das glaubst du?«
»Logo. Meiner Mom glaube ich alles.« Seine Augen funkelten schelmisch, und auch Tara musste schmunzeln. Der Punkt ging an ihn, und sie überließ ihn ihm gern. Er liebte seine Mom – das war doch prima.
»Und glaubst du auch …« Tara überlegte einen Moment. »Glaubst du auch, dass man nie im Streit schlafen gehen sollte?«
Er lachte wegwerfend. »Ich glaube, dass man in einem Bett schlafen gehen sollte.«
Tara musste ebenfalls lachen. »Hör auf mit dem Blödsinn! Ich versuche doch nur, dich besser kennenzulernen.« Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Du bist mein liebstes Studienobjekt.«
»Aha.« Ein Lächeln umspielte seine Lippen, seine Brust hob sich in einem tiefen Atemzug.
»Du glaubst also nicht, dass man sich immer versöhnen sollte, bevor man schlafen geht?«
»Hab mir nie Gedanken darüber gemacht. Aber ich schätze …« Er überlegte. »Nein. Finde ich nicht.«
»Wieso nicht?«
»Wieso nicht? Na, weil das Versöhnen unter Zeitdruck schlecht klappt. Übereilte Aussprachen und Entschuldigungen sind nicht viel wert, jedenfalls meiner Erfahrung nach. Als müsste man eine Deadline einhalten. Nein, manchmal ist’s vielleicht wirklich besser, im Streit schlafen zu gehen.«
»Da bist du aber so ziemlich der Einzige, der dieser Meinung ist«, protestierte Tara.
Alex zuckte mit den Schultern. »Ich steh nun mal zu meiner Meinung. Alle Menschen, die ich bewundere, würden für ihre Prinzipien notfalls ihr Leben aufs Spiel setzen.«
Tara nahm seine Hand und verwob ihre Finger mit seinen. Wie gern sie seine Handfläche an der ihren fühlte. Er hatte eine kleine halbmondförmige Narbe an der Handkante, die er sich bei einem Angelausflug in der Kindheit zugezogen hatte, als sich ein Haken dort verfing. Sie liebte es, mit dem Daumen darüberzustreicheln, es war irgendwie beruhigend. »Welche Menschen denn zum Beispiel?«
Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Hast du schon mal von Peter Beard gehört, diesem Künstler?«
»Na klar. Von dem stammen diese Afrika-Collagen. Hat sie mit seinem eigenen Blut beschmiert.«
»Genau der. Er gehörte zu den Ersten, die auf das Artensterben in der Wildnis aufmerksam gemacht haben und etwas dagegen unternahmen, damals in den Sechzigern und Siebzigern. Ein echter Pionier, obwohl die meisten nur den Playboy in ihm sahen.«
»Du meinst, so eine Art Richard Attenborough, nur mit Sex-Appeal?«
»Ja, davon hatte er damals jede Menge.«
»Dann bewunderst du ihn also, weil er ein Tierschützer war?«
»Nicht nur – ich bewundere ihn vor allem deshalb, weil er kompromisslos zu seinen Überzeugungen stand.« Alex blickte Tara an. »Wenn er mal das Falsche tat, dann immer aus den richtigen Gründen.«
»Wie meinst du das? Nenn mir ein Beispiel.«
»Okay.« Er überlegte einen Moment. »Okay. Einmal, da hat er einen Wilderer auf seinem Land erwischt – und weißt du, was er mit dem gemacht hat?«
Tara schüttelte den Kopf. »Nein, keine Ahnung.«
»Er hat ihn in seine eigene Falle gesteckt.«
Sie starrte Alex entsetzt an. »Du machst Witze!«
»Nö. Ließ ihn stundenlang zappeln. Der Wilderer ist nicht daran krepiert, aber …« – Alex’ Stimme wurde zu einem samtigen Schnurren – »er hat sichs künftig zweimal überlegt, ob er so was noch mal macht. Unglaublich, oder? Nachdem ich das gelesen hatte, war der Typ für mich ein Held. Endlich mal jemand, der was unternimmt!«
»Aber er hat einen Menschen in einer Tierfalle gefangen gehalten!«
»Ja, einen Menschen, der Jagd auf Löwen machte. Ist das etwa besser?« Alex blickte Tara mit funkelnden Augen an. »Ta, Reden genügt eben manchmal nicht. Man muss handeln. Und notfalls auch zu weit gehen, wenn man wirklich was erreichen will.«
Tara schwieg einen Moment. »Gut zu wissen«, sagte sie schließlich. »Mit dir lege ich mich wohl besser nicht an.« Sie streichelte ihn, denn sie liebte das Gefühl seiner nackten Haut an der ihren.
»Das scheint mir im Moment auch eher unwahrscheinlich zu sein.«
»Nicht nur im Moment, hoffe ich.« Tara stützte sich auf die Ellbogen, um ihn besser ansehen zu können. Sie musterte sein schönes Gesicht, das sie vom ersten Augenblick an fasziniert hatte, noch ehe sie überhaupt ins Gespräch gekommen waren. Und sofort knisterte es wieder zwischen ihnen. Tara spürte, wie sich seine Fingerspitzen unwillkürlich fester in ihr Fleisch gruben. Sie selbst trommelte mit dem Zeigefinger auf seine Brust, ein nervöser Tick, den er liebenswert fand. »Und – willst du mich gar nicht nach meinem größten Geheimnis fragen?«
Ein belustigter Blick traf sie. »Ich weiß nicht. Sollte ich das?«
»Schon. Dachte ich jedenfalls. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.« Tara fand seine Gleichgültigkeit ein wenig enttäuschend. Sie selbst interessierte sich brennend für ihn. Sie hatte das überwältigende Bedürfnis, alles über ihn zu erfahren, ihn zu besitzen, mit Leib und Seele. Was, wenn er nicht genauso für sie empfand?
»Du bist dir also nicht mehr sicher, ob ich dein größtes Geheimnis erfahren will?« Alex ließ sich belustigt in die Kissen zurücksinken.
Die Stille zwischen ihnen dehnte sich aus.
»Woran denkst du?«, flüsterte sie nach einer Weile besorgt. War er denn gar nicht neugierig?
»Ich denke, wir sollten besser nicht über solche Dinge reden.«
Tara wollte sich gekränkt abwenden, aber er zog sie an sich.
»Ich mach doch nur Spaß«, sagte er grinsend. »Klar würde ich gerne dein größtes Geheimnis erfahren.«
»Das bezweifle ich«, murmelte sie, immer noch gekränkt.
Er rollte sich mit einer fließenden Bewegung auf sie. »Twig, klar will ich das.« Auf die Ellbogen gestützt, gab er ihr einen federleichten Kuss auf die Nasenspitze. »Na los, erzähl mir dein geheimstes Geheimnis! Das du noch keiner Menschenseele anvertraut hast.«
Tara starrte in seine grünen Augen. Ihre Lippen öffneten sich, aber die Worte wollten nicht heraus. Der Moment war vorbei, und mit ihm die Möglichkeit, sich Alex anzuvertrauen. »Ich mag keine Pilze«, gestand sie lahm.
Er wirkte sichtlich perplex. »Pilze? Und das soll dein größtes Geheimnis sein? Dass du keine Pilze magst?«
Tara nickte. »Mhm. Ich hasse Pilze! Wenn irgendwo Pilze drin sind …« Sie schnitt eine Grimasse. »Aber das weiß keiner, ich hab’s nie verraten und esse sie immer mit. Weil ich nun mal gut erzogen bin.«
»Die sprichwörtliche Höflichkeit der Briten!« Alex konnte nur perplex den Kopf schütteln. »Wieso sagt ihr’s nicht einfach, wenn euch was nicht passt?«
»Na ja, so sind wir eben. Wenn wir Briten angerempelt werden, dann entschuldigen wir uns dafür. Und ein Geschäft verlassen wir erst, wenn die Verkäuferin uns die Erlaubnis gibt, selbst wenn wir passend bezahlt haben. Wahrscheinlich werde ich den erstbesten Mann heiraten, der mich fragt. Nur um höflich zu sein.«
Alex zog eine Augenbraue hoch. »Twig, willst du meine Frau werden?«
»Ja, gerne. Nett, dass du fragst.«
Beide lachten. Alex vergrub sein Gesicht an ihrem Hals, und sein seidiges Haar kitzelte ihre Wange. Sie konnte spüren, wie er mit den Zähnen über ihre Haut fuhr, verspielt an ihr knabberte. Sie bekam sofort eine wohlige Gänsehaut. Dann richtete er sich wieder auf und musterte sie, den Kopf in die Hand gestützt. Er zeichnete träge Muster auf ihren nackten Bauch. »Babe, du musst lernen, das unentbehrliche Wörtchen ›Nein‹ zu sagen. Ich werde dich jetzt mal amerikanisieren. Sprich es mir nach: Nein!«
»Nein.«
»Ein bisschen entschiedener. Nein!«
»Nein.«
Er runzelte die Stirn.
Sie versuchte es noch einmal. »Nein!«
»Gut, okay, schon besser. Du lernst schnell«, meinte er achselzuckend. »Jetzt probieren wir das mal anhand von konkreten Beispielen. Twig, soll ich dir zum Geburtstag einen Hundewelpen schenken?«
Sie lachte. »Nein.«
Er nickte zufrieden. »Twig, wie wäre es, wenn wir Weihnachten in Kabul verbringen?«
»Nein!«
»Sehr gut, wirklich.« Er überlegte kurz und sagte dann: »Twig, du solltest definitiv diese roten High Heels im Bett tragen – aber sonst nichts.«
Jetzt musste Tara noch lauter lachen, ihr Körper bog sich auf der Matratze. »Nein!«
»Mist. Das war ein Eigentor.« Er verzog das Gesicht, aber seine Augen funkelten. »Twig, möchtest du zu deinem Steak Pilze in Knoblauch?«
»Nein!«
Er reckte siegessicher die Faust. »Geschafft! Erfolg auf ganzer Linie.«
»Aber nur weil du ein so guter Lehrer bist, Alex Carter. Aus dir wird mal ein richtig toller Prof.«
»Danke. Bleibt nur noch ein letzter Test.« Er holte tief Luft und betrachtete sie mit einem Blick, als wollte er die Sterne vom Himmel holen. »Twig, willst du meine Frau werden?«
»Ja, gerne. Nett, dass du fragst«, wiederholte sie.
»Nein!«, heulte er auf und vergrub in gespielter Verzweiflung sein Gesicht in ihrer Halsbeuge, während sie unter ihm vor Lachen bebte, gar nicht mehr aufhören konnte. »Fast! Fast hättest du’s geschafft. Jetzt wirst du es zur Strafe für den Rest deines Lebens mit mir aushalten müssen. Und das bloß, weil du’s als höfliche Engländerin nicht über dich bringst, Nein zu sagen. Das Leben ist hart. Sorry, Babe!«
Tara blickte fragend zu Alex auf, das Lachen war verebbt. Er meinte es doch nicht etwa ernst? »Hä?«
»Du hast nicht Nein gesagt.«
»Nein.«
Er zog erneut die Augenbraue hoch. »Was meinst du damit? Nein, du hast nicht Nein gesagt? Oder nein, du willst mich nicht heiraten?«
Sie wusste nicht, was sie von alldem halten sollte, fühlte sich vollkommen überrannt. »Nein, ich … es stimmt, ich hab nicht Nein gesagt.«
Mit einem breiten Grinsen zog er sie an sich. »Das Neinsagen wirst du schon noch lernen – wir haben den Rest unseres Lebens dafür Zeit.«
»Ja«, flüsterte sie, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Ja«, wiederholte er und blickte ihr dabei tief in die Augen. »Dieses Wort gefällt mir besser.«
»Ja.«
»Willst du mich heiraten, Twig?«
»Ja.«
Kaum hatte sie es ausgesprochen, rollte er sich auf sie und drückte sie mit seinem Gewicht in die Matratze. Die Albernheiten waren vergessen, es gab nur noch diese starke Anziehung zwischen ihnen, die sie schon bei ihrer ersten Begegnung vor nur vier Monaten fast überwältigt hatte. Am Handy klebend, hatte sie in der morgendlichen Hektik aus Versehen seinen Soja-Latte mitgenommen. Er war ihr mit ihrem Karamell-Macchiato gefolgt und hatte sie erst am Ende der Queen’s Gate eingeholt. Das meiste von ihrem Kaffee war beim Rennen herausgeschwappt, sodass er ihr einen halb leeren Becher hinhielt. Nach seinen atemlos gestammelten Erklärungen hatte er darauf bestanden, ihr einen neuen zu spendieren. Das Ganze endete damit, dass sie ihre Pharmakodynamik-Vorlesung verpasste und er einen Termin bei seinem Doktorvater. Aus dem Kaffee war Lunch geworden, und danach hatten sie sich für denselben Abend in einem Restaurant verabredet. Und seitdem keine Nacht mehr getrennt voneinander verbracht.
Innerhalb einer einzigen Woche (oder eigentlich schon an jenem ersten langen Tag) wurde er zu ihrer Lebensgrundlage. Er war ihr Sauerstoff, ihre Sonne, ihr schlagendes Herz. Der Gedanke, ohne ihn sein zu müssen, war unerträglich. Sie hatte bis dahin nicht gewusst, was Leidenschaft ist, was Sehnsucht, was Lust, und mitunter jagte ihr die Intensität ihrer Gefühle Angst ein. Es konnte nicht gesund sein, einen Menschen so sehr zu lieben, oder? Alex Carter war für sie eine Droge, ohne die sie nicht mehr sein wollte. Und jetzt müsste sie das vielleicht auch nie mehr?
Sie stieß ein kurzes nervöses Lachen aus.
»Was ist?« Sein Knie schob ihre Schenkel auseinander.
»Von Pilzen zu einem Heiratsantrag. Das kam … überraschend«, stieß sie atemlos hervor, während er ihren Nacken küsste.
»Kannst du laut sagen«, kam es gedämpft.
»Dann hast du das nicht geplant?«
Er hob den Kopf. Seine Wangen waren gerötet, seine Augen glühten. »Nö. Aber jetzt, wo du weißt, dass ich insgeheim auf Ziegen stehe, kann ich dich leider nicht mehr gehen lassen. Das darf unter keinen Umständen rauskommen.« Er zwinkerte ihr schelmisch zu.
Dann waren seine Lippen wieder auf ihrer Haut, und ihr Körper sehnte sich bereits nach ihm. Sie schloss die Augen und genoss die herrliche Vorstellung, das alles nie mehr entbehren zu müssen.
»Du weißt natürlich, was das heißt«, murmelte er, und sein warmer Atem strich über ihren Bauch.
»Was denn?« Sie hielt die Augen schmunzelnd geschlossen.
»Jetzt musst du mich wohl oder übel deinen Eltern vorstellen«, sagte er trocken.
Sie riss die Augen auf. »O Gott, ja … das muss ich wohl.«
Er musterte sie interessiert. »Der Gedanke beunruhigt dich?«
»Nein, das nicht. Ich weiß, dass sie dich mögen würden.«
»Aber?« Er betrachtete sie forschend. »Was dann? Haben sie was gegen Amerikaner?«
»Nein!«
»Sehr gut. Ein sehr gutes Nein. Nachdrücklich. Glaubwürdig.«
Sie musste lachen, erschöpft von seinen Wortspielereien.
»Ist vielleicht kein Mann gut genug für ihre Tochter? Gehören sie zu dieser Sorte?«
»Kann sein.«
»Keine Sorge. Eltern mögen mich.«
»Ach ja? Du hast wohl schon öfter die Eltern deiner Verlobten kennengelernt?«
Jetzt musste auch er lachen. »Du bist die einzige Verlobte, die ich je hatte. Und die einzige, die ich je haben werde, wenn’s nach mir geht.«
»Verlobt. Hört sich komisch an.«
»Verheiratet finde ich auch besser, ich geb’s zu.« Er gab ihr einen zarten Kuss auf den Bauch, so als würde ein Schmetterling dort landen. Dann stützte er den Kopf in die Hand und betrachtete sie nachdenklich. »Wovor hast du mehr Angst – sie mir vorzustellen oder mich ihnen?«
Tara kaute an ihrer Unterlippe. »Dich ihnen.«
Er machte ein gespielt besorgtes Gesicht. »Sie haben doch nicht etwa zwei Köpfe, oder?«
»Nein!«
»Prima, du wirst immer besser.«
Sie versetzte ihm einen vorwurfsvollen Klaps.
»Das läuft schon, wirst sehen. Die werden mich mögen, und ich sie auch. Und weißt du, wieso ich das weiß?«
Tara schüttelte den Kopf.
»Weil wir dich lieben, alle drei. So einfach ist das.« Er schob sich hoch und blickte sie an, Nase an Nase. »Ich muss unbedingt deinen Dad kennenlernen – schließlich will ich alles richtig machen.«
Tara war gerührt, ihr kamen vor Glück fast die Tränen. »Du willst wirklich bei ihm um meine Hand anhalten?«
»Wenn möglich auch um den Rest von dir. Aber doch, fangen wir erst mal mit der Hand an.« Er nahm sie und küsste sie. »Sollte ich noch was wissen, bevor ich mich in die Höhle des Löwen wage?«
Tara machte den Mund auf, wollte es ihm endlich erzählen – nicht ihr allergrößtes Geheimnis, das, das noch niemand kannte, sondern ihr zweitgrößtes, das sie ihm bis jetzt verschwiegen hatte. Doch als sie in seine hellen, klaren Augen blickte, verließ sie der Mut. Nein, das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Seit Wochen wartete sie auf den passenden Moment, um ihm alles zu beichten, die ganze Wahrheit und nicht nur ein paar Häppchen davon. Aber dieser Augenblick war so kostbar, so einzigartig, sie konnte und wollte ihn nicht mit etwas Profanem verderben, wollte Alex nicht mit Details überfordern, die sowieso nichts mit ihnen beiden zu tun hatten.
Tara schüttelte den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste. Daddy ist ein Schatz.«
»Wie kommt man am besten mit ihm ins Gespräch? Sag bloß nicht, er spielt Golf?«
»Er interessiert sich brennend für Umweltfragen. Wenn bei dem Thema nicht der Funke überspringt, dann weiß ich auch nicht.«
»Ach ja? Toll!« Alex machte eine erfreute Miene. »Und wann kann ich ihn kennenlernen?«
Tauben stolzierten pickend vor ihnen auf dem breiten Sandweg im nördlichen Hyde Park herum. Eine bleiche Morgensonne schien durch die mächtigen alten Rosskastanien, die zu knospen begannen. Wie auf einem Gemälde von Monet sprenkelten die ersten Krokusse und Primeln die grünen Wiesen des Parks mit Gelb und Lila. Das Rauschen des Verkehrs von der Bayswater Road wurde regelmäßig vom Keuchen der Jogger überdeckt, von denen sie überholt wurden. Die Tage wurden allmählich freundlicher, und auch der Morgenfrost auf den Wiesen wirkte weniger kalt und grimmig.
Tara nippte an ihrem Kaffee, aus dem Becher stieg in sachten Kräuseln Dampf auf. Holly gönnte sich den ersten von zahlreichen täglich benötigten Zuckerstößen, eine heiße Schokolade mit Sahnehäubchen und Schokosplittern.
»Und was sagt er dazu?«, erkundigte sich Tara, als Holly zwischendurch einmal Luft holte.
Ihre beste Freundin befand sich in einem komplizierten Trennungsprozess mit Dev, einem Radiologen aus der Onkologie. Was als betrunkener Flirt in der Irish Bar unweit des St Mary’s Hospital begonnen hatte, hatte sich wider Erwarten zu etwas Dauerhafterem entwickelt. Alles war mehrere Monate lang gut gegangen, bis Dev Holly damit überraschte, dass er eine Kommodenschublade für sie freiräumte. Diese hatte daraufhin sofort mit ihm Schluss gemacht. Was folgte, waren tränenreiche Textnachrichten und jede Menge toller Versöhnungssex. Die Schublade war hastig wieder mit nicht zueinander passenden Sportsocken und Schweißfußspray gefüllt worden, aber der Schaden war angerichtet. Dev wollte eine feste Bindung, und Holly wollte weg.
»Er hat gesagt, ich hätte Bindungsängste!«
»Ach nee.«
»Ist das zu fassen? Ich hab ihm gesagt, solche Klischees kann er sich sparen! Nicht jeder, der als Kind von seiner Mutter im Stich gelassen wurde, wird gleich gestört. Manche ziehen sich selbst an den Haaren aus der Scheiße und kommen ohne Mutter verdammt noch mal sogar besser zurecht als mit.«
»Ganz klar.«
Holly murmelte etwas Unverständliches. »Es ist mir ernst, echt. Ich hab ihm unmissverständlich klar gemacht, dass mit uns Schluss ist.«
»An Deutlichkeit hat’s dir noch nie gefehlt, Hols.«
»Du sagst es!«
»Aber geschlafen hast du trotzdem mit ihm?«
»Logo. Du weißt ja, wie traurig er schauen kann, mit seinem Dackelblick …«
»Niedlich, stimmt.«
Holly seufzte. »Na, jedenfalls weiß er jetzt, woran er ist. Das war’s mit uns. So ein Drama kann ich nicht gebrauchen. Ich mach jetzt erst mal Männerpause.«
»Gute Idee. Nimm dir eine Auszeit. Lass es sacken.«
Hinter ihnen näherte sich Pferdegetrappel. Die Household Cavalry unternahm ihren morgendlichen Ausritt. Man hörte das Klirren glänzender Schnallen und das Klappern von Brustharnischen.
Tara nippte erneut an ihrem Kaffee, während sie in den West Carriage Drive abbogen, der zur Kensington Gore führte, wo bereits reger morgendlicher Betrieb herrschte.
»Und du? Hattest wohl wieder eine traumhafte Nacht mit deinem hübschen Lover?«
Tara musste grinsen. »Kann sein.«
»Argh! Du bist ekelhaft. Gehst mir richtig auf die Nerven, du mit deinem perfekten Liebesglück. Langsam wird’s langweilig. Wie soll man die Höhepunkte überhaupt noch spüren, wenn sie nicht von Tiefs durchsetzt sind?«
»Na, im Bett«, meinte Tara und zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern.
»Ach, Klappe! Jetzt komm schon – irgendwas muss es doch geben, irgendeinen Kratzer im Lack. So perfekt kann kein Leben sein.«
Tara überlegte einen Moment. »Na ja, neulich hat er Risotto für mich gemacht, und um ehrlich zu sein, das Hähnchen war ein bisschen trocken.«
Hollys Oberlippe kräuselte sich verächtlich. »Was? Das ist alles? Mehr hast du nicht zu bieten?«
»Machen Sie Platz für die Blues and Royals!«, erklang der Warnruf des Horse Masters, als die berittene Kavallerie sie fast erreicht hatte. Die beiden wichen automatisch zur Seite und warteten geduldig ab, bis mehrere Hundert Tonnen schweißglänzender Pferde an ihnen vorbeigetrabt waren, die Soldaten in prächtigen roten Uniformen, mit glänzenden Messinghelmen, goldenen Tressen und wippenden Helmbüschen. Es war jeden Morgen dasselbe Schauspiel, das sie auf ihrem Weg zu den Vorlesungen begleitete, doch sie wurden es nie müde, die Kavallerie zu bewundern. Auch das war typisch britisch – so wie die übertriebene Höflichkeit, über die Alex sich immer lustig machte. Schmunzelnd dachte Tara an Alex’ Heiratsantrag von letzter Nacht. Wie aus einem Witz etwas Ernstes geworden war, eine lebensverändernde Entscheidung …
»Was grinst du so?« Holly war aufgefallen, dass Tara mit einem verträumten Lächeln ins Leere starrte, ihren Mehrwegbecher an den Lippen. »Hat dir einer von denen zugezwinkert? Die haben vielleicht Nerven!« Holly lachte auf und blickte den Soldaten nach, die mit stoischen Mienen, den Blick starr geradeaus gerichtet, an ihnen vorbeiritten.
Tara wandte sich ihrer Freundin zu. »Alex hat mir heute Nacht einen Heiratsantrag gemacht.«
Hollys Unterkiefer klappte herunter wie eine Falltür. »Wie bitte?«
Tara nickte. »Ich weiß, ich kann’s selbst kaum glauben. Es kam alles so plötzlich. Für ihn auch. Das war nicht geplant.«
Holly starrte Tara mit offenem Mund an.
Diese drückte ihrer Freundin den Unterkiefer behutsam wieder zu. »Jetzt sag doch was!«
»Was zum Teufel …?« Holly wirkte geschockt; das Lachen war ihr vergangen.
»Ist das alles, was dir dazu einfällt?«
»Tits!«
Ein goldenes Helmbüschel zuckte in ihre Richtung. »Tits« war Hollys Spitzname für Tara und bezog sich auf deren Initialen, T. T., und nicht etwa darauf, dass diese besonders gut bestückt war. Niemand sonst nannte sie so – das traute sich keiner –, und Holly benutzte den Namen nur in Momenten großer Freude oder großen Entsetzens. Nach Freude sah ihr Gesicht allerdings nicht aus …
»Ihr wollt heiraten?«
»Ja.«
»Aber ihr seid erst Anfang zwanzig!«
»Das hört sich bei dir an, als wären wir zwölf.«
»Seid ihr ja auch, mehr oder weniger.« Sie starrten sich an, der Moment dehnte sich, und es wurde zunehmend peinlich, denn Hollys Mangel an Begeisterung war offensichtlich. Auch ihr wurde das klar, und sie stieß ein hohles, gezwungenes Lachen aus. »Ich meine … ich freu mich natürlich für dich, logisch.«
Es klang wenig überzeugend. Tara blinzelte. Ihre Freundin hörte sich an, als würde jemand sie würgen, und selbst ihre auffallend roten Korkenzieherlöckchen hatten etwas von ihrer Munterkeit eingebüßt.
»Und er steht ja auch total auf dich und du auf ihn«, fuhr Holly stammelnd fort. »Er bringt dich zum Lachen. Du bist ständig am Lachen.«
Tara runzelte die Stirn. »Aber …?«
Holly ließ die Schultern hängen. »Wieso könnt ihr nicht noch warten? Eine Kindsbraut bist du zwar nicht, aber ihr kennt euch doch erst seit ein paar Monaten.«
Tara zuckte mit den Schultern. »Wir hatten beide nie vor, so jung zu heiraten. Nicht unter dreißig, dachte ich. Aber … Wie heißt es in Romanen so schön: Wenn man es weiß, dann weiß man’s eben. Die Frage lautet also eher: Wieso noch warten?«
»Wieso? Weil ihr kaum zwanzig seid!«
»Hast du schon gesagt. Aber so wichtig ist das Alter nun auch wieder nicht«, entgegnete Tara äußerlich ruhig, doch ihr schlug das Herz bis zum Hals. Die Skepsis ihrer Freundin traf sie vollkommen unvorbereitet. Sie hatte mit Überraschung, auch mit Schock gerechnet – so ging es ihr ja selbst –, aber das hier war mehr als das. Ihre Freundin konnte nicht einmal ihr zuliebe so tun, als freute sie sich oder als hielte sie das Ganze für eine gute Idee.
Schweigend gingen sie weiter, beide in Gedanken vertieft.
»Und da lässt du mich hier die ganze Zeit über Dev quatschen«, brummelte Holly. Sie runzelte die Stirn. »Und wie hat er darauf reagiert, dass er jetzt Mr Tremain werden soll? Und versuch nicht, mir weiszumachen, dass ihm das schnurz ist«, mahnte sie streng. »Der Typ wirkt zwar locker und lässig, auf diese zerzauste Art, aber er hat ein ziemlich großes Ego, das kannst du mir glauben.«
Tara schluckte. »Na ja, ich bin irgendwie noch nicht dazu gekommen, es zu erwähnen …«
»Was? Immer noch nicht?« Hollys Stimme kletterte um zwei Oktaven. »Ich kapier das nicht. Worauf wartest du denn?«
»Auf den richtigen Zeitpunkt.«
Holly hob sarkastisch die Augenbrauen. »Und der Moment, als ihr beschlossen habt, zu heiraten und den Rest eures Lebens miteinander zu verbringen – das war nicht der richtige Zeitpunkt?«
Tara wand sich. »Ich hab’s vermasselt, ich weiß. Da hätte ich es ihm sagen müssen.«
»Allerdings!«
»Weißt du, es ging alles so schnell. Ich … ich wollte den Moment nicht verderben.«
»Ja, das hätte ihm bestimmt die Laune verdorben, zu erfahren, dass sein künftiger Schwiegervater Milliardär ist.«
Tara versetzte ihrer Freundin einen Rippenstoß, und da diese gerade an ihrer heißen Schokolade nippte, bekam sie einen Sahnebart. »Du weißt, wie heikel das sein kann, das hab ich dir doch erzählt.« Doch wie schwierig es in Wahrheit war, hatte Tara Holly dann doch nie anvertraut. Als sie auf dem Internat gewesen war, hatte das Mädchen, das Tara für ihre beste Freundin gehalten hatte, beispielsweise hinterrücks Geschichten über sie an die Presse verkauft; und die anderen Schlafsaalbewohnerinnen fanden es aus irgendeinem Grund witzig, täglich etwas aus ihrem Besitz zu stehlen, da sie es »sich ja jederzeit neu kaufen« könne. Dabei waren sie selbst nicht arm, im Gegenteil, nur wohlhabende Eltern konnten ihre Kinder auf so ein Internat schicken. Aber die Tatsache, dass ihr Vater Milliarden besaß, war selbst in diesen Kreisen etwas Besonderes. »Das kann einen umhauen – du selbst hast ja drei Wochen lang nicht mehr mit mir geredet, nachdem ich’s dir erzählt hatte.«
»Das war was anderes. Du hattest es mir absichtlich verschwiegen. Obwohl du genau wusstest, dass ich auf nichts aus war.«
»Na ja, meine Erdnussbuttervorräte waren nie vor dir sicher. Oder wenn ich frisches Brot gekauft hatte. Oder der billige Rosé aus der Magnumflasche.«
»Na hör mal! Ich war – bin! – schließlich eine arme, hungrige Studentin.«
»Und meinen Lieblingspulli, den marineblauen mit dem V-Ausschnitt, hast du dir auch unter den Nagel gerissen. Feinster Kaschmir!«
Holly zuckte mit den Schultern. »Tja, das ist inzwischen verjährt. Jetzt gehört er mir.«
»Aber das war mein Lieblingspulli!«
»Pech gehabt!« Holly blickte Tara mit diesem typischen Funkeln in den Augen an, und Tara spürte, wie die vorübergehende Vereisung zwischen ihnen wieder ein wenig taute. »Außerdem ist dieser Kerl ganz verrückt nach dir. Der will dir an die Wäsche, das ist alles, was der im Kopf hat.«
Tara schmunzelte. »Kann sein.« Nachdenklich fügte sie hinzu: »Er hat null Interesse an Geld, aber das ist es ja gerade, warum es mir so schwerfällt, mit ihm darüber zu reden. Seine Eltern waren kalifornische Hippies, weißt du. Alex ist in irgendwelchen Hippie-Kommunen und auf Biofarmen aufgewachsen.«
»Großer Gott. Als hätten sie es geradezu darauf anlegt, arm zu bleiben.« Holly wandte betreten den Blick ab.
Sie hatten jetzt fast die Brücke über den Serpentine erreicht. Der See wirkte in der frostigen Morgenluft wie Quecksilber. Zwei schwarze Schwäne mit roten Schnäbeln glitten lautlos auf das Bootshaus zu. Die letzten Frühschwimmer kraulten in Richtung Ufer. Tara und Holly blieben am Straßenrand stehen und ließen ein schwarzes Londoner Taxi vorbeifahren, dessen Oberlicht angeschaltet war.
»Ich weiß, dass ich’s nicht länger hinausschieben kann. Er hätte sowieso früher oder später meine Eltern kennenlernen müssen, und wie’s aussieht, wird es eben früher stattfinden. Er sagt, er will bei Dad um meine Hand anhalten.«
»Oh, wie altmodisch.« Hollys Ton hatte sich wieder abgekühlt, sie wirkte zutiefst enttäuscht, als fühlte sie sich verraten.
»Ja, ich finde das auch ein bisschen seltsam.« Tara kaute zerstreut auf ihrer Unterlippe, während sie die Brücke überquerten. »Aber es wird schon gut gehen. Bestimmt hat er kein Problem damit. Ich … ich erwähne es am besten so nebenbei, gleich heute Abend. Ich muss ja nicht näher auf Details eingehen und mehr draus machen, als es ist.«
»Ach ja?« Holly zog sarkastisch die Braue hoch.
»Ich meine, vielleicht … vielleicht muss ich ja weiter gar nichts erklären? Ich könnte einfach andeuten, dass wir …«
»In Geld schwimmen?«
»Wohlhabend sind, wollte ich sagen.«
»Niemand sagt wohlhabend. Außer Soziologen in Umfragen.«
»Dann eben vermögend.«
Holly verschluckte sich fast. »Vermögend? Die Untertreibung des Jahres! Du musst nur dafür sorgen, dass ihr eintrefft, nachdem deine Eltern mit dem Helikopter eingeflogen sind oder bevor der Chauffeur die Tür des Bentley aufhält. Dann könnte es sein, dass Alex tatsächlich glaubt, ihr wärt nur … vermögend.«
Tara formte ein abschätziges »Haha« mit den Lippen. Hollys Mutter hatte Mann und Kind verlassen, als Holly erst vier war, und sie war bei ihrem Vater aufgewachsen, einem Hausmeister. Dies schien sie aus irgendeinem Grund dazu zu berechtigen, jeder Erwähnung von Reichtum und Wohlstand mit größtem Zynismus zu begegnen.
Holly seufzte, als spürte sie selbst, wie unfair ihre Seitenhiebe waren. »Hör zu, wenn dieser Kerl dich nicht so akzeptiert, wie du bist – mit sämtlichen Privatflugzeugen –, dann ist er’s eh nicht wert. Aber ich glaube kaum, dass das ein Problem sein wird.« Sie stieß ein verächtliches Lachen aus. »Wahrscheinlich wird er versuchen, dich so schnell wie möglich zu schwängern, nur um auf der sicheren Seite zu sein.«
Tara blieb abrupt stehen.
Holly wandte sich um und sah Tara betreten an. »Bin ich zu weit gegangen? Verzeih!« Holly fuhr sich mit der Hand durch die roten Locken und sah zum Himmel, wütend auf sich selbst. »Ich hätte das nicht sagen sollen, das war gemein. Du hast mich durcheinandergebracht, das ist alles. Und jetzt feuere ich einfach ungehemmt in alle Richtungen Pfeile ab.«
Aber Tara regte sich nicht. Ihr Mund stand offen.
»Hör zu, du weißt doch, dass ich’s nicht so meine.« Holly ging zu ihrer Freundin und legte begütigend die Hand auf ihren Arm. »Er ist ein guter Kerl. Natürlich würde er so was nicht tun.« Sie hob eine Augenbraue. »Ha! Und schon gar nicht mit dir, du würdest da nicht mitspielen. Und dir nicht das ganze Leben versauen …«
Tränen stiegen Tara in die Augen, und sie hatte das Gefühl, mit einem Mal schwer wie Blei zu sein. »Ach, Ta«, rief Holly, »mach bitte nicht so ein Gesicht! Ich wollte doch nicht …« Aber etwas an der Art, wie Tara dastand, ihre starre Haltung … Hollys Blick fiel auf Taras Hand, die unwillkürlich zum Bauch gewandert war.
Holly starrte sie mit offenem Moment an. »O nein«, flüsterte sie.
Tara machte sich auf die nächste Salve gefasst. Seit zwölf Tagen, seit sie den Schwangerschaftstest gemacht hatte, schwankte sie zwischen überschwänglicher Freude und Verzweiflung hin und her, zwischen einem Gefühl der Klarheit und der Verwirrung– jedenfalls bis zu Alex’ gestrigem Heiratsantrag. In diesem Moment hatte sie entschieden, das Kind zu behalten, selbst wenn ihr das erst hinterher bewusst geworden war. Natürlich hatte sie sich ihre Zukunft anders vorgestellt, aber es gelang ihr irgendwie, sich selbst davon zu überzeugen, dass es nur einen Aufschub und nicht das Aus für ihre Zukunftspläne bedeutete. Sie hatte noch lange wach gelegen, während Alex längst neben ihr schlief, und war mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass sie genau das wollte, dass es funktionieren könnte. Deshalb war sie heute mit einem so großen Glücksgefühl erwacht, deshalb hatte sie sich so darauf gefreut, ihrer besten Freundin die aufregenden Neuigkeiten endlich mitteilen zu können.
Stattdessen stand sie hier und wartete auf das vernichtende Urteil: Du bist erst zwanzig.
Aber es kam nicht. Noch nicht, jedenfalls. Die Stille dehnte sich in die Länge. In Hollys Augen spiegelten sich Gefühle, für die ihre Freundin – ausnahmsweise – keine Worte fand. Diese Stille war fast noch schlimmer als laute Vorwürfe. Tara kam es vor, als würde eine Regenwand auf sie zukommen; noch war sie weit entfernt, doch sie näherte sich ihr unweigerlich.
»Und was wird jetzt aus allem?« Holly machte eine ausholende Armbewegung.
Tara wusste, was sie meinte: nicht den Park, sondern ihr Leben in London, das Studium, ihre Zukunft als Ärztin.
»Na ja«, antwortete Tara langsam, »ich hab mir schon alles gut überlegt. Also, ich habe vor, mir im Sommer nach den Prüfungen eine Auszeit zu nehmen. Bis dahin schaffe ich es noch, da bin ich dann im siebten Monat. Und dann mache ich Babypause. Und im September des darauffolgenden Jahrs komme ich an die Uni zurück.«
»Aber das wirst du nicht«, widersprach Holly kalt, abweisend.
»Doch Hols, ganz bestimmt.«
»Willst du mir weismachen, dass du nach monatelangem Schlafentzug in den Schichtdienst zurückwillst? Nachtdienste? Bereitschaftsdienst, fünfzehn Stunden ununterbrochen auf den Beinen sein?«
Tara schluckte. »Ja.«
»Daraus wird nichts. Das ist eine Entweder-oder-Situation, Ta. Du kannst dich nur entweder für dieses Kind oder für deine Karriere entscheiden. Beides geht nicht. Das würde dich total überfordern. Und nicht nur dich – keiner könnte das.«
»Ist doch gar nicht wahr. Es gibt viele Ärztinnen, die Kinder haben, die berufstätige Mütter sind.«
»Aber nicht schon mit zwanzig.«
Da war es wieder, dieses Urteil, das Holly ihr ständig unter die Nase rieb. Der Grund, warum ihrer Meinung nach alles zum Scheitern verurteilt war. In einem Desaster von epischen Ausmaßen enden würde.
»In fünf Jahren, ja, vielleicht. Wenn es wirklich das ist, was du willst. Aber jetzt schon? Du stehst doch erst am Anfang!« Holly hielt inne und starrte Tara herausfordernd an. »Und was sagt Alex dazu?«
Tara konnte die bittere Enttäuschung im Gesicht der Freundin kaum ertragen; die tollen Argumente, die sie sich während der Nacht zurechtgelegt hatte, waren vollkommen vergessen. Sie zögerte. »Er weiß es noch gar nicht.«
»Verdammte Scheiße!«, fuhr Holly auf, jetzt ernsthaft wütend. »Du willst diesen Typen heiraten, aber er weiß weder, wer du wirklich bist, noch, dass du ein Kind von ihm erwartest?«
Tara bekam Panik. Es lief alles verkehrt, so hatte sie sich das nicht vorgestellt. Erstaunen, schon. Überraschung. Aber dann Umarmungen, Begeisterung, freudiges Quieken, hektisches Pläneschmieden.
»Ich konnte doch nicht ahnen, dass er mir einen Antrag macht!«, wehrte sie sich. »Ich hab doch gesagt, es ist alles ganz plötzlich gekommen, ganz spontan. Ich hatte eigentlich vor, ihm gestern Abend endlich zu sagen, dass ich schwanger bin … Aber als er mich dann gefragt hat, ob ich ihn heiraten will … Ich dachte erst, das ist ein Witz, aber dann … Da hatte ich auf einmal Angst, es ihm zu sagen, weil, weil … es so aussehen würde, als müsste er mich jetzt heiraten.«
»Aber er hat dich doch gefragt, ohne das mit der Schwangerschaft zu wissen«, entgegnete Holly scharf. »Ta, du machst dir das schwerer, als es sein muss, und du solltest dich vielleicht mal fragen, warum das so ist. Entweder du vertraust dem Mann, oder du vertraust ihm nicht.«
»Doch, natürlich vertraue ich ihm! Das steht völlig außer Frage.«
»Dann hör auf, vor ihm Geheimnisse zu haben! Er muss diese Dinge doch wissen!«
Tara ließ die Schultern hängen. Es stimmte ja. »Du hast recht. Ich werde ihm das mit meiner Family heute Abend beibringen. Und das mit dem Baby irgendwann diese Woche.«
»Wieso nicht auch gleich heute Abend? Er wird erfahren, dass seine künftigen Schwiegereltern Milliardäre sind. Da kannst du ihm auch gleich sagen, dass er in ein paar Monaten Vater wird.«
»Nein, ich … ich will mir sicher sein, dass er mich aus Liebe heiratet. Und nicht, weil er sich dazu verpflichtet fühlt.«
»Dann vertraust du ihm also doch nicht.«
»Doch! Es ist nur … Mist! Ich weiß, das ist schwer zu begreifen, aber ich hab einfach das Gefühl, eins nach dem andern händeln zu müssen – ich hab nun mal keine ganz normale Familie, auch wenn ich’s noch so gern hätte. Das wird ein Schock für Alex sein, wenn er erfährt, wer wir sind. Er soll erst mal meine Eltern kennenlernen und dieses wichtige Gespräch mit Dad hinter sich bringen. Um den Rest kümmern wir uns, wenn das aus der Welt ist.«
Holly lehnte sich ans Geländer und blickte gedankenverloren auf die Tretboote, die in mehreren Reihen das gegenüberliegende Ufer säumten.
Tara ergriff behutsam den Arm der Freundin. »Hols, jetzt freu dich doch mal für mich, bitte! Du bist die Einzige, die bis jetzt Bescheid weiß.«
Holly riss sich aus ihrer Versunkenheit. »Würde ich ja gern, echt, aber ich kann dich doch nicht anlügen! Ich finde, du machst den größten Fehler deines Lebens. Eine feine Freundin wäre ich, wenn ich dir das nicht klarmachen würde!«
»Wieso? Du könntest doch so tun, als ob du dich für mich freust.«
Holly wandte Tara das Gesicht zu. »Nein, kann ich nicht. Du machst dir was vor, so einfach wird das nicht. Heiraten ist eine Sache – ich persönlich finde es crazy, einen Typen zu heiraten, den du kaum kennst, und wo du doch kaum von zu Hause ausgezogen bist! Aber hey, wenn’s nicht klappt, kann man sich ja wieder scheiden lassen. Aber mit einem Kind?« Holly schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das geht dann nicht mehr so leicht. Ein Kind ist ein Dealbreaker. Dafür wirst du den Traum von der Karriere aufgeben müssen.« Holly beugte sich erregt vor. »Als wir uns kennengelernt haben, hast du mir erzählt, dass die Medizin dein großer Traum ist, schon seit du sechs warst. Dass sie deine Art ist, etwas zurückzugeben und dich gleichzeitig von deiner Familie zu emanzipieren. Du hast gesagt, dadurch hättest du plötzlich einen Sinn im Leben gefunden. Aber dass du schon mit zwanzig heiraten und auch gleich noch ein Kind kriegen würdest – davon hast du nie was erwähnt.« Holly hielt inne und holte tief Luft. »Alex ist ja süß, Ta, aber so süß ist kein Typ.«
Tara wurde schwer ums Herz. Dasselbe hatte sie auch gedacht, nachdem sie den blauen Streifen auf dem Schwangerschaftstest erblickt hatte; Holly sprach nur ihre eigenen geheimsten Zweifel aus.
»Du hattest einen Plan, schon vergessen? Du wolltest deinen Dad bitten, dir zu helfen, diese Mutter-Kind-Kliniken in Ländern aufzubauen, wo Menschen in prekären Verhältnissen leben, ohne Strom und fließend Wasser. Du hast gesagt, wenn du nur die Frauen ermutigen und fördern könntest …«
»Ich weiß selbst, was ich gesagt habe«, unterbrach Tara sie barsch.
Holly musterte ihre Freundin bekümmert. »Bei jedem anderen würde ich sagen: Hirngespinste. Aber du? Du könntest das tatsächlich möglich machen! Du hast gesagt, du willst was zurückgeben, denn nicht jeder hat so viel Glück im Leben wie du. Du hast gesagt, dass deine Mutter nicht kapieren kann, wieso du überhaupt eine berufliche Karriere anstrebst, und dass du dich durchsetzen musstest, damit sie dich überhaupt auf die Uni gehen lassen. Und das willst du jetzt alles aufgeben, für einen Kerl, den du kaum vier Monate kennst?«
In Taras Augen standen Tränen, ihre Brust war wie zugeschnürt. »Wir lieben uns doch.« Selbst in ihren Ohren hörte sich das lahm an, aber mehr fiel ihr nicht ein. Sie spürte, dass Holly sich bereits von ihr zurückzog, als wären sie zwei Schiffe, die verschiedene Richtungen einschlugen. Erst da wurde Tara klar, wie sehr ihre gemeinsamen Ziele, ihr Ehrgeiz, sie – trotz aller Unterschiede – zusammengeschweißt hatten.
»Weiß ich doch. Aber sag mir eins: Würde er für dich alles aufgeben? Gibt er alles für dich auf? Seine Träume, seine Karriere?«
Tara empfand jede Frage wie einen Schlag, es fiel ihr schwer, die Fassung zu bewahren. »Dadurch wird sich doch nicht nur mein Leben ändern, sondern auch seins. Nur eben ein bisschen früher als geplant …«
Eine Antwort war das nicht, das war Tara ebenso klar wie Holly.
»Dann habt ihr also schon über Familienplanung geredet?«
»Nicht direkt, aber …«
»Aber was?«
Tara schluckte. »Es … es ist klar, dass auch das dazugehört. Irgendwann.«
Hollys Augen wurden schmal. »Irgendwann. Aha.«
Tara senkte den Kopf, sie spürte, wie ihr erste Tränen übers Gesicht rannen. Sie wollte nicht weinen, es machte sie wütend, Schwäche zu zeigen – als wäre sie bereits die überempfindliche Schwangere, der die Hormone zu schaffen machten. »Das Leben lässt sich halt nicht immer planen, Hols«, stieß sie würgend hervor und schluchzte auf.
Holly seufzte und nahm die Freundin verlegen in die Arme. »Weiß ich doch.« Sie umarmten sich an diesem kalten Vormittag, empfanden aber keinen Trost dabei oder kamen einander dadurch wieder näher.
Holly wich abrupt zurück. »Ach, Mist! Die Anatomievorlesung! Ich muss los, oder ich komme zu spät.«
»Mein Gott, ja.« Tara wollte ebenfalls loslaufen, aber Holly streckte abwehrend einen Arm aus.
»Nein, nicht rennen, lass dir Zeit. Ich sag Bescheid, dass du unterwegs aufgehalten wurdest.«
»Aber …«
»Du darfst dich jetzt nicht überanstrengen. Ein paar Minuten mehr oder weniger spielen auch keine Rolle mehr. Ich halte dir einen Platz frei.« Mit einem Schulterzucken lief Holly davon.
Tara wusste, was dieses Schulterzucken bedeutete: War doch egal, wenn sie sich verspätete. Sie würde ihr Medizinstudium ohnehin nicht mehr beenden. Alles, was jetzt noch folgte, war reine Kosmetik. Ihren Traum von der Karriere konnte Tara vergessen. Sie würde stattdessen Mrs Alex Carter werden. Ehefrau und Mutter.
Die Haustür fiel mit einem lauten Knall zu, gefolgt vom dumpfen Aufprall einer schweren Ledertasche auf Dielenfliesen.
»Mmh, das riecht gut!« Alex kam herein und platzierte einen Kuss in Taras Halsbeuge, an »seiner« Stelle, die er für sich reklamierte. Sie drehte sich zu ihm um, und er gab ihr einen Kuss auf die Lippen. »Hast mir gefehlt.«
»Du mir auch«, flüsterte sie. Sie spürte ihn zögern, beide wussten, wo ein ausführlicher Kuss unweigerlich hinführen würde …
Er trat unentschlossen zurück, offenbar hatte er noch mit den Ereignissen seines Arbeitstags zu kämpfen. »Mann, was für ein Scheißtag.«