Autorin
Pia Klemp (*1983) ist gesellschaftskritische Schriftstellerin, Kapitänin und vernarrte Landstreicherin. Seit zehn Jahren steht ihr Leben im Dienste des Aktivismus, zu See und an Land. An Bord von Meeresschutz-Organisationen und als Kapitänin in der zivilen Seenotrettung kämpft sie für Tier- und Menschenrechte. Jüngst war sie Teil des feministischen Kollektivs, das (mit finanzieller Unterstützung von Streetart-Künstler Banksy) das Schiff Louise Michel zur Rettung schiffbrüchiger Flüchtender im Mittelmeer klarmachte. Klemp ist Preisträgerin des Clara-Zetkin-Frauenpreises (2019) und gemeinsam mit ihrer Crew des Rettungsschiffes Iuventa Preisträgerin des Paul Grüninger Preises (2019) sowie des Amnesty International Deutschland Menschenrechtspreises (2020). Ihre Überzeugungen, Eindrücke und Fragen brachte sie in drei gesellschaftskritischen Romanen auch auf das literarische Parkett: Allmende und Schrebergarten (Edition Contra-Bass 2018), Lass uns mit den Toten tanzen (Maro 2019) und Entlarvung (Ventil 2021).
Habe Wut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen
Pia Klemp, Kapitänin, Aktivistin und Seenotretterin, fordert mehr Wut von uns allen. Wut, die zu Engagement führt, die uns antreibt, zu ändern, was schiefläuft. Es scheint, wir leben in wütenden Zeiten: Frauen fordern ihre Gleichberechtigung mit Männern, People of Colour die ihre mit Weißen, junge Leute einen verantwortungsvollen Umgang mit unserem Planeten, Menschenrechtsaktivist*innen ein humanes Verhalten gegenüber Geflüchteten. Das bringt ihnen Aufmerksamkeit ein. Aber nicht unbedingt Wertschätzung oder Verständnis. Benachteiligte sind nicht wütend, sie sind hysterisch. Nicht ernst zu nehmen. So scheint es. Und es ist an der Zeit, dass sich das ändert. Wut ist ein Werkzeug, das wir nutzen können, um Wände einzureißen, anstatt sie hochzugehen. Ein Impulsgeber, der aufzeigt, was uns wichtig ist. Denn wer nicht wütend ist, hat nur noch nicht richtig aufgepasst.
»Pia Klemps Engagement hat etwas extrem Direktes und Radikales. Etwas, das provozierend wirken kann, weil es sich an keine Regeln hält.«
Berliner Zeitung
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
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Autorenfoto: Chris Grodotzki
Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen
ISBN 978-3-641-29339-0
V001
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Für Sandra – keep on raging, buddy.
Denn in mir und zahllosen anderen Frauen (…) steckt ein Leben voll berechtigter Wut, die so tief ist, dass das ganze Patriarchat der weißen Vorherrschaft darin ertrinken könnte. Und wenn es irgendeine Gerechtigkeit auf dieser Welt gibt, wird es das auch.
– Ijeoma Oluo
Vorwut
1. Zeter und Mordio
2. (Ver-)glühende Landschaften
3. Ragenresonanz
4. Von Schwärmen schwärmen
5. »I incite this meeting to rebellion«
6. Mama!
Anmerkungen
Bevor beim Lesen jemand einen Nervenzusammenbruch wegen Sprachverschandelung erleidet und sich von der Doktrin des Genderwahns und Political Correctness tyrannisiert wähnt, beginne ich mit einer Triggerwarnung für alte weiße Männer (wer sich hier echauffiert anstatt zu schmunzeln, darf sich geschlechtsunabhängig als unbedingt gemeint betrachten):
Dieser Text gendert mit dem Sternchen (*), wie beispielsweise »der*die Aktivist*in«. Wenn ich von »Frauen« und »Männern« spreche, dann meine ich damit keine biologischen Kategorien, sondern alle, die sich unter der jeweiligen Bezeichnung definieren, definiert werden und/oder sich sichtbar gemacht sehen. Die Bandbreite geschlechtlicher Identitäten ist groß.
Mit »Person oder People of Colour (PoC)« werden Menschen beschrieben, die nicht als weiß wahrgenommen werden und sich auch selbst nicht so definieren. Die Bezeichnung »Schwarz« umschließt Menschen, die sich mit der afrikanischen Diaspora verbunden sehen oder afrikanischer Herkunft sind. »Schwarz« wird (auch in adjektivischer Verwendung) großgeschrieben und die Bezeichnung »weiß« klein und kursiv. In beiden Fällen geht es nicht um biologische Eigenschaften, sondern um gesellschaftspolitische Zugehörigkeiten. Die emanzipatorisch genutzten Selbstbezeichnungen »Schwarz« und »PoC« verweisen auf Menschen mit Rassismuserfahrung. Der Begriff »weiß« ist keine Selbstbezeichnung, sondern beschreibt eine privilegierte Position innerhalb der Gesellschaft. Im Sinne der sprachlichen Symmetrie markiert die Kursivsetzung so den Konstruktivcharakter dieser historischen, politischen und sozialen Norm.
In direkten Zitaten wird die Schreibweise von »Schwarz« und »weiß« nur dann beibehalten, wenn sie von dem*der Urheber*in übernommen werden konnte. Bei einigen der im Buch aufgeführten Studien ist nicht ersichtlich, ob sie zwischen »Schwarz« und »PoC« unterscheiden. Die Beschreibungen wurden wie vorgefunden übernommen.
Falls sich im Text trotz aller Bemühungen diskriminierende und exkludierende Formulierungen finden lassen, dann tut mir das leid. Ich harre etwaiger wütender Resonanz.
Ich bin eine wütende Frau, Gott sei Dank. Oft brauche ich bloß ein paar Zeilen zu lesen, einen Satz zu hören oder eine kleine Szenerie zu beobachten und schon geht es los. Bis ins Mark zwirbelt plötzlich die Wut und beißt sich durch mich hindurch, aus mir heraus. Manchmal muss ich auch nur nachdenken und ich spüre meine Oberlippe bereit zum Zähnefletschen zucken. Das Gefühl ist alles andere als ohnmächtig. Es bäumt sich auf und pocht. Es stülpt sich über nichts drüber, es ist eher eine Amphetaminspritze für das, was bereits da ist. Hier ist so eine Standardsituation, bei der mir unausweichlich der Kragen platzt:
Jemand guckt mich mit verschwiemeltem Blick an und fragt in karitativem Ton: »Sag doch noch mal, wie war das für dich mit dem toten Jungen in der Tiefkühltruhe?«
Dabei kniepen sie kräftig mit ihren feuchten Augen. Gerne wollen sie auch was von Todesschreien und anderen aufwühlenden Ereignissen hören. Sie wollen so richtig betroffen sein, als versprächen sie sich einen Freibrief durch ihre kurze Anteilnahme, und ein bisschen Katastrophentourismus geht eh immer gut rein.
Ich merke, wie es in mir wächst und sich mir die Nüstern blähen. Sie fragen auch diesmal nicht, warum diese Menschen auf der Flucht sind, wer oder was sie dazu getrieben – vertrieben – hat, warum es ihnen nahezu unmöglich gemacht wird, einen sicheren Ort zu erreichen. Sie fragen nicht einmal nach der psychischen Verfassung oder dem Asylstatus der Mutter, die das alles überlebt hat.
»Nein«, presse ich also heraus und bemühe mich, all den Unmut in meinen Blick zu legen, »frag doch lieber mal nach Frontex oder den Deals der EU mit Libyen.«
Sie tun es nicht. Stattdessen schlucken sie mitleidig und nicken schlau.
»Das war bestimmt schlimm für dich, hm?«, bleiben sie säuselnd bei ihrem Anliegen und gucken mich an, als sollte ich am besten sofort in Tränen ausbrechen.
Mein roter Knopf ist damit unwiderruflich gedrückt: »Ja, scheiß doch die Wand an! Kannst du was noch Irrelevanteres fragen?!«
Mit einem Schlag sind sie pikiert, weil mir nicht einfiel, traurig zu sein und in schmerzlicher Verzweiflung über einen original EU-Grenztoten zu vergehen. Ich habe ihnen nur meinen Zorn vorzuweisen und sie wollen nichts damit anzufangen wissen.
»Aber die Menschen wollen so was hören. Solche Geschichten bewegen!«
»Es ist Zeit für die Leute zu begreifen, dass es nicht immer darum geht, was sie hören wollen, verdammt!«
»Also! Jetzt reg dich doch nicht gleich so auf«, wedeln sie enttäuscht mit den Armen durch die Luft und schnauben mit vorgeschobenem Kinn über meine mutmaßliche Pietätlosigkeit.
»Ne! Hör du mal auf, dich nicht aufzuregen«, setze ich ihnen verärgert entgegen.
Ich weiß, wo meine Wut herkommt. Da ist noch einiges mehr zu holen. Ich war Kapitänin der Rettungsschiffe Iuventa und Sea-Watch 3. Ich war auch maßgeblich an dem Kollektiv beteiligt, das die Louise Michel aufs Wasser brachte. Es sind Schiffe, deren Aufgabe es ist, Menschen aus Seenot vor der Küste Libyens zu retten – Menschen, denen keine andere Wahl bleibt, als ihr Leben auf der zentralen Mittelmeerroute zu riskieren, um in Europa Schutz zu suchen.
Auf meinen Einsätzen habe ich nicht nur gesehen, wie Männer, Frauen und Kinder jämmerlich untergehen, sondern auch, dass Menschenrechtsverletzungen an der Haustür Europas auf der Tagesordnung stehen. Die EU lässt Flüchtende wissentlich und willentlich ertrinken, während sie zivile Rettungsschiffe blockiert und stattdessen libysche Milizen finanziert, die Menschen gewaltsam in ein Bürgerkriegsland verschleppen, wo ihnen Vergewaltigung, Folter oder Tod drohen.1 So viel zur Realität an Europas Außengrenzen. Als Ergebnis dieser brutalen Abschottungsstrategie ist das Mittelmeer die tödlichste Grenze der Welt.2
Herzlich willkommen also, liebe Wut! Wie und vor allem warum sollte ich nicht aufgebracht sein, bei allem, was dort passiert und wenn nichts als ein gefühlsduseliger Seelen-Striptease meinerseits als Reaktion gewünscht wird? Ich habe keinen Anlass, öffentlich in Trauerbewältigung zu schwelgen, wir sind ja noch mittendrin im Verlust. Diese Menschen sterben weiterhin und sie sterben nicht zufällig. Sie fallen keiner Naturkatastrophe, keiner göttlichen Allmacht, keinem Schicksal zum Opfer. Es ist skrupellose Politik – Unterschriften, Stempel und Handschläge in klimatisierten Büros –, die diese Toten fordert. Warum also nicht dem Elend entgegenwirken, anstatt heuchlerisch zu wehklagen und die, die gar nicht sterben müssten, damit zu verraten? Es ist ein bedenkliches Zeugnis unseres Gesellschaftszustands, wie häufig dem Thema mit stumpfer Kondolenz, erschreckender Gleichgültigkeit oder unverhohlenem Rassismus begegnet wird. Warum geht kaum eine*r die Wände hoch?
Es ist anmaßend und gleichsam ignorant, die Toten betrauern zu wollen, ohne sich über ihre Todesursache zu ereifern, sie gänzlich unberührt hinzunehmen sowieso. Das gilt für das persönliche Gespräch genauso wie für den gesellschaftlichen Diskurs. Aber nicht nur fehlt es allgemein an der angebrachten Empörung, zudem wird meine noch als lästig abgetan. Der Wut wird mit Unverständnis und Ablehnung begegnet, im besten Fall wird sie belächelt. Irgendwen wollte man ja heute bemitleiden.
Ich bin jetzt also gleich mehrfach sauer: auf Fluchtursachen und europäische Grenzpolitik, darüber, dass sie niemanden wütend machen, dass ich es nicht sein soll und darauf, wie es sich alles gegenseitig bespielt.
Ich könnte dieses aufwühlende und manchmal sogar erschreckende Gefühl natürlich auch ignorieren, die Wut wegdrücken und in mich hineinfressen. Das Gefühl von Schmirgelpapier auf der Hirnhaut könnte ich umgehen und mir die Schulter tätscheln lassen, anstatt anzuecken und auf einmal mit einer tosenden Emotion dazustehen, die nicht nur den anderen, sondern auch mir selbst so viel abverlangen will. Ich könnte der unschönen Ahnung eines anstehenden Zerwürfnisses nachgeben und mich vor der inneren und äußeren Konfrontation wegducken. Nur ist es allemal so, dass ich weder dieses Empfinden noch die Auseinandersetzung missen möchte. »Aus meiner Angst vor der Wut habe ich nichts gelernt. Auch ihr werdet aus eurer Angst vor der Wut nichts lernen«, schrieb Audre Lorde.3
Wut ist ein dringend benötigter Ausbruch – eine Offensive.