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TITEL

Buch

Seit Jahren versetzt der unheimlich maskierte Chef einer Verbrecherbande, der sogenannte »Frosch mit der Maske«, London in Angst und Schrecken. Weder Inspector Elk noch seinem Assistenten Sergeant Balder ist es gelungen, den furchterregenden Verbrecher und seine Bande zu fassen. Nach einem erneuten Juwelenraub und der Ermordung eines Kriminalbeamten, der versucht hatte, sich in die Froschbande einzuschleichen, interessiert sich nun Richard Gordon, der Neffe von Scotland-Yard-Chef Sir Archibald, für den Fall. Eine erste Spur führt ihn zu dem mysteriösen John Bennett, der mit Sohn Ray und Tochter Ella in einem idyllischen Haus in der Nähe von Hertford lebt. Schon bald muss Gordon feststellen, dass die Bennetts in das Fadenkreuz der Froschbande geraten sind, denn nicht nur er, sondern auch der Frosch selbst hat ein Auge auf Ella geworfen …

Autor

Edgar Wallace wurde 1875 geboren. Er wuchs in armen Verhältnissen auf und hielt sich mit Gelegenheitsjobs wie Milchhändler, Maurergehilfe oder Zeitungsverkäufer über Wasser. Schließlich begann er, kleine Artikel für eine Zeitung zu schreiben. Mit Erfolg: Er arbeitete sich hoch bis zum Chefredakteur. 1904 schrieb Wallace schließlich seinen ersten Krimi – das Debüt einer beispiellosen Karriere. Edgar Wallace verfasste 175 Romane, 24 Theaterstücke, eine große Anzahl von Kurzgeschichten, Essays, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln und Drehbüchern. Die zahllosen Filme, die nach seinen Vorlagen gedreht wurden, haben wie seine Romane bis heute Kultstatus. Edgar Wallace verstarb 1932 in Hollywood.

Edgar Wallace

Der Frosch
mit der Maske

Roman

Aus dem Englischen
von Alma Johanna Koenig

Die englische Originalausgabe von »Der Frosch mit der Maske« erschien 1925 unter dem Titel »The Fellowship of the Frog«.

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Durchgesehene Neuausgabe Mai 2022
Orthografie und Interpunktion wurden den Regeln der neuen
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ISBN: 978-3-641-29357-4
V001

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1
Maytree House

Das Heißwerden des Kühlers fiel mit dem Platzen eines Autoreifens zusammen. Und der nächste Zufall war, dass dies alles in der Nachbarschaft von Maytree House auf der Landstraße nach Horsham geschah. Das Cottage war größer als die meisten dieser Art. Es hatte eine holzverzierte Fassade und ein Strohdach. Richard Gordon stand vor der Gartentür still, um es zu bewundern. Das Haus stammte noch aus der Elisabethanischen Epoche. Aber sein Interesse und seine Bewunderung waren nicht nur die eines Altertumsliebhabers.

Nein – obgleich er Blumen als echter Blumenfreund liebte und dieser weite Garten wie ein Teppich dalag, war es doch nicht der Duft der Provencerosen, der ihn gefangen nahm. Es war auch nicht das Gefühl von Gemütlichkeit und Sauberkeit, das dieser Ort ausströmte, nicht dieser gescheuerte, mit roten Ziegeln gepflasterte Weg, der zum Haus führte, nicht die schneeweißen Vorhänge hinter den bleigefassten Fensterscheiben.

Es war die junge Frau im rot bezogenen Korbsessel, die seinen Blick fesselte. Sie saß inmitten einer kleinen Rasenfläche, im Schatten eines Maulbeerbaumes, die wohlgeformten jungen Glieder ausgestreckt, ein Buch in der Hand, eine große Schachtel Bonbons zur Seite. Ihr Haar hatte die Farbe alten Goldes, aber eines Goldes, das Leben und Glanz bewahrt hat. Eine makellose Haut und – als sie den Kopf in seine Richtung wandte – ein Paar grauer fragender Augen, tiefer als grau und doch grauer als blau. Sie zog die Beine hastig an und erhob sich.

»Es tut mir leid, Sie zu stören«, entschuldigte sich Dick, den Hut in der Hand. »Aber ich brauche Wasser für meinen armen Wagen. Er hat großen Durst.«

»Wenn Sie mit mir hinter das Haus kommen wollen, werde ich Ihnen den Brunnen zeigen«, antwortete sie. Die Schönheit ihrer Stimme kam ihm sogleich zum Bewusstsein. Es war ein Alt, auf den alle Adjektive angewendet werden konnten, die die Wärme, Weichheit, Klangfülle und Süßigkeit einer Stimme zu kennzeichnen vermögen. Er folgte und hätte gerne gewusst, wer sie war. Sie hatte eine kleine patronisierende Färbung in der Stimme, die er wohl verstand. Es war der Ton eines erwachsenen Mädchens einem Jüngling ihres Alters gegenüber. Dick, der einunddreißig Jahre alt war und mit seinem glatten Knabengesicht wie achtzehn aussah, hatte diesen »Kleinen-Jungen-Ton« schon früher gehört und war immer durch ihn belustigt worden.

»Hier sind Eimer, und da ist der Brunnen«, sagte sie. »Ich würde Ihnen ein Mädchen zur Hilfe schicken, aber wir haben keins, haben nie eins gehabt und werden wohl nie eins bekommen.«

»Da ist aber ein armes Mädchen um einen besonders guten Posten gekommen«, sagte Dick, »denn ich finde es hier entzückend.«

Sie schwieg, und während sie ihm beim Füllen der Eimer zusah, hatte er den Eindruck verschlossener Gleichgültigkeit von ihrer Seite. Aber als er die Eimer zum Auto auf der Landstraße trug, folgte sie ihm. Sie ging um den großen gelben Rolls-Royce herum und betrachtete ihn mit Neugier.

»Fürchten Sie sich nicht, einen so großen Wagen allein zu fahren?«, fragte sie. »Ich würde mich zu Tode ängstigen. Er ist so gewaltig und so schwer zu handhaben.«

Dick richtete sich auf. »Angst ist ein Wort, das ich aus dem Lexikon meiner Jugend gestrichen habe«, rühmte er sich lachend.

Eine Sekunde lang war sie verwirrt, dann stimmte sie in sein Lachen ein.

»Sind Sie über Welford gekommen?«, fragte sie, und er nickte. »Dann haben Sie vielleicht meinen Vater auf der Straße getroffen?«

»Ich bin nur einem trüb dreinschauenden Herrn mittleren Alters begegnet, der einen großen braunen Kasten schleppte.«

»Wo sind Sie ihm begegnet?«, fragte sie mit Interesse.

»Es war zwei Meilen von hier, vielleicht noch näher.« Und dann, als ihn Zweifel überkamen, fügte er hinzu: »Ich hoffe, dass ich nicht Ihren Herrn Vater beschrieben habe?«

»Ich glaube schon, dass er es gewesen ist«, sagte sie ohne Verstimmung. »Papa ist ein Naturfotograf. Er macht Aufnahmen von Vögeln und anderem, natürlich als Amateur.«

Dick trug die Eimer nach dem Ort zurück, an dem er sie gefunden hatte, und verweilte noch zögernd. Er suchte nach einer Entschuldigung für sein Bleiben und glaubte, sie in dem Garten zu finden. Wie weit er jedoch dieses Gesprächsthema hätte ausschöpfen mögen, muss bloße Vermutung bleiben, denn eine Unterbrechung des Gespräches trat in Gestalt eines jungen Mannes aus der Haustür. Er war groß, gut aussehend, athletisch gebaut. Dick schätzte ihn auf zwanzig Jahre.

»Hallo, Ella, ist Vater zurück?«, fragte er.

»Mein Bruder«, stellte das Mädchen vor, und Dick Gordon war sich dessen bewusst, dass er die freie und leichte Art des Bekanntwerdens seinem jugendlichen Aussehen verdankte. Als unbedeutender Junge behandelt zu werden, hatte, wie es schien, seine Vorteile. »Ich habe ihm gesagt, dass man es jungen Burschen nicht erlauben sollte, so große Wagen zu lenken«, sagte Ella. »Erinnern Sie sich noch an den grässlichen Zusammenstoß bei der Norham-Kreuzung?«

Ray Bennett kicherte. »Das gehört alles mit zu eurer Verschwörung. Nur damit ich kein Motorrad bekomme! Vater glaubt nämlich, dass ich damit jemanden zu Tode fahren würde, und Ella denkt, ich würde selbst dabei verunglücken.«

In diesem Augenblick sah Dick den Mann, dem er auf der Landstraße begegnet war, hinzukommen. Groß, mit lockerem Gang, grau und hager blickte er ihm misstrauisch entgegen.

»Guten Tag«, stieß er kurz hervor. »Panne gehabt?«

»Nein. Ich brauchte nur Wasser, und Miss …«

»Bennett«, sagte der Mann. »Sie hat Ihnen Wasser gegeben? Nun also, guten Morgen.« Er trat beiseite, um Gordon an sich vorüberzulassen, aber Dick öffnete von innen her das Gartentor und wartete, bis der Besitzer von Maytree House hereingekommen war.

»Mein Name ist Gordon«, sagte er. »Ich danke Ihnen noch sehr für Ihre Gastfreundschaft.«

Mit einem Nicken ging der alte Mann, seine schwere Last tragend, ins Haus.

Dick wendete sich, fast verzweifelt darüber, nun gehen zu müssen, an die junge Frau: »Sie irren, wenn Sie das Steuern des Wagens für so schwierig halten. Wollen Sie es versuchen? Oder vielleicht Ihr Bruder?«

Das Mädchen zögerte, aber der junge Bennett sagte eifrig: »Ich würde es sehr gerne versuchen, ich habe noch nie einen großen Wagen gefahren!«

Dass er ihn zu fahren vermochte, wenn die Gelegenheit sich bot, zeigte er nun. Sie sahen zu, wie der Wagen um die Ecke glitt, die junge Frau mit einer kleinen Falte zwischen den Brauen, Dick alles außer dem einen vergessend, dass er noch einige Minuten in ihrer Nähe bleiben konnte.

»Hätten Sie ihn doch nur nicht fahren lassen«, sagte sie. »Es nützt einem Jungen, der sich immer nach etwas Besserem sehnt, nichts, wenn man ihn solch ein schönes Auto fahren lässt. – Vielleicht verstehen Sie mich nicht? Ray ist sehr ehrgeizig und träumt von Millionen. So etwas bringt ihn ganz außer sich.«

In dem Augenblick kam ihr Vater aus dem Haus, und sein Gesicht verfinsterte sich, als er die beiden am Tor stehen sah. »Sie haben ihn den Wagen fahren lassen?«, sagte er grimmig. »Es wäre mir lieber gewesen, hätten Sie das nicht getan.«

»Es tut mir leid«, sagte Dick reumütig. »Da kommt er!« Der große Wagen kam auf sie zu und hielt vor dem Tor.

»Er ist wundervoll!« Ray Bennett sprang heraus und bedachte den Rolls mit einem Blick, in dem Bedauern und Bewunderung sich mengten. »Mein Gott! Wenn der mir gehörte!«

»Er gehört dir aber nicht«, fiel ihm der Alte ins Wort. Doch dann, als würde er seine Heftigkeit bereuen: »Vielleicht wird dir eines Tages ein ganzer Wagenpark gehören, Ray.«

Als Dick vortrat, um sich zu empfehlen, fragte der alte Bennett zu seiner freudigen Überraschung: »Wollen Sie vielleicht bleiben und eine einfache Mahlzeit mit uns teilen? Dann werden Sie meinem unklugen Herrn Sohn auch erzählen können, dass ein großes Auto zu besitzen nicht immer die reinste der Freuden ist.«

Dicks erster Eindruck war das Erstaunen der jungen Frau. Anscheinend wurde er ungewöhnlich geehrt, was ihm, nachdem John Bennett gegangen war, bestätigt wurde.

»Sie sind der erste Mensch, den Vater je zum Essen eingeladen hat, nicht wahr, Ray?«, sagte sie.

Ray lächelte. »Vater hält nicht viel von Geselligkeit, das stimmt«, sagte er. »Ich bat ihn neulich, Philo Johnson zum Weekend einzuladen, aber er verwarf diese Idee, noch ehe sie geboren war. Dabei ist der alte Philosoph ein guter Kerl und der Privatsekretär des Chefs. – Sie haben doch von den ›Vereinigten Maitlands‹ gehört?«

Dick nickte. Der Marmorpalast am Strand nahe dem Embankment, in dem der märchenhaft reiche Mr Maitland seine Büros hatte, war eines der Prunkgebäude Londons.

»Ich bin Sachbearbeiter in seinem Büro«, sagte der junge Mann. »Und Philo könnte sehr viel für mich tun, wenn mein Vater mit seiner Einladung herausrücken wollte. So aber bin ich wohl verdammt, mein ganzes Leben lang ein kleiner Angestellter zu bleiben.«

Die Hand der jungen Frau legte sich auf seine Lippen. »Es ist töricht, Papa zu tadeln. Und du wirst sicherlich eines schönen Tages sehr, sehr reich werden.«

Der junge Mann brummte unter ihrer Hand und sagte ein wenig bitter: »Papa hat ohnehin schon jedes ›Wie werde ich reich‹-System erprobt, das Menschenverstand und Geist nur …«

»Nun? Und?« Die Stimme klang rau und bebte vor Zorn. Niemand hatte John Bennetts Wiederauftauchen bemerkt. »Du leistest jede Arbeit mit Unwillen, aber ich – ich versuche seit zwanzig Jahren, mich emporzuarbeiten. Es ist wahr, ich habe jede dumme Strategie ausprobiert – aber es ist um euretwillen geschehen …« Er stockte plötzlich, als er Gordons Verlegenheit bemerkte. »Ich habe Sie eingeladen, und nun wasche ich die schmutzige Wäsche des Hauses vor Ihnen«, sagte er mit reuigem Humor. Er nahm Dicks Arm und führte ihn den Gartenweg zwischen den üppig wuchernden Buschrosen entlang. »Ich weiß nicht, warum ich Sie zum Bleiben eingeladen habe, junger Mann«, sagte er. »Vielleicht ein Impuls, vielleicht auch mein schlechtes Gewissen. Ich ermögliche den jungen Leuten zu Hause nicht all die Geselligkeit, die sie genießen sollten, und bin selbst kein besonders guter Gesellschafter für sie. Aber es ist doch zu töricht, dass Sie Zeuge des ersten Familienzankes sein mussten, den wir seit Jahren hatten.« Seine Stimme und seine Manieren waren die eines gebildeten Mannes. Dick hätte von Herzen gern gewusst, welchen Beruf er hatte.

Während der Mahlzeit saß Ella Bennett links von Dick. Sie sprach wenig, und wenn er sie verstohlen ansah, so hoffte er heimlich, es wäre um seinetwillen, dass sie so verwirrt und innerlich beschäftigt schien. Sie bediente selbst bei Tisch und hatte eben das Obst aufgetragen, als der Alte fragte: »Ich kann Sie doch nicht für so jung halten, wie Sie aussehen, Mr Gordon. Wie alt sind Sie wohl?«

»Ich bin schon furchtbar alt«, sagte Dick. »Einunddreißig.«

»Einunddreißig?«, rief Ella und errötete. »Und ich sprach mit Ihnen wie mit einem Kind!«

»Denken Sie ruhig, dass ich in meinem Herzen noch ein Kind bin«, sagte er ernst. »Obwohl ich Diebe und Mörder und schlechte Charaktere im Allgemeinen verfolge. Ich bin bei der Staatsanwaltschaft.«

Das Messer fiel klappernd aus Bennetts Hand, und sein Gesicht wurde weiß. »Gordon! Richard Gordon«, sagte er hohl. Eine Sekunde lang trafen sich die Blicke der beiden Männer.

»Ja, so heiß ich«, sagte Gordon beherrscht, »und ich bin der Meinung, dass Sie und ich schon irgendwann einmal aufeinandergetroffen sind.«

Die blassen Augen zwinkerten nicht. John Bennetts Gesicht war reglos wie eine Maske. »Nicht beruflich, hoffentlich«, sagte er, und es klang wie eine Herausforderung.

Auf dem Rückweg nach London strengte Dick vergeblich sein Gedächtnis an, aber er konnte John Bennett aus Horsham mit keinem Geschehnis in Zusammenhang bringen.

2
Ein Gespräch über Frösche

Die Vereinigten Maitlands waren aus einem kleinen Büro in verhältnismäßig kurzer Zeit zu ihrer jetzigen palastähnlichen Dimension herangewachsen. Maitland war ein Mann in vorgerückten Jahren, patriarchalisch im Aussehen und knapp in seiner Rede. Er war ohne jede Protektion nach London gekommen und erfolgreich geworden, bevor London seiner Existenz noch gewahr wurde.

Dick Gordon sah den Spekulanten zum ersten Mal, als er in dem marmorprunkenden Vestibül wartete. Ein Mann von mittlerer Größe, kräftig gebaut, mit einem Bart, der bis zur Brust reichte, und Augen, die unter den dichten weißen Brauen fast verborgen lagen. Mit schweren Schritten kam er langsam aus dem nächstgelegenen Büro, wo etwa zwanzig Beamte unter den grünen Lampenschirmen arbeiteten. Er sah weder nach rechts noch nach links, stieg in den Lift und verschwand.

»Das ist der Alte, haben Sie ihn früher schon mal gesehen?«, fragte Ray Bennett, der vor einem Augenblick gekommen war, um den Besucher zu begrüßen. »Er ist ein verehrungswürdiger alter Bursche, aber hält dicht wie eine schallsichere Tür. Sie können aus ihm kein Geld herausziehen, selbst wenn Sie Dynamit verwendeten. Philo zahlt er ein Gehalt, das man einem durchschnittlichen Sekretär nicht einmal anzubieten wagen würde, aber Philo ist eine viel zu gutmütige Seele.«

Dick Gordon fühlte sich recht unbehaglich. Seine Gegenwart in Maitlands Bankhaus war verwunderlich, seine Entschuldigung für diesen Besuch so schwach wie nur irgend möglich. Hätte er dem geschmeichelten jungen Mann, den er in den Geschäftsstunden aufstörte, die Wahrheit offenbart, so hätte sie gelautet: »Ich habe mich närrisch in Ihre Schwester verliebt. An Ihnen selbst bin ich nicht besonders interessiert, aber ich betrachte Sie als Bindeglied, das mir zu einer neuerlichen Begegnung mit ihr verhelfen kann. Deshalb nutze ich meine Anwesenheit in der Nachbarschaft als Ausrede für diesen Besuch und bin sogar bereit, Ihren Philo kennenzulernen, der mich sicher von Herzen langweilen wird.« Doch statt all dem sagte er nur: »Warum nennen Sie ihn so?«

»Weil er ein alter Philosoph ist. Sein richtiger Name ist Philipp Johnson. Jedermann ist Philos Freund. Er gehört zu der Art von Menschen, mit denen man leicht gut Freund wird.«

Die Tür des Aufzugs öffnete sich in diesem Moment, und Dick Gordon wusste intuitiv, dass der kahlköpfige Mann mittleren Alters mit dem gutmütigen Gesicht, der nun heraustrat, soeben Gegenstand ihres Gesprächs gewesen war. Sein rundes fettes Antlitz wurde von einem gutmütigen Lächeln überstrahlt, als er Ray erkannte, und nachdem er ein Bündel von Dokumenten einem der Angestellten übergeben hatte, kam er zu ihnen herüber.

»Das ist Gordon«, stellte Ray vor, »und das ist mein Freund Johnson.«

Philo ergriff warmherzig die ausgestreckte Hand. Warm war ein Wort, das wie kein anderes Mr Johnsons Wesen kennzeichnete. Sogar Dick Gordon, der nicht allzu schnell bereit war, sich fremden Einflüssen hinzugeben, unterlag dem unmittelbaren Eindruck seiner Freundlichkeit.

»Sie sind Mr Gordon von der Staatsanwaltschaft, Ray hat es mir erzählt«, sagte er. »Ich würde mich freuen, wenn Sie eines Tages herkämen, um den alten Maitland mitzunehmen. Von allen Männern, denen ich je begegnet bin, ist sicherlich er derjenige, den Sie am ehesten verfolgen sollten. – Ich muss jetzt gehen, er ist heute Morgen in einer schrecklichen Laune. Man könnte glauben, die Frösche hüpften hinter ihm her.« Mr Johnson schien geneigt zu sein, über seinen eigenen Witz zu lachen, dann eilte er mit fröhlichem Nicken zurück zum Lift.

»Ich muss jetzt auch wieder hineingehen«, sagte Ray, und ein fast ängstlicher Blick traf Gordon. »Ich danke Ihnen, dass Sie Ihr Versprechen gehalten und mich besucht haben. Ja – ich möchte mich gern einmal mit Ihnen zum Lunch treffen. Und meine Schwester wird sicherlich ebenso gern mit dabei sein. Sie ist oft in der Stadt.«

Sein Abschied war hastig und ein wenig zerstreut, und Dick trat mit einem Gefühl der Beschämung auf die Straße.

Als er in sein Büro zurückkehrte, fand er einen verstört aussehenden Polizeichef vor, der auf ihn wartete und bei dessen Anblick Dick mehrmals die Augen zusammenkniff. »Nun?«, fragte er. »Was ist mit Genter?«

Der Polizeichef zog eine Grimasse wie ein Kranker, der eine unangenehme Arznei schlucken muss. »Sie sind mir entwischt«, sagte er. »Der Frosch kam im Auto, und weg waren sie, bevor mir überhaupt klar wurde, was geschah. Ich mache mir keine großen Sorgen, Genter hat einen Revolver und ist ein zäher Bursche, wenn’s gefährlich wird, aber …«

Gordon blickte den Mann an und durch ihn hindurch. »Ich glaube, Sie hätten auf das Auto vorbereitet sein müssen«, sagte er. »Wenn Sie Genters Botschaft für wohlbegründet hielten und er den Fröschen auf der Spur war, wie Sie sagten, hätten Sie mit dem Auto rechnen müssen. Nehmen Sie Platz, Wellingdale.«

Der grauhaarige Mann gehorchte. »Ich versuche nicht, mich zu entschuldigen«, sagte er. »Die Frösche haben mich überrumpelt. Früher habe ich sie als einen Spaß betrachtet.«

»Es mag sein, dass es klüger wäre, wenn wir sie auch jetzt noch als einen Spaß betrachteten«, meinte Dick und biss das Ende seiner Zigarre ab. »Vielleicht sind sie nichts weiter als ein verrückter geheimer Verein. Schließlich dürfen sogar Stromer ihre Vereinslokale haben, ihre Losungsworte und Zeichen.«

Wellingdale schüttelte den Kopf. »Sie dürfen die letzten sieben Jahre nicht unter den Teppich kehren«, sagte er. »Es ist nicht nur die Tatsache, dass jeder zweite Straßenräuber, den wir fingen, den Frosch auf seinem Handgelenk tätowiert hatte, das mag bloße Nachahmung sein, und auf jeden Fall haben alle Gauner von niedriger Mentalität Tätowierungen. Aber in diesen sieben Jahren hatten wir eine Serie der unangenehmsten Verbrechen. Zuerst der Angriff auf den Chargé d’Affaires von der Gesandtschaft der Vereinigten Staaten, den sie im Hyde Park niederschlugen. Dann der Fall des Präsidenten der Northern Trading Co, der zusammengeschlagen wurde, als er aus seinem Auto in der Park Lane ausstieg. Dann das große Feuer, das Rohgummi im Wert von vier Millionen Pfund in Rauch aufgehen ließ. Es war das Werk von sicherlich etwa einem Dutzend Bomben, denn die Lagerhäuser bestanden aus sechs großen Wagenschuppen, und jeder einzelne wurde gleichzeitig an beiden Enden angezündet. In der Gummiaffäre fingen wir zwei Männer. Beide waren Frösche, beide trugen das Totem ihres Stammes. Sie waren Ex-Sträflinge, und einer von ihnen gab zu, dass er die Instruktion erhalten hätte, diese Arbeit auszuführen, aber am nächsten Tag nahm er seine Aussage sogleich wieder zurück. Ich habe nie einen ängstlicheren Mann gesehen als ihn. Ich könnte noch Dutzende von Fällen anführen. Sie wissen, dass Genter jetzt seit zwei Jahren auf ihrer Spur ist. Aber was er in diesen zwei Jahren hat erdulden müssen, das wissen auch Sie nicht. Er hat im Lande herumvagabundiert, hat hinter Hecken geschlafen, hat sich mit jeder Art von Landstreichern befreundet und mit ihnen gestohlen und geraubt. Als er mir schrieb, dass er mit der Organisation in Verbindung getreten sei und eingeweiht zu werden hoffe, dachte ich, er wäre jetzt nahe daran, sie zu haben. Aber der heutige Morgen hat mich ganz krank gemacht.«

Dick Gordon öffnete eine Schublade seines Pultes, entnahm ihr eine Ledermappe und wendete die Papiere um, die sie enthielt. Er studierte sie sorgfältig, als sähe er sie zum ersten Mal. In Wahrheit hatte er sie jahrelang fast Tag um Tag geprüft. Die Fotografien zeigten die Handgelenke Gefangener. Nachdenklich schloss er die Ledermappe und legte sie in die Schublade zurück. Ein paar Minuten lang saß er still und trommelte mit den Fingern auf den Rand seines Schreibtisches. Ein Schatten zog über seine Stirn. »Der Frosch ist immer auf das linke Handgelenk tätowiert, immer ein wenig schief, und immer ist ein kleiner Punkt daruntergesetzt«, sagte er. »Scheint Ihnen das irgendwie seltsam?«

Aber der Polizeichef fand keineswegs etwas Merkwürdiges daran.

3
Der Frosch

Es dunkelte bereits, als zwei Landstreicher, die einen Umweg um das Dorf Morby herum gemacht hatten, wieder auf die alte Poststraße kamen. Die Umgehung des Ortes war für sie ein mühevolles und anstrengendes Unternehmen gewesen, denn der Regen, der den ganzen Tag gefallen war, hatte die gepflügten Felder in zähes braunes Moor verwandelt, wodurch die Wanderung zu einer Geduldsprobe wurde.

Der eine der Landstreicher war groß, unrasiert, schäbig. Er trug den verschossenen braunen Mantel bis zum Kinn zugeknöpft, den eingedrückten Hut mit der hängenden Krempe auf den Hinterkopf zurückgeschoben. Neben ihm schien sein Gefährte nur von kleinem Wuchs, obgleich er größer als mittelgroß und ein wohlgewachsener breitschultriger Mann war. Während sie so auf der lehmigen Landstraße dahinstapften, sprachen sie kein Wort. Der kleinere Mann blieb zweimal stehen und sah in die zunehmende Dunkelheit, als hielte er nach einem Verfolger Ausschau. Und einmal ergriff er des großen Mannes Arm und zog ihn hinter die Büsche, die die Landstraße begrenzten. Dies geschah, als unter Getöse und Aufspritzen des nassen Schlammes ein Auto an ihnen vorbeiraste. Nach einer Weile bogen sie von der Straße ab, überquerten ein Feld und kamen an den Rand eines unbebauten Landstrichs, über den eine alte Wagenspur führte.

»Jetzt sind wir gleich da«, brummte der kleinere Mann, und der andere grunzte seine Zustimmung. Trotz seiner anscheinenden Gleichgültigkeit nahmen seine Augen jede Einzelheit der Szenerie wahr: Ein einsames Gebäude am Horizont, das wie eine Scheune aussah – Grafschaft Essex, wie er nach der Nummernbezeichnung des Autos vermuten musste, die er bemerkt hatte, als der Wagen an ihm vorbeisauste. Unbebautes Land … wahrscheinlich zu einer nicht mehr in Betrieb stehenden Lehmgrube führend. Oder war es ein Steinbruch? Nahe dem Tor, durch das die Wagenspur lief, war an einem wackligen Pfosten ein altes Ankündigungsbrett befestigt. Es war zu finster, um die verwischte Schrift darauf zu lesen, aber er erkannte das Wort »Kalk«. »Kalkstein?« Es würde ein Leichtes sein, dies später zu ergründen. Die einzige Gefahr für ihn bestand in der möglichen Überzahl der Frösche. Unter dem Schutz seines Mantels fühlte er nach der Browning und ließ sie in seine äußere Tasche gleiten. Hilfe gab es nicht, und er erwartete sie auch nicht. Carlo hatte ihn in einem Vorort der City mit seinem elenden Auto aufgesammelt und ihn kreuz und quer durch den Regen gefahren, indem er Nebenstraßen folgte und Städte und Dörfer mied. Selbst wenn Genters Platz an der Seite des Fahrers gewesen wäre, hätte er die Orientierung verloren. Aber er war in die Finsternis des kleinen Transporters gesetzt worden und hatte nichts gesehen. Wellingdale und dessen Leute, die ihn bewacht hatten, waren auf das Auto nicht vorbereitet gewesen. Ein Vagabund mit einem Auto war eine Ungeheuerlichkeit. Er selbst, Genter, war zurückgezuckt, als der Transporter am Gehsteig anhielt, wo er selbst wartend gestanden hatte, und Carlos Stimme zischelte: »Steig ein!«

Unter sich sah Genter jetzt verrostete Eisenkarren, durcheinandergeworfene Eisenbahnschienen, dazwischen tiefe, regengefüllte Sprenglöcher. Jenseits, auf der scharfen Linie des Steinbruchrandes, stand eine winzige Holzhütte. Und zu dieser lenkte Carlo seine Schritte.

»Nervös, was?«, fragte er, und Spott schwang in seiner Stimme mit.

»Nicht sehr«, sagte der andere kühl. »Vermutlich sind die Frösche in der Bude da unten?« Carlo lachte leise.

»Es sind keine da«, sagte er. »Nur der Frosch allein. Er kommt vom Steinbruch herauf. Da ist eine Treppe unter der Hütte. Guter Einfall, was? Die Hütte hängt gerade über dem Abgrund, und die Stufen kann man nicht einmal sehen, wenn man sich auf dem Bauch vorschiebt und über den Rand hinunterschaut. Ich habe es einmal versucht. Die werden ihn nie fangen, nicht wenn sie Millionen von Spitzeln schicken!«

»Nun, und wenn sie den Steinbruch abriegeln würden?«

»Du glaubst doch nicht, dass er es nicht weiß, wenn er gefangen werden soll? Er weiß alles, der Frosch.« Er sah auf die Hand des anderen herab. »Es wird nicht wehtun«, sagte er. »Und es lohnt sich. Du wirst nie mehr ohne Freunde sein, Harry. Und wenn du mal in der Patsche sitzt, haut dich der beste Anwalt raus. Wir suchen solche Burschen, wie du einer bist. Es gibt massenhaft Halunken, die sich wegen ganz kleiner Sachen schon einbilden, dass sie zu uns gehören. Aber du wirst große Aufträge erledigen, und wenn du für ihn etwas Besonderes tust, kriegst du Hunderte und Hunderte von Pfund. Und wenn du krank wirst oder hungrig bist oder so, werden die Frösche zu dir kommen und dir helfen.«

Genter schwieg. Sie waren jetzt etwa zwölf Schritte von der Hütte entfernt, einem massiven Gebäude, aus dickem Bauholz gezimmert, mit einer Tür und einem geschlossenen Fensterladen. Der Mann, der sich Carlo nannte, machte ihm ein Zeichen zu verweilen. Er selber ging weiter und klopfte an die Tür. Genter sah, wie der Mann zum Fenster trat und dessen Laden sich einen Zoll breit öffnete. Es schien ein Gespräch im Flüsterton zu folgen, dann kam Carlo zurück.

»Er hat gesagt, dass er Arbeit für dich hat, die dir Tausende einbringen kann. Du hast wirklich Glück! Kennst du Rochmore?«

Genter nickte. Er kannte diese Vorstadt der Aristokraten.

»Dort wohnt ein Mann, dem eins über den Schädel gezogen werden soll. Er kommt jede Nacht mit dem 11-Uhr-50-Zug aus seinem Klub und geht zu Fuß nach Hause. Es steht in einer dunklen Straße, die ansteigt, und mit einem Knüppel kann man ihn ganz ohne Mühe erwischen. Bloß ein Schlag, und er geht zu Boden. Das heißt aber noch nicht töten, verstehst du?«

»Warum will er, dass ich das tu?«

Die Erklärung leuchtete ein: »Alle Neuen müssen etwas tun, um ihren Mut zu beweisen. Also, was meinst du?«

Genter zögerte nicht. »Wird erledigt!«, sagte er.

Carlo kehrte zum Fenster zurück und hieß seinen Gefährten folgen. »Bleib hier stehen und streck den linken Arm durchs Fenster!«

Genter streifte die Manschette eines durchnässten Ärmels zurück und streckte seinen nackten Arm durch den Spalt. Seine Hand wurde mit festem Griff erfasst, und sogleich fühlte er, wie etwas Weiches und Nasses sich gegen sein Handgelenk presste. – Ein Gummistempel, dachte er und wappnete sich gegen den Schmerz, der nun folgen musste. Er kam wie das schnelle prickelnde Stechen von tausend Nadeln. Dann ließ der Griff nach, Genter riss seine Hand zurück und starrte verwundert auf das verwischte Bild aus Tinte und Blut, das der Tätowierende auf seinem Handgelenk zurückgelassen hatte.

»Wisch das Blut nicht ab«, sagte eine erstickte Stimme aus der Finsternis der Hütte. »Jetzt kannst du reinkommen.«

Der Fensterladen schloss sich und wurde von innen verriegelt, dann erklang das Knarren eines Schlüssels, der sich im Schloss drehte, und die Tür öffnete sich. Genter trat in die pechschwarze Finsternis und vernahm, dass die Tür der Hütte von dem Unsichtbaren verriegelt wurde.

»Deine Nummer ist K 971«, sagte die hohle Stimme. »Wenn du sie in den Kleinanzeigen der Times siehst, berichtest du hierher, wo immer du auch bist. Nimm das …«

Genter streckte seine Hand aus, und ein Briefumschlag wurde in sie gelegt. Es war, als ob der geheimnisvolle Frosch selbst in dieser Finsternis zu sehen vermochte.

»Das ist dein Reisegeld und eine Landkarte der Gegend. Wenn du das Geld für dich ausgibst oder nicht dorthin kommst, wo man deiner bedarf, wird man dich töten. Hast du mich verstanden?«

»Jawohl.«

»Du wirst weiteres Geld erhalten, das du für deine Ausgaben verwenden kannst. Hör mir jetzt zu. In Rochmore wohnt in der Park Avenue Nummer 17 Hallwell Jones, ein Bankier …« Er mochte gefühlt haben, dass der Neuling überrascht zusammenfuhr. »Du kennst ihn?«

»Ja, ich habe vor Jahren für ihn gearbeitet«, sagte Genter. Er zog seine Browning hervor und entsicherte sie mit dem Daumen.

»Bis Freitag muss er niedergeschlagen werden. Du brauchst ihn aber nicht zu töten. Wenn es geschieht, so macht es nichts, aber ich vermute, dass sein Schädel zu hart sein …«

Genter hatte nun, da seine Augen sich an das Dunkel zu gewöhnen begannen, festgestellt, wo der Mann stand. Seine Hand griff plötzlich zu und erfasste den Arm des Frosches. »Ich habe eine Pistole«, sagte er zwischen den Zähnen. »Ich bin Inspector Genter vom Polizeihauptquartier, und wenn du dich zur Wehr setzt, bringe ich dich um.«

Eine Sekunde lang herrschte Totenstille. Dann fühlte Genter, wie seine Hand, die die Pistole hielt, mit schraubengleichem Griff umfasst wurde. Er schlug mit der anderen Faust zu, aber der Mann bückte sich, und der Schlag fuhr durch die Luft. Dann wurde die Pistole mit unerträglicher Drehung aus Genters Hand gewunden, und zwischen ihm und seinem Gefangenen kam es zum Handgemenge. Dabei berührte sein Gesicht das des Frosches. War es eine Maske, die er trug? Er spürte die kalten Glimmerbrillengläser auf seiner Wange. Dies erklärte die erstickte Stimme. So kräftig Genter auch war, er konnte sich aus den ihn umklammernden Armen nicht befreien, und sie schwankten in der furchtbaren Finsternis hin und her. Plötzlich hob der Frosch den Fuß, und um dem vorausgesehenen Stoß zu entgehen, machte Genter eine heftige Wendung. Glas splitterte, und ein scharfer, kalter, durchdringender Geruch drang dem Inspector in die Nase. Er versuchte, tief zu atmen, meinte aber zu ersticken, und seine Arme fielen schlaff und machtlos herab.

Der Frosch hielt die gebeugte Gestalt eine Minute lang, dann ließ er sie zu Boden fallen.

Am Morgen fand eine Londoner Polizeipatrouille Inspector Genter im Garten eines leeren Hauses liegend und rief einen Krankenwagen.

Aber ein Mann, der mit konzentrierten Blausäuredämpfen vergiftet worden ist, stirbt schnell. Zehn Minuten nachdem der Frosch den Glaszylinder, den er für ähnliche Notfälle in der Hütte aufbewahrte, zerbrochen hatte, war Genter eine Leiche.

4
Elk

Auf der ganzen Welt gab es keinen Polizisten, der weniger nach einem Polizeibeamten, noch dazu einem recht klugen Polizeibeamten, aussah als Elk. Er war groß und hager, und seine etwas krumme Haltung verstärkte noch den Eindruck seiner Kümmerlichkeit. Seine Kleider schienen schlecht zu passen und hingen mehr an ihm herunter, als dass sie ihn kleideten. Winters wie sommers trug er einen schmutzigen rehfarbenen Überzieher, der stets und ständig zugeknöpft blieb, und auch den gleichen gelbbraunen Anzug trug er seit jedermanns Gedenken. Wenn Regen fiel, glänzte sein schwarzer steifer Hut vor Nässe, aber Elk spannte den Regenschirm nicht auf, der schlecht gewickelt und plump an seinem Arm hing. Niemals hatte jemand ihn geöffnet gesehen. Elks leichenblasses Gesicht hatte unentwegt den Ausdruck tiefster Düsterheit, und seine Vorgesetzten fanden, dass sein Einfluss deprimierend war, denn die Art, wie er in die Zukunft sah, wurde durch seine nie erlangte Beförderung beeinträchtigt. Zehn Mal hatte er sich zur Prüfung gemeldet, und zehn Mal hatte er unweigerlich bei demselben Thema: Geschichte, versagt. Dick Gordon, der Elk besser als seine unmittelbaren Vorgesetzten kannte, vermutete, dass dieses Missgeschick ihn gar nicht so sehr bekümmerte, wie mancher annahm.

»Die armen Sünder haben auf Erden keine Ruhe«, seufzte Elk und setzte sich auf den angebotenen Sessel. »Ich dachte, Mr Gordon, ich würde wenigstens nach meiner Reise in die USA Ferien von Ihnen bekommen.«

»Lieber Elk, ich möchte alles über Lola Bassano erfahren«, sagte Dick. »Wer ihre Freunde sind, warum sie sich so plötzlich Ray Bennett angeschlossen hat, der ein kleiner Angestellter bei den Vereinigten Maitlands ist. Vor allem aber, warum sie ihn gestern Nacht an der Ecke vom St. James’s Square abgeholt und nach Horsham gefahren hat. Ich sah sie durch Zufall, als ich aus meinem Klub kam, und folgte ihnen. Sie saßen fast zwei Stunden in ihrem Wagen ungefähr hundert Meter von Bennetts Haus entfernt und unterhielten sich. Ich stand im Regen hinter dem Wagen und lauschte. Wenn er ihr den Hof gemacht hätte, so hätte ich es verstanden. Aber sie redeten und redeten nur von Geld. Und dabei hat der junge Bennett keinen Penny in der Tasche.«

Elk rauchte gedankenvoll. »Bennett hat eine Schwester«, sagte er plötzlich zu Dicks Erstaunen. »Sie ist sehr hübsch, aber der alte Bennett ist bestimmt irgendeine Art von Gauner. Er geht keiner regelmäßigen Arbeit nach, sondern bleibt manchmal tagelang fort und sieht merkwürdig schlecht aus, wenn er zurückkommt.«

»Sie kennen die Familie?«

Elk nickte. »Der alte Bennett interessiert mich. Jemandem kam sein Lebenswandel schon verdächtig vor, jemandem von der örtlichen Polizei. Die Kollegen haben ja nichts zu tun, als Lämmchen zu hüten, und sehen natürlich ihn jedem, der kein Lämmchen ist, einen verdächtigen Charakter. Ich habe den alten Bennett beobachtet, bin aber nie hinter seine Handlungen gekommen. Er hat eine Menge der sonderbarsten Berufe gehabt. Jetzt macht er eben Aufnahmen. Ich würde wirklich etwas dafür geben zu erfahren, was sein richtiger Beruf ist. Regelmäßig, einmal im Monat, manchmal zweimal, manchmal noch öfter, verschwindet er und ist nicht auffindbar. Ich habe jeden Stromer in London nach ihm gefragt, aber sie sind alle genauso ratlos und verblüfft darüber wie ich. Lew Brady hat sich auch für ihn interessiert. Er hasst Bennett. Vor Jahren machte er sich an den alten Mann heran und versuchte, aus ihm herauszubringen, was für ein Spiel er treibt. Aber Bennett hat es ihm heimgezahlt.«

»Der alte Mann?«, fragte Dick ungläubig und sah ihn an.

»Jawohl! Er ist stark wie ein Stier … Also, ich werde Lola besuchen. Sie ist kein schlechtes Mädel, aber mir persönlich sagen Vampire nicht zu. Also, Genter ist tot? Denken Sie, dass der Frosch auch daran beteiligt war?«

»Ohne Zweifel«, sagte Dick aufstehend. »Und hier, Elk, ist einer der Leute, die ihn umgebracht haben.« Er ging ans Fenster und beugte sich hinaus. Aber der Mann, der vorher noch auf dem Gehsteig gestanden hatte, war verschwunden.

»Wo?«, fragte Elk hinter ihm.

»Er ist jetzt eben fort. Ich …« Im gleichen Moment zerbrach das Fenster, und die Glassplitter, die ins Büro flogen, verletzten sein Gesicht. In der nächsten Sekunde riss Elk ihn heftig zurück.

»Der Schütze steht auf dem Dach eines Hauses der Onslow Gardens«, sagte Dick ruhig. »Er hat Dutzende Wege, um zu entwischen, die Feuerleiter nicht ausgenommen. Das ist das zweite Mal, dass sie heute bei hellem Tageslicht versuchen, mich zu erwischen. Als ich nach Hause zurückkehrte, war es das erste Mal. Ein geradezu genialer Versuch, mich mit einem wendigen Auto zu überfahren. Das verdammte Ding erkletterte sogar das Trottoir.«

»Haben Sie sich die Nummer gemerkt?«

»10 L. 19741. – Es gibt keine solche Nummer im Register, und der Fahrer war fort, bevor ich irgendetwas unternehmen konnte, um ihn aufzuhalten.«

Elk kratzte sich am Kinn und betrachtete zweifelnd den jugendlichen Staatsanwalt. »Das klingt ja sehr interessant. Ich habe bisher viel zu wenig auf die Frösche geachtet. Heutzutage sind geheime Gesellschaften so üblich, dass jedes Mal, wenn mir ein Herr die Hand schüttelt, er mich enttäuscht ansieht, wenn ich nicht an meinem Ohr zupfe oder mit dem Fuß aufstampfe. Ich dachte, eine Räuberbande von großem Format ist etwas, wovon man nur in Romanen liest.«

Elk nahm Abschied und ging auf dem größtmöglichen Umweg zu Scotland Yard zurück, anscheinend ein kleiner Angestellter, der nichts zu tun hatte, mit schlecht gerolltem Regenschirm und verbogener Stahlbrille. Er schlenderte zum Trafalgar Square, stand gedankenvoll still und kehrte wieder um. Dem Büro des Staatsanwaltes gegenüber hatte sich ein großer Straßenverkäufer mit einem kleinen Tragbrett voller Zündhölzchen, Schlüsselringen, Bleistiften und tausenderlei Kleinigkeiten, die solche Leute verkaufen, postiert. Seine Waren wurden im Augenblick von einem regennassen Wachstuch bedeckt.

Elk hatte ihn früher nie bemerkt und wunderte sich, warum der Mann einen so ungünstigen Standplatz gewählt hatte, denn das Ende der Onslow Gardens, der windigste Punkt in Whitehall, war auch an schönen Tagen nicht der Ort, an dem der eilige Fußgänger stehen bleiben würde, um einen Gegenstand zu erstehen. Der Händler trug einen schäbigen Regenmantel, der bis zu den Stiefelabsätzen reichte. Sein weicher Filzhut war tief in die Stirn gezogen, aber Elk sah das Gesicht, das an einen Raubvogel gemahnte, und hielt inne.

»Guter Verdienst?«

»Nein.«

Elk war sofort gefesselt. Dieser Mann war Amerikaner und versuchte, Cockney zu sprechen. Eine nicht zu bewältigende Herausforderung, denn das Weinerliche und die Betonung eines echten Londoners sind unnachahmlich. »Sie sind Amerikaner, aus welchem Staat?«

»Georgia«, war die Antwort, und diesmal machte der Hausierer keinen Versuch mehr, seine Aussprache zu verstellen. »Ich bin auf einem Viehdampfer während des Krieges rübergekommen.«

Elk streckte die Hand aus. »Zeigen Sie mal Ihre Lizenz!«

Ohne Zögern wies der Mann den geschriebenen Polizeierlaubnisschein vor, der ihn als Straßenverkäufer auswies. Er lautete auf den Namen »Joshua Broad« und war in Ordnung.

»Sie sind nicht aus Georgia«, sagte Elk, »aber das macht nichts. Sie sind aus Hampshire oder Massachusetts.«

»Connecticut, um ganz genau zu sein«, sagte der andere kühl. »Aber ich habe in Georgia gewohnt. Brauchen Sie keinen Schlüsselring?« Seine Augen leuchteten belustigt, als er das Tuch vom Brett hob.

»Nein, ich habe nie einen Schlüssel besessen, habe nie etwas Einschließenswertes gehabt«, sagte Elk und befingerte die Sachen. »Das ist aber kein guter Platz hier.«

»Das stimmt«, sagte der Hausierer, »viel zu nahe bei Scotland Yard, Mr Elk.«

»Woher kennen Sie mich?«

»Das tun doch die meisten, nicht?«, fragte der Mann unschuldig.

Elk musterte den Hausierer von den Sohlen seiner klobigen Schuhe bis zu dem durchweichten Hut und ging mit einem Nicken weiter. Der Händler sah dem Sergeant nach, bis dieser außer Sicht war, dann befestigte er das Wachstuch wieder über seinem Tragbrett, schnallte es fest zu und ging in die Richtung, die auch Elk eingeschlagen hatte.

Als Ray Bennett aus Maitlands Bankhaus trat, um zum Lunch zu gehen, sah er einen schäbigen und schwermütig wirkenden Mann an der Ecke des Gehsteiges stehen, der ihm aber nur einen flüchtig schweifenden Blick schenkte. Er kannte Elk nicht, und ihm fiel auch nicht auf, dass er von jenem in das billige Wirtshaus verfolgt wurde, wo Philo Johnson und er ihr bescheidenes Mittagessen einzunehmen pflegten. Der Beobachter wäre Ray sonst unter keinen Umständen entgangen, aber in seiner heutigen Gemütsverfassung hatte er keinen anderen Gedanken als den an sich selbst und an das beleidigende Gehabe des alten, rübezahlbärtigen Maitland.

»Dieser alte Teufel …!«, sagte er, als er neben Johnson ging. »Zehn Prozent vom Gehalt abzuziehen und damit gerade bei mir anzufangen! Und die Morgenzeitungen schreiben heute, dass er für die Northern Hospitals fünftausend Pfund gespendet hat.«

»Er ist ein wohltätiger Bursche, aber was den Abzug anbetrifft, so will er Sie einfach loswerden«, sagte Johnson fröhlich. »Was nutzt die Aufregung? Der Handel liegt darnieder, und die Börse ist toter als Ptolemäus. Der Alte will Sie abbauen. Er meinte, Sie wären irgendwie überflüssig. Wenn Sie doch auch die guten Seiten an der Sache sehen könnten, Ray.«

»Die guten Seiten!«, schnaubte der junge Mann, und sein Gesicht wurde rot wie Mohn. »Ich habe das Gehalt eines kleinen Jungen, brauche aber entsetzlich viel Geld, Philo.«

Philo seufzte, und ein Schatten legte sich auf sein gutmütiges Gesicht. »Wenn ich so denken würde wie Sie, so müsste ich verrückt werden – oder zumindest ein großer Verbrecher. Ich verdiene kaum fünfzig Prozent mehr als Sie, und doch vertraut mir der alte Herr Hunderttausende an. Die Kunst, glücklich zu sein«, sagte er, »besteht darin, keine Bedürfnisse zu haben. Dann bekommt man immer mehr, als man braucht … Wie geht es Ihrer Schwester?«

»Danke, gut«, sagte Ray gleichgültig. »Ella hat dieselbe Veranlagung wie Sie. Es ist leicht, die Sorgen anderer Leute als Philosoph zu betrachten … Wer ist denn dieser merkwürdige Mensch?«, fügte er hinzu, als ein Mann an dem Tisch, der ihrem gegenüberlag, Platz nahm.

Philo, der ein wenig kurzsichtig war, setzte sein Glas auf. »Das ist Elk, einer von Scotland Yard«, sagte er und lachte dem Neuankömmling zu. Ein Wiedererkennen, das zu Rays Ärger und Unbehagen den bekümmert aussehenden Mann an ihren Tisch brachte.

»Mein Freund, Mr Bennett … Inspector Elk.«

»Sergeant«, verbesserte Elk fest. »Das Schicksal war, was eine Beförderung angeht, immer grausam gegen mich. Warum ein Mann die Diebe leichter erwischen soll, wenn er weiß, wann Washington geboren wurde oder wann Napoleon Bonaparte gestorben ist, habe ich nie begriffen … Essen Sie jeden Tag hier, Mr Bennett?«

Ray nickte.

»Ich glaube, Ihren Herrn Vater zu kennen – John Bennett aus Horsham.«

Verzweifelt stand Ray auf, entschuldigte sich mit Zeitmangel und ließ die beiden allein.

»Netter Junge«, nickte Elk und sah Ray Bennett lange nach.

5
Mr Maitland geht nach Hause

Elk begleitete Johnson in sein Büro zurück, und als sie sich dem Bankenpalast der Vereinigten Maitlands näherten, brach Mr Johnson mitten in der interessanten Darlegung seiner Philosophie ab und beschleunigte den Schritt. Elk sah auf dem Gehsteig vor ihnen Ray Bennett und neben ihm die schmale Gestalt einer jungen Frau. Sie wendete den beiden Männern den Rücken zu, aber Elk erriet sogleich, dass es Ella Bennett war. Er hatte sie zweimal vorher gesehen und besaß ein wunderbares Gedächtnis für Rücken. Als Johnson auf sie zustrebte, so schnell, wie es dem beleibten Mann möglich war, grüßte Ella ihn mit einem freundlichen Nicken.

»Das ist ein unerwartetes Vergnügen, Miss Bennett.« Johnsons gemütliches Gesicht erglühte rosig, und Elk stellte fest, dass seine Begrüßung noch wärmer und herzlicher war als sonst.

»Ich wollte heute gar nicht in die Stadt kommen, aber Vater ist wieder auf einem seiner Ausflüge«, sagte sie. »Und ganz komisch – wenn ich nicht genau wüsste, dass sein Zug schon vor zwei Stunden abgefahren ist, so hätte ich schwören können, ihn soeben in einem Autobus gesehen zu haben.«

»Mein Freund, Mr Elk«, stellte Johnson ein wenig ungeschickt vor.

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Bennett«, sagte Elk und wurde Rays Ärger über das neuerliche Zusammentreffen mit einer Befriedigung gewahr, die bei einem fröhlicheren Menschen in Heiterkeit umgeschlagen wäre.

Ray verabschiedete sich, und Ella wechselte mit ihrem Bruder noch ein paar leise Worte. Elk sah, wie der Junge die Stirn runzelte.

»Nein, nein, ich werde nicht mehr so spät kommen«, sagte er dann so laut, dass der Sergeant es hörte, zog den Hut und war schon im Tor verschwunden.

Ella sah ihm mit einem kleinen schmerzlichen Mundzucken nach, dann nahm sie sich zusammen, reichte Johnson die Hand, grüßte Elk mit einem leisen Neigen ihres Hauptes und ging.

»Haben Sie Miss Bennett schon vorher gekannt?«

»Oberflächlich«, antwortete Elk mürrisch. »Oberflächlich kenne ich fast jeden. Gute und schlechte Leute. Aber je besser sie sind, desto weniger gut kenne ich sie. Auf Wiedersehen!«