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Ein Mann und seine kleine Tochter leben allein am Fuße eines Berges. Sie besitzen nur wenige Habseligkeiten, die von der menschlichen Zivilisation übrig geblieben sind. Der Mann lehrt seine Tochter alles, was sie zum Überleben braucht, und weist sie in die Geheimnisse der Jahreszeiten und der Gestirne ein. Später ist das junge Mädchen herausgefordert, sich allein zurechtzufinden. Nur ein Bär begleitet es auf seiner Reise durch die weite Wildnis und vermittelt ihm die elementarsten Weisheiten, die es braucht, um sich in die Natur einzufinden und seine Heimat zu finden.

Andrew Krivak ist ein mit Preisen ausgezeichneter amerikanischer Schriftsteller. All seine Bücher zeugen von der Suche danach, was Menschsein ausmacht. Er hat acht Jahre im Jesuitenorden gelebt. Er wohnt mit seiner Frau und drei Kindern in Massachusetts und New Hampshire/USA. Der Bär, sein im Original mehrfach preisgekrönter Roman, wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Bear bei Bellevue Literary Press, New York

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 Diederichs Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2020 by Andrew Krivak

First published in the United States in 2020 by Bellevue Literary Press, New York.

This edition arranged with Kaplan/DeFiore Rights through Paul & Peter Fritz AG

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: zero-media.net, München

Umschlagmotive: © anand purohit/Moment/Getty Images; MattGrove/iStock.com

Schmuckillustration Innenteil: © Wilm Ihlenfeld/stock.adobe.com

Redaktion: Vera Baschlakow

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-28819-8
V001

www.diederichs-verlag.de

Für Cole, Blaise und Louisa – und für Amelia

Erst nach langer Zeit

erahnten wir ihr Wesen.

Ralph Waldo Emerson

Die letzten beiden waren ein Mädchen und sein Vater. Sie lebten entlang einer alten östlichen Gebirgskette auf der Flanke eines Berges, welchen sie den Berg, der allein steht, nannten. Der Mann war mit einer Frau hierhergekommen zur Zeit ihrer Jugend, und hatte ein Haus gebaut aus Holz, Steinen und Mörtel, den sie aus Lehm und Sand mischten. Es war auf halber Höhe des Abhangs errichtet und bot Aussicht auf einen von Birken und Heidelbeersträuchern umsäumten See. Die Sträucher reiften im Sommer zu großen Fruchtbündeln, die vom Mädchen und seinem Vater gepflückt wurden, während sie in einem Kanu am Ufer vorbeitrieben. Auf der Vorderseite des Hauses war ein kleines Fenster – das Glas war ein Geschenk der Eltern der Frau, nachdem sie selbst es von der Generation vor ihnen empfangen hatten. Es war ein kostbares Gut geworden, da die Fertigkeit zu seiner Herstellung verloren und vergessen war. Durch das Glas konnte das Mädchen am Morgen sehen, wie Adler an den seichten Stellen einer Insel, die sich inmitten des Sees erhob, Fische fingen, und die Schreie der Seetaucher hören, solange sein Frühstück über dem Herdfeuer garte.

Im Winter begann der Schnee bald nach der Herbst-Tagundnachtgleiche zu fallen, und noch Monate nach dem Frühling suchte er den Berg heim. Stürme dauerten jeweils Tage und Wochen, die Wehen wirbelten aufwärts gegen das Haus und begruben die Wege so tief unter sich wie manche Bäume in die Höhe wuchsen. Oft musste der Mann mit einem um die Hüfte geschlungenen Seil durch den Schnee waten, um Feuerholz zu sammeln oder seinen Geräteschuppen am Rand des Waldes zu erreichen.

Doch als die Winde sich legten, die Himmel aufklarten und die tief stehende Sonne wieder schien, wickelte der Mann das kleine Mädchen warm und fest in eine Decke, packte es in seinen Rucksack und schritt hinaus in die Stille des Winters. Er glitt auf Schneeschuhen, gefertigt aus Eschenzweigen und Rohleder, hinunter zum gefrorenen See, wo die beiden den Tag damit verbrachten, Forellen und Barsche durch das Eis zu angeln.

Von der Bergspitze bis zum See bedeckte der Schnee einen so großen Teil der Welt des Mädchens, dass es beim Blick aus dem Fenster fast das halbe Jahr nur eine stille, reglose Landschaft unter einem weiß ausgebreiteten Teppich sehen konnte.

Doch wie lang der Winter auch dauerte, es folgte der Frühling; seine Ankunft war sanft und einigermaßen überraschend, ähnlich den Klängen von Vogelgesang beim Aufwachen oder dem klopfenden Ton eines Wassertropfens, der vom Zweig zur Erde fällt. Während der Schneeschmelze traten schwarze Felsen, graue Flechten und Schichten braunen Laubs aus dem vormals gleichförmig gefärbten Waldboden hervor. Auch die feinen silbrigen Umrisse der Bäume hellten sich allmählich auf mit grün schimmernden Blättern und hoben sich ab von den Gruppen der Hemlocktannen und Kiefern. Das waren die Tage, an denen das Mädchen in der Früh mit seinem Vater das Haus verließ und eine neue Welt erforschte, die aus dem Erdreich empordrang und aus dem Wasser am Rand des Sees auftauchte; Tage, an denen es unter der warmen Sonne auf dem Boden lag und sich fragte, ob die Welt und die Zeit selbst wie Falke und Adler waren, die über ihm in weiten Bögen immer höher stiegen – wohl wissend, dass diese nur einen Teil ihres Flugs bildeten, denn sie mussten von irgendwoher gekommen sein und an einen Ort zurückkehren, der für das Mädchen noch unsichtbar war, den es noch nicht kannte.

Allerdings gab es in den vier Jahreszeiten einen Tag, den das Mädchen am liebsten mochte: die Sommersonnenwende, den längsten Tag des Jahres. Der Tag, an dem es zur Welt gekommen war, wie der Mann ihm erzählt hatte. Und so überreichte er ihm immer am Vorabend der Sonnenwende ein Geschenk. Es erinnerte sich nicht an die ersten Gaben, die es bekommen hatte, die ihm dennoch besonders wertvoll waren. Ein geschnitzter, derart naturgetreu wirkender Holzvogel, als ob er fliegen könnte. Ein aus Rehleder und Flechse hergestellter Beutel, der der Mutter gehört hatte und in dem es farbige, am Seeufer gefundene Steine aufbewahrte. Einen aus massivem Eichenholz geformten Wasserbecher, aus dem es trank. Eine bemalte Schildkröte, die den Händen des Mannes entschlüpfte, als er sie öffnete, und die es den Sommer über als Haustier hielt, im Herbst dann unten am See freiließ.

Am Vorabend des Tages, an dem seine Tochter fünf wurde, reichte ihr der Vater nach der Mahlzeit eine Schale mit frischen Erdbeeren und sagte: Heute habe ich ein besonderes Geschenk für dich.

Er gab ihr eine aus Birkenrinde hergestellte Schachtel, um die ein langer getrockneter Grashalm zur Schleife gebunden war. Sie löste sie und öffnete die Schachtel. Darin befand sich ein blank polierter Silberkamm, der so anders aussah als alles, was sie bisher zu Gesicht bekommen hatte.

Lange blieb ihr Blick daran haften, bis der Mann das Schweigen brach.

Dies war der Kamm deiner Mutter, sagte er. Ich habe auf den Moment gewartet, ihn dir zu geben. Als mir auffiel, wie du unten am Seeufer mit deinem Haar gekämpft hast, dachte ich: Jetzt ist die Zeit dafür gekommen.

Das Mädchen griff in die Schachtel, nahm den Kamm heraus und hielt ihn vor sich wie einen edlen, ehrwürdigen Gegenstand.

Ich liebe ihn, sagte es leise, schloss die Hand um den Kamm, kletterte in die Arme seines Vaters und umarmte ihn.

So weit die Erinnerung des Mädchens zurückreichte, hatte es nur die Stimme des Mannes im Ohr, weshalb ihm nie die Frage in den Sinn kam, ob da noch eine andere Person war, die früher einmal ebenfalls zu ihm gesprochen hatte. Aber als es alt genug war, sich vom Haus zu entfernen und in die Wälder oder hinunter zum See zu laufen, fiel ihm etwas an den Tieren auf. Zwei Füchse flitzten mit ihren Welpen aus dem Bau unter einem umgestürzten Baumstamm heraus und kehrten geschwind wieder dorthin zurück. Jeden Sommer geleiteten zwei Seetaucher ihr Küken über die tiefe Mitte des Gewässers. Und als das Mädchen im Frühjahr Rehe auf einer kleinen Wiese am Fuß des Berges äsen sah, waren die Kitze dicht an ihrer Seite. Nachdem es also gelernt hatte, sich mit dem Kamm durchs Haar zu fahren, und der Mann es eines Abends ins Bett brachte, ihm dann einen Gutenachtkuss gab, blickte es zu seinem Vater auf und fragte: Warum bist du allein?

Der Mann kniete neben dem Bett nieder.

Ich bin nicht allein, sagte er. Ich habe dich.

Ich weiß, erwiderte das Mädchen. Ich meine, wohin ist meine Mutter gegangen? Überall um mich herum sind Dinge, die deinen Worten zufolge einmal ihr gehörten. Aber sie ist nicht hier.

Sie ist hier, sagte er. In dem, was wir von ihr erinnern.

Aber ich erinnere mich nicht an sie. Was ist mit ihr geschehen?

Der Mann senkte den Kopf, hob ihn wieder und erzählte seiner Tochter: Als er und die Frau nach dem Tod beider Eltern zu dem Berg kamen und ihr Haus bauten, sei sie die ganze Welt gewesen, die er kannte. Eine Zeit lang habe er geglaubt, dass sie auf sich allein gestellt für den Rest ihrer Tage in dieser Welt leben würden. Bis die Frau bemerkte, dass sie ein Kind in sich trug.

Mich, sagte das Mädchen.

Dich, bestätigte der Mann. Doch als es so weit war, musste sie schwer kämpfen, um dich zur Welt zu bringen. Und nach diesem Kampf konnte sie nichts anderes tun, als dich zu stillen und auszuruhen. Sie war stark. Stark genug, den Sommer bis in den Herbst zu überstehen, um dir die Milch und Nahrung zu geben, die sie zu geben imstande war. Bald wusste ich aber, dass sie uns verlassen und zu jenem Ort aufbrechen würde, wohin sie der Kampf, ein Kind zu gebären, geführt hatte, und dass weder du noch ich ihr folgen konnten. Und eines Abends vor dem Jägermond schlief sie ein und wachte nicht mehr auf.

Der Mann wandte sich kurz ab, um den Blick ins Dunkel zu werfen, dann richtete er ihn wieder auf seine Tochter. Sie setzte sich auf, streckte die Hand unter der Bettdecke hervor und ergriff seine.

Ist schon gut, besänftigte sie. Ich verstehe.

Er lächelte und sagte: Du bist ein kluges Mädchen. Aber es gibt noch vieles, das du nicht verstehen kannst. So vieles, das zu verstehen dir erspart bleiben sollte. Vorläufig jedenfalls.

Was zum Beispiel?, fragte sie.

Nun, zum Beispiel wie ich selbst nach all diesen Jahren, in denen ich dich anhielt, über jede Minute jedes Tages nachzudenken, noch immer an sie denke. Ich vermisse sie nach wie vor und wünschte, sie wäre hier.

Das Mädchen ließ den Kopf auf das Kissen zurücksinken.

Werde ich dich eines Tages vermissen?, fragte es.

Eines Tages, erwiderte der Mann.

Seine Tochter wurde still, und er dachte, sie sei vielleicht eingeschlafen, aber plötzlich fragte sie in die Nacht hinein: Bist du traurig, dass du mich hast anstatt sie?

Oh nein, keinen Augenblick!, antwortete der Mann mit einer Stimme, die für das kleine Zimmer zu laut war, und drückte ihre Hand fester. Keinen Augenblick. Weißt du, du bist die Freude jenseits jeder Trauer oder jedes verbliebenen Wunsches nach dem, was einmal war. Ohne dich ...

Er verstummte und starrte auf den Boden, um sie dann erneut zu betrachten.

Ohne dich wäre ich nichts als allein, sagte er.

Und ohne dich wäre ich nichts als allein, erwiderte sie.

Mit der Sommerdämmerung war ein Schimmer des Mondlichts durch das Fenster ins Haus eingedrungen, und der Mann konnte Züge der Frau im Gesicht seiner Tochter erkennen.

Ich weiß, was wir tun werden, fuhr er fort. Morgen werden wir zum Gipfel des Berges steigen, wo deine Mutter ruht. Sie liebte den Berg und meinte oft, der Gipfel sehe aus wie ein Bär. Ich möchte, dass du ihn ebenfalls siehst. Möchtest du das auch?

Ja, versicherte das Mädchen.

Gut, flüsterte der Mann, küsste seine Tochter ein zweites Mal auf die Stirn und deckte sie warm zu. Dann schlaf schön. Morgen steht uns ein langer Aufstieg bevor.

Sie drehte sich zur Seite und schmiegte sich unter die Decke. Noch ehe das Mondlicht aus dem Fenster verschwand, war sie eingeschlafen.

In der Morgendämmerung erwachte sie zum Gesang einer Katzendrossel und ging in die Küche, wo ihr Vater gerade ein Frühstück aus getrockneten Apfelscheiben und frischem Minztee zubereitete.

Es ist ein herrlicher Morgen, sagte er zu seiner Tochter. Iss, und wir brechen auf.

Sie rieb ihre Augen und setzte sich an den Tisch. Mehrmals war sie nachts aufgewacht und fühlte sich nun unausgeschlafen. Sie hatte einen Traum gehabt, in dem sie sich irgendwo zwischen dem Gipfel des Berges, der allein steht, und ihrem Zuhause verirrte. Auch wenn sie nicht sicher war, ob sie die Klettertour an diesem Morgen unternehmen konnte oder sich überhaupt wünschte, behielt sie diese Gedanken doch für sich. Der Mann erklärte, ihre Mutter läge in der Erde auf dem Gipfel des Berges, weshalb sie als Tochter ebenso sehr sich selbst wie ihm zuliebe nach besten Kräften versuchen werde, dorthin zu gelangen. Sie aß schweigsam, trank ihren Tee und füllte eine Kürbisflasche mit Wasser. Dann zog sie ihre dicken Hirschlederschuhe an, mit denen sie sich über Felsen bewegen konnte, und sagte: Ich bin bereit.

Da war ein Pfad. Nicht ausgetreten, aber sichtbar. Der erste Abschnitt war nicht schwerer zu bewältigen als ein Spaziergang vom Rand des Sees zum Haus. Doch während sie höher stiegen, wurde das Gelände felsiger, der Pfad steiler. Als die Sonne aufgegangen war und östliches und westliches Ufer des Sees in vollem Licht lagen, hatten sie mit Händen und Füßen Felsblock um Felsblock bis zur Stelle auf der Hälfte des Weges erklettert. Dort ruhten sie sich auf einem steinigen Vorsprung aus.

Das Mädchen trank Wasser und aß eine Handvoll Hickorynüsse. Auf seiner Stirn glänzten Schweißtropfen, aber es gab kein Zurück. So weit sein Blick vom Rastplatz aus reichte, schien der Aufstieg zum Gipfel mühsamer als die Strecke, die es gerade zurückgelegt hatte.

Der Mann fragte sich, was im Kopf seiner Tochter vorgehen mochte, und sagte: Deine Mutter und ich kletterten zusammen jeden Sommer hier herauf, aber zu der Zeit waren wir schon erwachsen. Weißt du, was das bedeutet?

Das Mädchen schaute vom Gipfel des Berges wieder zu seinem Vater und antwortete: Dass ich stärker bin als du.

Ja, erwiderte der Vater und lachte. Und ich habe das Gefühl, dass du es immer sein wirst.

Er stand auf und räumte die Dinge im Rucksack um, die er immer mit sich führte, wenn er das Haus verließ: Messer, Feuerstein und Schlageisen, Knochennadel und Flechsengarn, Nüsse sowie seine eigene, mit Wasser gefüllte Kürbisflasche.

Wir werden uns noch einmal ausruhen, sagte er, und dann zum Gipfel hochsteigen.

Seine Tochter stand auf und ging hinter ihm her.

Sie erreichten ein zerklüftetes Felsgesims unterhalb des Gipfels nach der Mittagsstunde, wie der Mann schätzte. Die Luft war kühl, der Himmel wolkenlos und hell. Eine starke, stetige Brise peitschte die Lederhäute, die sie trugen, und sie beobachteten einen Adler, der auf einer thermischen Drift dahinglitt wie ein einsames und trotziges Blatt im Herbstwind. Die ganze Welt, die sie kannten, breitete sich zu ihren Füßen aus. Berghang. Wald. See.

Das Mädchen fragte seinen Vater, ob sie das Haus sehen könnten, und folgte seiner Blickrichtung bis dorthin, wo er auf einen kleinen Fleck deutete. Sie erkannte die weißen Eichenschindeln auf der Rückfront dessen, was sich als Dach entpuppte, sichtbar vor der endlosen grünen Weite, ebenso jene feine Rauchspur, die vom Feuer im Herd aufstieg. Dann schaute es nach oben zum Gipfel, nicht mehr als zwanzig lange Schritte entfernt, der schartige Fels baumlos und unzähligen Tagen und Nächten mit Sonne, Schnee, Wind und Regen ausgesetzt. Dahinter nichts als Himmel, sodass die Form dieses Gipfels im Profil auch dem Mädchen wie der Kopf eines Bären erschien, der ins Blaue starrte. Und seitlich davon, wie auf dessen Schulter sitzend, sah es eine Ansammlung von Felsbrocken, auf die eine große flache Steinplatte gesetzt war. Es spürte, wie der Schweiß abkühlte, während der Wind gegen Arme und Brust drückte, spähte hinüber zu seinem Vater und zeigte auf die Stelle. Er nickte, und so unternahmen sie die letzten Schritte gemeinsam.

Der Steinhaufen war breit, aber nicht höher als eine Strauchkiefer. Der flache Deckstein ähnelte einem Tisch, die Oberfläche glatt und ohne jede Verzierung. Das Mädchen blieb in einiger Entfernung stehen und überlegte, wie sein Vater den Stein hochgehoben und dort platziert hatte.

Nur zu, sagte er. Du kannst ihn berühren.

Das Mädchen ging vorwärts, legte die Hände auf den Gedenkstein und tastete nach einer Inschrift oder Gravierung, die es vielleicht übersehen hatte, fand aber nichts.

Liegt sie direkt unter den Steinen?, fragte das Mädchen über die Schulter hinweg.

Nein, sagte der Mann. Sie ist im Boden darunter beerdigt. Die sterblichen Überreste von ihr. So tief ich graben konnte. Nichts sollte ihre Ruhe stören.

Noch immer glitt die Hand seiner Tochter über die Oberfläche des Steines.

Wie hast du den ganz allein bewegt?, fragte sie.

Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur, dass ich an einem Herbsttag damit begonnen habe, und dass es schneite, als die Arbeit beendet war. Danach stieg ich mit dir den Berg wieder hinunter.

Mit mir?

Ja. Auf dem Rücken. In ebendiesem Rucksack.

Und du hast so lange dafür gebraucht?

Nein. Die Dinge ändern sich sehr schnell.

Erzähl mir davon, sagte sie.

Sie setzten sich, lehnten an der Seite des Steinhaufens, die vor dem Wind geschützt war. Der Mann nahm einen tiefen Atemzug und begann. Als er an jenem Morgen aufwachte und bemerkte, dass die Frau im Schlaf gestorben war und damit ihr großer Kampf schließlich ein Ende gefunden hatte, blieb er lange neben ihr liegen – bis ihm irgendwann klar wurde, was zu tun war. Er hob das Mädchen aus dem Kinderbett, gab ihm Wasser zu trinken, fütterte es mit dem am Vorabend zubereiteten Rübenpüree, und legte es in den eigens für dessen Transport gefertigten Rucksack. Danach sammelte er Holz jeder Größe, zunächst Stöcke und Zweige, dann Äste und ganze Blöcke von Baumstämmen, die er umgestürzt im Wald gefunden hatte. Am Seeufer schichtete er sie übereinander zu einem riesigen Stoß, zuunterst die trockensten und dünnsten, zuoberst die gröbsten und wuchtigsten, die ihr als Bahre dienen würden. Er hielt nur inne, um das Mädchen mit Nahrung zu versorgen, und als er fertig war, brach die Dämmerung herein. Anschließend kehrte er zum Haus zurück und trug den Leichnam der Frau in ihrer Decke hinunter zum Strand, legte ihn auf den Holzstoß und setzte diesen in Brand, während am Abendhimmel die Sterne aufzugehen begannen.

Die ganze Nacht blieb er wach und starrte in die Flammen, die aus dem Scheiterhaufen emporloderten. Morgens erhob er sich, um dem Mädchen das Frühstück zuzubereiten, und stieg dann mit ihm im Rucksack zum Gipfel des Berges hinauf. Er ließ es im Schatten des Felsvorsprungs zurück, der die Form eines Bärenkopfs hatte, und ging dazu über, an einer Bodenstelle Erde und Steine zu entfernen. Während er so arbeitete, weinte er um die Frau und sprach zu dem Mädchen, um sich zu vergewissern, dass er noch immer am Leben war. Er erzählte ihm von der enormen Stärke und strahlenden Schönheit seiner Mutter, und erklärte, nun sei jedoch für sie die Zeit gekommen, voneinander Abschied zu nehmen. Nachdem er so viele Steine wie möglich beseitigt und ein so tiefes Loch gegraben hatte, wie er imstande war, stieg er mit dem Mädchen im Licht des Vollmonds den Berg wieder hinunter.

Er schlief ein paar Stunden, spürte nachts den Temperatursturz, besaß aber nicht die Kraft, ein Feuer zu entzünden. Bei Sonnenaufgang ging er zum Seeufer, sammelte die Knochen und die Asche der Frau ein und wickelte sie in die Decke, die auf ihrem Bett gelegen hatte. Hinterher trug der Mann, während er das Mädchen erneut im Rucksack auf dem Rücken transportierte, die sterblichen Überreste der Frau zum Gipfel des Berges, der allein steht. Dort tat er Knochen und Asche ins flache Grab, bedeckte es mit Erde und häufte drei Steinschichten darauf.

Und als ich aufstand und nach Norden schaute, sagte er zu dem Mädchen, konnte ich den Sturm heraufziehen sehen. Ich konnte den Schnee riechen. Nicht vor dem Sommer würde ich an diesen Ort zurückkehren können, und damals war ich mir gar nicht sicher, ob ich das überhaupt wollte. Tief drinnen fühlte ich eine Wut. Über den Tod deiner Mutter. Über meine Einsamkeit. Über alles in der Natur. In dem Moment fiel mein Blick auf den Felsblock, den ich während der vergangenen beiden Tage umkreist hatte. Ich griff nach unten, umfasste ihn mit den Armen und heulte, als ich ihn anhob mit all meiner Wut und all meiner Kraft. Ich heulte so laut, dass auch du anfingst zu weinen, und der Wind auf dem Berg war erfüllt von unserem Heulen. Aber ich wollte, dass etwas die Erinnerung an sie ebenso bewahrte wie ihre Überreste. Und nichts konnte mich aufhalten, bis ich jenen Felsblock genau an der Stelle platziert hatte, wo du ihn jetzt siehst.

Das Mädchen blieb lange Zeit still, und auch sein Vater schwieg, den Kopf gesenkt.

So gerne würde ich mich an sie erinnern, sagte es schließlich. An etwas von ihr. Aber ich kann nicht.

Du warst zu jung, erwiderte der Mann.

Manchmal aber tauchen in meiner Erinnerung nicht nur du und ich auf, fuhr das Mädchen fort. Manchmal ist da noch eine andere Person. So nah. Ich kann kein Gesicht sehen. Doch jemand ist bei mir.

Der Mann nickte. Ich weiß, sagte er.

Wie hat sie ausgesehen?, fragte das Mädchen.

Er überlegte kurz.

Wenn du das nächste Mal die Oberfläche des Sees betrachtest, wirst du sie sehen, sagte er.

Ich möchte sie, so oft es geht, besuchen.

Steigen wir jedes Jahr hinauf, schlug er vor. Am längsten Tag. Der erste Tag, an dem wir alle zusammen waren. Das würde ihr gefallen.

Das würde auch mir gefallen, betonte das Mädchen.

Dann erhoben sie sich von der Stelle, wo sie vor dem Wind geschützt saßen, und begannen, den Berg hinabzusteigen.