«Besser als Jorge Luis Borges» – Elizabeth Bishop. «Schneidend wie ein Diamant» – Rachel Kushner. «Die brasilianische Virginia Woolf» – Karl Lagerfeld. Selten ist ein Werk des 20. Jahrhunderts so überschwänglich und einhellig gerühmt worden wie das von Clarice Lispector. Im Mittelpunkt dieser faszinierenden Sammlung von 30 Short Stories stehen weibliche Erfahrungen und Sichtweisen auf die Welt. Luisa, eine junge Frau führt ein Doppelleben als Ehegattin und Stripteasetänzerin. Miss Algrave, ein irisches Mauerblümchen, erlebt in London unverhofft ihr sexuelles Erweckungserlebnis. In einer anderen Geschichte rächen sich zwei Frauen, Carmem und Beatriz, die in wilder Ehe mit einem Mann zusammenleben, auf perfide Art für seine chronische Untreue.
In Lispectors Kurzprosa, von Luis Ruby neu ins Deutsche übersetzt, lernen wir eine faszinierende und ungeheuer vielseitige Erzählerin kennen. Noch für die widersprüchlichsten Gefühle findet sie ein originelles Bild oder eine aufregende Wendung, eine treffende Charakteristik oder eine kluge Sentenz. Neben der titelgebenden Geschichte werden unter anderem die Erzählungen «Sofias Dramen», «Heimliches Glück», «Die Abfahrt des Zuges», «Auf der Suche nach einer Würde», «Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau» sowie «Dona Frozinas Finessen» enthalten sein. Lispectors Fabulierkunst langweilt nie und verblüfft immer.
Clarice Lispector, geboren 1920 in der Ukraine, gelangte mit ihrer Familie auf der Flucht vor Pogromen in den ländlichen Norden Brasiliens und lebte später in Rio de Janeiro. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, studierte sie Jura und begann eine Karriere als Journalistin. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde sie Schriftstellerin. Sie schrieb Romane, Erzählungen, Kinderbücher sowie literarische Kolumnen und wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet. Sie starb 1977.
Clarice Lispector
ICH UND JIMMY
Aus dem brasilianischen Portugiesisch
von Luis Ruby
Nachwort
von Teresa Präauer
MANESSE VERLAG
Ich erinnere mich noch an Jimmy, diesen Jungen mit ungekämmten braunen Haaren, die den länglichen Schädel eines geborenen Rebellen bedeckten.
Ich erinnere mich an Jimmy, an seine Haare und seine Ideen. Jimmy fand, dass nichts besser sei als die Natur. Dass, wenn zwei Menschen aneinander Gefallen finden, sie ein Liebespaar werden sollten, ganz einfach. Dass alles, was beim Menschen von dieser Einfachheit abweicht – einer Einfachheit, so alt wie die Welt –, aufgeblasen sei und Schaumschlägerei. Wären solche Ideen dem Kopf eines anderen entsprungen, ich hätte sie mir nicht einmal angehört. Doch da war ja Jimmys Schädel, und da waren vor allem seine hellen Zähne und sein makelloses Lächeln, das an ein zufriedenes Tier denken ließ.
Jimmy ging mit erhobenem Haupt, die Nase in die Luft gereckt, und wenn wir die Straße überquerten, fasste er mich am Arm, vertraulich und mit großer Selbstverständlichkeit. Mich verwirrte das. Wie sehr ich schon damals von Jimmys Vorstellungen durchdrungen war und vor allem von seinem hellen Lächeln, sieht man daran, dass ich mir diese Verwirrung vorwarf. Ich hielt mich, zu meiner Unzufriedenheit, für allzu weit entwickelt, weit weg vom ursprünglichen Modell – dem Tier. War es nicht sinnlos, wegen eines Armes rot zu werden; oder gar wegen eines Ärmels? Aber diese Gedanken waren verschwommen und erschienen so unausgegoren, wie ich sie jetzt dem Papier übermittle. In Wahrheit suchte ich nur nach einem Vorwand, um an Jimmy Gefallen zu finden. Und seinen Ideen zu folgen. Allmählich gewöhnte ich mich an seinen länglichen Kopf. Was sollte ich auch sonst tun? Von klein auf hatte ich gesehen und gespürt, wie sich die Auffassungen der Männer gegen jene der Frauen durchsetzten. Tante Emilia zufolge war Mutter, bevor sie heiratete, eine Rakete gewesen, eine stürmische Rothaarige mit eigenen Vorstellungen zur Freiheit der Frau und zur Gleichberechtigung. Aber da kam Papa, sehr ernsthaft und groß gewachsen, und ebenfalls mit eigenen Vorstellungen … zur Freiheit der Frau und zur Gleichberechtigung. Das Dumme daran war die thematische Überschneidung. Es kam zum Eklat. Und heute beschäftigt sich Mutter mit Nähen und Sticken, sie singt am Klavier und bäckt jeden Samstag Kuchen, immer gewissenhaft und fröhlich. Sie hat schon noch eigene Ideen, aber die lassen sich schnell zusammenfassen: Eine Frau soll stets ihrem Mann folgen, so wie die Nebensache der Hauptsache folgt (der Vergleich ist von mir, Ergebnis der Vorlesungen meines Jurastudiums).
Deshalb und wegen Jimmy wurde mit der Zeit auch ich natürlich.
Und so kam es, dass eines schönen Tages nach einer heißen Sommernacht, in der ich so viel schlief wie jetzt, da ich dies schreibe (wir sind bei der Vorgeschichte des Verbrechens), dass mir an diesem schönen Tag Jimmy einen Kuss gab. Ich hatte die Situation vorausgesehen, in allen Variationen. Um die Wahrheit zu sagen, war ich enttäuscht. Nach all dem hochtrabenden Gerede und Aufschub «so was»! Aber es gefiel mir doch. Von da an schlief ich tief und fest; ich brauchte nicht mehr zu träumen.
Ich traf mich mit Jimmy immer an der Straßenecke. Reichte ihm mit großer Selbstverständlichkeit den Arm. Und strich ihm später mit großer Selbstverständlichkeit durchs ungekämmte Haar. Ich hatte das Gefühl, dass Jimmy über meine Fortschritte staunte. Seine Lektionen hatten eine ungewöhnliche Wirkung gezeitigt, und die Schülerin war eifrig bei der Sache. Es war eine glückliche Zeit.
Dann kamen unsere Prüfungen. Hier beginnt die eigentliche Geschichte.
Einer der Prüfer hatte sanfte, tiefe Augen. Seine Hände waren sehr schön, mit dunklem Teint.
(Jimmy war hellhäutig wie ein Baby.) Wenn er mich ansprach, wurde seine Stimme auf rätselhafte Weise rau und warm. Und ich unternahm gewaltige Anstrengungen, um nicht die Augen zu schließen und vor Freude zu sterben.
Innere Kämpfe blieben aus. Im Schlaf lag ich umschlungen mit dem Prüfer, abends um sechs. Und lauschte entzückt seiner Stimme, während er mir von Ideen erzählte, die absolut nicht jimmyesk waren. Das alles eingehüllt in Dämmerung, im stillen und kühlen Garten.
Damals war ich absolut glücklich. Jimmy wiederum hatte weiter ungekämmte Haare und dasselbe Lächeln, sodass ich vergaß, ihn über die neue Lage ins Bild zu setzen.
Irgendwann fragte er, warum ich in letzter Zeit so anders sei. Ich antwortete heiter, in Hegels Begriffen, die ich aus dem Mund meines Prüfers gehört hatte: Das ursprüngliche Gleichgewicht sei zerstört, an seiner statt habe sich ein neues herausgebildet, auf einer anderen Grundlage. Es bedarf wohl nicht der Erwähnung, dass Jimmy kein Wort verstand, denn Hegel war erst für das Ende des Semesters angesetzt, und so weit sollten wir niemals kommen. Ich erklärte ihm also, dass ich mich Hals über Kopf in D. verliebt hätte … Und fügte in einem wundervollen Moment der Inspiration hinzu (wie schade, dass der Prüfer mich nicht hören konnte), in diesem Fall könne ich die Gegensätze leider nicht vereinigen und eine Hegel’sche Synthese herbeiführen. Ein nutzloser Exkurs.
Jimmy glotzte mich an und brachte nur die Frage heraus: «Und ich?»
Mir riss der Geduldsfaden. «Keine Ahnung», antwortete ich, trat gegen einen imaginären Kieselstein und dachte: «Sieh doch zu, wie du zurechtkommst! Wir sind halt einfach Tiere.»
Jimmy reagierte ziemlich gereizt. Er warf mir eine Reihe von Unverschämtheiten an den Kopf, ich sei nichts als eine Frau, unbeständig und flatterhaft wie alle anderen. Und er drohte mir, ich würde diesen plötzlichen Sinneswandel noch bereuen. Vergeblich versuchte ich, ihm mein Verhalten mit seinen eigenen Theorien zu erklären: Ich hätte an jemandem Gefallen gefunden und verhielte mich nur natürlich; wäre ich «höher entwickelt» und «ein denkendes Wesen», so würde ich alles nur komplizierter machen, da käme ich mit moralischen Konflikten, zivilisiertem Unfug, von dem Tiere gar nichts wüssten. Ich sprach mit einer zauberhaften Beredsamkeit, die sich einzig dem dialektischen Einfluss des Prüfers verdankte. (Da ist schon wieder die Idee meiner Mutter: Die Frau hat dem Mann … etc.) Jimmy, der blass und mitgenommen aussah, schickte mich mitsamt meinen Theorien zum Teufel. Ich rief ungehalten, das seien keine Verrücktheiten von mir, tatsächlich stamme das alles aus einem ungekämmten und länglichen Kopf. Er rief noch lauter, ich hätte nichts von dem verstanden, was er mir damals so gutmütig erklärt habe. Mit mir verschwende man nur seine Zeit. Das war zu viel. Ich forderte aufs Neue eine Erklärung. Er schickte mich neuerlich zum Teufel.
Verstört zog ich von dannen. Zur Feier des Anlasses bekam ich starke Kopfschmerzen. Aus ein paar zivilisatorischen Restchen stiegen Gewissensbisse in mir auf.
Als ich meiner Großmutter, einer freundlichen und klugen alten Frau, von der Sache erzählte, neigte sie ihr weißes Haupt und erklärte mir, die Männer stellten für sich gern andere Theorien auf als für die Frauen. Aber, ergänzte sie nach einer Pause und einem Seufzen, die würden sie dann vergessen, wenn es ans Handeln gehe … Ich erwiderte, ich wisse zwar das Hegel’sche Gesetz von den Gegensätzen1 anzuwenden, hätte aber kein Wort verstanden. Sie lachte und erklärte gut gelaunt: «Meine Liebe, die Menschen sind nun mal Tiere.»
Kamen wir da etwa an den Ausgangspunkt zurück? Für ein Argument hielt ich das nicht, aber ich konnte mich ein wenig damit trösten. Beim Einschlafen war ich etwas traurig. Aber aufgewacht bin ich glücklich, ganz Tier. Als ich die Zimmerfenster aufriss und in den Garten hinaussah, der frisch und ruhig in den ersten Sonnenstrahlen lag, überkam mich die Gewissheit, dass einem wirklich nichts bleibt, als zu leben. Nur über Jimmys Sinneswandel wunderte ich mich weiterhin. Die Theorie ist doch so gut!
Es wurde allmählich dunkel, und da bekam sie Angst. Der Regen fiel ohne Unterlass, und die Gehsteige glänzten feucht im Laternenlicht. Menschen mit Regenschirmen liefen vorbei, in Wettermänteln, sehr in Eile, ihre Gesichter müde. Die Autos glitten über den nassen Asphalt, und die eine oder andere Hupe tutete weich.
Sie wollte sich auf eine Parkbank setzen, weil sie den Regen eigentlich nicht spürte und ihr die kühle Luft nichts ausmachte. Nur eben etwas Angst, weil noch nicht entschieden war, wohin sie gehen würde. Die Bank wäre ein Ruheort gewesen. Aber die Passanten musterten sie befremdet, und sie setzte ihren Weg fort.
Sie war müde. Sie dachte immer wieder: «Was wird denn jetzt werden?» Wenn sie weiterlief. Das war keine Lösung. Nach Hause zurückkehren? Nein. Sie hatte Bedenken, dass irgendeine Kraft sie an den Ausgangspunkt versetzen würde. In ihrer Benommenheit schloss sie die Augen und stellte sich einen großen Strudel vor, der aus «Elviras Heim» schoss, sie mächtig ansaugte und zurück ans Fenster beförderte, das Buch in der Hand, ein Wiederherstellen der täglichen Szene. Sie zuckte zusammen. Sie wartete, bis gerade niemand des Weges kam, und sagte mit aller Kraft: «Nein, du gehst nicht zurück.» Das beruhigte sie.
Jetzt, da sie beschlossen hatte fortzugehen, wurde alles neu geboren. Wäre sie nicht so verwirrt gewesen, sie hätte unendlich genossen, was ihr nach zwei Stunden aufgefallen war: «Gut, die Dinge sind noch da.» Eine wirklich außerordentliche Entdeckung. Seit zwölf Jahren war sie verheiratet, und nach drei Stunden Freiheit gehörte sie wieder fast ganz sich selbst – erst mal nachsehen, ob alles noch da war. Hätte sie diese Tragödie auf einer Bühne gespielt, dann hätte sie sich abgetastet, sich gekniffen, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte. Aber wenn sie auf eines keine Lust hatte, dann darauf, eine Rolle zu spielen.
Allerdings waren in ihr nicht nur Freude und Erleichterung. Auch ein bisschen Angst und zwölf Jahre.
Sie überquerte den Boulevard und lehnte sich gegen die Brüstung, um aufs Meer hinauszuschauen. Es regnete noch immer. Sie hatte den Bus in Tijuca genommen und war im Glória-Viertel ausgestiegen. Jetzt hatte sie schon den Morro da Viúva2 hinter sich.
Das Meer war aufgewühlt, und wenn sich die Wellen an den Felsen brachen, bespritzte salziger Schaum sie über und über. Einen Moment lang überlegte sie, ob die Stelle wohl tief war, es ließ sich kaum erahnen: Das dunkle, schattige Wasser konnte wenige Zentimeter über dem Sand liegen oder endlose Tiefen verbergen. Sie beschloss, sich ein weiteres Mal diesen Spaß zu machen, jetzt, da sie frei war. Man brauchte nur lange ins Wasser zu schauen und sich vorzustellen, dass diese Welt kein Ende hatte. Dann war es, als würde man ertrinken und mit den Füßen niemals den Meeresboden erreichen. Ein äußerst beklemmendes Gefühl. Aber warum suchte sie es dann?
Das mit dem Meeresboden, den man nicht erreichen konnte, kam noch aus ihrer Kindheit. Als sie in der Grundschule die Schwerkraft durchgenommen hatten, hatte sie einen Mann erfunden, der an einer komischen Krankheit litt. Und zwar wirkte bei ihm die Schwerkraft nicht … Also fiel er aus der Welt, und dann fiel er immer weiter, weil sie nicht wusste, welches Schicksal sie ihm geben sollte. Wohin fiel er wohl? Sie kam zu einem Entschluss: dass er immer weiterfiel und sich daran gewöhnte, er aß im Fallen, er schlief im Fallen, er lebte im Fallen, bis er starb. Ob er wohl immer noch weiterfiel? Aber in diesem Augenblick machte die Erinnerung an den Mann sie nicht beklommen, im Gegenteil, sie bescherte ihr ein Aroma von Freiheit, wie sie es seit zwölf Jahren nicht mehr kannte. Ihr Ehemann hatte nämlich eine äußerst merkwürdige Eigenschaft: Seine Anwesenheit genügte, um die kleinsten Bewegungen in ihrem Denken erstarren zu lassen. Anfangs hatte ihr das eine gewisse Ruhe vermittelt, neigte sie doch dazu, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die sinnlos waren, wenn auch unterhaltsam.
Der Regen hat aufgehört. Es ist nur noch kühl und wirklich angenehm. Ich gehe nicht zurück nach Hause. O ja, das ist ein unendlicher Trost. Wird er überrascht sein? Ja, zwölf Jahre wiegen wie kiloweise Blei. Die Tage zerfließen, verschmelzen und bilden einen einzigen Block, einen großen Anker. Und der Einzelne ist verloren. In ihren Blick tritt etwas von einem tiefen Brunnen. Dunkles und stilles Wasser. Ihre Gesten werden farblos, und sie hat nur noch eine Angst im Leben: dass etwas kommen könnte und sie verändern. Sie lebt hinter einem Fenster, beobachtet durch die Scheiben, wie die Regenzeit die Zeit der Sonne überdeckt, wie dann der Sommer zurückkehrt und wieder der Regen. Wünsche sind Gespenster, die sich auflösen, wenn man das Licht des gesunden Menschenverstandes einschaltet. Warum sind Ehemänner der gesunde Menschenverstand? Der ihre ist besonders solide, gut und fehlerfrei. Einer von denen, die nur eine bestimmte Bleistiftmarke verwenden und auswendig wissen, was auf ihren Schuhsohlen steht. Man kann ihn bedenkenlos fragen, wann Züge fahren, welche Zeitung die höchste Auflage hat, ja in welcher Weltgegend sich Affen am schnellsten reproduzieren.
Sie lacht. Jetzt kann sie lachen … Ich habe im Fallen gegessen, im Fallen geschlafen, im Fallen gelebt. Ich werde mir einen Ort suchen, an dem ich Fuß fassen kann …
Sie fand diesen Gedanken so lustig, dass sie sich über die Mauer beugte und in Gelächter ausbrach. Ein dicker Mann blieb in einer gewissen Entfernung stehen und blickte herüber. Was mache ich jetzt? Vielleicht hingehen und sagen: «Guter Mann, es regnet.» Nein. «Guter Mann, ich war eine verheiratete Frau, jetzt bin ich eine Frau.» Sie ging weiter und vergaß den Dicken.
Sie macht den Mund auf und spürt, wie die frische Luft sie überspült. Warum hat sie so lange auf diese Erneuerung gewartet? Erst heute, nach zwölf Jahrhunderten. Sie war aus der kalten Dusche getreten, hatte leichte Kleidung angezogen, nach einem Buch gegriffen. Aber heute war anders als all die Nachmittage in all den Jahren. Es war heiß, und sie erstickte schier. Sie riss sämtliche Fenster und Türen auf. Aber nein: Die Luft war einfach da, reglos, ernst, schwer. Keine Brise, der Himmel tief, die Wolken dunkel und dicht.
Wie ist es noch mal passiert? Am Anfang nur das Unwohlsein und die Hitze. Dann begann etwas in ihr zu wachsen. Plötzlich zog sie sich mit schweren, sorgfältigen Bewegungen die Kleidung vom Leib, zerfetzte sie, riss sie in lange Streifen. Die Luft schloss sich um sie, drückte auf sie ein. Da erschütterte ein lauter Knall das Haus. Fast gleichzeitig fielen die ersten dicken, warmen Wassertropfen.
Reglos stand sie in der Mitte des Zimmers, keuchte. Der Regen wurde stärker. Sie hörte, wie er auf das Zinkdach im Hinterhof prasselte und das Hausmädchen aufschrie, bevor es nach draußen lief, um die Wäsche hereinzuholen. Jetzt herrschte die reinste Sintflut. Ein frischer Wind fuhr durchs Haus, glättete ihr das heiße Gesicht. Von da an wurde sie ruhiger. Sie zog sich an, suchte alles Geld zusammen, das sie im Haus hatte, und ging.
Jetzt hat sie Hunger. Seit zwölf Jahren hat sie keinen Hunger mehr gehabt. Sie wird in ein Restaurant gehen. Das Brot ist frisch, die Suppe ist heiß. Sie wird Kaffee bestellen, einen duftenden, starken Kaffee. Ach, wie schön alles ist, wie zauberhaft. Das Hotelzimmer hat etwas Fremdes, das Kissen ist weich, die Wäsche duftet sauber. Und wenn sich dann die Dunkelheit im Zimmer ausbreitet, wird ein riesiger Mond aufziehen, nach so einem Regen, ein kühler, ruhiger Mond. Und sie wird schlafen, vom Mondenschein bedeckt …
Der Tag wird anbrechen. Sie wird den Vormittag freihaben, um einzukaufen, was sie für die Reise benötigt, das Schiff legt ja erst um zwei Uhr nachmittags ab. Das Meer liegt ruhig da, fast ohne Wellengang. Der Himmel ist von einem heftigen, grellen Blau. Das Schiff entfernt sich rasch … Und kurz darauf Stille. Die Wasser singen am Rumpf, sanft, rhythmisch … Ringsum flattern die Möwen, weißer Schaum, dem Meer entflohen. Ja, all das!
Aber sie hat nicht genug Geld, um zu reisen. Schiffspassagen sind so teuer. Und von all dem Regen, den sie abbekommen hat, ist ihr innerlich ganz kalt. Sicher, sie kann in ein Hotel gehen. Das ist wahr. Aber die Hotels von Rio sind nicht das Richtige für eine unbegleitete Dame, bis auf die besten Häuser. Und in denen könnte sie irgendeinem Bekannten ihres Mannes begegnen, was ihm geschäftlich sicherlich schaden würde.
Oh, das ist alles gelogen. Was ist die Wahrheit? Zwölf Jahre wiegen wie kiloweise Blei, und die Tage legen sich uns um den Leib und drücken immer fester zu. Ich gehe zurück nach Hause. Ich kann nicht wütend auf mich sein, dazu bin ich zu müde. Und sowieso passiert alles nur, ich löse hier nichts aus. Es sind eben zwölf Jahre.
Sie tritt ins Haus. Es ist spät, und ihr Mann liegt lesend im Bett. Sie sagt, Rosinha sei krank geworden. Ob er denn ihre Nachricht nicht erhalten habe, dass sie erst abends nach Hause käme? Nein, sagt er.
Sie trinkt ein Glas heiße Milch, denn Hunger hat sie keinen. Sie schlüpft in ein Nachthemd aus blauem Flanell mit weißen Pünktchen, wirklich sehr weich. Sie bittet ihren Mann, das Licht auszuschalten. Er küsst sie auf die Wange und sagt, dass sie ihn um Punkt sieben wecken soll. Sie verspricht es, er dreht den Schalter.
Zwischen den Bäumen steigt ein Licht auf, das groß ist und rein.
Eine Zeit lang liegt sie mit offenen Augen da. Dann wischt sie sich die Tränen am Laken ab, schließt die Augen und sucht sich eine bequeme Position. Sie spürt, wie das Mondlicht sie gemächlich zudeckt.
Tief in der Stille der Nacht entfernt sich das Schiff immer weiter.
Ihr war, als ratterten die Straßenbahnen durchs Zimmer, als erschütterten sie ihr das Spiegelbild. Sie war dabei, sich zu kämmen, saß träge am Frisiertisch mit den drei Spiegeln, ihre weißen, kräftigen Arme fröstelten in der Abendfrische. Die Augen ließen sich selbst nicht aus dem Blick, die Spiegel vibrierten bald dunkel, bald leuchtend. Da draußen, aus einem Fenster weiter oben, fiel etwas Schweres und Weiches auf die Straße. Wären die Kinder und ihr Mann zu Hause gewesen, hätte sie sofort vermutet, die hätten irgendwas angestellt. Die Augen lösten sich nicht von dem Bild, der Kamm tat gedankenverloren seine Arbeit, der offene Morgenmantel ließ in den Spiegeln die Brüste von mehreren jungen Frauen erscheinen, in Bruchstücken.
«A Noite!»,3 rief der Zeitungsverkäufer im sanften Wind der Rua do Riachuelo, und etwas erschauerte in einer Vorahnung. Sie warf den Kamm auf den Frisiertisch, sang geistesabwesend vor sich hin: «Wer sah das Spätzlein fliegen … beim Fenster ging’s hinaus … über den Fluss, den Minho!», doch dann verschloss sie sich in jähem Ärger, eingeschnappt wie ein Fächer.
Sie legte sich hin, wedelte ungeduldig mit einer Zeitung, dass es im Zimmer raschelte. Sie nahm ihr Taschentuch, schnaufte hindurch, während sie mit geröteten Fingern die grobe Stickerei zusammendrückte. Dann fächelte sie sich wieder Luft zu, musste fast lächeln. Ach je, seufzte sie und lachte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie das helle Lächeln der jungen Portugiesin, die sie war, schloss die Augen und lächelte noch mehr, während sie die Zeitung fester schwang. Ach je, sie kam von der Straße wie ein Schmetterling.
«Hallihallo, weißt du, wer mich zu Hause besucht hat?», ging ihr durch den Sinn, womöglich ein interessantes Konversationsthema. «Nein, keine Ahnung, wer?», kam darauf die Frage, mit einem schmeichlerischen Lächeln, traurigen Augen in einem dieser blassen Gesichter, die so schmerzen. «Na, Maria Quitéria!», antwortete sie flott, die Hand an der Hüfte. «Und wer ist das, wenn man fragen darf?», wurde galant nachgefragt, aber jetzt schon ohne Gesicht dazu. «Du!», unterbrach sie mit leichtem Unmut das Geplauder, so was Ödes aber auch.
Ach, was für ein köstliches Zimmer! Sie fächelte sich in Brasilien. Die Sonne, von den Rollläden eingefangen, zitterte an der Wand wie eine Gitarre. Die Rua do Riachuelo bebte unter dem ächzenden Gewicht der Straßenbahnen, die von der Rua Mem de Sá kamen. Neugierig und gelangweilt lauschte sie, wie der Geschirrschrank im Wohnzimmer klirrte. In ihrer Ungeduld drehte sie sich auf den Bauch, und während sie liebevoll die Zehen ihrer zierlichen Füße streckte, wartete sie mit offenen Augen auf den nächsten Gedanken. «Wer fand, der suchte im Land», improvisierte sie ein gereimtes Sprichwort,4 so was klang ja immer irgendwie wahr. Bis sie mit offenem Mund einschlief, der Speichel aufs Kissen troff.
Sie wurde erst wieder wach, als der Mann von der Arbeit zurückkam und geradewegs ins Zimmer marschierte. Sie wollte weder zu Abend essen noch sich um etwas anderes kümmern, sie schlief weiter: Sollte sich der Mann mit den Resten vom Mittagessen vergnügen.
Und da die Kinder bei den Tanten waren, auf dem Bauernhof in Jacarepaguá, nutzte sie die Gelegenheit, um sich morgens beim Aufwachen komisch zu fühlen: trüb und leicht in ihrem Bett, so eine Laune eben, weiß man’s. Als ihr Mann auftauchte, war er schon angezogen, sie hatte keine Ahnung, was er gefrühstückt haben könnte, und schaute auch nicht nach, ob der Anzug vielleicht gebürstet gehörte, was scherte es sie, ob ihr Mann heute in der Stadt zu tun hatte. Aber als er sich zu ihr beugte, um ihr einen Kuss zu geben, knisterte ihre Leichtigkeit wie ein trockenes Blatt: «Lass das!»
«Was hast du denn?», fragt der Mann verblüfft, um es sofort mit einer wirksameren Zärtlichkeit zu probieren.
In ihrer Sturheit hätte sie nichts zu antworten gewusst, ihr war so blank und prinzessig, dass sie noch nicht einmal ahnte, wo sich nach Antwort hätte suchen lassen. Also gab sie verärgert zurück: «Ach, geh mir nicht auf die Nerven! Streich nicht um mich rum wie ein alter Gockel!»
Da kam ihm offenbar ein anderer Gedanke, und er erklärte: «Mensch, Mädchen, du bist ja krank.»
Das nahm sie überrascht, geschmeichelt hin. Und blieb den ganzen Tag im Bett, hörte das Haus, das so still war ohne den Kinderlärm, ohne ihren Mann, der seinen Eintopf heute irgendwo in der Stadt essen würde. Sie lag den ganzen Tag im Bett. Ihr Zorn brannte auf niedriger Flamme, glühte vor sich hin. Sie stand nur auf, um zur Toilette zu gehen, und kam von dort vornehm zurück, beleidigt.
Aus dem Vormittag wurde ein langer, aufgeblasener Nachmittag und Abend und daraus wiederum eine Nacht ohne Boden, bis zum unschuldigen Erwachen im ganzen Haus.
Sie noch im Bett, friedlich, wie es sich ergab. Sie liebte … Sie stand kurz davor, den Mann zu lieben, den sie eines Tages lieben würde. Weiß man’s, so was kam vor, auf beiden Seiten weder Schuld noch Schaden. Im Bett liegen und nachdenken, immer weiter, fast lachend wie beim Tratsch. Und nachdenken, immer weiter. Worüber? Tja, das war nicht klar. So ließ sie sich treiben.
Von einem Moment auf den anderen war sie wütend auf den Beinen. Aber in der Schwäche des ersten Augenblicks stand sie wirr und wackelig im Zimmer, das sich drehte und drehte, bis es ihr tastend gelang, sich erneut ins Bett zu legen, überrascht, dass es womöglich noch stimmte: «Mensch, Kleine, wirst du mir am Ende wirklich krank!», sagte sie misstrauisch. Sie fasste sich an die Stirn, um zu fühlen, ob sie vielleicht schon Fieber hatte.
In dieser Nacht vor dem Einschlafen fantasierte sie und fantasierte: wie viele Minuten lang? Bis sie dann einnickte: so was von bettreif, einträchtig schnarchend mit ihrem Mann.
Als sie wieder aufwachte, ging der Tag nach, die Kartoffeln noch ungeschält, am Nachmittag sollten die Kinder von den Tanten zurück sein, ach, dass ich mich so gehen lasse!, am Wäschetag, und die Socken gehörten gestopft, ach, du bist mir eine Herumtreiberin!, tadelte sie sich neugierig und zufrieden, einkaufen gehen, den Fisch nicht vergessen, der Tag ging nach, der Morgen eilig vor Sonnenschein.
Aber am Samstagabend waren sie in das Lokal an der Praça Tiradentes gegangen, der Einladung dieses Geschäftsmanns folgend, der so erfolgreich war, sie in dem neuen Kleidchen, das keine besonderen Verzierungen haben mochte, aber aus gutem Stoff war, beste Qualität, ein Kleid, das ein Leben lang hält. Am Samstagabend betrunken auf der Praça Tiradentes, betrunken, aber den Mann dabei, der würde schon auf sie aufpassen, und sie ganz förmlich im Umgang mit dem anderen, der so viel feiner und reicher war, versuchte Konversation zu machen, sie war schließlich kein Landei, hatte schon in der Hauptstadt gewohnt. Aber besoffen bis zum Gehtnichtmehr.
Und wenn ihr Mann nicht besoffen war, dann aus Rücksicht auf den Geschäftsfreund, den er ganz beflissen und bescheiden das große Wort führen ließ. Was dem feinen Anlass angemessen war, aber sie musste davon so lachen! Und fand es so erbärmlich! Sie sah ihren Mann in seinem neuen Anzug und fand ihn eine solche Witzfigur! Besoffen bis zum Gehtnichtmehr, aber ohne die Haltung zu verlieren, die eine junge Frau haben sollte. Und der vinho verde5 rauschte ihr nur so aus dem Glas.
Und wenn sie betrunken war wie bei einem späten und üppigen Sonntagsessen, verband sich alles, was seiner Natur nach getrennt ist – der Duft nach Öl auf der einen Seite, der Mann auf der anderen, die Pastete auf der einen, der Kellner auf der anderen –, verband sich ganz komisch mit der eigenen Natur, und dann war das alles nur eine Hemmungslosigkeit, nur eine einzige Schelmerei.
Und wenn ihr die Augen glänzten und hart waren, ihre Bewegungen komplizierte Etappen, bis es ihr endlich gelang, einen Zahnstocher in die Finger zu bekommen, dann ging es ihr eigentlich doch richtig gut, so als dicke Wolke, die sich ohne Anstrengung fortbewegte. Die Lippen voller als sonst und die Zähne weiß und der Wein, der sie anschwellen ließ. Und dieses eitle Gefühl, betrunken zu sein, von dem in ihr eine solche Geringschätzung für alles aufkam, dass sie reif und rund wurde wie eine Riesenkuh.
Natürlich machte sie Konversation. Gesprächsstoff und Gewandtheit hatte sie schließlich genug. Aber die Worte, die man aussprach, wenn man betrunken war, klangen, als würde man etwas austragen – Worte nur im Mund, das hatte nicht viel zu tun mit dem geheimen Mittelpunkt, der wie eine Schwangerschaft war. Ach, hatte sie eine komische Stimmung. Am Samstagabend war die Alltagsseele weg, und wie gut, wenn man sie los war und als Erinnerung an die anderen Tage nur die kleinen, arg strapazierten Hände – und sie jetzt mit den Ellbogen auf dem rot-weiß karierten Tischtuch, wie auf einem Spieltisch, weit hineingeworfen in ein gemeines Leben, das alles umstürzte. Und dieses Lachen? Dieses Lachen, das ihr auf rätselhafte Weise aus der vollen weißen Kehle quoll, als Antwort auf die Feinheit des Geschäftsmanns, ein Lachen, das aus der Tiefe dieses Schlafs kam und aus der Tiefe dieser Selbstsicherheit, wenn man einen Körper hat. Ihr so weißes Fleisch war zart wie das einer Languste, die Beine einer lebenden Languste regten sich langsam in der Luft. Und dieser Wunsch, sich böse zu fühlen, um das Zarte noch ins richtig Gemeine zu vertiefen. Und dieses Stückchen Bosheit, wenn man eben einen Körper hat.
Sie machte also Konversation und hörte voller Neugier, was sie selbst zu dem wohlhabenden Geschäftsmann sagte, der sie angenehmerweise eingeladen hatte und ihnen den Schmaus bezahlte. Sie lauschte aufmerksam und überwältigt dem, was sie selbst zu ihm sagte: Was immer sie in diesem Zustand antwortete, wäre ein Vorzeichen für die Zukunft – schon jetzt war sie keine Languste, sie war ein hartes Zeichen: Skorpion. Geburtstag hatte sie nämlich im November.
Ein Scheinwerfer, der, während man schläft, das Morgengrauen durchschneidet – derart war ihre Trunkenheit, langsam durch die Höhen irrend.
Und zugleich, was für ein Feingefühl! Ja, was für ein Feingefühl! Wenn sie sich das so sauber gemalte Bild des Restaurants ansah, bekam sie sofort ein Feingefühl wie ein Künstler. Niemand würde ihr hier den Gedanken ausreden, dass sie zu anderem geboren war. Für Kunst hatte sie schon immer etwas übriggehabt.
Ja, was für ein Feingefühl! Jetzt nicht nur wegen des Bildes mit den Trauben und Birnen und dem toten Fisch, dessen Schuppen glänzten. Ihr Feingefühl störte, ohne wehzutun, wie ein abgebrochener Fingernagel. Und wenn sie gewollt hätte, dann hätte sie es sich leisten können, noch feinsinniger zu werden, noch weiter zu gehen: weil ihre Lebenssituation sie schützte, wie alle beschützt waren, die es im Leben zu etwas gebracht hatten. Wie ein Mensch, der daran gehindert wird, sein Unglück in Besitz zu nehmen. Ach, was bin ich unglücklich. Wenn sie gewollt hätte, dann hätte sie noch mehr Wein ins Glas kippen und sich, beschützt von ihrer Lebenssituation, noch mehr besaufen können, solange sie dabei nicht die Haltung verlor. Und so, noch besoffener, hätte sie den Blick durchs Restaurant schweifen lassen, und was für eine Verachtung für die dürren Leute im Restaurant, keiner darunter, der als Mann etwas getaugt hätte, noch nicht einmal ein trauriger. Was für eine Verachtung für die dürren Leute im Restaurant, während sie doch üppig war und etwas auf die Waage brachte, großzügig bis zum Gehtnichtmehr. Und alles im Restaurant in solchen Abständen gestellt, als könnte nie einer mit dem anderen reden. Jeder für sich und Gott für alle.
Ihr Blick fiel erneut auf dieses Fräulein, das ihr schon beim Eintreten unangenehm aufgefallen war. Gleich beim Hereinkommen hatte sie sie dort sitzen sehen, am Tisch mit ihrem Mann, einen Riesenhut auf dem Kopf, schmuckbehängt und blond wie ein falscher Taler, so eine vornehme Oberheilige – was für einen Hut sie aufhatte! –, am Ende war sie noch nicht mal verheiratet, aber auf heilig machen. Mit ihrem fetten Hut auf dem Kopf. Na, wohl bekomm’s, du Betschwester! Und dass dir deine Vornehmheit mal nur nicht in die Suppe kippt! Diese besonders Heiligen hatten es ja oft faustdick hinter den Ohren. Und der Kellner, dieser Blödmann, überschüttete sie mit Aufmerksamkeiten, der Schlauberger. Ihr blasser Begleiter tat, als wäre nichts. Und die Oberheilige, ach so stolz auf ihren Hut, ach so bescheiden mit ihrer schlanken Taille, konnte die ihrem Mann überhaupt ein Kind gebären? Ach, das ging sie doch alles nichts an. Aber schon beim Reinkommen hatte sie direkt Lust verspürt, hinzugehen und ihr die blonde Heiligenvisage mit ein paar Ohrfeigen zu verschönern, diesem Edelfräulein mit Hut. Hatte ja noch nicht mal Holz vor der Hütte, das flachbrüstige Ding. Und am Ende war sie mit ihren tollen Hüten doch nur eine Gemüseverkäuferin, die sich als große Dame aufspielte.
Oh, was für eine Demütigung, dass sie ohne Hut ins Lokal gekommen war, ihr Kopf fühlte sich auf einmal ganz nackt an. Und die andere machte mit ihrem damenhaften Getue auf besonders fein. Na, ich weiß, was dir abgeht, edles Fräulein, dir und deinem blassen Kerl! Und wenn du glaubst, ich wäre neidisch auf dich und deine flache Brust, dann hast du dich geschnitten, ich pfeife auf deine Hüte, und wie. So ein Fräulein ohne Haltung, so eine, die sich nur ziert, die kriegt von mir ein paar Ohrfeigen.
In ihrem gerechten Zorn streckte sie mühsam die Hand aus und griff nach einem Zahnstocher.
Aber am Ende löste sich die Schwierigkeit auf, nach Hause zu kommen: Jetzt bewegte sie sich in der vertrauten Wirklichkeit ihres Zimmers, jetzt saß sie auf ihrem Bettrand, am Fuß den auf und ab wippenden Pantoffel.
Und da sie die verschatteten Augen halb geschlossen hatte, wurde auf einmal alles Fleisch, der Bettpfosten aus Fleisch, die Fenster aus Fleisch, auf dem Stuhl der Anzug aus Fleisch, den ihr Mann darübergeworfen hatte, und ihr tat fast alles weh. Und sie immer größer, taumelnd, geschwollen, riesig. Wenn es ihr gelungen wäre, sich selbst ein wenig näherzukommen, hätte sie sich noch größer gesehen. Über jeden ihrer Arme hätte ein Mensch laufen können, ohne zu merken, dass es sich um einen Arm handelte, und in jedes ihrer Augen hätte man eintauchen und darin schwimmen können, ohne zu wissen, dass es ein Auge war. Und ringsherum tat alles ein bisschen weh. Die Dinge bestanden aus Fleisch mit Nervenschmerzen. Draußen die Kälte, die sie gepackt hatte, als sie aus dem Lokal gekommen waren.
Sie saß auf dem Bett, ergeben, ungläubig.
Und das war, bei Gott, noch gar nichts: Sie wusste wohl, dass das noch gar nichts war. Dass ihr in diesem Moment Dinge passierten, die erst später wirklich schmerzen würden, und zwar so richtig: Wenn sie wieder ihren gewöhnlichen Umfang erreichte, würde ihr Körper pochend aus seiner Betäubung erwachen, und dann würde sie für die Schlemmerei und den vielen Wein bezahlen.
Na, wenn es so oder so dazu kommt, dann kann ich jetzt auch die Augen aufmachen, und das tat sie, und alles wurde kleiner und klarer, allerdings ohne jeden Schmerz. Im Wesentlichen war alles wie zuvor, nur kleiner und vertrauter. Sie saß recht gerade auf dem Bett, den Magen prall gefüllt, geistesabwesend, resigniert, so rücksichtsvoll wie einer, der dasitzt und wartet, dass ein anderer aufwacht. «Du stopfst dich voll, und ich muss es dann ausbaden», sagte sie sich melancholisch, den Blick auf die kleinen, weißen Zehen gerichtet. Sie sah sich um, geduldig, gehorsam. Ach, Wörter, Wörter, die Gegenstände im Zimmer den Wörtern nach aufgereiht, sodass sie diese trüben und ärgerlichen Sätze bildeten, die lesen mag, wer lesen kann. Langweilig, langweilig, so was Ödes aber auch. So was Nervtötendes. Tja, ich Ärmste, soll werden, was Gott eben will. Was soll man machen. Ach, ich bekomme da so ein Gefühl, ich kann’s gar nicht richtig ausdrücken. Tja, soll eben werden, was Gott will. Und dabei hatte sie sich am Abend dermaßen amüsiert! Und dabei war es so gut gewesen und das Restaurant gerade recht, fein hatte sie am Tisch gesessen. Tisch!, schrie ihr auf einmal die Welt entgegen. Aber sie antwortete darauf gar nicht erst, zog nur die Schultern hoch, schnalzte missmutig mit der Zunge, gereizt, ich sage doch, geh mir jetzt nicht auf die Nerven mit deinen Zärtlichkeiten; enttäuscht, resigniert, vollgestopft, verheiratet, zufrieden, mit einer vagen Übelkeit.
Just in diesem Augenblick wurde sie taub: Ihr fehlte plötzlich ein Sinn. Sie schlug sich mit der flachen Hand aufs Ohr, was die Sache nur noch schlimmer machte: Jetzt füllte sich ihr Gehör mit Lärm wie von einem Aufzug, das Leben plötzlich klangvoll und in seinen kleinsten Bewegungen verstärkt. Eines von beidem: Entweder war sie taub, oder sie hörte zu viel – sie vermerkte diese neue Zumutung mit einem bösen und unbequemen Gefühl, mit einem Seufzen aus satter Ergebenheit. «Soll’s der Blitz treffen», sagte sie sanft, niedergedrückt.
«Und als im Restaurant …», fiel ihr plötzlich ein. Als sie im Restaurant saßen, hatte der Förderer ihres Mannes seinen Fuß an den ihren geschoben unter dem Tisch, und über dem Tisch sein Gesicht. Rein zufällig oder mit Absicht? Der Schuft. Ein Mensch, der ehrlich gesagt recht interessant war. Sie zog die Schultern hoch.
«Und als auf ihrem runden Ausschnitt – mitten auf der Praça Tiradentes!», dachte sie und schüttelte ungläubig den Kopf, «als sich da die Fliege auf ihrer nackten Haut niedergelassen hatte? Ach, wie dreist.»
Manche Dinge hatten etwas für sich, weil einem davon fast übel wurde: Das Geräusch wie von einem Aufzug im Blut, während der Mann neben ihr schnarchte, die wohlgenährten Kinder schliefen im anderen Zimmer auf einem Haufen, die Ärmsten. «Ach, was habe ich bloß!», dachte sie verzweifelt. Ob sie sich überfressen hatte? «Ach, was habe ich bloß, heilige Mutter Gottes!»
Es war traurig.
Die Zehen spielten weiter mit dem Pantoffel. Der Boden da unten war nicht besonders sauber. Du bist vielleicht liederlich und faul. Morgen würde das nichts werden, da würde sie nicht gut auf den Beinen sein. Aber übermorgen würde ihre Wohnung schon sehen: Da würde sie ihr mit Besen, Wasser und Seife zu Leibe rücken, dass ihr der ganze Schmutz verging! Die Wohnung würde schon sehen!, drohte sie jähzornig. Ach, sie fühlte sich so gut, so rau, als würde ihr noch Milch in die Titten schießen, so stark. Als der Freund ihres Mannes sie sah, so hübsch und rundlich, da bekam er gleich Respekt vor ihr. Und als sie sich dann schämte, da wusste sie nicht, wohin mit dem Blick. Ach, wie traurig. Aber was soll man machen. Sie saß auf dem Bettrand, blinzelte resigniert. Schön sah der Mond aus in diesen Sommernächten. Sie beugte sich ein Stückchen vor, gleichgültig, resigniert. Der Mond. Schön sah er aus. Der Mond, der hoch und gelb über den Himmel glitt, der Ärmste. Immer nur gleiten und gleiten … Hoch oben, hoch oben. Der Mond. Da brach die Grobheit aus ihr heraus in plötzlicher Liebe: «Du Schlampe», sagte sie und lachte.
Bevor Armando von der Arbeit zurückkam, sollte die Wohnung aufgeräumt sein und sie selbst schon im braunen Kleid, um ihrem Mann zur Hand zu gehen, während er sich umzog, und dann würden sie in aller Ruhe das Haus verlassen, untergehakt wie früher. Wie lange hatten sie das nicht mehr getan?
Doch jetzt, da es ihr wieder «gut ging», würden sie in den Bus steigen, wie eine Ehefrau würde sie aus dem Fenster blicken, ihren Arm an seinem, und danach würden sie mit Carlota und João zu Abend essen, zwanglos in den Stühlen zurückgelehnt. Wie lange hatte sie schon nicht mehr erlebt, dass Armando sich endlich zurücklehnte und sich zwanglos mit einem Mann unterhielt? Friede hieß für einen Mann, ohne einen Gedanken an seine Frau mit einem anderen Mann zu erörtern, was in der Zeitung stand. Währenddessen würde sie mit Carlota über Frauengeschichten reden, sich Carlotas dominanter und praktischer Güte unterwerfen, würde von der Freundin endlich wieder achtlos und mit vager Geringschätzung behandelt werden, mit ihrer natürlichen Schroffheit und nicht mehr mit jener verdutzten Zuneigung voller Neugier – und endlich wieder Armando sehen, ohne einen Gedanken an seine Frau. Und sie selbst würde endlich in dankbare Bedeutungslosigkeit zurücksinken. Wie eine Katze, die nachts fort gewesen ist und dann, als wäre nichts geschehen, ohne ein Wort, eine Schale Milch findet. Zum Glück trugen die Leute dazu bei, ihr das Gefühl zu geben, dass es ihr jetzt «gut ging». Sie starrten sie nicht an, sondern halfen ihr tätig dabei, zu vergessen, gaben ihrerseits zu vergessen vor, wie nach der Lektüre desselben Beipackzettels für dasselbe Medikament. Oder sie hatten es wirklich vergessen, wer weiß. Wie lange hatte sie nicht mehr erlebt, dass Armando sich sorglos zurücklehnte, ohne einen Gedanken an sie? Und sie selbst?
Laura hörte auf, die Sachen auf dem Frisiertisch zu ordnen, und betrachtete sich im Spiegel: Und sie selbst, wie lange? Ihr Gesicht hatte einen häuslichen Reiz, die Haare waren hinter die großen, blassen Ohren zurückgesteckt. Die braunen Augen, das braune Haar, der dunkle und weiche Teint, das alles verlieh ihrem nicht mehr ganz jungen Gesicht etwas bescheiden Weibliches. Würde denn jemand in diesem winzigen Fleck Überraschung ganz hinten in ihren Augen, würde jemand in diesem winzigen verletzten Fleck das Fehlen der Kinder entdecken, die sie nie bekommen hatte?
In ihrer peniblen Vorliebe für das Planmäßige – derselben Vorliebe, die sie als Schulmädchen dazu gebracht hatte, alles in Schönschrift von der Tafel abzuschreiben, ohne es zu verstehen –, in ihrer Vorliebe für das Planmäßige also, die sie jetzt wieder aufnahm, überlegte sie, was in der Wohnung zu tun war, bevor das Hausmädchen ausging, damit sie dann, wenn Maria fort war, nichts mehr zu tun bräuchte als: 1.) sich in Ruhe anzukleiden; 2.) fertig vorbereitet auf Armando zu warten; 3.) was war noch das Dritte? Ach ja. Genau so würde sie es machen. Und sie würde das braune Kleid anziehen, das mit dem cremeweißen Spitzenkragen. Nach dem Duschen. Schon auf dem Sacré Cœur6 war sie ordnungsliebend und reinlich gewesen, hatte großen Wert auf die Körperpflege gelegt und eine gewisse Abscheu vor Unordnung gehabt. Was ihr vonseiten Carlotas, die bereits damals etwas eigen war, keineswegs Bewunderung eingetragen hatte. Die beiden waren immer sehr unterschiedlich gewesen. Carlota ehrgeizig und mit einem kräftigen Lachen; sie, Laura, ein wenig langsam und sozusagen darauf bedacht, immer langsam zu bleiben; Carlota ohne den geringsten Sinn für Gefahr. Und sie mit ihrer vorsichtigen Art. Als sie ihr die «Nachfolge Christi»7 zu lesen gaben, hatte sie mit dümmlicher Glut darin gelesen und nichts verstanden, aber, Gott sollte ihr vergeben, sie hatte gespürt: Wer Christus nachfolgte, war verloren – verloren im Licht, doch gefährlich verloren. Christus war die schlimmste Versuchung. Carlota hingegen hatte das Buch nicht einmal lesen wollen, hatte der Nonne vorgelogen, sie kenne es schon. Ach ja. Sie würde das braune Kleid anziehen, das mit dem echten Spitzenkragen.
Doch als sie die Uhrzeit sah, überfiel es sie mit einem Schrecken, dass sie sich an die Brust fasste – sie hatte vergessen, das Glas Milch zu trinken.
Sie ging in die Küche, und als wäre ihre Nachlässigkeit ein schuldhafter Verrat an Armando und an den Freunden, die sich um sie gekümmert hatten, trank sie noch an der Kühlschranktür die ersten Schlucke, angespannt verweilend, konzentrierte sich fromm auf jeden Schluck, als würde sie damit alle entschädigen und Buße tun. Wenn der Arzt gesagt hatte: «Trinken Sie Milch zwischen den Mahlzeiten, vermeiden Sie einen nüchternen Magen, das führt zu innerer Anspannung» – dann trank sie, selbst wenn keine Anspannung drohte, ohne Widerrede Schluck um Schluck, Tag für Tag, sie hatte noch nie gefehlt, gehorchte mit geschlossenen Augen und einem bisschen Glut, um in sich auch nicht den geringsten Unglauben entdecken zu können. Das Missliche war, dass sich der Arzt zu widersprechen schien, indem er ihr eine genaue Anordnung gab, die sie mit dem Eifer einer Konvertitin befolgen wollte, aber auch gesagt hatte: «Seien Sie unbekümmert, versuchen Sie alles sanft anzugehen, mühen Sie sich nicht ab – vergessen Sie das Geschehene, dann fügt sich alles wieder ganz natürlich.» Damit hatte er ihr auf die Schulter geklopft, was ihr geschmeichelt und sie vor Freude hatte erröten lassen. Aber ihrer bescheidenen Meinung nach schien eine Anordnung die andere aufzuheben, als würde man aufgefordert, gleichzeitig Mehl zu essen und zu pfeifen. Um beide Anweisungen zu einer zusammenzuführen, griff sie schließlich zu einem Trick: Das Glas Milch, das mit der Zeit eine geheime Macht gewonnen hatte, da es gleichsam in jedem Schluck den Geschmack eines Wortes enthielt und das kräftige Schulterklopfen erneuerte, dieses Glas Milch nahm sie mit ins Wohnzimmer, wo sie sich «völlig natürlich» hinsetzte und so tat, als ob ihr nichts daran läge, also «ohne sich abzumühen» – und befolgte so gewitzt die zweite Anordnung. «Es spielt keine Rolle, wenn ich zunehme», ging ihr durch den Sinn, Schönheit war nie das Wichtigste gewesen.