Die Erben der Animox

 

 

 

 

 

 

 

Für Andrea Hannah

Prolog

Während die Privatmaschine der Hüter zwölftausend Meter über dem Indischen Ozean dahinflog, verschränkte Nolan Thorn die Arme und sah aus dem Fenster, um sich von dem mürrischen Grollen auf dem Sitz hinter sich abzulenken.

Sergei Wadim hatte viele Fehler, doch seine Angewohnheit, Selbstgespräche zu führen, fand Nolan besonders unerträglich. Der europäische Hüter war ein bulliger Mann mit blonden Stoppelhaaren und verblassenden Blutergüssen im Gesicht, und obwohl er eigentlich aussah, als müsste er eher der starke, schweigsame Typ sein, murmelte er seit ihrer Abreise aus Australien vor einigen Stunden pausenlos vor sich hin. Was nicht so schlimm gewesen wäre, wenn Nolan wenigstens das eine oder andere hätte aufschnappen können, so öde es vermutlich war, aber Wadim tat ihm nicht mal den Gefallen, auf Englisch zu murmeln. Es war vollkommen absurd – Nolan konnte sich mit allen Tieren der Welt verständigen, von der Hauskatze bis zum Löwen, von der Ameise bis zum Wal. Doch Wadim, sein einziger Begleiter auf diesem quälend langen Flug, war ein Mysterium für ihn.

»Das nervt total!« Nolan drehte sich um und funkelte ihn über die Sitzlehne böse an. »Ich verstehe kein Wort, und das wissen Sie auch, oder?«

Wadim zog die blonde Augenbraue hoch und schrieb etwas in sein kleines Notizbuch, bevor er aufblickte. »Na und?«, sagte er mit seinem starken Akzent. »Du bist fast vierzehn. Dich muss man nicht mehr bespaßen, Erbe

Das letzte Wort spuckte er angewidert aus. Nolan grub die Finger in das weiche Leder seiner Lehne. Es war offensichtlich als Beleidigung gedacht.

»Ich kann jederzeit in eine Fliege animagieren und Ihnen um den Kopf schwirren«, gab er scheinbar unbekümmert zurück. »Dann hätte ich wenigstens ein bisschen Spaß.«

»Kein Problem«, entgegnete Wadim und hielt sein Notizbuch hoch. »Das hier eignet sich wunderbar als Fliegenklatsche.«

»Probieren Sie’s ruhig aus! Wenn ein Bär in Ihrem Schoß landet, vergeht Ihnen das Lachen.« Nolan gab sich alle Mühe, seine Wut zu beherrschen, schaffte es jedoch kaum noch. »Ich habe noch nie gesehen, wie ein Luchs mit einem Grizzly kämpft. Ich glaube nicht, dass Sie gewinnen würden.«

Wadim kniff ärgerlich die Lippen zusammen. Nolan grinste. Er hatte recht, und das wussten sie beide. In Menschengestalt mochte Wadim Nolan fast dreißig Jahre und fünfzig Kilo Muskeln voraushaben, aber wenn es drauf ankam, hätte er keine Chance gegen ihn. Denn Nolan war ein Erbe und konnte Wadim blitzschnell die Kehle durchbeißen.

Was er nur zu gern getan hätte. Wadim hatte es nicht verdient zu leben. Er hatte nicht die Luft zum Atmen verdient, nicht den Raum, den er einnahm, und die Gedanken, die er nicht für sich behalten konnte. Er war ein Mörder – von der Sorte, die unschuldige Menschen umbrachte, nur weil sie seine schlimmsten Befürchtungen verkörperten. Jemand, der sich immer im Recht glaubte und allen gesunden Menschenverstand und jedes Mitgefühl ausblendete. Wenn Nolan ihm hier und jetzt den Garaus machte, würde er der gesamten Animox-Welt einen Gefallen tun.

Als könnte Wadim Gedanken lesen, hob er herausfordernd das Kinn. Wollte er Nolan dazu anstacheln, die Finger in Krallen zu verwandeln und ihm die Haut aufzureißen wie Papier? Nolans Hand zuckte, er packte die Sitzlehne fester.

»Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt«, sagte der europäische Hüter mit rauer Stimme.

»Wofür?«, fragte Nolan. Es wäre ganz leicht, und er würde damit unzählige Leben retten!

»Für Australien. Dass du mich in diesem Rattenloch entdeckt und gerettet hast. Wobei sich meine Dankbarkeit in Grenzen hält. Schließlich bin ich nur dort gelandet, weil mich dein Bruder angegriffen hat.«

»Wenn Simon Sie umbringen wollte, hatte er bestimmt einen guten Grund.« Natürlich wusste Nolan, was vorgefallen war. Wadim hatte Simon gefoltert und beinahe umgebracht. Erst in letzter Sekunde hatte ihm ein anderer Erbe geholfen. Eigentlich kein Wunder. Schließlich war Nolans Zwillingsbruder in den vergangenen zwei Jahren unzähligen aussichtslosen Situationen entkommen. Aber dieses Glück würde nicht ewig anhalten. Sogar eine Katze hatte nur neun Leben.

Wadim glotzte ihn an, und das Motorengedröhn schien in Nolans Ohren immer lauter zu werden. Er brauchte nur die Tür aufzureißen, Wadim hinauszustoßen, in einen Vogel zu animagieren und davonzufliegen. Niemand würde ihm je auf die Schliche kommen. Nicht mal der Pilot. Die anderen Hüter würden sich ihren Teil denken, aber ohne Wadims Leiche hätten sie keine Beweise. Und Nolan konnte in dem Wissen nach New York heimkehren, dass er das Richtige getan hatte.

Aus dem Augenwinkel nahm er über sich etwas Kleines, Braunes wahr. Eine Spinne. Eine von denen, mit denen sich Nolan früher unterhalten hatte, wenn er einsam gewesen war. Nichts Farbiges, Auffallendes. Die Spinne fügte sich so gut in die beigefarbene Ausstattung der Kabine ein, dass Nolan kurz überlegte, ob es sich nur um einen Fussel handelte. Doch als er noch einmal hinsah, verkroch sich der kleine Achtbeiner in eine Ritze. Nolan verkniff sich ein Grinsen.

»Darf ich fragen, warum du mich gerettet hast?«, riss ihn Wadim aus seinen Gedanken. »Es ist schließlich kein Geheimnis, dass du meine Mission nicht gutheißt.«

»Sie machen Jagd auf Animox! Keine Ahnung, wie die Gesetze da sind, wo Sie herkommen, aber in Nordamerika ist so was strafbar.«

Wadim ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich mache keine Jagd auf Animox. Ich mache Jagd auf Erben.«

»Erben sind ebenfalls Animox, auch wenn das nicht in Ihr Spatzenhirn will. Wir alle besitzen die Gabe, Tiergestalt anzunehmen.«

»Ich besitze die Gabe, in einen Luchs zu animagieren, weil ich ein Animox bin«, entgegnete Wadim barsch. »Du und deinesgleichen seid dagegen widernatürlich und eine ernste Gefahr für unsere Lebensweise.«

»Sie sind doch bloß neidisch!«

Zu Nolans Befriedigung verschlug das Wadim die Sprache. Dabei war diese Vermutung durchaus begründet. Während Wadim und alle anderen sogenannten normalen Animox nur eine einzige Tiergestalt besaßen, konnten Erben in jedes beliebige Tier animagieren. Beziehungsweise in Nolans Fall in fast jedes. Trotzdem – wer würde ihn nicht darum beneiden?

»Ich kann’s ja verstehen«, redete Nolan weiter, obwohl ihm klar war, dass er sich auf dünnes Eis begab. »Wenn ich nur eine einzige Tiergestalt hätte, würde mich das auch ankotzen. Vor allem, wenn es ein Luchs wäre.« Er rümpfte die Nase. »Das wäre nicht meine erste Wahl.«

»Lieber ein Luchs als ein Monster.« Wadims Ton war beherrscht, doch an seiner Schläfe pochte eine Ader.

»In diesem Flieger sitzt nur ein Monster«, erwiderte Nolan, »und das bin nicht ich.«

Diesmal dauerte das anschließende Schweigen länger. Wadim griff wieder nach seinem Stift. Seine Hand zitterte ein bisschen. Erwog er, den Stift als Waffe zu benutzen, so wie Nolan mit dem Gedanken gespielt hatte, Wadim aus dem Flugzeug zu stoßen und zuzuschauen, wie er ins Meer stürzte?

Wahrscheinlich. Doch Wadim mochte noch so schnell sein, Nolan war schneller.

»Warum?«, wiederholte Wadim. »Du hättest mich sterben lassen und mit deinem Bruder fliehen können. Dann wärst du längst wieder bei deiner Mutter und deinem Onkel in Amerika. Trotzdem hast du mir das Leben gerettet, obwohl du anscheinend überzeugt bist, dass ich es nicht verdient habe.«

Das entsprach so exakt Nolans Gedanken, dass es ihm kalt den Rücken hinunterlief. »Lassen Sie meine Familie aus dem Spiel! Sonst überlege ich es mir vielleicht anders.«

»Was denn?«, fragte Wadim unbeeindruckt. »Könnte es sein, dass du mich noch brauchst? Vielleicht hast du ja nicht gern Konkurrenz. Vielleicht wärst du gern der einzige Erbe auf der Welt. Vielleicht«, seine eisblauen Augen funkelten, »wäre es dir sogar ganz recht, wenn ich deinen Bruder umbringe.«

Nolan bohrte die Nägel so tief in das Leder, dass die Abdrücke ganz bestimmt nicht mehr weggehen würden. Natürlich wünschte er Simon nicht den Tod! Auch wenn sie lange nichts von ihrer jeweiligen Existenz gewusst hatten – sie waren dennoch Brüder. Simon gehörte zur Familie, und die Familie stand für Nolan immer an erster Stelle.

Wobei Wadim, ohne es zu ahnen, der Wahrheit sehr nahekam. Bevor Nolan zum ersten Mal animagiert hatte, hatte sich das Wissen, ein Erwählter zu sein, mit der Furcht verknüpft, seiner Aufgabe nicht gerecht zu werden. Und als er dann erfuhr, dass er einen Bruder hatte, mit dem er sein Erbe womöglich teilte – alles, was Nolan aufgrund seiner Abstammung verdient zu haben glaubte –, hatte das ihre Beziehung beinahe zerstört, bevor sie überhaupt begonnen hatte.

Es ging um die Fähigkeiten des Bestienkönigs. Dieser entfernte, definitiv bösartige Vorfahre hatte die Erbenkräfte, die man ihm verweigert hatte, geraubt und Nordamerika damit von der übrigen Animox-Welt abgespalten. Die Thorn-Brüder stammten zwar von ihm ab, doch dass sie beide seine Fähigkeiten geerbt hatten, war reines Glück. Es hätte auch fürchterlich und unwiderruflich schiefgehen können.

Dann hätte Wadim vielleicht recht gehabt.

»Was labern Sie da eigentlich die ganze Zeit vor sich hin?« Nolan deutete mit dem Kinn auf Wadims Notizbuch. »Sind das Gedichte? Oder eine Einkaufsliste? Das irre Gekläff eines tollwütigen Hundes?«

»Es sind Pläne.« Wadim schlug eine vollgeschriebene Seite auf. »Die afrikanische Abteilung des Imperiums ist auf unsere Ankunft vorbereitet, und trotz unserer Schlappe in Australien bin ich zuversichtlich, dass sich das Blatt wenden wird.«

»Echt?« Nolan tat gleichgültig. Wadim ahnte offenbar nicht, dass sein Vorhaben, die australischen Nachkommen der Königsfamilie zu beseitigen – was letztlich zum Tod der australischen Hüterin Yvonne geführt hatte –, nicht nur von Simon, sondern von beiden Thorn-Brüdern vereitelt worden war. Und Nolan würde sich hüten, es ihm zu verraten. Wegen seiner Abmachung mit den Hütern durfte er sich nicht mit Simon verbünden. Nur solange er mit dem Imperium zusammenarbeitete und es bei der Suche nach den Erben unterstützte, war seine Familie nicht in Gefahr. Sollte Wadim herausfinden, was Nolan in Wahrheit vorhatte, würde ein Heer Imperium-Soldaten über sein Zuhause in New York herfallen wie ein Heuschreckenschwarm. Und das wollte Nolan unter allen Umständen verhindern.

»Bevor wir letzte Woche nach Australien aufgebrochen sind, habe ich das afrikanische Imperium angewiesen, ein paar … Einheimische anzuheuern«, fuhr Wadim vielsagend fort. »Sie kennen das Land und sind bereit, uns zu helfen. Diesmal arbeiten wir nicht allein.«

»Na toll. Noch mehr mordlustige Geistesgestörte – das hat uns echt gefehlt! Ist den Leuten klar, dass sie Jagd auf Kinder machen? Oder haben Sie diesen Hinweis lieber unterschlagen?«

»Sie haben alle Informationen, die sie brauchen.« Wadim klopfte mit dem Stift auf sein Notizbuch. »Und das Imperium zahlt gut. Aber warum hast du mich denn nun gerettet? Oder ist das geheim?«

Nolan zuckte die Achseln. »Warum interessiert es Sie überhaupt?«

»Reine Neugier. Schließlich kannst du mich auf den Tod nicht ausstehen.«

Das stimmte allerdings. »Ich habe Sie in dem Keller aus dem gleichen Grund nicht krepieren lassen, weshalb Sie mich verschont haben. Weil wir beide einander lebendig mehr nützen als tot, jedenfalls momentan.«

»Momentan«, wiederholte Wadim bedrohlich gelassen. Dann, nach einer langen Pause, richtete er den Blick wieder auf sein Notizbuch und schrieb weiter. Die schwarze Tinte bildete einen scharfen Kontrast zu dem schneeweißen Papier.

Nolan war noch nicht fertig mit ihm. Er ließ Wadim ein paar Zeilen schreiben, dann unterbrach er ihn erneut.

»Das war gar nicht ich.«

Der Stift hielt an, Wadim hob den Kopf. »Wie bitte?«

Nolan ließ die Sitzlehne endlich los. Die Abdrücke seiner Finger auf dem Polster verschwanden, aber die halbmondförmigen Kerben von seinen Nägeln würden bleiben. »Nicht ich habe Sie gerettet.«

Ungläubigkeit und Zweifel huschten über Wadims breites Gesicht, und seine Stimme war deutlich höher als vorher, als er fragte. »Wer denn dann?«

»Jemand, der Sie noch weniger leiden kann als ich«, erwiderte Nolan boshaft.

Ehe er sich abwandte, spähte er noch einmal zu der Deckenritze hoch. Sollte sich Wadim doch den Kopf zerbrechen!

Erstes Kapitel

Trübe Aussichten

Simon Thorn versuchte, sich auf sein Buch zu konzentrieren. Doch die Zeilen verschwammen andauernd, und er verstand keinen einzigen Satz.

Wie lange er schon auf derselben Seite feststeckte, wusste er nicht. Wahrscheinlich seit die Stewardess das Tablett mit dem unberührten Frühstück wieder mitgenommen hatte, aber war das vor zehn Minuten oder vor einer Stunde gewesen? Oder nach dem halben Flug über den Indischen Ozean? Auf jeden Fall war sein Großvater neben ihm inzwischen eingeschlafen und schnarchte leise ans Fenster. Wobei das nicht viel zu bedeuten hatte. Leo Thorn konnte selbst an den unbequemsten Orten einschlafen.

»Sind wir bald da?«

Simon erschrak fast zu Tode. Die hohe Stimme piepste ihm direkt ins Ohr. Auf seiner Schulter hockte ein grau-weißes Flughörnchen und rang ängstlich die Pfötchen.

»Es dauert noch«, antwortete er. Sein Herz hämmerte zum Zerspringen. Nach allem, was in den letzten zwei Wochen vorgefallen war, lagen seine Nerven blank. »Du sollst dich doch verstecken, bis wir in Tansania landen, schon vergessen? Wenn dich jemand sieht, gibts richtig Ärger.«

Eloise schlang den Schwanz um ihren pelzigen Körper, als könnte sie sich so unsichtbar machen. Das war leider nicht der Fall. Nur mit viel Glück war es Simon gelungen, sie durch den Flughafen von Sydney zu schleusen. So gut würde es garantiert nicht immer laufen. Vor allem, wenn sie alle fünf Minuten aus seiner Pulli-Kapuze schlüpfte und irgendwas fragte. Denn wenn Simon mit ihr sprach, hörte es sich für die Ohren seiner Sitznachbarn nach schrillem Quieken an, das die Flugzeugtriebwerke nicht ganz übertönten.

»Warum hast du sie überhaupt mitgenommen?«, fragte seine andere Sitznachbarin, ein Mädchen mit silbernen Haaren. Ariana war der einzige Sichtschutz zwischen Eloise und dem Mittelgang. Den kam gerade ein Mann mit Basecap entlang. Er wollte offenbar zur Toilette. Schnell beugte sich Ariana vor.

»Es ging nicht anders, das weißt du doch«, erwiderte Simon leise. Er hatte ja versucht, Eloise zu überreden, in ihre Kolonie zurückzukehren. Auf der Rückfahrt nach Sydney entlang der australischen Küste hatte er stundenlang mit ihr diskutiert und sie angefleht, in der Auffangstation zu bleiben, wo sie in Sicherheit war. Doch Eloise hatte hartnäckig darauf bestanden mitzukommen, und irgendwann hatte Simon Angst gehabt, sie könnte sich heimlich im Gepäck an Bord schmuggeln und dort zerquetscht werden. Darum hatte er schließlich schweren Herzens zugestimmt.

»Ab jetzt bin ich mäuschenstill, versprochen«, raunte Eloise hinter ihrem buschigen Schwanz hervor. Damit verkroch sie sich wieder in Simons Kapuze.

Es gab Simon einen Stich, doch er sagte nichts. Niemand mochte aussprechen, warum Eloise nicht in Sydney bleiben wollte. Suki Hawkins, Eloises Betreuerin und eine der australischen Erbinnen, war zusammen mit einem anderen Erben, Kai Soren, vor nicht mal achtundvierzig Stunden entführt worden. Simon hatte keine Ahnung, ob die beiden noch am Leben waren, geschweige denn, ob seine Freunde und er sie je wiedersehen würden. Er verstand Eloises Verunsicherung und Angst nur zu gut. Ihm selbst war es vor zwölf Tagen in New York genauso gegangen, als jemand seinen Zwillingsbruder auf dem gemeinsamen Schulweg in einen weißen Lieferwagen gezerrt hatte.

Vielleicht fühlte sich das Flughörnchen auf einer gefährlichen Mission mit Simon sicherer als ohne Suki in seiner Kolonie – oder Eloise konnte nicht still sitzen, während Suki in Not war. Vielleicht brauchte sie wie Simon das Gefühl, irgendwas zu unternehmen, ob es nun etwas brachte oder nicht.

»Kann mir jemand erklären, wie wir sechzig mögliche Erben auf einem Kontinent finden sollen, der fast viermal so groß ist wie Australien?«

In der Sitzreihe vor ihnen drehte sich ein Mädchen mit dunklem Zopf zu ihnen um. Winter hatte ihre rosa Schlafmaske hochgeschoben und schien trotz der dunklen Ringe unter den grünen Augen kein bisschen müde zu sein.

»Vielleicht müssen wir das ja gar nicht.« Jam, ein blonder Junge mit Brille, spähte über die Lehne vor Ariana. »In der Nachricht von X stand doch, wir sollen nach Tansania fliegen.«

»Du hast keine weiteren Nachrichten bekommen, oder?«, wandte sich Winter an Simon.

»Das hätte ich euch gesagt.« Trotz seiner Müdigkeit – und der Tatsache, dass sie zwölfhundert Meter hoch in der Luft waren und keinen Empfang hatten – nahm er seinen Rucksack auf den Schoß und kramte sein Klapphandy aus der Außentasche. Er machte sich keine falschen Hoffnungen auf eine weitere Nachricht von X, dem mysteriösen Unbekannten, der sie erst nach Australien gelotst hatte und jetzt nach Tansania, aber er konnte ja trotzdem nachsehen.

Natürlich war keine neue Nachricht eingetroffen. Es gab nur die eine SMS, die X vor knapp zwei Tagen geschickt hatte, in der Nacht, als die beiden australischen Erben verschwunden waren:

01:24

Sei nicht sauer wegen deiner neuen Freunde, Simon. Es ging leider nicht anders. Hoffentlich sehen wir uns in Tansania. Viel Glück.

»Wollen wir diesem X nach der Sache mit Suki und Kai wirklich noch trauen?«, fragte Ariana. »Wir wissen nicht mal, wer er ist!«

»Immerhin wissen wir jetzt, dass er – oder sie – ebenfalls hinter den Erben her ist«, sagte Charlotte, die zwischen Winter und Jam saß. Ihre dunklen Locken wippten, als sie sich umdrehte, und sie machte ein grimmiges Gesicht. »Möglicherweise handelt X nicht unbedingt im Interesse der Erben, aber er braucht uns offenbar, um sie zu finden.«

Winter schnaubte. »Nicht unbedingt im Interesse der Erben – nette Umschreibung. Genauso gut kann es sein, dass X sie umbringen will!«

Stille trat ein. Simon griff in seine Kapuze und streichelte Eloises weiches Fell. Anfangs hatte er X vertraut, aber diesen Fehler würde er nicht noch einmal machen. Auch dann nicht, falls X ebenfalls verhindern wollte, dass das Imperium die Erben aufspürte und ermordete.

Leider war das leichter gesagt als getan. Das Imperium herrschte über die gesamte Animox-Welt außerhalb von Nordamerika. Jahrhundertelang hatten seine Anführer – fünf Hüter, einer von jedem der übrigen bewohnten Kontinente – als Einzige gewusst, dass es immer noch Erben gab. In jeder Generation war immer nur ein einziger Erbe geboren worden. Und in jeder Generation hatte das Imperium erbarmungslos Jagd auf ihn gemacht, bis der oder die Betreffende tot war.

Für das Imperium gab es nichts Bedrohlicheres als lebendige Erben. Sie waren etwas Besonderes – nicht nur, weil sie sich in jedes beliebige Tier verwandeln konnten, sondern weil sie Nachkommen der Königsfamilie waren, die vom Imperium seinerzeit gestürzt worden war. Der Putsch lag zwar schon mehrere Jahrhunderte zurück, trotzdem lebten die Hüter seither in der Furcht, die Erben könnten sich den Raubstein zurückholen – ein altes Artefakt aus Obsidian, das zusammen mit dem Greifstab der Ursprung der Erbenkräfte war – und den Königsthron beanspruchen.

Den Greifstab hatte Simon letztes Jahr zerstört. Nach mehreren dramatischen Vorfällen, die nichts mit den Hütern oder dem Imperium zu tun hatten, hatte er ihn unwiderruflich zertrümmert. Was er damals nicht gewusst hatte: Als Abschiedsgeschenk hatte der sterbende Stab jenen Nachkommen des Königshauses, die noch nicht animagiert hatten, ebenfalls Erbenkräfte verliehen. Darum gab es jetzt Hunderte möglicher Erben, die über die ganze Welt verstreut waren, und das Imperium hatte sich vorgenommen, sie allesamt auszuschalten.

Simon hatte erst vor knapp zwei Wochen von der Existenz des Imperiums erfahren. Seither setzte er sein eigenes Leben und das seiner Angehörigen und Freunde aufs Spiel. Am liebsten hätte er alles hingeworfen und wäre nach Hause geflogen. Doch seine Freunde und er waren die Einzigen, die genug wussten, um das Imperium aufzuhalten – oder es wenigstens zu versuchen.

Jam räusperte sich. »Wie gesagt«, er schob seine Brille hoch, »ich glaube nicht, dass wir die afrikanischen Nachkommen einzeln aufstöbern müssen. Die afrikanische Hüterin …«

»Fahari«, warf Charlotte ein, die Tochter des vorigen europäischen Hüters. »Sie heißt Fahari. Und sie ist eigentlich ganz nett. Jedenfalls kam sie mir nicht so mordlustig wie die anderen vor. Wobei ich über sie nur weiß, dass sie aus der Serengeti stammt.«

»Aus der Serengeti?« Hinter den Brillengläsern wirkten Jams Augen riesig. Er beugte sich vor und richtete sich mit einem Reiseführer in der Hand wieder auf. »Der Serengeti-Nationalpark liegt in Tansania. Bestimmt schickt uns X deswegen dorthin.« Er schlug den Reiseführer auf und hielt den anderen eine Landkarte hin. »Das kann kein Zufall sein!«

»Fahari stammt aus Tansania?«, fragte Charlotte verwundert, während sie auf die Karte blickte. Obwohl ihre Locken Simon die Sicht nahmen, konnte er die Serengeti erkennen. Sie lag im Norden, wo Tansania an Kenia grenzte.

»Und wenn Fahari es mit derselben Taktik versucht, die bei Yvonne in Australien so erfolgreich war?«, fragte Jam eifrig.

»Yvonne ist tot«, konterte Winter. »Das ist für die anderen Hüter bestimmt kein Erfolg.«

Jam ließ sich nicht beirren. »Das meine ich natürlich nicht. Sondern dass sie die möglichen Erben alle zu sich bestellt hat. Vielleicht …«

»Vielleicht machen das alle Hüter so!«, fiel ihm Simon ins Wort. »Du bist ein Genie, Jam.«

Jam bekam rote Ohren. Bevor er etwas erwidern konnte, sagte Winter: »Das ist ein sehr großes Vielleicht. Wir wissen doch gar nichts über Faharis Pläne. Es wäre ein Riesenzufall, und wenn wir uns irren …«

»Was ist denn die Alternative?« Ariana verschränkte die Arme. »Du hast doch selbst gesagt, dass wir auf keinen Fall sechzig mögliche Erben in ganz Afrika aufspüren können, bevor das Imperium sie schnappt. Klar ist das ein Risiko, aber unsere Chancen stehen gut.«

»Vor allem, wenn X uns unterstützt«, warf Jam ein und fügte auf einen vorwurfsvollen Blick von Winter hin hastig hinzu: »Nicht dass wir X total vertrauen sollten, aber wie Charlotte schon meinte …«

»X ist drauf angewiesen, dass wir die Erben für ihn finden«, ergänzte Charlotte. »Da wird er uns nicht absichtlich in die Irre führen, jedenfalls nicht, bis er sein Ziel erreicht hat.«

Simon trommelte mit skeptischer Miene auf seinen Klapptisch. »Und was ist sein Ziel deiner Meinung nach?«

»Das ist doch logisch«, antwortete Winter. »X ist auch hinter den Erben her, kann sie aber aus irgendeinem Grund nicht selbst verfolgen.«

»Warum nicht? Das ist mir immer noch ein Rätsel. Wenn X Suki und Kai entführen kann, während wir nebenan schlafen, warum braucht er dann uns für die Drecksarbeit?«

»Weil die Hüter ihn oder sie wahrscheinlich erkennen würden«, versetzte Charlotte. »X weiß um ihre Pläne, darf sich aber nicht erwischen lassen, sonst fliegt seine Tarnung auf.«

»Dann muss er ein Doppelagent sein.« Ariana trommelte auf die Armlehne zwischen sich und Simon. »Oder –«

Ihre Blicke trafen sich. »Nolan?«, fragte Simon leise. Ariana nickte.

»Könnte doch sein. Nolan behauptet, er arbeite nur für die Hüter, um eure Familie zu schützen, aber das Imperium weiß inzwischen über dich Bescheid. Dass Nolan weiter mit ihnen kooperiert, muss noch einen anderen Grund haben.«

Simon überlegte hin und her. Obwohl Nolan vom Imperium entführt worden war, war er nicht geflohen, als Simon es ihm ermöglicht hatte. Stattdessen hatte er sich mit den Hütern auf einen Tauschhandel eingelassen: Solange er ihnen bei der Suche nach den Erben half, würde seinen Angehörigen in New York kein Haar gekrümmt.

Das einzige Problem war Simon. Laut den Hütern war der Schutz der Familie verwirkt, sobald er sich einmischte. Und obwohl sich Simon große Sorgen um seine Mutter, seinen Onkel und seine Tante machte, hatte er von Anfang an gewusst, was er zu tun hatte. Nämlich sich nicht einschüchtern zu lassen, während das Imperium zahllose Unschuldige systematisch verfolgte und hinrichtete.

Dummerweise hatten die australische Hüterin Yvonne und Wadim, der Charlottes Vater ermordet und seine Nachfolge als europäischer Hüter angetreten hatte, Simon bei dem Versuch ertappt, die australischen Erben zu retten. Und anders als Yvonne war Wadim nicht tot. So, wie Simon ihn kennengelernt hatte, würde er, ohne mit der Wimper zu zucken, Imperium-Soldaten nach New York schicken.

Nolan hatte gewusst, dass Simon geschnappt worden war. Er hatte ihm sogar geholfen, die Nachkommen aus der tödlichen Flut zu retten, die Wadim ausgelöst hatte. Danach hatte Simon gehofft, dass sich sein Bruder ihm und seinen Freunden anschließen würde. Doch Nolan war zu Wadim zurückgekehrt, und alles war wieder wie vorher. Nur begriff Simon diesmal nicht, warum sich sein Zwillingsbruder so entschieden hatte.

Schließlich brach Winter das Schweigen. »Ich weiß, wir wünschen uns alle, dass Nolan eigentlich für die gute Seite arbeitet, so wie wir, aber ich finde, die SMS klingen nicht nach ihm.«

»Außerdem hat Ariana sein verblüfftes Gesicht gesehen, als er mich im Dreizack entdeckt hat«, ergänzte Jam. »Er hatte vorher keine Ahnung, dass wir auch in Australien waren, oder?«

»Genau«, bestätigte Ariana. »So ein guter Schauspieler ist er nicht.«

Simon schwieg. Er hätte gern geglaubt, dass sein Bruder die Erben irgendwie schützte und dass das Ganze ein Schachzug war, den Simon bloß nicht verstand. Nicht verstehen konnte. Das hatte Nolan schließlich vor zwei Tagen behauptet, als sie sich zuletzt begegnet waren.

Es wäre eine Erleichterung gewesen, nicht mehr argwöhnen zu müssen, dass sein Bruder ihn derart hinterging. Dass er Suki und Kai entführt hatte. Das hätte die Beziehung, die Nolan und er so mühsam aufgebaut hatten, auf einen Schlag zunichtegemacht, so viel stand jetzt schon fest.

»Wenn nicht Nolan, wer dann?« Simon sah jetzt Charlotte an. »Fällt dir jemand beim Imperium ein, der den Hütern eins auswischen will?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich wüsste nicht, wer. Aber das muss nichts heißen. Die meisten vom Imperium kenne ich gar nicht.«

Ariana rutschte auf ihrem Sitz nach vorn und richtete sich so hoch auf, wie sie mit ihrer zierlichen Gestalt konnte. »Und wenn wir noch so viel über X spekulieren – wir wissen einfach nicht genug über ihn. Wir sollten uns lieber auf unseren Plan konzentrieren, Fahari in der Serengeti aufzuspüren. Oder hat jemand noch einen Geistesblitz?«

»Du weißt aber schon, dass es in der Serengeti von Löwen, Leoparden und Krokodilen nur so wimmelt, oder?« Winter zupfte an ihrem Zopf. »Und von Geparden, Elefanten, Nilpferden, Hyänen, Nashörnern, Schwarzen Mambas …«

»Wenn ihr lieber ins Hotel wollt, kann ich das verstehen.« Simon fürchtete schon die ganze Zeit, dass seinen Freunden etwas zustoßen könnte. Nach allem, was sie in Australien erlebt hatten, schauderte es ihn bei dem Gedanken an die unliebsamen Überraschungen, die die Serengeti womöglich bereithielt. »Ich komme auch allein klar.«

»Zum Glück musst du das aber gar nicht.« Ariana drückte seine Hand. Bei der Berührung schien seine Haut zu brennen, und sie ließ ihn erst nach einer gefühlten Ewigkeit los.

Simon brauchte volle fünf Sekunden, bis er die Sprache wiederfand. »Winter hat allerdings recht. Das hier wird noch gefährlicher als Australien.«

»Wir begleiten dich trotzdem«, entgegnete Jam resolut. »Stimmt doch, oder, Winter?«

Sie schnitt eine Grimasse, erwiderte dann jedoch: »Ich will ja nicht alles verpassen.« Dann holte sie ihr Smartphone heraus. Beim Beinahe-Zusammenstoß mit einem Känguru war das Display zersplittert, aber sie tippte drauflos, ohne sich davon stören zu lassen.

»Was machst du da?«, fragte Simon verständnislos.

»Ich gehe ins WLAN und buche uns neue Tickets.« Sie hob den Kopf. »Was denn? Bin ich die Einzige, die sich Jams Karte angesehen hat? Wir fliegen nach Daressalam, und das ist Hunderte Kilometer von der Serengeti entfernt. Der Flughafen von Nairobi liegt viel näher. Dann brauchen wir nicht noch einen ganzen Tag im Van zu verplempern.«

»Wir sollten nicht öfter fliegen als nötig«, wandte Charlotte ein. »Bestimmt sucht das Imperium überall nach uns, und wenn sie unsere Namen auf den Passagierlisten entdecken …«

»Das Risiko müssen wir eingehen«, entschied Simon. »Winter hat recht. Wir müssen uns beeilen, wenn wir die Erben lebend finden wollen.«

Weil niemand mehr Einwände erhob, sahen alle schweigend zu, wie Winter die Flugtickets buchte. Simon streichelte wieder Eloise und hoffte inständig, dass es nicht schon zu spät war.

Zweites Kapitel

Unter dem Radar

Als Simon mit seinen Freunden den Flughafen von Nairobi betrat, spürte er sofort, dass sie beobachtet wurden.

Wieso er sich da so sicher war? Vielleicht lag es an dem harten Training, das ihm sein Onkel in den letzten anderthalb Jahren abverlangt hatte, oder an seinen überfeinen Animox-Instinkten. Jedenfalls spürte er ein Kribbeln. Er ballte die Fäuste und stellte sich auf einen Kampf ein.

Winter und sogar Jam würden bestimmt sagen, er sehe Gespenster, doch so, wie sich Arianas Schultern anspannten und Charlotte argwöhnisch den Blick durch die Halle schweifen ließ, war ihnen ebenfalls unbehaglich zumute. Als sie an einem Duty-free-Shop vorbeikamen, ging Simon absichtlich langsamer und täuschte Interesse an einer Auslage mit Süßigkeiten vor, bis Ariana zu ihm aufgeschlossen hatte.

»Dreh dich nicht um, aber an der Rolltreppe stehen zwei vom Imperium«, sagte sie, fast ohne die Lippen zu bewegen, und begutachtete eine Tüte Bonbons. »Typen in kakifarbenen Uniformen. So was von nicht unauffällig.«

Simon musste sich schwer beherrschen, um nicht zu ihnen hinüberzuschielen. »Meinst du, sie haben uns entdeckt?«

»Noch nicht.« Das kam von Charlotte. »Aber die Hüter haben garantiert schon Fotos von uns rumgeschickt. Es ist also nur eine Frage der Zeit.«

»Toller Trost!«, stöhnte Simon. »Und jetzt?«

Winter kam dazu. »Hast du nicht kiloweise Süßigkeiten eingekauft, bevor wir aus Australien abgeflogen sind, Simon? Hast du die etwa schon alle gegessen?«

Weil Jam von den Quallenstichen, die er in Australien abbekommen hatte, noch leicht humpelte, hatte er sich bei Winter untergehakt. Er musterte die Tüte in Arianas Hand. »Einheimische Spezialitäten zu probieren, ist nie verkehrt. Wobei man die hier auch in New York bekommt.«

Ariana legte die Tüte zurück. »Da drin gibts Reiseführer!« Sie packte Simon am Handgelenk und zog ihn in den Laden, in einen Gang, wo sich niemand aufhielt.

»Ich hab doch schon zwei!« Winter seufzte genervt, folgte den beiden aber trotzdem. Nur Leo blieb draußen, lehnte sich an eine Säule und sah ihnen nicht mal hinterher.

Sobald sie vor Blicken geschützt waren, ließ Ariana Simon los, was er sehr schade fand. »Dreißig Meter von hier weg stehen zwei Imperium-Soldaten«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Wir müssen einen anderen Ausgang nehmen.«

»Es gibt nur einen.« Weil Jam in seiner Tiergestalt ein Delfin war, wusste er über solche Dinge immer Bescheid, da er Echo-Ortung nutzen konnte. »Beziehungsweise nur einen, an dem wir nicht verhaftet werden.«

Charlotte strich sich eine störrische Locke hinters Ohr. »Ich war ja gleich dagegen, nach Nairobi zu fliegen! Wenn das Imperium weiß, dass wir hier sind, warten nicht nur zwei Soldaten auf uns.«

Ariana winkte ab. »Wir haben uns schon an ganz anderen Typen vorbeigeschlichen als an irgendwelchen Imperium-Trotteln.«

»Bist du sicher, dass sie vom Imperium sind?« Winter blätterte zum Schein in einem Reiseführer. Sie sah eher verärgert als verängstigt aus.

»Die Uniformen sind auf allen Kontinenten gleich«, erklärte Charlotte. »Nur die Farben sind unterschiedlich. Übrigens habe ich die beiden auch gesehen. Sie sind eindeutig vom Imperium.«

Simon spähte nervös zur Ladentür. »Wenn gewöhnliche Menschen in der Nähe sind, animagieren sie nicht, oder?«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Das ist verboten, außer sie sind in Lebensgefahr.«

Simon atmete auf. »Sie halten bestimmt nach einer größeren Gruppe Ausschau. Ariana, wenn du und ich animagieren und ihr anderen euch aufteilt …«

»Ihr wisst aber schon, dass ihr hier total auffallt, oder?«, fragte jemand mit breitem Londoner Akzent. Am Ende des Ganges stand ein dunkelhäutiger Junge und versperrte ihnen den Weg. Er trug eine XXL-Jeansjacke, hatte seine Sonnenbrille hochgeschoben und grinste die Freunde breit an.

»Hugo!« Charlotte umarmte ihn stürmisch. »Was machst du denn hier? Du solltest doch bei meiner Mutter bleiben!«

Hugo erwiderte die Umarmung unbeholfen. »Katarina hat mich um einen Gefallen gebeten.« Hugo Cotes leitete die Arche, einen Zufluchtsort für Ausreißer und elternlose Kinder in Anistadt, der einzigen reinen Animox-Stadt in Europa. Er hatte Simon und Charlotte geholfen, sich ins Imperium-Hauptquartier zu schleichen und eine digitale Liste möglicher Erben zu beschaffen. Ihm hatten sie es zu verdanken, dass sie überhaupt wussten, nach wem sie suchen mussten. Simon war froh, ihn zu sehen. Verblüfft, aber froh.

Doch ehe er Hugo ebenfalls begrüßen konnte, rief Charlotte erschrocken: »Was ist das denn?«

Auch Simon bekam einen Schreck. Wurden sie von irgendwelchen Tieren belauscht? Charlotte zeigte auf Hugos Jacke. Sie war vorn seltsam ausgebeult, als hätte er einen Pullover druntergestopft. Unter der Beule zappelte es, dann erschien in der Lücke zwischen zwei Knöpfen ein gelbbrauner Kopf mit großen, spitzen Ohren.

»Ah, frische Luft«, schnaufte der Wüstenfuchs. »Kauf nächstes Mal bitte ein anderes Duschgel, Hugo. Deine aktuelle Wahl ist – wie soll ich sagen – atemberaubend

Winter stieß einen Jubelruf aus. Das hätte leicht die Aufmerksamkeit anderer Reisender erregen können, aber zum Glück drehte sich niemand nach ihnen um. »Poe!« Sie streichelte den Wüstenfuchs zärtlich. »Du bist ja noch niedlicher, als ich dich in Erinnerung hatte!«

»Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf!«, verlangte Poe Bishara pikiert. Aber so genüsslich, wie er die Augen schloss, war er nicht annähernd so beleidigt, wie er tat.

»Woher habt ihr gewusst, wo ihr uns findet?«, fragte Ariana. »Wir haben Katarina nur gesagt, dass wir nach Tansania wollen …«

»… und dann habt ihr von ihrem Konto die Tickets nach Nairobi bezahlt«, sagte Hugo. »Das war jetzt echt nicht schwer, Leute.«

Ariana sah Winter vorwurfsvoll an. »Du wärst eine miserable Spionin.«

Winter zuckte die Achseln. »Katarina weiß sowieso, wo wir hinwollen. Und ich hatte nicht damit gerechnet, dass uns die beiden hierher folgen würden.« Sie kraulte Poe hinter den Ohren. »Aber Moment mal – bist du nicht aus Afrika verbannt worden?«

»So etwas fragt man nicht. Das ist unhöflich«, erwiderte der Wüstenfuchs verstimmt und zog den Kopf weg.

»Ich wollte nicht unhöflich sein. Wenn du eigentlich nicht hier sein darfst …«

»Wir passen auf dich auf«, sagte Charlotte rasch. »Außerdem bist du nur in Gefahr, wenn uns das Imperium entdeckt, und das passiert nicht.«

»Und was ist mit den Soldaten, die überall in der Halle postiert sind?«, fragte Hugo. »Poe und ich haben den Flughafen stundenlang observiert.«

»Wie viele sind es denn?«, fragte Simon.

»Zwischen hier und dem Ausgang mindestens zehn, zwölf. Die Typen an eurem Gate konnten Poe und ich ablenken.«

»Hugo!«, sagte Charlotte entsetzt. »Wenn ihr erwischt worden wärt!«

»Wurden wir aber nicht! Ich bin ja nicht blöd, Lottie. Außerdem haben wir jetzt andere Probleme. Die Soldaten wissen, dass euer Flugzeug gelandet ist, und halten nach weißen Kindern mit amerikanischem Akzent Ausschau.«

»Dann gehe ich als Erster los«, sagte Simon. »Wenn ich sie weglocken kann …«

Winter verdrehte die Augen. »Nicht schon wieder! Diese ätzende Aufopferung, die nie irgendwas bringt, sondern alles immer nur noch schlimmer macht.«

Simon wollte protestieren, aber Jam ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Winter hat recht. Wenn die Soldaten nach einer größeren Gruppe Ausschau halten, kommen wir leichter an ihnen vorbei, wenn du und Ariana animagiert und wir anderen uns aufteilen. Vielleicht achten sie nicht auf Leo und er kann einen Van mieten. Wir treffen uns draußen.«

Hugo holte einen Zettel aus der Hosentasche. »Ich habe den Flughafen skizziert und die Ausgänge zur Straße markiert. Am besten klappt es wahrscheinlich da oder da.« Er deutete auf zwei verschiedene Stellen. »Wobei dieser Ausgang näher bei den Autovermietungen ist.«

»Dann nehmen wir den«, entschied Jam. »Alle prägen sich den Weg ein. Wir treffen uns in zwanzig Minuten wieder. Achtet auf Verfolger und schüttelt sie ab.«

»Und wenn das nicht klappt?« Winter drückte ihre Handtasche an sich. Sofort bekam Simon ein schlechtes Gewissen. Vor zehn Tagen war Winter im Thronsaal der Hüter in Anistadt dabei gewesen, als er den Raubstein an sich genommen und versehentlich eine Explosion ausgelöst hatte, bei der alle anwesenden Animox ihre Verwandlungskräfte verloren hatten – ausgenommen Nolan und er selbst. Als Erben und Nachkommen der Königsfamilie waren sie geschützt. Winter hatte nicht so viel Glück gehabt. Sie konnte nicht mehr in eine Wassermokassinotter animagieren, und als Mensch war sie ohne Ausbildung und Kampferfahrung von ihnen allen die Angreifbarste.

Charlotte legte Winter den Arm um die Schulter. »Ich habe eine Idee, wie wir sie austricksen. Und im Notfall schreien wir einfach.«

»Ich komme mit euch«, sagte Ariana. »Wenn’s hart auf hart kommt, beiße ich.«

Im nächsten Augenblick verwandelte sie sich in eine Schwarze Witwe. Simon und seine Freunde kannten das schon, aber Hugo sprang erschrocken zurück, als die Spinne über den glatten Fußboden huschte und auf Winters Designer-Turnschuh krabbelte.

»Du bist eine Giftspinne?!« Hugos Stimme war ganz schrill.

»Hugo hat totale Angst vor Spinnen«, erklärte Charlotte den anderen belustigt, während Ariana an Winter hochlief und sich auf ihre Schulter setzte. »Wenn in der Arche mal eine Spinne war, musste ich sie immer bitten zu gehen. Er hat sich so lange in seinem Büro versteckt.«

Hugo schüttelte sich. »Spinnen sind gruselig. Diese vielen Beine und die kleinen Augen …«

»Ich höre alles!«, warnte Ariana. »Und wenn du so weitermachst, beiße ich dich

Hugo wurde kreidebleich und wich noch weiter zurück. »Bitte nicht! Ich halte die Klappe, versprochen.«